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* Die allianz q ist ein Zusammenschluss von Akteuren aus dem Gesundheitswesen: Schweizerischer Diabetesgesellschaft SDG ASD, OsteoSwiss, Schweizerischer Osteoporose-Gesellschaft, Konferenz Kan­tonal­er Ärztegesellschaften KKA, Ärzten mit Patientenapotheke ApA, H+ Die Spitäler der Schweiz, Interpharma, Merck Sharp &  Dohme-Chibret MSD, Zurich Heart House und Privatpersonen. Die allianz q stellt den Patienten ins Zentrum und thematisiert Qualität – vor allem die Qualität der Versorgung – in allen Facetten. Die allianz q spricht Probleme an, fragt nach Daten und zeigt auf, was epide­miologische und volkswirtschaftliche Bedeutung hat: Brust­krebs, Depressionen, Diabetes, Osteoporose, COPD, Herz-KreislaufEr­krankungen. Die allianz q fordert die richtigen Anreize, sucht Vor­bilder und involviert Experten, welche Lösungen definieren. Die allianz q existiert seit Januar 2010.

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Editorial

Nutzen im Zentrum, Qualität als Ziel An ihrem zweiten Workshop hat die allianz q* auf dem Stoos die Verhältnisse im schweizerischen Gesundheitswesen nach qualitativen Kriterien ausgeleuch­ tet und wo möglich internationale Vergleiche angestellt. Im Zentrum der Arbeit von Fachleuten standen drei Volkskrankheiten: Diabetes, COPD und Osteopo­ rose. In ihrem 2010 vorgestellten Manifest fordert die allianz q, das Schweizer Gesundheitswesen solle optimale Versorgung und höchste Qualität gewährleis­ ten. Dies erfordert eine umfassende patientenzentrierte Praxis, die auf den Krankheitsbildern der Patienten aufbaut, der Gesundheitsziele zugrunde liegen und die in einer integrierten Versorgung stattfindet. Dabei stehen jene Patienten im Zentrum, welche für das Gesundheitswesen die grösste Herausforderung darstellen: die chronisch Kranken. Die allianz q plädiert für effektive und nach Best Practice organisierte Managed-Care-Modelle, die für chronisch Kranke wirklich attraktiv sind. Wie finden wir aber den Ausweg aus der Kostenfixierung, die das Schweizer Gesundheitswesen und die Schweizer Gesundheitspolitiker beherrscht? Statt Lösungen für eine qualitativ hochstehende Versorgung zu finden, blockiert sie den gesundheitspolitischen Fortschritt. Es nützt wenig, die richtigen Anreize zu fordern, wenn der Weg dorthin nicht für alle ersichtlich ist. Die richtigen Anreize – der gut austarierte Risikoausgleich und die monistische Finanzie­ rung – können in der Schweiz nur dann geschaffen werden, wenn alle von der gleichen Überzeugung geleitet werden: Wir müssen Qualität anstreben, ohne ständig nur die Kosten im Auge zu haben. Krankenkassen und die Leistungs­ erbringer müssten gemeinsam zwei hohe Ziele ansteuern: Erstens müssten sie sich besser koordinieren und zweitens müssten sie ihre Arbeit ganz auf die Bedürfnisse des Patienten ausrichten. Wie zentral das ist, lässt sich am besten an den grossen Volkskrankheiten wie den Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depres­ sion, Krebs, Osteoporose, COPD oder Diabetes darstellen. Die in diesen Krank­ heitsfeldern praktizierten Modelle integrierter Versorgung orientieren sich oft an möglichst niedrigen Kosten. Das bedeutet letztlich schlechtere Behand­lung von chronisch Kranken. Der in der vorliegenden Broschüre diskutierte Appell lautet deshalb: Wollen wir uns verbessern, müssen wir künftig in Richtung Qualität steuern – und nicht nur auf die Kosten schauen.

Dr. Willy Oggier Gesundheitsökonom

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Qualität und Wirtschaftlichkeit: Wie kommen wir weiter? Qualität vor Kosten: Das ist der Grundsatz, welcher Gesundheitssysteme effek­ tiver und patientenorientiert macht. Unser Gesundheitssystem ist heute nur ansatzweise ganzheitlich und patientenzentriert. Die Ursache ist offensicht­ lich: Kaum je bauen die Versorgung und die einzelnen Behandlungspfade auf den gesamtheitlichen Krankheitsbildern der Patienten auf. Chronisch Kranke, die an Osteoporose, Diabetes oder etwa an COPD leiden, erhalten heute nicht jene adäquate Behandlung, die als qualitativ hochstehend und nachhaltig ­bezeichnet werden dürfte: Die Behandlungen sind zu fraktioniert, zu punk­ tuell, zu unkoordiniert. Der eindimensionale Fokus, Handeln und Behandeln im Gesundheitswesen am Kriterium «tiefe Kosten» zu messen, ignoriert die notwendigen Bedürfnisse, die Befindlichkeit und die Wünsche der Patientin­ nen und Patienten – und immer stärker auch jene der Ärzte und der Pflegen­ den. Der nach günstiger (=billiger) Versorgung strebende Wettbewerb setzt falsche Anreize. Schweiz muss sich international vernetzen Leider widerspiegeln auch die politischen Grundlagen für eine Managed-CareVorlage diese teilweise falsche Ausrichtung. Gute integrierte Versorgung muss sich an ihrer Wirkung auf folgende Zielgruppen messen lassen: ältere Menschen, sozial Schwache und kostenintensive Patienten. Erst wenn eine Versorgung auch den Ansprüchen dieser Gruppen genügt, ist ein Gesundheits­system gut. In der längst laufenden und von der allianz q angestossenen Diskussion sind nun auch neue Aspekte einzubeziehen. Das Schweizer Gesundheits­wesen braucht bessere Netzwerke, die international verbinden. Die Schweiz allein ist zu klein, um Standards zu setzen, genügend Daten zu erheben und den Nutzen medizinischer Leistungen verlässlich genug ausweisen und nachweisen zu kön­ nen. Diese Grundlagen für qualitative Versorgung müssen wir mit andern Län­ dern gemeinsam schaffen. Es gilt auch, Abschied zu nehmen: Die romantische Vorstellung von integrierter Versorgung, welche vor allem auf Hausarztmodel­ len aufbaut, ist nicht mehr zeitgemäss. Ein patientenorientiertes und qualitäts­

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fokussiertes und effizientes Modell nutzt heute die Potenziale aller Leistungs­ erbringer und insbesondere die Möglichkeiten von E-Health. Innovation sichern, Staat zurückbinden Schliesslich gilt es, den Tendenzen zu mehr staatlicher Regulierung mit regu­ liertem Wettbewerb entgegenzutreten. Überregulierung lähmt Innovation und die dafür nötigen Prozesse. Deshalb darf ein auf Qualität ausgerichtetes System keine fixen Vorschriften zur Kostenbeteiligung enthalten, keine Monopolstel­ lungen und auch keinen Angebotszwang, dem Leistungserbringer unterworfen wären. Unvorteilhaft ist auch die seitens der Behörden geförderte Unterbindung der Selbstdispensation. Die Selbstdispensation bringt mehr Versorgungsquali­ tät für den Patienten. Mit Blick auf die rasch älter werdende und dann mitunter mobil eingeschränkte Bevölkerung ist sie richtig und zweckmässig.

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Gute Qualitätsansätze anderer Länder Es gibt kein Land mit einem so ausgeprägt qualitätsorientierten Gesundheitssystem, dass es vollumfänglich als Vorbild dienen könnte. In vielen Bereichen sind der Schweiz aber viele Länder voraus.

Trotzdem können wir lernen: In der Brustkrebsprävention etwa käme die Schweiz schon weiter, wenn sie europäische Standards für gültig erklären würde – konkret die Übernahme der EU-Resolution, die zur flächendeckenden Ver­sorgung mit Brustzentren und zur Einführung von Screening-Pro­ gram­men bis 2018 verpflichtet. Im Zusammenhang mit Diabetes wurde die Schweiz schon als statistisches Entwicklungsland bezeichnet, weil es derzeit keine verlässlichen nationalen Daten über An­zahl Erkrankter, Spätfolgen und Behandlungskosten gibt. Allerdings gilt diese Kritik nicht nur für Diabetes, sondern für die meisten Volkskrankheiten. Vorbilder sind hier die nordeuro­päischen Länder und teilweise auch die USA. Sie betreiben auf­g rund besserer Datenlage in integrierten Modellen eine gezielte Steuerung und Koordination der Patientenbetreuung, die gute Resultate bringt. Und aus Patientensicht – und diese ist ja die wichtigste Perspek­tive – bietet generell das Modell Holland gute Ansätze: Weil dort das Messen von Nutzen und Outcome weit entwickelt ist und Qualitäts­indikatoren zum Standard gehören, können Patientinnen ihren Arzt aufgrund dieser Qualitätsindikatoren wählen.

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Handlungsbedarf bei grossen Volkskrankheiten Die Bedeutung von «chronisch krank sein» hat sich in den letzten Jahren in der Schweiz stark gewandelt. Dies hat einerseits mit der rasch älter werdenden und vielerorts schon stark gealterten Bevölkerung zu tun. Andererseits hängt es auch mit dem Fortschritt der Medizin zusammen: Die Menschen werden älter, sie leben länger und sie leben länger mit Krankheiten, die sie jahrzehntelang begleiten. Zahlreiche Krebserkrankungen, Osteoporose, Diabetes und COPD ge­ hören zu den chronischen Erkrankungen, welche heute rund 80 Prozent der Gesundheitskosten verursachen. Chronisch krank sein ist für Hunderttausende von Schweizerinnen und Schweizern Alltag geworden. Damit sind die Herausforderung und das Ziel nicht mehr primär die Heilung dieser chronisch kranken Patientinnen und Patienten, sondern die Verbesse­ rung ihrer Lebensqualität und damit letztlich eine Verkürzung ihrer Pflegebe­ dürftigkeit. Der Handlungsbedarf ist entsprechend gross. Die steigende Anzahl chronisch Kranker in unserem Land und die harzig verlaufenden Reformen des Gesundheitssystems, gepaart mit einem Mangel an Ärztenachwuchs und an genügend qualifiziertem Pflegepersonal, überfordert alle: Patienten, Behandelnde – das gesamte System. Eine Reform dieses vom Menschen für den Menschen gemachten Systems können wir nicht vom Staat erwarten. Die Politik kann zwar gute Rahmenbedin­ gungen schaffen, um den Kampf und den Alltag mit den grossen Volkskrank­ heiten für viele so lebenswert wie möglich zu machen. Doch gute Qualität, hohe Patientenzentriertheit und schliesslich eine integrierte Versorgung, die diesen Namen auch verdient, müssen die Leistungsträger miteinander aufbauen. Zu­ mal in der Schweiz – soweit ausreichend Daten vorhanden sind – alle chroni­ schen Krankheiten einige unvorteilhafte Gemeinsamkeiten aufweisen: Die Be­ handlungen sind zu stark fragmentiert, die involvierten Leistungsträger sprechen sich zu wenig ab und mangels genügend gut erhobener Grundlage­ daten bleibt die Behandlung oft suboptimal.

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Osteoporose – eine der zehn häufigsten Krankheiten weltweit Osteoporose ist jene Krankheit, vor der sich wenige Menschen wirklich fürchten. Osteoporose ist aber auch jene Krankheit, von der zu viele denken, sie selbst würden nie davon betroffen. Osteoporose ist eine der zehn häufigsten Krankhei­ ten weltweit. Sie wird für unser Gesundheitssystem wegen der enormen Folge­ schäden durch die Krankheit ein zunehmendes Problem werden. Denn die Zahl jener, die an Knochenschwund und dann unter Knochenbrüchen leiden, wird sich in den nächsten 20 bis 30 Jahren vervielfachen. Osteoporose wird eine der grossen Volkskrankheiten schlechthin. Es trifft Männer wie Frauen Noch bis vor wenigen Jahren herrschte der Glaube vor, Knochenschwund und die dann folgenden Brüche seien schicksalshaft. Zudem glaubte man, die Krank­ heit treffe lediglich Frauen nach den Wechseljahren. Heute wissen wir, dass es auch viele Männer trifft. Der Bedarf an adäquater Vorsorge und Behandlung ist folglich enorm. In den letzten 20 Jahren hat sich schliesslich die Einsicht durchgesetzt, dass gute Versorgung der Osteoporosepatienten hilft, die gefürch­ teten Knochenbrüche verhindern zu können. In kaum einer anderen Krankheit liesse sich so wirkungsvoll eingreifen: Mittels frühzeitiger Prävention und ge­ nügend Bewegung in jungen Jahren lässt sich das Krankheitsrisiko vermindern. Ab etwa dem dreissigsten Lebensjahr beginnt der natürliche Knochenabbau und es gilt, dem Skelett besonders Sorge zu tragen. Im dritten «Stadium», etwa ab 65 Jahren und oftmals osteoporose-krank, ist in der Regel eine Kombination von Vorsorge und Behandlung nötig. Die Ausgangs­ lage ist jedoch schwierig: Das internationale Bild zeigt, welch enorme Mängel die Versorgung heute aufweist. Die Krankheit ist nicht mit Angst besetzt. Zum Vergleich: In Österreich wissen etwas 80 bis 90 Prozent aller Leute, was Osteo­ porose ist. Höchstens 10 Prozent glauben aber, es könnte sie selbst einmal treffen. Wenn sie, vielleicht im Alter von 60 bis 65 Jahren, je­doch eine entspre­ ch­ende Diagnose erhalten, wäre eine qualitativ hochstehende Abklärung sehr wichtig. Diese ist zwar kostspielig, hilft aber, den weiteren Verlauf der Krank­

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heit zu kontrollieren. Es braucht Röntgen, Knochendichte­messung, Laborabklä­ rungen. Erhebungen aus Österreich zeigen: 61 Prozent der Patienten haben zwar eine Form von Knochendichtemessung erhalten, aber weder ein Röntgen­ bild noch Laborabklärungen. Lediglich 1 Prozent erhielt die ganzheitliche Ab­ klärungsversorgung. Vergleichbare offizielle Zahlen für die Schweiz fehlen. In Österreich bietet sich ein erschreckendes Gesamtbild: 80 Prozent der Patienten mit hohem Risiko von Knochenbrüchen erhalten heute keine adäquate Thera­ pie. 50 Prozent der Patienten steigen nach einem Jahr aus der Therapie aus, nach 2 Jahren wird noch 1 Prozent therapiert. Das Fazit: Die Aufklärung der Patienten (und der Bevölkerung überhaupt) ist schlecht, die Abklärung zu wenig gut koordiniert und standardisiert. Der Hand­ lungsbedarf, um die Qualität der Osteoporoseabklärung und -behandlung zu verbessern, ist hoch: 1. Information und Prävention, also das Verhindern der Knochendichteabnahme, müssen aktiver und nachhaltiger werden. 2. Für die Diagnostik der Osteoporose braucht es verbindliche Standards. 3. Selbsthilfe und Schulung der Patienten sind auszubauen – auch in der Akut­ behandlung. Schliesslich braucht es Rehabilitationszentren mit geschultem Pflegepersonal.

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Gute Prävention ist das Wichtigste Was für chronische Erkrankungen allgemein richtig ist, gilt für Osteoporose ganz besonders: Gute Prävention ist das Wichtigste. Diese soll nicht erst einsetzen, wenn es bei längst erkrankten Patienten darum geht, die Sturzgefahr einzudämmen oder Stürze zu verhindern. Osteoporoseprävention muss früh beginnen und mit einem breiten edukativen Ansatz in der gesamten Bevölkerung verankert werden. Es gilt nämlich, auch jene zu erfassen, die 10 bis 20 Jahre vor einer möglichen Erkrankung keinen Grund sehen, sich mit den Risiken zu befassen. Dis­ziplin und verstärkte Aufmerksamkeit, erhöhtes Bewusstsein. Kontinuierliche Weiterbildung und Schulung der Patienten wirken motivierend. Die Erfahrung zeigt, dass dies am besten in Selbsthilfegruppen ge­lingt. Arzt-Patienten-Gespräche sind da weit weniger wirksam. Ein Beispiel aus Deutschland zeigt: In Erstkonsultationen erhält der Patient im Durchschnitt 104 Sekunden Redezeit; im weiteren Gespräch wird er vom Arzt nach durchschnittlich 18 Sekunden unterbrochen. In Gruppen­gesprächen hingegen kann sich der Patient einbringen, während andere Betroffene von seinen Erfahrungen profitieren und lernen können.

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COPD – Hilfe zur Selbsthilfe bringt sehr viel COPD (Chronic Obstructive Pulmonary Disease; chronisch obstruktive Lungen­ erkrankung) bezeichnet die chronisch obstruktive Bronchitis und schliesslich eine Zerstörung des Lungensystems (Lungenemphysem). Die Krankheit kommt schlei­ chend und wird oft erst bei älteren Patienten diagnostiziert. Sie hat eine dauerhaf­ te Verengung der Bronchien zur Folge und sie bringt als wichtigstes Symptom zunehmende Atemnot mit sich. Diese geht oft einher mit stark angeschwollenen Schleimhäuten, verkrampfter Bronchialmuskulatur und einer stark erhöhten Schleimproduktion. Schlimmste Folge ist eine dauerhafte Schädi­gung der Lungen­ bläschen, eine Überblähung der Lunge und somit eine permanente, starke Atem­ not. COPD gilt unter den zehn häufigsten zum Tode führenden Krankheiten welt­ weit als jene Todesursache, die nach wie vor konstant zunimmt. Sie ist derzeit die vierthäufigste Todesursache. Luftverschmutzung, permanente Staubexposi­tion, Rauchen und Passivrauchen sind die häufigsten Verursacher von COPD. Wie bei vielen anderen Volkskrankheiten findet heute leider auch im Kampf gegen die chronisch obstruktive Lungenkrankheit die Versorgung in einem zu stark fragmentierten Behandlungssystem statt. Mangelhafte Kommunikation zwischen dem Patienten und seinem engeren Umfeld wirkt sich negativ auf den Zustand des Lungenkranken aus. COPD ist eine der Krankheiten, bei welchen die Selbsthilfe von enormer Bedeu­ tung ist. Nur wirklich patientenrelevante Ziele führen zum Erfolg. Der Patient muss selbstverantwortlich erleben, wie er sich behandeln kann, statt seine Krankheit als ein medizinisches Problem zu betrachten, welches für ihn gelöst werden sollte. Das Wissen des Patienten um seine Fähigkeit zum Fortschritt ist zentral. Es geht nämlich bei der Behandlung von COPD unter anderem darum, Patienten zu befähigen, in kleinen Schritten ihr Verhalten zu ändern und so grösstmögliche Eigenständigkeit zu erhalten. Raucherentwöhnung dank Gruppe Je autonomer ein COPD-Patient seine Krankheit managt, desto besser sein Zu­ stand. Die Analyse zeigt, dass nur ein intensives Coaching und eine enge Zusam­ menarbeit in der gut vernetzten Gruppe zum Erfolg führen können. COPD-Pati­

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enten müssen erkennen können, dass Aufwand und Ertrag stimmen, auch wenn es sich um einen Langzeitprozess handelt und es viel Energie kostet, Verhaltens­ änderungen bei sich zu bewirken (siehe Kasten). Ärzte und Pflege­personal wie­ derum müssen mithilfe des Patientenumfeldes und der Angehörigen besser be­ fähigt werden, in diesem Prozess nicht am Patienten vorbeizuhandeln, sondern mit ihm zu reden und zu wirken. In einem DRG-System sind COPD-Behandelnde also stark herausgefordert: Ein differenzierter Risikoausgleich könnte den rich­ tigen Anreiz setzen, die mangelnden Ressourcen überwinden zu helfen. Internationale Studien zeigen: Gerade bei COPD ist die Diskrepanz zwischen dem, was der Patient braucht und was er bekommt, meist zu gross. Mit dem Aufbau eines Chronic-Care-Modells liesse sich einiges verbessern. Chronic-CareModelle richten den Fokus stark auf die Koordination zwischen Spital und Grundversorgung. COPD-Behandlungen zeigen Erfolge, wenn Arzt und Patient und ihr Umfeld Partner sind und gemeinsam ein «Top-down»-Verhältnis ver­ meiden. Gruppenmodelle in der Uniklinik Zürich zeigen: COPD-Patienten stell­ ten das Rauchen auch ohne gezielte Raucherintervention ein. Sie tun es dank Akzeptanz der Gespräche und Erfahrungen in der Gruppe.

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Mit COPD leben Wenn der COPD-Patient kontinuierlich zu seinem eigenen Experten wird und sich um seine Gesundheit kümmert, gibt es weniger Lang­ zeitkomplikationen, weniger Notfälle und Hospitalisationen – und somit eine Erhöhung der Lebensqualität («the Expert Patient»). Im Universitätsspital Zürich treffen sich COPD-Patienten deshalb in der Gruppe, statt mit dem Arzt Einzelgespräche zu führen. Arzt, medi­zinische Praxisassistentin, Physiotherapeutinnen und weitere Fach­personen bilden um den Patienten und dessen Angehörige ein sich ergänzendes Team. Dieses «Living well with COPD» basiert auf einem kanadischen Modell und wurde für die Schweiz adaptiert. Im Wechsel mit Einzelschulungen wird der Patient in Gruppen gecoacht. COPDPatienten leben dabei in einem eigentlichen netzwerkbasierten Aktionsplan, betreut von einem Case Manager. Dies hilft, die Qualität der Versorgung zu steigern und die Kosten besser zu kontrollieren, weil alle Behandlungsschritte eng aufeinander abgestimmt werden. Die Patienten lernen und üben die gute Atemtechnik, sie entwickeln Methoden, wie sie Energie sparen können, und trainieren gemeinsam. Der Effekt des Voneinanderlernens ist hoch. Gemeinsam können Pati­ enten in diesem Modell Motivation entwickeln und Zuversicht schöpfen.

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Diabetes – integrierte Versorgung im Interesse des Patienten Diabetes mellitus Typ 2 (Altersdiabetes) ist eine der häufigsten chronischen Krankheiten. Sie wird in unserer Gesellschaft häufiger und sie verursacht hohe Kosten – allein in den USA jährlich 132 Milliarden Dollar (15 % der gesamten US-Gesundheitskosten von 856 Milliarden). Alle 5 Sekunden erkrankt weltweit ein Mensch an Diabetes, alle 10 Sekunden stirbt eine Person an der Krankheit und alle 30 Sekunden wird einem Diabeteskranken ein Bein amputiert. Typ2-Diabetes hat sich laut der Weltgesundheitsorganisation WHO zwischen 1994 und 2010 verdoppelt. Und obschon Schweizerinnen und Schweizer nicht sehr hohe Adipositas- und Übergewichtsraten ausweisen, ist die Krankheit auch hierzulande im Vormarsch. «Nebendiagnose» als Hürde Würde der einfache Präventionsansatz «Eat less – exercise more» generell kon­ sequenter verfolgt, würde das Problem schwinden, statt zu wachsen. Doch so weit sind wir nicht. Glücklicherweise ist jedoch Diabetes gut behandelbar. Die gültigen Empfehlungen, wie sich Diabetiker verhalten sollen, müssten jedoch besser vermittelt und besser befolgt werden. Das wird heute oft durch Mängel an den Schnittstellen (siehe Kasten) verhindert, mitunter sind die Probleme formal und simpel, aber sie wirken sich negativ aus: Die Arztbriefe beispiels­ weise sind oft zu lang und es ist darin nicht auf den ersten Blick ersichtlich, was in vernünftiger Zeit zu tun wäre. In Spitälern ist die Situation oft suboptimal und kompliziert: Nach wie vor taucht Diabetes oft als Nebendiagnose auf, wel­ che im Behandlungspfad einer anderen Krankheit dann auch noch berücksich­ tigt werden muss. Ein taugliches Managed-Care-Modell Die besonders wirksamen Massnahmen werden schliesslich in der Regel nicht vom Arzt im Spital, sondern ambulant vorgenommen – und sind keineswegs neu: Die ursprünglich aus den USA stammende Institution der «Diabetes Nur­ ses», welche den Patienten und seinen Alltag ins Zentrum stellen, zeigt in allen Ländern Wirkung: Daheim, im vertrauten Umfeld, wird dem Patienten das In­

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sulin gemessen und verabreicht, bis er diese Tätigkeiten auch selbst beherrscht. Mindestens ebenso wichtig ist es, mit ihm den Einkauf zu besprechen und mit ihm gemeinsam Mahlzeiten zuzubereiten. Die im «Good Managed Care»-Dia­ betes-modell definierten Kriterien für eine gute Diabetesbehandlung zeigen, wie komplex aber auch eine ambulante integrierte Versorgung von Diabetes­ kranken ist. Dabei geht es in erster Linie nicht einmal nur um die medizinische Behandlung, sondern ganz ausgeprägt auch um Körperbewusstsein und Körper­ pflege (Podologie). Untersuchungen von Langzeitblutzucker HbA1c, Blutdruck, Cholesterin sowie der Augen, Nephropathiesuche, Fussuntersuchung und Rauchberatung sind zwingend und entscheidend für die Lebensqualität der Di­ abetiker und zur Vermeidung von schwerwiegenden Folgeschäden (Amputati­ onen). Das ist nur möglich, wenn Qualität im integrierten Behandlungsverlauf, Kooperation in guter Vernetzung und ein gutes Mass Effizienz an den Schnitt­ stellen gewährleistet sind.

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Schnittstellenmanagement ist entscheidend In den letzten Jahren hat sich das Gewicht der Diabetesbe­hand­­lung stark vom Spital hin in den ambulanten Bereich verschoben. Weil Diabetes oftmals als Nebendiagnose gestellt wird, ist zudem das Schnittstellenmanagement zwischen stationärer und ambulanter Behandlung besonders bedeutsam. Die Einführung der Fallpau­ schalen (DRG) in den Schweizer Spitälern macht dies noch wichtiger – aber auch schwieriger: Unter DRG wird es für die Belegschaften im Spital aus Planungsgründen besonders wichtig, zu wissen, wer ihnen zugewiesen wird. Seitens des Patienten manifestieren sich die Probleme heute beim Spitalaustritt: Wenn der Patient die Klinik verlässt und nicht gut genug weiss, wie er sich im Alltag verhalten soll, verschlechtert sich sein Zustand. Diesen Mangel zu beheben, ist unter dem herrschenden Kostendruck in den Spitälern eine grosse Herausforderung. Die Tatsache, dass heute oftmals «en passant» noch eine Diabetesversorgung verordnet wird, kompliziert die Behandlung und wirkt sich sowohl auf Qualität wie auf Kosten ungünstig aus. Geht ein Patient zu wenig gut geschult heim, führt dies lediglich erneut zu zusätzlichen Kosten im ambulanten Bereich, weil der Patient «Nachhilfe» beziehen muss. Es darf nicht sein, dass im ambu­ lanten Bereich ständig nachgebessert werden muss, weil im statio­ nären Bereich Koordinationsprobleme bestehen. Deshalb sollten auch in der Schweiz teilstationäre Institutionen, wie es sie im Ausland gibt, grössere Bedeutung erhalten.

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Prof. Thomas Zeltner

Ein Gesundheitssystem soll die Last der Krankheit für alle mindern: Was zu tun ist 1: Wir wissen zu viel In der Medizin findet heute eine Wissensexplosion statt. Innert 3 – 4 Jahren verdoppelt sich dieses Wissen jeweils – und niemand kann es ausreichend nutz­ bringend umsetzen. Die Folgen sind offensichtlich: Spezialisierung und Frakti­ onierung nehmen zu. Bereits heute kennen wir 500 Gesundheitsberufe und es werden in einigen Jahren 550 sein. Darunter leiden die Koordination und die Behandlung: Das US Health Department geht davon aus, dass ineffiziente Ab­ läufe heute 30 Prozent der Kosten ausmachen. Besorgniserregend ist die damit einhergehende Häufung von Fehlern, welche tendenziell noch zunimmt: Von 10 Patienten verlässt einer das Spital mit einer Schädigung, die er sich im Verlauf des Aufenthalts zugezogen hat. Ein Qualitätssteigerungsansatz ist also zwingend nötig, andernfalls werden nämlich auch die Kosten weitersteigen.

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«Angehörige von Gesundheitsberufen brauchen unsere Fürsorge. Damit sie imstande sind, ihre Patienten mit voller Hingabe zu pflegen und zu betreuen, müssen sie spüren, dass ihre Vorgesetzten die Überzeugung haben, dass ihr Leben und ihre Gesundheit um keine Spur weniger wichtig sind als die ihrer Patienten.» (Bob Chapman, Journal of Patient Safety, 2011)

Der Ruf nach besserer Leadership gilt auch für das Gesundheitswesen. Wie werden Innovationen in einem stark arbeitsteiligen Betrieb erfolgreich veran­ kert? Es braucht «Change Agents», welche das Gesamtsystem vor Augen haben und den Systemwandel moderieren und orchestrieren. Dies ist zentral, da sonst Prozesse nicht optimiert und integrierte Versorgungen nicht implementiert wer­ den können.

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2: Gemeinsam sind wir stark Es gibt zahlreiche Felder, auf denen die Schweiz von ihrem internationalen Umfeld lernen und profitieren könnte. Das Global Patient Safety Forum etwa existiert bereits. Eine Teilnahme an dieser Plattform zur Beschleunigung des internationalen Austauschs von wirksamen Massnahmen zur Erhöhung der Pa­ tientensicherheit würde es erleichtern, einfache, aber gute Standards zu definie­ ren (Sturzprävention, Infektionen verhindern etc.). Ein weiteres Lernfeld ist die Frage der Kommunikation über Qualität und die einhergehenden Verbesserun­ gen. Die allianz q arbeitet auch diesbezüglich an einer wichtigen Schaltstelle: Es braucht Gremien, die vorausdenken und Konsens schaffen. 3: Geh nur zum Fürst, wenn du gerufen wirst! Der Top-down-Ansatz ist untauglich: Qualität schaffen wir nicht, indem wir auf noch mehr Regulierung seitens der Behörden warten. Das müssen Berufs­ leute tun – unter Einbezug der staatlichen Stellen. «Companies must take the lead in bringing business and society back together.» Diese Aussage aus der Finanzkrise gilt für das Gesundheitswesen ganz stark: Die Gesundheitswirt­ schaft ist schliesslich der grösste Wirtschaftszweig in der Schweiz (in anderen Ländern ist sie Nummer 2). Und Gesundheitssysteme sind komplexe Systeme, die nicht linear funktionieren. Die Ergebnisse von Massnahmen und Hand­ lungsweisen sind in einem komplexen System nur bedingt voraussehbar. Die Erkenntnis, wonach ein Gesundheitswesen eher nach der Chaostheorie und Behörden und Regierungen im FAST-Prinzip (Flatter, Agile, Streamline, Tech-enabled) funktionieren müssten, sollte auch bei den Schweizer Behörden Eingang finden. 4: Die Last der Krankheit schmälern Schliesslich: Wie kann es auch in der Schweiz gelingen, die «Burden of Disease» – die Last des Krankseins – wirklich nachhaltig und für alle zu mindern? Dies in einem Lande, in dem wir anhand der demografischen Entwicklung an­nehmen müssen, dass die Krankheitsbelastung der Gesellschaft tendenziell grösser wird. Erschwerend kommt hinzu: In praktisch 80 Prozent aller Krankheitsfälle (entlang der Aufteilung «unkompliziert, mittelschwer, schwer») sinkt der Anteil der Selbst- und der Nichtprofessionellenhilfe beim Behandeln und Bewältigen der Krankheit. Wie hoch dieser Anteil in der Schweiz ist, zeigt das Beispiel Sin­ gapur: Der Gesundheitszustand der Bevölkerung ist in Singapur und in der Schweiz etwa gleich gut. Singapur gibt aber insgesamt nur einen Drittel so­viel für das Gesundheitswesen aus wie die Schweiz. Es braucht bessere Vernetzung, bessere Kommunikation und ein klares Bekenntnis zu mehr Qualität.

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Impressum Herausgegeben von allianz q Willy Oggier Gesundheitsökonomische Beratungen AG Weinhaldenstrasse 22 8700 Küsnacht ZH E-Mail: gesundheitsoekonom.willyoggier@bluewin.ch Redaktionsteam: Natalia P. Aeple, Willy Oggier, Roland Schlumpf Disponible en traduction française © allianz q, 2011 Basel

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Folgerungen – Forderungen Stoos II Das Schweizer Gesundheitssystem ist lethargisch und resigniert: Patienten kön­ nen nicht das erforderliche Mass an Besserung verzeichnen, Pflegepersonal und Ärzte erleben sich selbst wegen der vielen systemimmanenten Bremsfaktoren als demotiviert und zunehmend handlungsunfähig. Die allianz q plädiert für: • Wegkommen von den fraktionierten und fragmentierten Behandlungen von Symptomen hin zu einer patientenzentrierten Ausrichtung und Koordi­ nation der Behandlung polymorbider und chronisch kranker Patienten • Integrierte Versorgung ist nicht Sache der Hausärzte, sondern benötigt für den Erfolg die Integration und Koordination aller Leistungserbringer. Es ist ein Modell, das auch hoch spezialisierte Universitätskliniken mitge­ stalten sollten • Netzwerke und Selbsthilfegruppen stärken: Good-Managed-Care-Modelle • Krankheitsbilder sind besser aufzuarbeiten: Patientenwissen mehren und nutzen (Patient Empowerment und Expert Patient) • Prävention und Früherkennung sind zu stärken und wo nötig auszubauen • Ein qualitätsorientiertes Gesundheitswesen braucht gute Rahmenvorgaben des Bundes, aber weniger Vorschriften und damit weniger Regulierung • Top-down muss zu Bottom-up werden: Dies gilt für die Reform des gesam­ ten Gesundheitssystems • Richtige Anreize durch verfeinerten Risikoausgleich und Einführung des Monismus • Die Leaderfunktion in der Gesundheitswirtschaft muss wachsen

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