«STUHL» Matthias Huber

Page 1

STUHL

Matthias Huber



Der Stuhl ist passiert, und mein Verhalten ihm gegen­ über ist mit meiner Arbeit an den Bildern verwandt. Ich konzentriere mich manchmal so lange auf die Bilder, bis ich nicht mehr weiss, woran ich sie messen soll. Die Unterschiede zwischen ihnen und die Unterschiede zu anderen Bildern werden dadurch vergrössert. Ich schaue die Bilder fast nie einzeln an. Jedes neue Bild verändert die vorangegangenen Bilder. Die voran­ gegangenen Bilder verändern das neue Bild. Die Bilder bewegen sich gemeinsam. Ich scheine eine Vorstellung eines Ganzen zu haben, von dem ich nicht weiss, wie es aussieht. Ich arbeite an einem Bilderkreislauf, der sich ständig erweitert. Die Umstände komplizieren sich. Die Umstände setzen sich aus dem Nachdenken über meine Bilder und dem Arbeiten an meinen Bildern ­zusammen. Jedes bereits gemalte Bild interessiert mich neu, wenn ich ein neues Bild dazu gebe. Gewisse Bilder verlieren schlagartig ihren Wert. Gewisse Bilder werden schlagartig wertvoll. Von einigen Bildern weiss ich, dass ich mich nie mit ihnen anfreunden werde. Sie sind vielleicht notwendig, damit die anderen Bilder besser aus­sehen. Ich führe gestalterische Handlungen manchmal auto­matisch aus. Das verschafft mir kurze Pausen. Die automatischen Handlungen bringen meistens Bilder


oder Bildteile hervor, die mir bekannt vorkommen. Ich versuche automatische Handlungen und Intuition zu erkennen und zu unterscheiden. Ich messe jedem Ver­ halten meinen Bildern gegenüber Bedeutung zu. Ich warte auf Hinweise. Ich erhoffe mir Notwendigkeiten. Die Bilder sind untereinander verwandt. Jedes von mir gemachte Bild kämpft um eine Position neben meinen Bildern und allen mir bekannten Bildern. Ich sammle meine Bilder und suche nach einer Ordnung für sie. Ich scheine eine Vorstellung zu haben. Beim Schauen passiert es, dass die Bilder in einen Zustand geraten, in dem sie ihre Positionen fast alleine unter sich ausmachen. Ich selbst suche An­ schluss an diese Verhandlungen. Ich versuche meinen Zustand beim Anschauen der Bilder in das Machen der Bilder hinüber zu nehmen. Ich versuche zu unterscheiden. Ich werte nur mit einer Ahnung von Wert. Ich suche nach Erklärungen für das Funktionieren eines Bildes. Ich schätze ab, woher das Bild kommt. Ich suche nach einer neuen Form. Ich interessiere mich für das Zustandekommen einer Form. Ich suche nach einem Ort auf der Bild­fläche, den ich noch nicht kenne. Ich versuche Entscheidungen zu fällen, die mir fremd sind. Es werden Entscheidungen gefällt, die mir unangenehm sind. Ich wundere mich darüber, wie selten mir eine Form fremd vorkommt. Ich


freunde mich mit dem Unbequemen an (aber als Konzept) und wundere mich wie bequem das Unbequeme sein kann. Ich arbeite gegen die Har­monie und gegen die gewollte Disharmonie. Manchmal versuche ich im Kopf eine Diffusion ­auszulösen, kurz bevor ich mit einem Farbauftrag begin­ ne. Ich mache mich konzentriert abwesend. Ich stelle meinen Blick unscharf und versuche auf der Bildfläche die Orte, die ich kenne, zu vergessen. Zu viele Bildelemente überfordern mich. Aus­ fransungen machen die Verhältnisse unklar. Ich grenze eine Form mit dem Pinsel ab und denke: das ist zu be-­ absichtigt. Aber jede andere Form, die ich mir denken kann, wäre auch beabsichtigt. Der Zufall hilft auch nicht weiter. Ich komponiere. Ich muss mich hindern. Das erste Zeichen wird auf der Bildfläche platziert. Das zweite Zeichen wird auf der Bildfläche platziert. Das dritte Zeichen wird auf der Bildfläche platziert. usw. Ich übe. Ich komponiere. Es ist schwierig anzufangen und schwierig aufzuhören. Ich höre meistens nicht auf. Ich breche ab. Jedes Mal, wenn ich ins Atelier komme, sind alle Bilder unfertig. Sie sind unfertiger, als beim Verlassen des Ateliers. Ich vermute, dass sich die Formen immer von selbst ändern werden. Es vereinfacht das Arbeiten an einem Bild, wenn ich weiss, dass unter einem Bild noch andere Bilder liegen. Die weisse Fläche wurde


bereits überwunden. Der Bildträger hat eine Vergangen­ heit. Das verändert das Bild. Der Stuhl. Ich deformiere bis es sich richtig anfühlt. Ist der Stuhl unbequem oder bin ich es. Ich lasse mich deformieren bis es sich richtig anfühlt. Ich hoffe auf Ereignisse, die ohne Absicht geschehen. Ich beobachte mich dabei, wie ich mit diesen Ereignissen umgehe. Wahrscheinlich sass ich schon mehrmals gleich, ohne es zu merken. Möglicherweise ist mir die beste Sitz­ position schon begegnet. Wie habe ich gelernt zu sitzen? Welchen Geschmack habe ich darin entwickelt? Ich trainiere meine Sensibilität damit ich mich mit Form ernsthaft beschäftigen kann und nach einer ­eigenen Wichtigkeit und Wirklichkeit darin suchen kann. Ich schaue lange. Kann eine Form überraschen? Ich schaue die Bilder an und meine eines besser zu finden als das andere.



Matthias Huber Basel, 2012


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.