Die Jugend in Gedanken

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Christine Rohrer

Jugend in Deutschland: Die Alten waren auch mal jung

Juli 2011

Liebe,  Party,  Politik  -­  drei  Senioren  blicken  zurßck

von  frĂźher  erzählt.  Mit  Pfeil  und  Bo-­ gen  zog  ihre  Mäd-­ chenbande  ,GrĂź-­ ne  Rotte‘  durch  die  Weinberge.  Abends   tranken   die  13-­Jährigen   auf  Matratzen  sit-­ zend  Bowle  oder  Rumtopf.  An  ei-­ nem  dieser  Abende  erzählte  die  junge  Frau  ihren  Freun-­ dinnen  von  ihrem  ersten  Kuss.  In  ThĂźringen  ist  es  passiert,  als  sie  bei  einem  Familien-­ Im Alter von 14 (2.v.l.) und von 69 Jahren: besuch  mit  einem  Doris Reif-Lohr, gesellig, hilfsbereit und sozial engagiert Verwandten  einen  in  Wohnzimmer  in  Bonn.  Auf  Berg  bestieg.  Der  18-­Jährige  nahm  dem  Tisch  stehen  Kekse  und  sie  auf  einem  Felsen  in  den  Arm  und  Schokolade.  Gesäumt  sind  sie  kĂźsste  sie.  Ab  jetzt  dĂźrfe  sie  sich  nicht  von  zahllosen,  leicht  vergilbten  Foto-­ mehr  waschen,  meinte  er  noch.  Ihre  JUDÂżHQ $XI HLQHP YRQ LKQHQ LVW HLQ erste  groĂ&#x;e  Liebe  lernte  das  lebensfro-­ etwa  zehnjähriges  Mäd-­ he  Mädchen  im  Schulbus   chen  zu  sehen,  mit  einer  NHQQHQ ,KU JHÂżHO GDVV „Hubschrauber  der  Mann  ihres  Herzens  groĂ&#x;en  Schleife  im  Haar.  â€žFrĂźher  hatten  wir  immer  auf  dem  Kopf“ nicht  wie  die  anderen  mit  diese  Hubschrauber  oben  essig-­  und  saftbeladenen  auf  dem  Kopf“,  kom-­ Wasserpistolen  schoss,  mentiert  Doris  Reif-­Lohr.  Die  nahezu  sondern  meist  unbekĂźmmert  und  le-­ jugendlich  wirkende  Frau  hat  ein  strah-­ send  in  einer  Ecke  saĂ&#x;.  Dem  Verbot  lendes  Lachen.  Allein  ihre  leicht  brĂź-­ der  Eltern  zum  Trotz  lieĂ&#x;  sie  sich  von  chige  Stimme,  ihre  langsame  Sprech-­ ihm  mit  dem  Fahrrad  zur  Klavierstun-­ weise  enttarnen  sie  ein  wenig,   wenn  sie  de  bringen  oder  verabredete  sich  im Â

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BahnhofscafĂŠ.  â€žIch  kann  mich  nicht  erinnern,  dass  jemand  mal  besoffen  war“,  erzählt  die  frĂźher  wie  heute  im-­ mer  hilfsbereite  Frau.  Es  wurde  zwar  KlXÂżJ $ONRKRO JHWUXQNHQ DEHU LQ 0D-­ Ă&#x;en.  Die  heute  69-­Jährige  wollte  als  Jugendliche  Goldschmiedin  werden  oder  Literaturwissenschaften  studie-­ ren.  Jede  Woche  bekam  sie  von  ihrer  *UR‰PXWWHU HLQ %XFK PLW ÂżQDQ]LHU-­ te  ihr  die  Mutter  Theaterbesuche.  Auch  Trompete  spielen  hat  das  zarte  Mäd-­ chen  gelernt.  Sie  malte  und  half  ihrer  Mutter  im  Haushalt  und  auf  dem  Feld.  â€žIch  habe  mir  immer  gewĂźnscht,  dass  ich  nicht  schlafen  muss,  dass  ich  mehr  Zeit  hätte,  etwas  zu  machen“,  verrät  sie  mit  glänzenden  Augen. Doris Reif-Lohr wurde am 14.02.1942 in Kieselbronn geboren. Ihr Vater war Berufssoldat und ist gefallen, ohne seine Tochter einmal gesehen zu haben. Nach der Handelsschule absolvierte sie eine Lehre als Industriekauffrau und arbeitete später in Bonn als Sachbearbeiterin bei der Deutschen Gesellschaft fĂźr Auswärtige Politik. Nebenbei engagierte sie sich beim Aufbau eines Frauenhauses. Bis heute arbeitet die Rentnerin als Schwesterhelferin beim Deutschen Roten Kreuz. Doris Reif-Lohr lebt in Bonn, ist verheiratet und hat eine Tochter.

ZUR PERSON

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urch  RĂźckschläge  soll  man  sich  nicht  zu  schnell  von  et-­ was  abbringen  lassen.“  Dieser  Ratschlag  an  die  heutige  Jugend,  die  freizĂźgiger  und  ein  wenig  respektlo-­ ser  sei  als  frĂźher,  stammt  von  einem  Mann,  der  in  der  Nachkriegszeit  in  sehr  beengten  und  einfachen  Verhält-­ nissen  groĂ&#x;  geworden  ist.  Gerhard  Schneider  war  froh,  wenn  es  â€žetwas  einigermaĂ&#x;en  Passables“  zu  essen  gab.  Der  heute  80-­Jährige  kommt  mit  einem  Teller  Kekse  und  Kaffeetassen  aus  der  KĂźche  zurĂźck,  wohin  seine  Enkel  ge-­ rade  verschwunden  sind.  Freudig  be-­ richtet  der  Mann  mit  der  klaren  Stim-­ PH GDVV GLHVH KlXÂżJ QDFK GHU 6FKXOH zu  Besuch  sind.  â€žNicht  zu  schwafeln,  ein  anständiges  Deutsch  zu  sprechen“,  das  versucht  er  ihnen  beizubringen.  So,  wie  er  es  damals  von  seinem  Klassen-­ lehrer,  der  ihn  nachhaltig  beeindruckt  Gerhard Schneider – geboren am 08.06.1931 in Darmstadt – wohnXI Y E MR 1EMR^ 7S½E und Oberschlesien. Auf der Flucht von dort im Jahr 1945 starb die Mutter durch einen TiefžMIKIV %RKVMJJ -R (‚WWIPHSVJ QEGLte er Abitur, in Aachen studierte er EisenhĂźttenwesen. Bis 1998 war er in der Stahlindustrie tätig, zuletzt als GeschäftsfĂźhrer der Edelstahl Witten-Krefeld GmbH. Gerhard Schneider ist verheiratet, hat zwei TĂśchter und lebt in Krefeld. Er engagiert sich als „Leseopa“ in einer Grundschule und ist Schatzmeister in der Gesellschaft fĂźr ChristlichJĂźdische Zusammenarbeit.

ZUR PERSON

FOTO: CHRISTINE ROHRER (L.) / PRIVAT (R.)

FOTO: PRIVAT (O.) / CHRISTINE ROHRER (U.)

Doris  Reif-­Lohr,  Gerhard  Schneider  und  Charlotte  SĂźĂ&#x;  haben  auf  eine  Reise  in  ihre  Vergangenheit  eingeladen.  Eine  Vergangenheit,  die  von  Krieg  und  Wiederaufbau  geprägt  war.  Und  trotzdem  bewegten  sie  damals  viele  Fragen,  die  auch  fĂźr  heutige  Jugendliche  von  Bedeutung  sind.  Was  ist  mein  Traum?  Welchen  Beruf  ergreife  ich?  :DQQ ÂżQGH LFK GLH JUR‰H /LHEH" 'LH GUHL KDEHQ YRQ SUlJHQGHQ (UHLJQLVVHQ HU]lKOW XQG YRQ GHQ 'LQJHQ GLH VLH bis  heute  durch  ihr  Leben  begleiten.

Heute mit 80, damals mit 15 Jahren: Gerhard Schneiders Leidenschaften sind Sprachen und Literatur hat,  gelernt  hatte.  Vor  der  langgezo-­ dann  zum  ersten  Kuss.  â€žAlso  relativ  genen  BĂźcherwand  sitzend  erzählt  spät,  heute  sind  die,  glaube  ich,  schnel-­ Gerhard  Schneider  von  seiner  Leiden-­ ler  dabei.“  Die  Freundschaft  mit  dem  schaft  fĂźr  Sprachen  und  Literatur.  Als  Mädchen  hat  allerdings  nicht  lange  ge-­ 16-­Jähriger  wollte  er  in  die  FuĂ&#x;stapfen  halten,  ein  Klassenkamerad  hat  sie  ihm  seines  Vaters,  eines  Alt-­Philologen  tre-­ ausgespannt.  ten.  AuĂ&#x;erdem  träumte  der  Mann,  der  Als  seine  Enkelin  zum  Abschied  ih-­ mittlerweile  FranzĂśsisch,  Hebräisch,  ren  Kopf  durch  die  halb  geĂśffnete  Arabisch  und  weitere  Sprachen  gelernt  TĂźr  steckt,  erkundigt  sich  Gerhard  hat,  von  Reisen  in  die  Welt.  Schneider  liebevoll  und  Die  erste  Party  feierte  â€žVon  politischen interessiert,  wann  er  am  Gerhard  Schneider  zu-­ Abend  bei  ihrem  Konzert  Problemen  sammen  mit  fĂźnf  anderen  erscheinen  soll.  Er  selbst  keine  Ahnung“ war  frĂźher  Mitglied  im  Jungs  am  Ende  seiner  Schulzeit.  Genau  wie  in  Deutschen  Jungvolk,  seiner  Schulklasse  gab  es  auch  dort  einer  Jugendorganisation  der  Hitler-­ keine  Mädchen.  Auf  diese  stieĂ&#x;  er  aber  Jugend,  gewesen.  Dort  ßbten  sie  mar-­ als  19-­Jähriger,  als  seine  Stufe  kurz-­ schieren  und  sangen  Lieder.  â€žAls  zeitig  in  eine  andere  Schule  ausgela-­ 14-­Jähriger  hatte  ich  von  den  politi-­ gert  wurde.  Abends  traf  man  sich  auf  schen  Problemen,  auch  von  der  Juden-­ der  DĂźsseldorfer  Kirmes.  Dort  kam  es  verfolgung,  keine  Ahnung.“  Â

Verhältnis von Jung und Alt Q Als angespannt bewertet Ăźber die Hälfte der Jugendlichen in Deutschland das Verhältnis von Jung und Alt. Trotzdem ändert sich laut Shell-Studie die Haltung gegenĂźber der älteren Generation: Jugendliche haben mehr Respekt und zeigen auĂ&#x;erdem Verständnis fĂźr deren Lebensart. Q 47% der jungen Menschen meinen, dass die Verteilung des Wohlstands zwischen Jung und Alt gerecht sei. Lediglich ein Viertel der Jugendlichen verlangt, dass die ältere Generation ihre AnsprĂźche verringern sollte. Q Die jĂźngste Shell-Studie wurde 2010 herausgegeben. Sie untersucht Lebenssituation, Stimmungen, Sichtweisen und Erwartungen der Jugend. DafĂźr wurden 2.604 Jugendliche zwischen 12 und 25 Jahren befragt. www.shell.de/jugendstudie

FOTO: CHRISTINE ROHRER (U.) / PRIVAT (O.)

Die  Jugend  in  Gedanken D

as  war  der  Mensch,  den  ich  Charlotte SĂźĂ&#x;, gegesucht  hatte.  Er  hatte  so  ZUR boren am 02.10.1917 gute  Augen,  so  wunderbare  P ERSON in Oelsnitz, ging zublaue  Augen.“  Es  duftet  nach  Kaf-­ nächst zur Volksschufee.  Charlotte  SĂźĂ&#x;  stellt  eine  Platte  le, dann zur Handelsschule. Im mit  Kirsch-­,  Apfel-­  und  Butterkuchen  Alter von 16 Jahren arbeitete sie auf  den  Tisch,  während  sie  von  ihrer  fĂźr einen Baumeister in der Buchersten  groĂ&#x;en  Liebe,  ihrem  späteren  fĂźhrung. Später wechselte sie zum Mann  erzählt.  Beim  Rosenfest,  als  die  Postamt, danach war sie bei einer damals  22-­Jährige  gerade  nach  Hause  Strumpffabrik u.a. im Export tätig. gehen  wollte,  sah  sie  ihn.  Sie  blieb,  Ihr Weg fĂźhrte sie Ăźber Plauen und und  sie  gingen  später  noch  gemein-­ Minden nach Krefeld, wo sie heute sam  zum  Tanz.  Von  da  an  trafen  sie  wohnt. Charlotte SĂźĂ&#x; ist verwitsich  jeden  Tag,  eine  Woche  lang,  bis  wet und hat zwei SĂśhne. er  in  den  Krieg  ziehen  musste.  Erste  KĂźsse  wurden  ausgetauscht,  doch  vor  XQG 3IDGÂżQGHUÂľ 6RIRUW VWLPPW GLH allem  hĂśrte  er  zu  und  sie  trug  vor:  â€žEr  Mezzosopranistin  ein  Lied  von  von  hat  nicht  viel  erzählt,  aber  ich  hab  ihm  Eichendorff  an:  â€žIn  einem  kĂźhlen  ein  Gedicht  nach  dem  anderen  vorge-­ Grunde,  da  geht  ein  MĂźhlenrad.  Mein  sagt.  Das  hatte  er  noch  nicht  erlebt.“  Liebchen  ist  verschwunden,  dass  dort  Poesie  und  Musik  waren  und  sind  gewohnet  hat.“  Die  heutige  Jugend  der  Lebensinhalt  von  Lottchen,  wie  tut  ihr  ein  wenig  leid,  weil  sie  von  ihren  Lehrern  genannt  wur-­ de.  Hätte  sie  die  freie  Wahl  gehabt,  wäre  sie  Konzertsängerin  geworden.  Das  war  ihr  groĂ&#x;er  Traum.  Doch  ihre  Eltern  konnten  sich  die  teure  Ausbildung  nicht  leisten.  Deshalb  ¿QDQ]LHUWH VLH VLFK PLW LKUHP HUVWHQ selbstverdienten  Geld  Gesangs-­  und  Klavierstunden.  Schon  sitzt  die  alte  Frau  mit  den  sorgsam  zurĂźckfri-­ sierten  Haaren  am  Piano  und  spielt  Bach.  Ihr  Gesichts-­ ausdruck  verändert  sich,  während  ihre  Finger  ßber  die  Tasten  gleiten.  Die  Klavierspielerin  ist  hochkonzentriert,  jeder  Gesichtsmus-­ kel  scheint  ange-­ spannt.  Zu  ihren  Geburts-­ tagen  kamen  meist  lediglich  ein  paar  Verwandte.  â€žIch  hatte  eigentlich  nur  wenig  Freundin-­ Als 19- und als 93-Jährige: nen,  ich  hatte  auch  Musik und Poesie begleiten Charlotte SĂźĂ&#x; durchs Leben nicht  viel  Zeit.“  Ihre  Mutter  wĂźnschte  sich  hingegen,  sie  nicht  mehr  diese  â€žwunderschĂśnen  dass  ihre  Tochter  abends  ab  und  zu  Volkslieder“  hat.  Dieser  Schatz  wur-­ ausginge.  Auch  musste  sie  sie  nie  er-­ de  von  den  Nationalsozialisten  miss-­ mahnen,  schlafen  zu  gehen.  Die  junge  braucht  und  ist  nun  unwiederbringlich  Frau  ging  freiwillig  zeitig  ins  Bett,  da  verloren.  Zu  ihrem  Missfallen  werden  sie  vom  vielen  Musizieren  mĂźde  war.  fast  nur  noch  englische  Lieder  gesun-­ „Ich  habe  geĂźbt,  geĂźbt,  geĂźbt“,  erzählt  gen.  â€žDas  ist  nicht  schlecht,  aber  das  Charlotte  SĂźĂ&#x;,  die  durch  die  zurĂźck  ist  schade“,  kommentiert  Charlotte  geschobenen  Gardinen  SĂźĂ&#x;  diesen  Umstand.  auf  den  Baum  zeigt,  â€žIch  habe  geĂźbt,  6LH ÂżQGHW GLH KHXWLJH -X-­ in  dessen  Krone  jeden  gend  â€žsehr  in  Ordnung“,  geĂźbt,  geĂźbt“ Abend  eine  Amsel  ihr  sorgt  sich  aber  ßber  die  Lied  anstimmt.  Von  Zeit  negative  Wirkung  der  zu  Zeit  unterbricht  sie  ihre  Erzählun-­ Medien,  viele  geschiedene  Elternpaa-­ gen  besorgt,  um  Kuchen  und  Geträn-­ re  und  zu  frĂźhe  sexuelle  Aufklärung.  ke  zu  reichen.  Um  an  ihrer  Hochzeit  Sie  selbst  wurde  von  ihrem  Ehemann  im  Jahr  1947  ein  ordentliches  Mahl  aufgeklärt,  in  der  Schule  gab  es  le-­ zu  haben,  ging  sie  â€žzum  Hamstern“  diglich  Warnungen  vor  ansteckenden  in  den  Westen.  Sie  tauschte  StrĂźmpfe  Krankheiten.  Die  Frau,  die  im  Alter  gegen  Nahrungsmittel,  sodass  an  der  von  14  Jahren  bereits  selbst  Gedich-­ Hochzeit  dann  Suppe  mit  dicken  Boh-­ te  verfasste,  aber  noch  lieber  welche  nen  auf  den  Tischen  stand. von  Storm  und  Morgenstern  las,  rät  Politisch  war  die  93-­Jährige  frĂźher  Jugendlichen,  sich  in  der  Freizeit  mit  nicht,  nur  indirekt,  wie  sie  sagt,  durch  Lyrik  zu  befassen:  â€žWenn  ihr  keine  ihre  Mitgliedschaft  in  der  ,Deutschen  Zeit  habt,  ein  gutes  Buch  zu  lesen,  Freischar  â€“  Bund  der  WandervĂśgel  dann  lest  Gedichte!“


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