5 minute read

IMPRESSUM

Next Article
RAUS AUS MÜNCHEN

RAUS AUS MÜNCHEN

Ein später Nachruf auf den Spaziergänger

— Daß das Leben heute anders ist als früher, merkt man meist nicht, weil man nicht gemerkt hat, wann und wo es plötzlich anders geworden wäre – was es ja oft gar nicht ist, was die Sache noch schwieriger macht. Daß etwa die Autos seit den 60ern immer größer geworden sind und ein „praktischer“ Kleinwagen heute den Möbeltransportern meiner Kindheit gleicht, fällt erst auf, wenn man zufällig einen weniger kleinen Wagen aus jener Zeit zwischen den 2021er Panzerboliden stehen sieht und denkt: Mei, wie putzig! und dann feststellt, daß es sich (z. B.) um einen BMW 2500, also ein Modell der damals sogenannten „Oberklasse“, ein echtes „Schiff“ handelt, und denkt: Jessas, da kann man ja regelrecht noch drüberschauen!

Advertisement

Dann fällt einem ein, daß der ADAC schon vor Jahren forderte, beim Abriß alter Häuser die Neubauten drei, vier Meter nach hinten zu versetzen, weil auf die windigen Parkplätze sonst kein normales Auto mehr paßt. Und ein grundsätzlich zerstreuter Mensch wie ich denkt dann: Vielleicht gibt es deswegen auch keine Spaziergänger mehr? Schließlich „macht“ es keinen „Sinn (wie man heute sagt) und bereitet auch wenig Freude (wie man früher sagte), auf Bürgersteigen dahinzuflanieren, wo man links identisch monotone Betonkisten, rechts identisch monströse Blech-Plastik-Kisten und sonst überhaupt nichts sieht. Abgesehen vielleicht hier und da von illuminierter Propaganda für Militärberufe und neuartige Medizin und ein bißchen Nutzbraunrot (die Mixtur aus Ahorn, Rudimentärgras, Plastikmüll und teilweise in Tütchen verpacktem Hundekot, die aus unerfindlichen Gründen und zum Unmut fluchender SUV-Piloten immer noch den einen oder anderen Bürgersteig von den geparkten Boliden trennt).

Früher nämlich ging man tatsächlich spazieren und hetzte nicht wie ein überdrehter Duracell-Android in Energy-Drink-artiger Verpackung mit Ohrstöpseln und Meßgerät am Oberarm dahin und daher, einem Ziel entgegen (ewiger Fitneß und Verwertbarkeit), das es gar nicht gibt. Man tat das sogar systematisch und organisiert: Wenn der Sonntagseintopf vertilgt war, wurden die Kinder gestriegelt, das Schuhwerk poliert, der Gehrock entstaubt, und dann schwärmte man aus, massenweise, in gemessenem Schritt, auch mal ausgelassen, womöglich mit Stock oder Schirm, entbot Nachbarn, Bekannten und Verwandten so viele Grüße, spitze Bemerkungen und Anekdoten, daß man kaum hundert Meter pro Stunde zurücklegte.

Irgendwo gab es dann noch ein Eis oder ein Bier, und wenn die Sonne hinter den Häusern golden sank, kehrte man heim, wärmte den Eintopf auf und hatte Gesprächsstoff für einen langen, gemütlichen Abend ohne Indoktrination und Einschwörung per Fake-NewsEmpfangsgerät.

Es gab sogar berufsmäßige Spaziergänger wie den ehemals berühmten Schriftsteller Siegfried Sommer, der sein lesenswertes, heutigen Zeitgenossen jedoch leider weitenteils unverständliches Gesamtwerk zu erheblichen Teilen aus dem zusammenschrieb, was er beim Spazierengehen so sah, erlebte und erfuhr. Das taten früher sogar Zeitungsreporter (war er im Grunde ja auch), die heute in kilometerhohen Türmen in der Stadtrandwüste sitzen und sich von den Abgesandten der Immobilien- und Insgesamtmacht drillen lassen. Der leider, aber naturgemäß verstorbene Sigi steht derweil als Metallskulptur in der Fußeilerzone herum und muß zum Glück nicht mehr hören, wie das Tagestouristenkind fragt: „Mama, was macht der da?“ und die gehetzte Mutter im Weiterzerren bellt: „Was weiß denn ich, sicher ein König oder so was!“ Unmittelbar neben der (halbauthentischen) Szene rennt eine Joggerin in eine Oma, die die energische Jungdynamikerin verwun-

„Wo wollen Sie denn so schnell hin?“

dert fragt: „Wo wollen Sie denn so schnell hin?“ Die hält verblüfft inne, zieht sich einen Stöpsel aus dem Ohr, sagt: „Was?“, schüttelt den Kopf, steckt den Stöpsel wieder hinein und flieht weiter.

Wieso niemand mehr spazierengeht, läßt sich leicht beantworten: Abgesehen von den fremdenverkehrs- und zugezogenenamtlichen Zentralarealen (Englischer Garten, Isarufer, Viktualienmarkt) kann man das nirgends mehr, weil alles öde und mit Riesenautos vollgestellt ist. Und dort kann man es auch nicht mehr, weil man sich erst mal per U-Bahn hinkutschieren lassen müßte, um dann inmitten gedrängter Massen und Ertüchtigungsdruck wahnsinnig zu werden. Da bleibt man lieber daheim, hängt vor dem Empfangsgerät und läßt sich beibringen, was in der „Welt“ los und wie schlimm das alles ist.

Eigentlich schade angesichts der Kürze des Lebens, aber so ist das nun mal, nicht wahr?

InMagazin Verlags GmbH

Sendlinger-Tor-Platz 8 80336 München info@in-muenchen.de www.in-muenchen.de

Veranstaltungshinweise / Redaktion: Tel. 089 - 389 971-14

(Mo-Fr 10:00-18:00) Termine schriftlich bis 8 Tage vor Erscheinen. Für die nächste Ausgabe: Di 19. Oktober redaktion@in-muenchen.de

Anzeigen: Tel. 089-389 971 -12 / -13 / -18 / -21 / -43

(Mo-Fr 10:00-18:00) Anzeigenschluss: 7 Tage vor Erscheinen. Für die nächste Ausgabe: Mi 20. Oktober anzeigen@in-muenchen.de

Abo-Service: Tel. 089-389 971-13

abo@in-muenchen.de

Vertrieb: Tel. 089-389 971-0

vertrieb@in-muenchen.de IN MÜNCHEN erscheint monatlich mit aktuellen Veran stal tungs terminen. IN MÜNCHEN gibt es kostenlos an rund 600 Stellen in München und dem Umland. Geschäftsführung: Stefan Kukuk (V.i.S.d.P.) Anzeigen leitung: Rupert Klos ter meier (ver ant wortlich) (-12) Anzeigen: Werner Brocke (-13), Raffaela Hoffmann (-18), Susanne Schuster (-43) Abo-Service: Werner Brocke Vertrieb: Eduardo Restle Redaktion: Franz Furtner, Gabriele Knupfer, Heike Oehlmann Redak tio nelle Mit ar bei ter*innen: Hermann Barth, Peter Eiden berger, Rainer Germann, Tobias Hell, Gerald Huber, Dietrich Limper, Ssirus W. Pakzad, Jonny Rieder, Michael Sailer, Karina Schiwietz, Rupert Sommer, Peter Trisch berger, Martin Welzel Produktion: H.P. Pitterle, Martin Welzel Graphik: H.P. Pitterle, A. Siebenländer Konzeption: Günter F. Bereiter Druck: ADV SCHODER, Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH, Aindlinger Str. 17-19, 86167 Augs burg. IN MÜNCHEN wird auf chlor- und säurefrei ge bleich tem Pa pier gedruckt. 38. Jahrgang Auflage und Verbreitung kontrolliert

AWA

Überregionale Anzeigen via: Metropolen Connection Tip Berlin Media GmbH Salzufer 11 10587 Berlin Tel. 030 / 233 269 - 600

© Ray Tarantino

© Marina Weigl © Dario Acosta

© Antoine Melis © Philip Nuernberger

This article is from: