Dossier: Älter werden - time is ticking
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Juli 2012
Geistige Fitness fürs Leben Mit 70 noch Student? Kein ungewöhnliches Bild mehr an deutschen Unis. Immer mehr ältere Menschen zieht es an die Hochschulen. Sie sehen darin eine Bereicherung für Geist und Seele. Wir sprachen mit einem von ihnen über das Studieren im Alter. fig Fragen zu hören, wie: “Wollen Sie nicht lieber im Garten Sitzen?” Das Studium scheint sich aber auch positiv auf Zells soziales Umfeld auszuwirken. “Wenn bei einem Gespräch unter Freunden die Themen abflachen greife ich auf universitäre Aspekte zurück, die meine Freunde hören wollen und die Diskussion bereichern“. Auch seine Familie unterstützt seinen Wissensdrang: „Meine Frau hatte nach meinem Ausscheiden aus dem Berufsleben die Sorge, dass ich zuhause viel Unordnung machen würde“. Mit der Aufnahme des Studiums sei dies aber ideal gelöst worden, sagte er mit einem Grinsen im Gesicht.
Von Ofelia Harms
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“Ich wollte in kein leeres Loch fallen” In der Aula am Aasee in Münster steht an diesem Tag die Ringvorlesung „Die europäische Schuldenkrise“ auf dem Programm. Unter den aufmerksamen Zuhörern befindet sich der 60-jährige Weert Zell. Der groß gebaute pensionierte Bauingenieur mit den kurzen grauen Haaren besucht hier regelmäßig Lehrveranstaltungen seit seinem Eintritt in den Vorruhestand im April vergangenen Jahres. Der Grund: „Nach meiner aufreibenden beruflichen Tätigkeit wollte ich in kein leeres Loch fallen und beschloss, die Zeit mit einem Studium sinnvoll zu füllen“. Mit seiner Motivation steht Zell keineswegs alleine da. Laut einer Umfrage der WWU-Münster studieren die meisten Senioren, um geistig fit zu bleiben, ihre Allgemeinbildung zu erweitern, sich fundiertes Wissen anzueignen und auf diese Weise die Zeit nach Familien- und Erwerbsarbeit sinnvoll zu nutzen. Zell selbst belegt eine breite Palette von Fächern pro Semester. Von „Der Geschichte des Christentums“, über
Zwar fühlt sich der 60-Jährige voll integriert in den Studentenalltag. Doch zugleich stellt er auch große Unterschiede zu seinem früheren Studium fest. „Heutzutage gibt es eine relativ hohe Arbeitsbelastung für die Studenten“. Dies sei dadurch bedingt, dass einerseits immer mehr Stoff in weniger Zeit vermittelt werde und dass der Arbeitsmarkt immer schnellere Abschlüsse erwarte.
Foto: ofelia harms
einem heißen Sommertag steht Johannes Becker vor dem Rednerpult. Vor sich sieht der 43-jährige Professor für Finanzwissenschaft fast nur graue Haare. Der Hörsaal der Westfälischen WilhelmsUniversität (WWU) Münster ist voll von Menschen, die das übliche Studentenalter längst überschritten haben. Zusammen mit jungen Studierenden sitzen die pensionierten Lehrer, Ingenieure oder Ärzte und bringen ihre Erfahrungen in die Lehrveranstaltung ein. Als Gasthörer interessieren sie sich aber nicht nur für Wirtschaftswissenschaften, sondern auch für Geschichte, Philosophie, Theologie und Sprachen. Seit Jahren steigt in der Bundesrepublik die Zahl der sogenannten Seniorenstudenten. Im Wintersemester 2011/2012 haben sich insgesamt 38.600 ältere Gasthörer an deutschen Hochschulen weitergebildet, wie die Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen. In Münster sind es etwa 2.000, die über 200 Veranstaltungen pro Semester besuchen.
Für den 60-jährigen Weert Zell stellt das Studium im Alter eine Bereicherung dar
„Die Entwicklung der Menschheit in Europa“ bis hin zu „Moralentwicklung und Bildung“, der zweifache Familienvater aus Haltern am See will sich möglichst umfassend weiterbilden und verbringt dafür bis zu 25 Stunden die Woche an der Universität. „Es sind Themen die mich persönlich interessieren und in meinem Alltag weiterbringen“, sagt der 60-Jährige. Beispielsweise belegte er das Fach „Gesellschaft und Landeskunde Chinas“, weil sein ältester Sohn in diesem Jahr eine Chinesin heiratet. Der promovierte Bauingenieur engagiert sich zudem ehrenamtlich als Berater der Stiftung „Partner für Schulen NRW“. Dort betreut er als „Senior“-Experte Schulleiter bei den unterschiedlichsten Aufgaben. „Ich finde man soll der Gesellschaft etwas zurückgeben und deshalb setze ich mich ehrenamtlich für Schulen ein“. Durch das Studium bekommt er seinen Worten zufolge die Gelegenheit, sich gründlicher auf seine Beratungsgespräche vorzubereiten. Als besonders hilfreich erweisen sich demnach die erlernten Kompetenzen aus dem Bereich der Erziehungsund Sozialwissenschaften. Doch es gibt auch andere Gründe für seine Lernbegeisterung. Da Zell als junger Mann ein technisches Fach stu-
manns nicht machen. „Im Vorfeld eines jeden Semesters schreiben wir die Dozenten an und fragen, ob sie ihre Veranstaltungen für Teilnehmer des Studiums im Alter öffnen“. Nur wenn die Dozenten denken, dass die Veronika Jüttemann, wissenschaftVeranstaltung thematisch geeignet liche Mitarbeiterin des Programms sei, der Raum groß genug sei und „Studium im Alter“ an der WWU, den jüngeren Studierenden kein erläutert, dass die Lernmotivation Platz weggenommen werde, werde Zells von vielen anderen Seniorendie Veranstaltung für die Älteren gestudenten geteilt wird. Demnach öffnet und erscheint in einem eigegilt das Studium im höheren Alter nen Vorlesungsverzeichnis, erläutert für viele nicht mehr der Berufsvorbesie. reitung, sondern allein der persönFür Zell ist es gerade lichen Weiterbildung, dieser Umgang mit sagt die Expertin. Die Studierenden ha- “Wollen Sie nicht den unterschiedlichslieber im Garten ten Menschen, was ihn ben somit die Mögsitzen?” am Studentenleben lichkeit, sich mit den am meisten reizt. “Ich Fächern auseinanderbetrachte mich als eizusetzen, die sie in nen sozialen Menschen und würde jungen Jahren aus ökonomischen mich nicht sehr wohl als Eremit in Erwägungen heraus nicht gewählt der Wüste fühlen”, betont er. An der hatten. Darüber hinaus seien geisUniversität habe man die Chance, tes- und sozialwissenschaftliche sowohl mit jüngeren als auch mit älVeranstaltungen für Laien leichter teren Menschen zusammenzukomzugänglich als naturwissenschaftlimen, was ihm großen Spaß bereite. che Vorlesungen, die von den TeilVon den jüngeren Studenten werde nehmern ein hohes Maß an spezieler manchmal im Unterricht um Rat len Vorkenntnissen erfordern, erklärt gefragt: „Es ist eine Mischung aus Jüttemann. Bewunderung und Verwunderung“, sagt der 60-Jährige. Einerseits erhalSorgen um Studienplätze aufgrund te er Lob dafür, dass er trotz seines der wachsenden Zahl an SeniorenAlters noch die Universitätsbank studenten brauchen sich jüngere drücke, anderseits bekomme er häuKommilitonen nach Ansicht Jüttedierte, wollte er sich den Bereichen widmen, wo er die meisten Wissenslücken hatte, nämlich den Geistesund Sozialwissenschaften.
Mit 75 ist Schluss mit Lernen Schwierigkeiten beim Lernen habe Zell auch mit 60 Jahren nicht: „Da ich mich während meiner gesamten beruflichen Laufbahn habe weiterbilden müssen, fällt es mir nicht besonders schwer dem Vorlesung zu folgen“, sagt der ehemalige LogistikLeiter des Chemieparks Marl. Vor allem sei er nun in der Lage. wichtige von weniger wichtigen Inhalten zu unterscheiden. Das Gleiche gelte allerdings nicht für all seine Kommilitonen: „Vor allem ehemalige Hausfrauen müssen sich stark konzentrieren, um dem Unterricht folgen zu können“, sagt Zell, der aber davon überzeugt ist, man könne diese Konzentrationsschwierigkeiten bereits nach wenigen Semestern an der Uni überwinden. Sich an der Universität weiterbilden möchte Zell bis zu seinem 75. Geburtstag: „Dann will ich mich voll und ganz meinen künftigen Enkelkindern widmen, die sicherlich viel Zeit von ihrem Opa in Anspruch nehmen werden“. w e i t e r f ü h r e n d e I n fos u n t e r : u n i - mu e n s t e r . d e / s t udium - im - alt e r / i n d e x . h t ml
Foto: ofelia harms
S t udi e r e n im A lt e r
Rund 40.000 Senioren besuchen Hochschulen in Deutschland
Jeder der Interesse hat, kann als Gasthörer ein Studium im Alter aufnehmen, unabhängig vom Schulabschluss. Deutschlandweit sind rund 40.000 Gasthörer an Hochschulen angemeldet. Davon gehören 49 Prozent der „Generation 60 plus“ an. Während die Gesamtzahl der Gasthörer in den letzten zehn Jahren um ein Prozent gesunken ist, hat die Zahl der über 60-jährigen um 25 Prozent zugenommen. Das Durchschnittsalter der Gasthörer ist seit dem Wintersemester 2000/2001 von 49 auf 52 Jahre gestiegen. Zwei Drittel der Se-
niorenstudierenden sind weiblich. Die Semestergebühr für ein Gaststudium in Deutschland liegt im Durchschnitt bei 100 Euro. Die Kurse für ältere Studierende sind in der Regel in einem eigenen Universitäts-Verzeichnis zu finden. Durchschnittlich besuchen Senioren zwei Veranstaltungen pro Woche. Mit 4.900 Gasthörern war Geschichte im vergangenen Wintersemester das beliebteste Studienfach, gefolgt von Wirtschaftswissenschaften (4.500) und Philoso-
phie (3.600). Als Gasthörer müssen sich die älteren Studierenden in der Regel nicht für ein Fach entscheiden, sondern können Veranstaltungen aus verschiedensten Fachbereichen besuchen. Zwar ist in diesem Falle keine Abschlussprüfung möglich, dennoch gestattet das Gaststudium eine wissenschaftliche Weiterbildung. Personen, die älter als 50 Jahre alt sind und ein reguläres Studium verfolgen, gibt es auch. Für sie gelten aber die gleichen Studienanforderungen und -voraus-
setzungen wie für alle anderen regulären Studierenden. An der WWU Münster betrug ihre Zahl im vergangenen Wintersemester 623 Personen, davon waren 429 zwischen 50 und 60 Jahre alt. Ordentlich immatrikuliert waren im Wintersemester 2010/2011 insgesamt 2,21 Millionen Studierende. Davon waren lediglich 0,2 Prozent über 60 Jahre alt. Im Vergleich zu der großen Zahl der ordentlich immatrikulierten Studierenden machen Gasthörerinnen und -hörer nur knapp zwei Prozent aus.