«Ist Verlust reparierbar?» Thomas Keller

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Ist Verlust reparierbar?

Der Raum als Erinnerungsspeicher oder Heilung in der Wieder-holung

„I had nothing to offer anybody except my own confusion“ – ein Zitat aus Jack Kerouacs Roman „On the Road“ steht ganz am Anfang meines Filmes über Orte in Kerouacs Heimatstadt Lowell, Massachusetts. Eine allgemeine Verwirrung dominierte mein Leben Mitte dreissig. Beim Lesen von Kerouacs Texten fühlte ich mich persönlich und direkt angesprochen. Sie waren mir eine wertvolle Stütze und halfen mir, mich nicht allein zu fühlen in diesem angsterregenden Zustand der Rat- und Hoffnungslosigkeit. Kerouac beschreibt die Orte seiner Kindheit in Lowell mit einer unglaublichen Intensität und Zärtlichkeit. In fast schon zwanghaften Wiederholungen tauchen diese Orte immer wieder in verschiedenen Büchern auf. Die Wiederholung dieser Beschreibungen und die Eindringlichkeit mit der Kerouac die Orte beschreibt, haben in mir das Verlangen, sie selber sehen zu wollen, immer grösser werden lassen. So gross, dass mich die daraus entstandene Sehnsucht dazu trieb, mich auf die Reise nach Lowell zu machen um diese Orte mit eigenen Augen sehen zu können. Vielleicht steckte hinter dieser Sehnsucht die Hoffnung, Kerouac (und auch mir selber) noch intensiver begegnen zu können, jedoch nicht wie ein Fan auf den Spuren eines Vorbildes, sondern viel eher einer Sehnsucht folgend, die ich bereits in meiner Kindheit kennen gelernt habe. Schon damals habe ich Orte, die mir viel bedeutet haben, immer wieder aufgesucht, wie um etwas zu überprüfen, eine Empfindung und wie sie sich heute, nach einer Woche, nach ein paar Monaten, nach einem Jahr anfühlt. Ich machte die Entdeckung, dass die Gefühle der Vergangenheit abrufbar waren über die vertrauten Eigenschaften des Ortes, zum Beispiel ein sanft abfallender Hügel hin zu einem Fussballfeld, ein modriges Waldstück an einem steilen Hang, wo ich Holz gesammelt hatte für ein Feuer, eine alte und verwilderte Kiesgrube. Abrufbar waren sie auch über den vertrauten Geruch der Orte und die ihm eigenen Geräusche. Einen Ort wieder zu sehen und zu riechen reicht aus, um eine ganze Welt aus der Vergangenheit wieder aufleben zu lassen und sie wieder vor mir zu sehen – wie ein über die monotone Gegenwart gestülptes Gewand voller Leben. Räume scheinen sehr gut für das Speichern von Erinnerung geeignet zu sein. Die Gefühle, an die ich mich durch eine Art Zeitschnur wieder andockte, spendeten mir Trost und lösten gleichzeitig einen Schmerz aus, der aus der Gewissheit rührte, dass dies alles für immer unwiderrufbar verloren war und blieb. Warum musste ich immer und immer wieder zurückkehren? Weil dieser Schmerz auch gleichzeitig Genuss bedeutete? Oder viel eher, weil ich das zyklische Trost-/Schmerzerzeugungsmittel als eine Art Heilprozess erlebte – als ob eine Wunde wieder geöffnet wird, diese sich durch eine Bewusstwerdung aber fast zeitgleich wieder zu schliessen scheint. In der Wiederholung versuche ich etwas „wieder zu holen“ (was verloren schien). Zum Beispiel eine befreiende Unbeschwertheit. Die Fähigkeit, Verantwortung und Pflichten verdrängen und vergessen zu können. Vermutlich finde ich diese Unbeschwertheit nur noch in der Anfangsphase eines neuen Projektes und wenn ich es schaffe, mich für ein paar Wochen von lästigen Verpflichtungen zu befreien und mich voll auf das „Spielen ohne Anleitung“ zu konzentrieren, d.h. nur meinen Impulsen folgend auf Entdeckungsfahrt zu gehen. Dabei scheint sich auch eine gewisse Unvoreingenommenheit und Offenheit bezüglich meiner Sicht auf die Dinge herauszuschälen: einfaches Schauen und Beobachten ohne zu urteilen.

In der Wiederholung liegt Heilungspotential; so gesehen erschien mir die zyklische Montage für mein Filmprojekt die richtige Struktur. Sie verstärkt den Eindruck einer Obsession und ihrer Erfüllung, immer wieder die gleichen Orte aufsuchen zu müssen. Die Wiederholung bedeutet Erfüllung bedeutet Trost. Kerouacs Orte sind nicht Orte meiner eigenen Geschichte. Es sind literarische Orte, die ich mir beim Lesen vorstelle und zum Leben erwecke. Ihre Wirkung auf mich war so stark, dass ich sie in Kerouacs Heimatstadt Lowell aufsuchen und sie mit eigenen Augen sehen wollte (ähnlich wie die Orte meiner eigenen Kindheit). Im Sommer 2009 habe ich dann die erste von fünf Reisen nach Lowell unternommen. Kerouac ist eine Brücke für mich, damit etwas in mir Ausdruck finden kann, was sonst nicht möglich gewesen wäre. So konnte ich mein Experiment auf dem sicheren Boden des Filmens durchführen. Die Distanz erlaubte es mir, genauer hinzuschauen und besser beobachten zu können und gleichzeitig zu merken, wo ich selber mit im Bild drin bin und so mir selber begegnen kann. Der jeweils richtige Abstand hilft, Nähe zu mir selber zu schaffen. „Vor Ort“ findet eine Begegnung des vorgestellten Ortes mit dem realen Ort statt; durch den Besuch der realen Orte bekommen die beim Lesen erlebten Gefühle für mich Körper. Und das ist es, was ich untersuche und glaube überprüfen zu können. Dies versuche ich anhand einer Textpassage aus Kerouacs „Doctor Sax“ zu verdeutlichen: „An jenem Morgen komme ich mit meiner Schwester Nin aus der Bücherei und wir gehen die Merrimack Street hoch. An einer Stelle biegen wir parallel zur Moody Street ab. Die frische Morgensonne auf den Steinen und auf dem Efeu (wir haben die Bücher fest unter den Arm geklemmt, Freude) – Wir kommen am Royal Theater vorbei und erinnern uns an die uralte Vergangenheit von 1927, als wir zusammen ins Kino gingen, mit Freikarten ins Royal, weil Paps deren Programme druckte. Das war in lang vergangenen früheren Zeiten. Der Platzanweiser wies uns mit krächzender Stimme Plätze auf dem Balkon an, im Negerhimmel, wo wir ungeduldig auf 1h15, Vorstellungsbeginn, warteten, manchmal kamen wir schon um 12h30 und warteten da die ganze lange Zeit, betrachteten derweil die Engel an der Decke, das runde Maurische Royal Theater in pink und gold und einer verrückten Decke mit einer Sixtinischen Madonna rund um die leere Stelle, an der ein Leuchter hängen müsste. Langes Warten in gewölbten nervösen Klappsitzen, kaugummiverklebt, abgewetzt, zerfetzt; das „Schadapp!“ vom Platzanweiser, der im ersten Weltkrieg eine Hand verloren hat und statt dessen einen Greifhaken an einem Stumpf hat. Mein Vater kannte ihn gut, – netter Kerl. Wir warten auf Tim McCoy, dass er endlich auf der Leinwand erscheint, oder auf Hoot Gibson, oder Mix, Tom Mix mit seinen schneeweissen Zähnen und den kohlschwarzen Augenbrauen unter den enormen schneeweissen förmlich blendenden Sombreros aus den verrückten stummen Hollywood-Western; der durch dunkle tragische Banden unbeholfener Sonder-Kämpfer mit zerrissenen Westen statt blitzender Sporen und Helden-Revolver-Halfter geistert. „Gard, Ti Jean, le Royal, on y alla au Royal tou le temps, en? – on faisa ainque pensee allez au Royal – a’s’t’heur on est grandis on lit des livres.“ (Schau, Ti Jean, das Royal, haben wir nicht die ganze Zeit da drin verbracht, he? Das ist alles, was wir dachten – wir gehn ins Royal. Jetzt sind wir erwachsen und lesen Bücher.)“


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