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„Schau’n mer mal“

Adventszeit in München: ein leuchtender Christbaum, Glühwein, Lebkuchen und Kitschmusik. Im Kripperl stehen Maria und Josef feierlich neben dem Jesuskind. Allerdings wirken sie abgelenkt, gebannt starren sie auf einen kleinen Fernseher! Da spielt gerade Belgien gegen Marokko Fußball. Oha! Wie passt denn mitten in die friedliche Adventszeit die Fußball WM in Katar?

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Für die meisten ist die Antwort einfach: gar nicht. Eine WM im Winter ist schon komisch genug. Eine WM in der Wüste klingt in Zeiten von Klimakrise und für jeden, der ein bisschen Bewusstsein für Nachhaltigkeit hegt, wie ein schlechter Scherz. In dem Golfstaat ohne jede Fußballtradition werden für das „MegaEvent“ extra WM-taugliche Stadien gebaut. Bei diesen Bauarbeiten kommen tausende Menschen zu Tode. Hier offenbaren sich die prekären Arbeitssituationen und Menschenrechtsverletzungen. Dazu zählt natürlich auch die Verfolgung von LGBTQI+Personen. Bei all diesen Grausamkeiten sollte auch dem letzten Fußball-Enthusiasten die Gaudi vergehen. Das ist keine WM für alle. Das ist eine WM für Ignoranten – und natürlich nur für Reiche. Denn Flug und Ticket kann sich ein Durchschnittsfan mit Durchschnittsgehalt eh nicht leisten.

Gut und richtig also, dass die Stadt München bereits klargestellt hat, dass sie nicht als Veranstalterin von Public-Viewing-Events auftreten wird. Auch einige private Locations haben ihre WM-Abstinenz angekündigt. „Boycott Qatar“ liest man allerorten, in Fußballstadien oder auf Stickern in der Stadt verteilt. Bleibt zu hoffen, dass das Nicht-Schauen auch eine Wirkung zeigt. Außerdem bleibt zu hoffen, dass es auch dann durchgezogen wird, wenn die deutsche Mannschaft erfolgreich von Runde zu Runde kommt. Denn sind wir doch ehrlich, die WM blöd zu finden, fiele deutlich leichter, wenn Deutschland schon im Achtelfinale heimfliegen müsste.

Ja, ich begegne Menschen generell mit Skepsis. Und hohen moralischen Ankündigungen misstraue ich auch gern. Deshalb finde ich grundsätzlich schwierig, wenn die Verantwortung beim Endverbraucher liegt. Nach meinem Empfinden sollte die WM in dieser Form nicht stattfinden. Jetzt liegt der Ball aber bei uns. Wir entscheiden, ob wir die skrupellosen Geschäfte von FIFA, DFB und Katar mit Nichtbeachtung strafen wollen.

Das ist ein bisschen so wie mit der billigen Weihnachtsgans im Discounter. Laut Umfragen finden die meisten Menschen die qualvolle Aufzucht verwerflich, gekauft wird aber trotzdem. Ähnlich ist es mit Sendungen wie dem „Dschungelcamp“, das schaut ja auch niemand, aber die Quote stimmt. Wie wird es also bei der WM? Wenn das Fußballfieber um sich greift, ist die Moral schnell wurscht.

Eine Kneipe, die überwiegend von Sportübertragungen lebt, wird die WM zeigen. Das will ich nicht kritisieren, es ist schließlich ihr Geschäftsmodell. Restaurants, die im Dezember schon voll gebucht sind mit Weihnachtsfeiern, können ihren WM-Boykott natürlich leichter äußern. Die Abendzeitung zitiert den vielsagenden Satz des Betreibers einer Münchner Fußball-Kneipe: „Wären wir finanziell nicht abhängig, würde die Moral zu 100 Prozent siegen.“ Ich nenne hier seinen Namen bewusst nicht, weil es mir nicht um die Person geht.

Der Satz gefällt mir aber, weil er (vermutlich unfreiwillig) so viel Wahrheit enthält. Moral ja – solange sie nicht wehtut. Das ist ein zutiefst menschlicher Reflex. Mit Moral brüsten wir uns gern. Nichts ist schöner, als sich moralisch überlegen zu fühlen. Deshalb fordern wir Moral am liebsten von anderen. Und am liebsten bei Dingen, die uns persönlich leicht fallen. Jemand, der sein ganzes Leben vegetarisch verbracht hat, tut sich leicht, einem anderen seine lieb gewonnene Leberkässemmel oder den FamilienSchweinsbraten abzusprechen. Mir, die ich immer mit öffentlichen Verkehrsmitteln, Radl oder zu Fuß unterwegs bin, fällt es leicht zu sagen: Verzichte doch auf deinen depperten SUV! Musst du ernsthaft mit dem Auto zum Nürnberger Christkindlmarkt heizen, wo auch der Zug hinfährt? Moral siegt dann, wenn den vollmundigen Ankündigungen auch konsequente Taten folgen. Es bleibt spannend, wie sich das bei der WM darstellen wird. Oder um einen ganz großen Moralisten des Fußalls zu zitieren: „Schau’n mer mal.“

die WM blöd zu finden, fiele deutlich leichter, wenn Deutschland schon im Achtelfinale heimfliegen müsste

claudia pichler ist Münchner Kabarettistin und derzeit mit ihrem Solo-Programm „Eine Frau sieht weißblau“ unterwegs, in München am 26.1. im Lustspielhaus.

Sie würde nie jemand moralisch verpflichten wollen, ihr Programm zu besuchen. Aber über Publikum freut sie sich doch. www.claudiapichler.com illustration: julia hollweck

DARAUF FREUEN WIR UNS IM JANUAR:

Tschaikowsky klassisches Ballett „Schwanensee“ in der Alten Kongresshalle (10.1.) + Country-Ikone Lucinda Williams im Technikum (13.1.) + Jan Böhmermann & das Rund- funk-Tanzorchester Ehrenfeld im Zenith (10.1.) + Dort rocken auch Royal Republic (7.1.) + Folk-Jazzer Phil Vetter im Milla (27.1.) + Die Revue Forever Broadway in der Isarphilharmonie (2. bis 4.1.) + Die schottischen Indiepopper Belle & Sebastian in der Muffathalle (22.1.) + Die Heavy Metal-Legende Accept in der TonHalle (17.1.) + Ukulele-Punkerin Chloe Moriondo (Foto) im Strom (30.1.) + Das neue Heft erscheint am Mittwoch, den 21. Dezember

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