IPPNW-Thema: Medizin und Menschlichkeit

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Dezember 2022 internationale Ă€rzt*innen fĂŒr die verhĂŒtung des atomkrieges – Ă€rzt*innen in sozialer verantwortung

und Menschlichkeit: 75 Jahre NĂŒrnberger Kodex

Medizin
Graffiti: Banksy (Ausschnitt)Foto: Warholian.com / CC BY-ND 2.0
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Fotos: Ray D‘Addario / © Dr. Helmut Sörgel und IPPNW NĂŒrnberg JAMES M. MC HANEY FÜHRTE DIE ANKLAGE IM ÄRZTEPROZESS. RICHTERTISCH IN NÜRNBERG

Der NĂŒrnberger Ärzteprozess

Gegenstand des NĂŒrnberger Ärzteprozesses waren vor allem medizinische Experimente, die an KZ-HĂ€ftlingen ohne RĂŒcksicht auf deren Gesundheit und Leben vorgenommen worden waren. Aber auch die Verantwortung fĂŒr den Massenmord an psychisch kranken und behinderten Menschen sowie Sterilisationsversuche an HĂ€ftlingen wurden den Angeklagten zur Last gelegt. Angeklagt waren 23 Personen, denen entweder die Verantwortung fĂŒr die Medizinverbrechen oder die direkte Beteiligung daran vorgeworfen wurde. Ranghöchster Angeklagter war Prof. Dr. med. Karl Brandt, chirurgischer „Begleitarzt“ von Adolf Hitler, SS-GruppenfĂŒhrer und Generalkommissar fĂŒr das SanitĂ€ts- und Gesundheitswesen. Sieben der Angeklagten wurden vom Gericht zum Tode verurteilt, sechs freigesprochen. Die restlichen Angeklagten erhielten Haftstrafen zwischen zehn Jahren und lebenslĂ€nglich – bis Mitte der 50er Jahre wurden sie allerdings alle wieder freigelassen.

Der Physiologe Andrew Ivy, der als SachverstĂ€ndiger bei den Prozessvorbereitungen war, schlug vor, Richtlinien dazu zu formulieren, unter welchen Bedingungen Versuche an Menschen akzeptabel seien. In seinem Urteilsspruch griff das MilitĂ€rgericht diese Richtlinien auf; es formulierte die zehn GrundsĂ€tze â€žĂŒber zulĂ€ssige medizinische Versuche“, die als NĂŒrnberger Kodex in die medizinethische Diskussion eingegangen sind.

Zu den Fotos:

Der 26-jĂ€hrige US-Amerikaner Ray D'Addario wurde 1946 als Fotograf fĂŒr den NĂŒrnberger Kriegsverbrecherprozess ausgewĂ€hlt. Er ist der aktivste und bekannteste der Fotojournalisten, die fĂŒr das MilitĂ€r arbeiteten und dokumentierte auch die Nachfolgeprozesse. Als Gerichtsfotograf musste er sich auf technische EinschrĂ€nkungen einlassen, und zum Beispiel ohne Blitzlicht fotografieren. Tausende von Schwarzweiß- und Farbfotos entstanden, die in der weltweiten Berichterstattung ĂŒber die Kriegsverbrecherprozesse verwendet wurden. Die IPPNW-Regionalgruppe verhandelte bei der Vorbereitung zum ersten Kongress „Medizin und Gewissen“ 1995 mit Ray D’Addario. Wenig spĂ€ter erwarb sie von ihm persönlich alle Fotos des Ärzteprozesses. Ray D‘Addario starb 2011.

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Mehr ĂŒber den Fotografen Ray D’Addario finden Sie hier: Kurzelinks.de/daddario
Vom 9. Dezember 1946 bis zum 20. August 1947 fand der Ärzteprozess im NĂŒrnberger Justizpalast statt
Foto: Ray D‘Addario / © Dr. Helmut Sörgel und IPPNW NĂŒrnberg AUF DER ANKLAGEBANK: PROF. KARL BRANDT

Medizin und Menschlichkeit

Vom 21.-23. Oktober 2022 fand der Kongress „LebensWert“ in NĂŒrnberg statt.

75 Jahre nach der UrteilsverkĂŒndung im NĂŒrnberger Ärzteprozess organisierte die IPPNW-Regionalgruppe NĂŒrnberg-FĂŒrth-Erlangen im Oktober 2022 den 6. Internationalen Kongress „Medizin und Gewissen“ in NĂŒrnberg. Das Kongressthema „LebensWert“ spannte den Bogen von einer „Medizin ohne Menschlichkeit“ im des Dritten Reich ĂŒber ethische Diskussionen im Gesundheitswesen der Gegenwart – bis hin zur „Planetaren Gesundheit“ in der Zukunft.

Neben VortrĂ€gen zur medizinisch-ethischen Geschichte referierten national und international bekannten Expert*innen zu aktuellen Herausforderungen wie planetaren Grenzen und den ökologischen Folgen von Krieg und Klimawandel. An der Konferenz nahmen rund 250 Ärztinnen, Ärzte und Medizinstudierende teil, die den Austausch vor Ort sichtlich genossen.

„Die IPPNW veranstaltet den Kongress Medizin und Gewissen seit 1996. Zum ersten Mal haben wir dieses Jahr den Aspekt der Klimakatastrophe und die Herausforderung planetarer Grenzen ausfĂŒhrlich thematisiert. Unsere Referent*innen haben den Kongress zu einem vollen Erfolg gemacht“, resĂŒmierte Dr. Horst Seithe, Mitglied des Vorbereitungsteams der IPPNW-Regionalgruppe. Die Ökonomisierung der Medizin und die Bedrohungen der Gesundheit und menschlicher Lebensgrundlagen durch Klimakrise, Armut und Krieg können nicht unabhĂ€ngig voneinander betrachtet werden. Sie verstĂ€rken sich gegenseitig und rufen uns zu Eigeninitiative auf, so der Tenor des Kongresses.

Im historisch-ethischen Themenstrang konzentrierte sich Prof. Paul Weindling von der Oxford Brookes University auf die Angeklagten und Opfer des NĂŒrnberger Ärzteprozesses: „Es gibt nirgends eine einheitliche und vollstĂ€ndige Auflistung von Euthanasie-Opfern. Es gibt also immer noch viel zu tun.“ Prof. George J. Annas von der Boston University School ergĂ€nzte diese Perspektive. Er zeigte auf, dass die inhumane Praxis von Menschenversuchen trotz den Lehren aus dem NĂŒrnberger Ärzteprozess fortgesetzt wurde. Exemplarisch nannte er u.a. die Versuche mit Plutonium in den USA, um die Wirkung von RadioaktivitĂ€t auf den menschlichen Organismus zu erforschen.

Eine Parallele in die Gegenwart zog Prof. Sondra S. Crosby von der Boston University School of Medicine, mit ihrem bewegenden Vortrag zu den CIA-Verhör- und Foltermethoden im GefĂ€ngnis Abu Ghraib und GuantĂĄnamo. Sie fĂŒhrte aus, wie US-Ärzt*innen Folterungen vorbereitet, fachlich begleitet und im Nachgang dokumentiert haben. Sie stellte klar, dass die verhĂ€ngnisvolle Kombination aus – erstens zu viel an gutem Willen, das „Richtige“ zu tun (in dem Fall, weitere TerroranschlĂ€ge zu verhindern) und auf der „richtigen“ Seite zu stehen und – zweitens aus blindem Gehorsam gegenĂŒber ĂŒbergeordneten Instanzen die TĂ€ter, und zwar auch die beteiligten Ärzte, ihre Menschlichkeit vergessen ließ und sie zu den Folterungen befĂ€higte. Bis auf einen Zivilprozess gegen zwei USPsychologen seien keinerlei Ermittlungen gegenĂŒber dem ausfĂŒhrenden medizinischen Personal aufgenommen worden. Die beteiligten Ärzte wĂ€ren bis heute nicht namentlich bekannt.

Prof. Gerhard Trabert, der durch sein Engagement fĂŒr Menschen in Obdachlosig-

keit bekannt wurde, betonte in seinem engagierten Vortrag die Notwendigkeit des Menschenrechts auf eine bestmögliche Gesundheit. Er beleuchtete damit im zweiten Themenstrang des Kongresses die sozial-ökonomische Perspektive. Dr. Bernd Hontschik, Chirurg und Publizist, wies darauf hin, dass das Gesundheitssystem als kapitalistisches Herrschaftssystem missbraucht werde. Eine „Entmenschlichung der Medizin“ fĂŒhre zurĂŒck zur Terminologie der NĂŒrnberger Prozesse.

Dorothea Baltruks vom Centre for Planetar y Health verglich im dritten Themenstrang die Erde mit einer Intensivpatientin, die an der Klimakrise als eine von den vielen komplexen Folgen unseres destruktiven Umgangs mit ihr leidet. In den Fokus stellte sie die Medizin: „Ich stelle mir ein Gesundheitssystem vor, in dem wir Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen, ökologischen und wirtschaften EinflĂŒssen so ernst nehmen, dass in allen Politikbereichen Gesundheit mitgedacht wird.“ Auch im Sozialgesetzbuch mĂŒssten planetare Grenzen berĂŒcksichtigt werden. Sie entwarf eine ganzheitlich ausgerichtete Zukunft, in der z.B. die fleischbasierte ErnĂ€hrung deutlich reduziert und der öffentliche Nahverkehr ausgebaut werden mĂŒsse. Diese notwendigen Maßnahmen seien kostengĂŒnstig, wĂŒrden die Gesundheit des Einzelnen im Sinne eines prĂ€ventiv orientierten Lebensstils fördern und wĂ€ren schnell umzusetzen.

Die Vorsitzende der deutschen Sektion der IPPNW, Dr. Angelika Claußen, griff das Thema Klimawandel ebenfalls auf. Ihr Schwerpunkt: Krieg und Klima. „Die IPPNW sieht in der Klimakrise und in der zunehmenden Gefahr eines Atomkrieges die beiden grĂ¶ĂŸten Bedrohungen im 21. Jahrhundert.“ Sie verwies auf den An-

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MEDIZIN & GEWISSEN

griffskrieg Russlands auf die Ukraine und die derzeit mehr als angespannte Lage infolge der russischen Drohung zu einem Atomwaffeneinsatz. Eine mögliche Lösung sieht Claußen in einer VerzichtserklĂ€rung zum Ersteinsatz von Atomwaffen durch Russland und die USA, einen sofortigen Waffenstillstand und in einer Verhandlungslösung.

Dieser Themenkreis wurde von Jacqueline Andres von der IMI TĂŒbingen weiterentwickelt: MilitĂ€rapparate zĂ€hlten zu den Hauptverursachern von Treibhausgasemissionen – dies mĂŒsse in den Statistiken zur KlimaschĂ€digung unbedingt mit berĂŒcksichtigt werden.

„Die vergangenen Tage waren randvoll gefĂŒllt mit neuen Inhalten und vielleicht auch schon Gehörtem, mit Diskussionen und sogar mit Tanz. Wir konnten uns analog sprechen und austauschen, ein Umstand, der mir persönlich sehr gut getan hat und ich hoffe und wĂŒnsche, dass er uns Anregung und Motivation sein wird, Ideen, die wir hier diskutieren konnten, in die Tat umzusetzen“, resĂŒmierte die Vorsitzende der IPPNW-Regionalgruppe, Dr. Elisabeth Heyn in ihrem Schlusswort. Sie verband die unterschiedlichen Themen zu einer Vision:

„Die Veranstaltung hat mir gezeigt, dass wir im Aufbruch sind, dass es neue, oder wiederentdeckte Wege gibt, unsere Umwelt sensibler wahrzunehmen und schonender mit ihr umzugehen. Ich möchte Sie einladen, den NĂŒrnberger Kodex als ethische Basis zu nehmen, die nicht nur fordert, Probanden vor einem Experiment um ihr EinverstĂ€ndnis zu fragen, sondern die die Intention des Kodex erweitert, frei nach dem Kantschen Motto: Der Mensch darf niemals als Mittel zu einem anderen Zweck sein, sondern er ist stets Zweck an sich selbst.

Dann hĂ€tten wir eine Absage an jeglichen Utilitarismus, zumindest bezogen auf den Menschen. Doch nun gehen wir einen Schritt weiter und betrachten die uns umgebende Natur: Dann mĂŒssten wir sie um Erlaubnis fragen, wenn wir etwas aus ihr zu unserem Nutzen entnehmen wollten. Diese Art zu denken war z.B. bei den Natives in Amerika ĂŒblich – und sie ist durch die europĂ€ische Kolonisation fast in Vergessenheit geraten.

Aber fĂŒr mich bildet sie den Bogen, den wir spannen mĂŒssen, um uns unserer planetaren Grenzen ĂŒberhaupt wieder bewusst zu werden. Und es wĂ€re eine schöne Art, nicht nur uns und unser GegenĂŒber, sondern auch die Natur zu respektieren und letztendlich als Geschenk zu betrachten. Ich wĂŒnsche mir, dass der NĂŒrnberger Kodex uns von der schmerz-

lichen Historie einer verbrecherischen Nazi-Ärzte-Vergangenheit, in der Menschen als Material missbraucht wurden, zu einer menschlichen Grundhaltung fĂŒhrt und uns verpflichtet, jetzt und in Zukunft mit uns und unserer Umwelt wertschĂ€tzend und gleichwĂŒrdigend umzugehen.“

Die Kongressdokumentation finden Sie unter: medizinundgewissen.de/ dokumentation

Dr. Elisabeth Heyn ist Mitglied der IPPNW-Regionalgruppe NĂŒrnbergFĂŒrth-Erlangen.

IMPRESSUM

Herausgeber: Internationale Ärzt*innen fĂŒr die VerhĂŒtung des Atomkrieges, Ärzt*innen in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW), Sektion Deutschland

Redaktion: Ute Watermann (V.i.S.d.P.), Angelika Wilmen, Regine Ratke

Layout: Regine Ratke/Samantha Staudte

Anschrift der Redaktion: IPPNW, Körtestraße 10, 10967 Berlin, Telefon: 030 69 80 740, E-Mail: ippnw@ippnw.de, www.ippnw.de

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SĂ€mtliche namentlich gezeichnete Artikel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke bedĂŒrfen der schriftlichen Genehmigung. Erscheint viermal im Jahr.

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PROF. GEORGE ANNAS IM NÜRNBERGER RATHAUS

Was uns der NĂŒrnberger Ärzteprozess fĂŒr die

Gegenwart lehrt

Entmenschlichung und Folter im „Krieg gegen den Terror“

Trotz der Lehren aus dem NĂŒrnberger Ärzteprozess von 1946 spielten Ärzte, die mit AnwĂ€lten zusammenarbeiteten, eine entscheidende Rolle bei den von der US-Regierung geförderten Folterprogrammen in den „Black Sites“ der CIA und den USMilitĂ€rgefĂ€ngnissen, darunter Abu Ghraib, Bagram und GuantĂĄnamo Bay auf Kuba. Welche Ähnlichkeiten gibt es zwischen den Nazi-Ärzten und den medizinischen FachkrĂ€ften im „Krieg gegen den Terror“?

Die Handlungen von Ärzten in Black Sites und US-Haftanstalten sind natĂŒrlich nicht mit den vorsĂ€tzlichen Morden und GrĂ€ueltaten der Nazi-Ärzte vergleichbar. Andererseits gibt es eine klare Parallele zwischen den Problemen, die im Ärzteprozess auftraten, und den Handlungen von medizinischem Fachpersonal in den Black Sites der CIA und militĂ€rischen Haftanstalten: In beiden FĂ€llen warfen medizinische Fachleute ihre ethische Verpflichtung, Schaden von Menschen abzuwenden, ĂŒber Bord und wurden stattdessen zu Agent*innen des Staates.

Es ist klar, dass diese heutigen Mediziner*innen keine Lehren aus den Schrecken der Nazi-Medizin gezogen haben. Ich spreche hier ĂŒber den „Krieg gegen den Terror“, aber es gibt noch viele andere Beispiele dafĂŒr, dass Ärzt*innen ihre Pflichten vernachlĂ€ssigt haben. So fĂŒhrte die US-Regierung beunruhigende und sogar tödliche medizinische Experimente an Afroamerikaner*innen und Gefangenen durch, darunter die berĂŒchtigten Tuskegee-Syphilis-Experimente. In den USA beteiligen sich Ärzte an der Todesstrafe, obwohl BerufsverbĂ€nde dies verbieten.

Was passierte nach 9/11? Im Jahr 2002 unterzeichnete US-PrĂ€sident George W. Bush ein Memorandum ĂŒber die „menschliche Behandlung von Al-Qaida- und Taliban-HĂ€ftlingen“, in dem ausdrĂŒcklich

festgelegt wurde, dass die Genfer Konventionen von 1949 nicht angewendet werden sollten. Diese Abkehr von den Regeln fĂŒhrte zur Schaffung des Rendition, Detention and Interrogation Program, gemeinhin als „Folterprogramm“ bekannt, das von Psycholog*innen, Ärzt*innen und anderem Gesundheitspersonal entwickelt, gefördert und unterstĂŒtzt wurde.

rzte beteiligten sich an der Folter und der grausamen Behandlung inhaftierter TerrorverdĂ€chtiger, nachdem ihnen von AnwĂ€lten des Justizministeriums zugesichert worden war, dass sie ImmunitĂ€t vor kĂŒnftiger Strafverfolgung genießen, wenn sie „nur die in den Rechts-Memos genehmigten Foltertechniken anwenden“. Die AnwĂ€lte erklĂ€rten sich zu dieser ImmunitĂ€t bereit, wenn die Ärzte ihnen versicherten, dass die von ihnen genehmigten „Verhörtechniken“ keine dauerhaften SchĂ€den bei den Personen verursachen wĂŒrden und dass sie wĂ€hrend der Foltersitzungen anwesend sein wĂŒrden, um dauerhafte SchĂ€den bei den Gefangenen zu verhindern.

Die langfristig schĂ€dlichen physischen und psychischen Auswirkungen von Folter sind in der medizinischen Fachliteratur weithin bekannt. Die Aussage der Mediziner, dass das Folterprogramm keine bleibenden SchĂ€den verursachen wĂŒrde, war entweder absichtliche Ignoranz oder eine LĂŒge.

Die USA hatten die Folter neu definiert, um ihrer Agenda gerecht zu werden, d. h. Praktiken wie das ErtrĂ€nken, das Werfen von Menschen gegen WĂ€nde, das AufhĂ€ngen an Ketten an der Decke, Nacktheit, ZwangsernĂ€hrung, das Einsperren in Boxen und extremer Schlafentzug bis zu 180 Stunden wurden zu rechtmĂ€ĂŸigen Verhörmethoden. Ärzt*innen wurden ermĂ€chtigt, eine rektale Hydratation durchzufĂŒhren, wo pĂŒrierte Lebensmittel durch einen Schlauch in den Enddarm verabreicht wurden. Dieser Akt, der ohne jeglichen medizinischen Nutzen und ohne in-

formierte Zustimmung durchgefĂŒhrt wird, ist ein sexueller Übergriff. Wie die durchgesickerten Fotos aus Abu Ghraib, die so genannten „Foltermemos“, der Bericht des Internationalen Roten Kreuzes und auch das Buch von James Mitchell zeigen, wurden nicht genehmigte „Foltermethoden“ in großem Umfang angewendet. Fast alle dieser Techniken fallen unter die allgemein anerkannte Definition von Folter gemĂ€ĂŸ der UN-Anti-Folter-Konvention.

Der Leiter der Rechtsabteilung der Marine, Alberto Mora, versuchte, sich den in den „Foltermemos“ dargelegten Rechtstheorien zu widersetzen und die seiner Meinung nach rechtswidrigen Zwangsverhörmethoden zu beenden. Er meinte, die Juristen auf Regierungsseite schienen das Kriegsrecht, einschließlich der Genfer Konventionen und der NĂŒrnberger Prinzipien, entweder nicht zu kennen oder sich nicht dafĂŒr zu interessieren.

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m Dezember 2014 wurde eine zensierte 600-seitige Zusammenfassung des Berichts des Geheimdienstausschusses des US-Senats ĂŒber Folter veröffentlicht – der vollstĂ€ndige 6.000-seitige Bericht ist bis heute geheim. Die Zusammenfassung dokumentiert – in verstörenden Details –den Einsatz von Ärzten und Psychologen durch die CIA im Folterprogramm. Zwei Vertragspsychologen, James Mitchell und Bruce Jessen, spielten eine SchlĂŒsselrolle im Verhörprogramm, unter anderem erstickten sie Gefangene, die auf eine Trage geschnallt waren, persönlich, indem sie ihnen Wasser durch ein ĂŒber Mund und Nase gehaltenes Tuch ins Gesicht gossen. Viele weitere Mediziner*innen waren in das Folterprogramm involviert – ihre IdentitĂ€t ist bis heute unbekannt.

Ärzte erfĂŒllten im FEI-Programm vier grundlegende Funktionen: Die Freigabe von TerrorverdĂ€chtigen als „medizinisch foltertauglich“ – die Überwachung der Folter, um TodesfĂ€lle zu verhindern und Ver-

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letzungen zu behandeln – die Entwicklung von Foltermethoden, und – tatsĂ€chlich Gefangene zu foltern. DarĂŒberhinaus wurde bekannt, dass Mediziner die Schwachstellen von Gefangenen ausnutzten, indem sie medizinische Informationen an Vernehmungsbeamte weitergaben, Krankenakten und Totenscheine fĂ€lschten, um Verbrechen zu vertuschen, und medizinische Versorgung vorenthielten.

Sowohl die Nazi-Ärzte als auch die CIAVertragspsychologen behaupteten, ihre Handlungen seien legitim, weil sie im Rahmen des Regimes, fĂŒr das sie arbeiteten, rechtmĂ€ĂŸig und zum Schutz des Staates vor seinen Feinden notwendig waren. Mitchell und Jessen boten eine Ă€hnliche Verteidigung wie im Ärzteprozess an – dass ihre Handlungen autorisiert waren und dass sie Befehle befolgten. Jessen erklĂ€rte in seiner Aussage: „Unsere Handlungen waren notwendig, effektiv, legal ... und haben geholfen, Leben zu retten.“ Die Tatsache, dass eine Handlung falsch oder moralisch verwerflich sein könnte, spielte bei seinen Entscheidungen keine Rolle.

Folter ist ein besonders schreckliches Verbrechen, und die Rolle von Angehörigen der Gesundheitsberufe bei der DurchfĂŒhrung oder Ermöglichung von Folter war schon immer schwer zu verstehen. Der Psychiater Robert Jay Lifton, der fĂŒr seine Pionierarbeit bei der Untersuchung von NS-Ärzten bekannt ist, schrieb, dass es möglich ist, „normale“ Ärzte zu Folterern zu machen, indem man sie in „GrĂ€ueltaten produzierende Situationen“ bringt – in Umgebungen, die so militĂ€risch und psychologisch strukturiert sind, dass sie GrĂ€ueltaten begĂŒnstigen. Er glaubt, dass Individuen eine Art von Dissoziation („Verdoppelung“) durchlaufen – die Bildung

eines zweiten Selbst, das es der individuellen Psyche ermöglicht, sich an eine GrĂ€ueltaten produzierende Umgebung anzupassen. (
) Die Black Sites der CIA mit ihrer Abgeschiedenheit und ihren verzerrten Ideologien eignen sich hervorragend, um ein Umfeld zu schaffen, das GrĂ€ueltaten hervorbringt.

Die Entmenschlichung der Opfer war zweifellos ein wichtiger Faktor, um die Beteiligung an der Folter zu rechtfertigen, und zwar sowohl fĂŒr die NS-Ärzte als auch fĂŒr die Gesundheitsfachleute nach 9/11. Durch medizinische Euphemismen wurden die schĂ€dlichen Handlungen sanktioniert und legitimiert. So wird zum Beispiel das ErtrĂ€nken als „Waterboarding“ bezeichnet, UnterkĂŒhlung als „Temperaturmanipulation“ und Sodomie als „rektale ErnĂ€hrung oder Hydratation“. Dies erinnert an die Verbrechen der Nazis unter dem Deckmantel der wissenschaftlichen Forschung, wie etwa die Höhenexperimente. Die Medikalisierung ermöglicht es Ärzten, ihr Verhalten zu rationalisieren und es in den Rahmen ihrer Praxis zu stellen.

Über den Widerstand von Gesundheitspersonal im US-Folterprogramm ist nur sehr wenig bekannt. Wir wissen nur, dass sich ein Krankenpfleger weigerte, Hungerstreikende in GuantĂĄnamo zwangszuernĂ€hren. Diese ZwangsernĂ€hrung erfĂŒllt Berichten zufolge die Definition von grausamer, unmenschlicher, erniedrigender Behandlung (CIDT), wenn nicht gar von Folter. Der Pfleger wurde Berichten zufolge mit „alternativen Aufgaben“ betraut und verließ schließlich „die Marine“.

Obwohl der frĂŒhere US-PrĂ€sident Barack Obama das Folterprogramm offiziell beendete, lehnte er jede Form von Rechen-

schaftspflicht ab und verkĂŒndete, dass „wir in Bezug auf die Folter nicht zurĂŒck, sondern nach vorne schauen mĂŒssen“. Alle Wege fĂŒr jegliche Form der Rechenschaftspflicht fĂŒr Folter – strafrechtlich, zivilrechtlich und sogar beruflich – wurden blockiert. Die US-Regierung hat den Überlebenden keine EntschĂ€digung gewĂ€hrt, obwohl die Folgen langanhaltend sind. Ich habe Dutzende von Überlebenden des US-Folterprogramms an Orten auf der ganzen Welt untersucht und die irreparablen SchĂ€den dokumentiert.

Junge Mediziner*innen heute wissen nichts ĂŒber das CIA-Folterprogramm, und viele wissen nichts ĂŒber den Ärzteprozess. Ich schließe mich Ashley Fernandes an: „Der Holocaust und der NĂŒrnberger Kodex sollten von allen Angehörigen der Gesundheitsberufe studiert werden, um sie daran zu erinnern, wie heilig die Substanz unseres Handwerks ist und welche Folgen es haben kann, wenn wir die WĂŒrde des Menschen wieder vergessen“.

Eine der bleibenden Lehren aus dem 11. September muss sein, dass Ärzt*innen und AnwĂ€lt*innen kooperieren mĂŒssen, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern. Das US-Folterprogramm lehrt uns, dass die Menschenrechte nicht ĂŒberleben können, wenn Justiz und Medizin zusammenarbeiten, um sie zu untergraben.

Sondra Crosby ist Ärztin und Professorin fĂŒr Medizin an der Boston University. Als eine der ersten Ärztinnen untersuchte sie Gefangene in GuantĂĄnamo Bay.

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Vodeostills: ACLU
DIE PSYCHOLOGEN BRUCE JESSEN UND JAMES MITCHELL FOLTERTEN FÜR DIE CIA.

Der lange Schatten des Robert Koch

Koloniale Denkmuster wirken in der Medizin bis heute nach

Die Bakteriologie Robert Kochs entstand in der Glanzzeit des kaiserdeutschen Kampfs um „einen Platz an der Sonne“ und um deutsche Kolonien. Methodisch trennte sie zunĂ€chst Mikroskop und Klinik und den Kranken von seiner Krankheit. Sie machte den „gesunden BakterientrĂ€ger“ zum Drehund Angelpunkt seuchenmedizinischer Maßnahmen und lieferte dem Kolonialismus biologistische und „zivilisatorische“ BegrĂŒndungen. Im Gesundheitswesen der (ehemaligen) Kolonien hinterließ sie verbrannte Erde, wĂ€hrend die kolonialen Denkmuster die Medizin in den Metropolen teilweise bis heute prĂ€gen, deformieren und hemmen. Der Mediziner und Autor Michael Lichtwarck-Aschoff hat auf dem Kongress „LebensWert“ ĂŒber Kochs Rolle in der Kolonialmedizin und die RĂŒckwirkung auf das Ă€rztliche Denken referiert.

Ein Jahrhundert muss schon hĂŒbsch spĂ€t im AbenddĂ€mmer liegen, damit seine Zwerge lange Schatten werfen. Heinrich Hermann Robert Koch war ein solcher Schattenwerfer, und seine Zeit war gekommen, als das 19. Jahrhundert ausging und das 20. mit Kaiser, Krieg und Kolonialismus ausbrach.

Oh nein, er war ein ehrenwerter Mann. Und ehrenwert war, dass er die Mikrobiologie zur Leitwissenschaft einer neuen Zeit machte, obwohl die davon nicht zwangslĂ€ufig zu einer besseren wurde. Von nun an wĂŒrde es leichter sein, Seuchen zu bekĂ€mpfen, weil man ihre Erreger unter dem Mikroskop dingfest machen konnte.

Und nein, den Kolonialismus musste Koch nicht erfinden, auch den Rassismus nicht. Den gab es schon. 1784 schrieb der „AufklĂ€rer“ Gottfried Herder ĂŒber die Juden: „Das Volk Gottes 
 ist Jahrtausende, ja fast seit seiner Entstehung, eine parasitische Pflanze auf den StĂ€mmen anderer Nationen.“

Was jetzt noch fehlte, waren bakteriologische „Nachweise“ dafĂŒr, dass es hoffnungslos primitive Rassen geben soll,

TrĂ€ger und Ursache tropischer Seuchen, deren kolonialistische Unterwerfung kein Unrecht, sondern eine hygienische Heldentat ist. Pflichtbewusst lieferte Koch dem Kaiser die biologische Rechtfertigung fĂŒr kolonialistische HunnenzĂŒge. Nicht durch Stammtischrassismus. Aber durch seine Lehre von den fremden Erregern, die massenhaft in uns eindringen, alles ĂŒberwuchern, Kolonien bilden. Er half seiner Zeit und sie ihm.

Wie es zuging, dass Koch der Bakteriologie, ja, der ganzen Medizin die TĂŒr zur Naturwissenschaft aufmachte, und dabei zugleich den Stammtischen und den GenerĂ€len, den ParasitenjĂ€gern und Nilpferdpeitschen die Schlagworte lieferte?

Das Erste war, dass Koch bei der Untersuchung von Krankheit strikt von allem absah, was sich nicht fĂ€rben, fixieren und auf einen ObjekttrĂ€ger legen ließ. Warum soll man sich mit der Untersuchung eines möglicherweise kranken Menschen herumĂ€rgern, wenn dafĂŒr auch die Stuhlprobe reicht? Fanden sich darin Erreger, war der Mensch krank. Der Befund zĂ€hlt, nicht das Befinden. Krankheit und Kranker wurden voneinander getrennt, sind es bis heute.

1906 unternahm Koch eine Expedition in das „Schutzgebiet Deutsch Ost-Afrika“ (die FĂ€higkeit des Deutschen, das Gegenteil von dem zu sagen, was gemeint ist, hat sich enorm entwickelt), um „Therapiemöglichkeiten gegen die Schlafkrankheit auszuloten. Durch den Einsatz von Atoxyl, einer arsenhaltigen Arznei, konnte Koch anfangs Erfolge bei der Behandlung von Schlafkranken erzielen. Doch der Parasit, der die Infektion verursacht, ließ sich im Blut der Kranken nur fĂŒr eine kurze Zeit zurĂŒckdrĂ€ngen. Daraufhin verdoppelte Koch die Atoxyl-Dosis – obwohl er um die Risiken des Mittels wusste. Bei vielen Betroffenen kam es zu Schmerzen und Koliken, manche erblindeten sogar. Seine letzte Forschungsreise war das dunkelste Kapitel seiner Laufbahn.“

So schildert das Robert-Koch-Institut (RKI) es auf seiner Webseite. Bei allem Respekt fĂŒr das RKI und seine Arbeit wĂ€hrend der Covid-19-Pandemie – hier werden wesentliche Fakten verschwiegen: Kein Wort davon, dass solche massenhafte Menschenversuche an nicht einwilligungsfĂ€higen Kranken daheim im Reich seit 1900 verboten waren. Kein Wort von den UmstĂ€nden, unter denen diese Expedition stattfindet: Koch kommt mitten hinein in den Maji-Maji-Krieg, die Menschen in Ostafrika haben sich gegen den wilhelminischen Kolonialismus erhoben. Nichts in den zahllosen Berichten Kochs davon, dass die deutschen „Schutztruppen“ die Ernten verbrennen, die Äcker verwĂŒsten, das Vieh wegtreiben, nichts davon, dass 200.000 bis 300.000 Menschen (die Zahlen sind kaum noch verlĂ€sslich zu erheben) umkommen, vertrieben, zerschlagen, verhungert sind. Kein Wort vom ehrenwerten Koch, dass dieser Krieg der Motor der Seuche ist, die zu untersuchen er doch eigentlich gekommen war. Denn: „Seuchen entstehen niemals

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 durch die Summe der Faktoren, welche man gewöhnlich mit dem Ausdruck ‚soziales Elend‘ zusammenfasst, auch nicht durch klimatische EinflĂŒsse, sondern nur durch die Verschleppung ihrer spezifischen Keime
“ schreibt Koch.

Der totale Krieg gegen die Bakterien, zu dem Koch, Geheimer Rat und General Ă  la suite, so hieß das seinerzeit in Preußen, aufgerufen hatte, prĂ€gt in seiner martialischen Einseitigkeit bis heute unser bakteriologisches und medizinisches Denken. Der „gesunde BakterientrĂ€ger“ der nur so tut, als sei er gesund, wurde zum „Wolf im Schafspelz“ und zum Objekt ausgeklĂŒgelter Abwehrmaßnahmen. Mehr und mehr Menschen, Schichten, Klassen, ganze Völker wurden zu „VerdĂ€chtigen“. Dabei geriet die Frage, was die gesunden BakterientrĂ€ger eigentlich anstellen, um nicht krank zu werden, und warum ausgerechnet sie in friedlicher Koexistenz mit den Bakterien leben, völlig aus dem Blick.

Unter Kochs Einfluss geriet der Mensch zu einem (vorzugsweise: weißen) sauberen GefĂ€ĂŸ, einer Petrischale auf zwei Beinen, die durch Eindringlinge, feindliche Migrantenheere, durch Fremdheit und aufsĂ€ssigen Schmutz verunreinigt wird, also: Einsperren, entlausen, desinfizieren, sĂ€ubern.

D ass es, trotz Pest und Cholera, den Menschen ohne Bakterien und Viren ĂŒberhaupt nicht gĂ€be, das passt nicht in das Koch’sche Weltbild. Seine WirkmĂ€chtigkeit hat Ideen von Endosymbiose, vom Mikrobiom, vom Nutzen humaner endogener Retroviren, und vieles andere jahrzehntelang verhindert, erst allmĂ€hlich arbeitet sich die Wissenschaft aus dem Schatten heraus.

In den „Isolationslagern“ Ostafrikas (Koch deutschte den damals von den Briten verwendeten Begriff „concentration camps“ ein) hinderte kein hippokratischer Eid, kein kategorischer Imperativ, kein Rest von Menschlichkeit die deutschen KolonialĂ€rzte an der Erfindung immer neuer „wissenschaftlicher“ QuĂ€lerei der angeblich primitiven Rasse. Als Instanz der Menschlichkeit betĂ€tigten sich gelegentlich noch die deutschen Gouverneure oder das Reichskolonialamt, das Massenversuche nach Art Kochs 1912 schließlich ganz verbot. Die Herrenmediziner selbst hĂ€tten sich ihren zivilisatorischen Erfindergeist nie verboten.

FĂŒhrt ein Weg von Koch zu den Mengeles und Verschuers? Kein direkter. Ein eher indirekter aber ĂŒber die LehrbĂŒcher, die HörsĂ€le, die Labors und ĂŒber und in die Sprache, die wir dort bis heute sprechen, ohne nachzudenken, ohne uns nur einen Augenblick Rechenschaft darĂŒber zu geben, wieviel Kaserne, Krieg und Hass auf alles Fremde darin steckt. FĂŒr den Nationalsozialismus, zu dem der Schattenweg Kochs durchaus auch fĂŒhrte, hat Victor Klemperer sich in „LTI – Lingua Tertii Imperii“, seinem Buch ĂŒber die faschistische Sprache, gefragt:

„Was war das stĂ€rkste Propagandamittel der Hitlerei? Waren es Hitlers und Goebbels’ Einzelreden, ihre AusfĂŒhrungen zu dem und jenem Gegenstand, ihre Hetze gegen das Judentum, gegen den Bolschewismus?
 Nein, die stĂ€rkste Wirkung wurde durch nichts erzielt, was man mit bewußtem Denken oder bewußtem FĂŒhlen in sich aufnehmen mußte. Sondern

der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge ĂŒber durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang, und die mechanisch und unbewußt ĂŒbernommen wurden.“ Davor zu warnen – „ich glaube, das ist mehr als bloße Schulmeisterei. (...) Man sollte viele Worte des nazistischen Sprachgebrauchs fĂŒr lange Zeit, und einige fĂŒr immer, ins Massengrab legen“.

Lesetipp –

Michael Lichtwarck-Aschoff: „Robert Kochs Affe. Der grandiose Irrtum des berĂŒhmten Seuchenarztes“, S. Hirzel Verlag, 2022

Michael LichtwarckAschoff ist Professor fĂŒr AnĂ€sthesiologie und operative Intensivmedizin. Seit der Rente ist er erfolgreich literarisch tĂ€tig.

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1905/06: EXPEDITION IN DEUTSCH-OSTAFRIKA – AUF DER SUCHE NACH DEN ERREGERN DER SCHLAFKRANKHEIT ROBERT KOCH Foto: © IRKI

Gesundheit am Rand ökologischer Belastungsgrenzen

Die sozialen, politischen und ökonomischen Konsequenzen der Klimakrise verdienen unsere Aufmerksamkeit

Unsere AbhĂ€ngigkeit von fossilen Energien bedroht die Gesundheit von Menschen in allen Teilen der Welt. Diese Kernaussage des diesjĂ€hrigen Lancet Countdown on Health and Climate Change, der Ende Oktober veröffentlicht wurde, verdeutlicht einerseits, wie die Klimakrise unser aller Leben und Wohlbefinden bedroht, und andererseits die nach wie vor völlig unzureichenden Gegenmaßnahmen. Dabei sind vor allem jene LĂ€nder und Bevölkerungsgruppen, die am wenigsten zur Entstehung dieser Krise beigetragen haben, oft am meisten gefĂ€hrdet und/oder können weniger Ressourcen in Klimaanpassungsmaßnahmen investieren als LĂ€nder im Globalen Norden, die in erster Linie verantwortlich fĂŒr die Klimakrise sind.

Die Klimakrise ist jedoch nur ein Aspekt unseres problematischen VerhĂ€ltnisses mit der Natur und unserer Mitwelt, in dem wir seit Jahrzehnten so handeln, wirtschaften und konsumieren als wĂ€ren natĂŒrliche Ressourcen unendlich, als wĂ€re die Natur etwas Separates von uns Menschen und als wĂŒrde AbfĂ€lle einfach spurlos verschwinden. Die Folgen dieser Weltsicht nicht nur auf die ÖkosphĂ€re, sondern auch auf uns Menschen, beschreibt der Leiter des Potsdam Instituts fĂŒr Klimafolgenforschung (PIK), Professor Johan Rockström mit Kolleg*innen mit den neun planetaren Belastungsgrenzen. Eine davon ist der Klimawandel, bei dem wir den sicheren Handlungsspielraum inzwischen verlassen haben. Ein bei weitem kritischeres Maß der Überschreitung dieser Grenzen haben wir jedoch bereits in Bezug auf den BiodiversitĂ€tsverlust, die Einbringung neuartiger Substanzen und Organismen (z.B. Plastik, radioaktive Elemente, Schwermetalle) sowie die VerĂ€nderung von Phosphor und Stickstoff-KreislĂ€ufen erreicht.

Wie wirkt sich die Überschreitung dieser ökologischen Belastungsgrenzen auf die Gesundheit von Menschen, Tieren und Ökosystemen aus? Welche politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen haben diese Entwicklungen begĂŒnstigt und wie mĂŒssten diese Strukturen geĂ€ndert werden, um einen nachhaltigen Wandel zu ermöglichen? Diese Fragen lassen sich mit

dem Konzept der planetaren Gesundheit, welches die Wechselwirkungen zwischen Ökosystemen, der Tierwelt und menschlichen Gesundheit zum Fokus hat, aus multidisziplinĂ€rer Perspektive betrachten.

Planetare Gesundheit bietet auch eine Zielvorstellung fĂŒr das Wohlergehen aller Menschen, wie es beispielsweise durch die Entwicklungsziele der Vereinten Nationen definiert wird, in intakten Ökosystemen. Angesichts vieler ernĂŒchternder aktueller Entwicklungen (mehr Menschen als je zuvor sind von Hunger bedroht, ĂŒber 100 Millionen Menschen sind vertrieben, etwa fĂŒnf Millionen Menschen sterben jĂ€hrlich an den Folgen der Klimakrise) ist eine positive Zukunftsvision essenziell. Wie der amerikanische Klimawissenschaftler Michael Mann argumentiert, sind nicht mehr Klimawandelleugner*innen der grĂ¶ĂŸte Widerstand fĂŒr effektive Klimaschutzpolitik, sondern die Verbreiter*innen von „climate doomism“, also der Aussichtslosigkeit von Klimaschutz, sowie jene, die ihn verzögern oder von ihm ablenken. Wie also kann ein konstruktiver Diskurs ĂŒber die sozial-ökologische Transformation aussehen?

FĂŒr reiche LĂ€nder wie Deutschland stellt sich vor allem die Frage: Wie können wir allen Menschen in unserem Land ein gutes, wĂŒrdevolles und gesundes Leben ermöglichen ohne dabei ökologische Belastungsgrenzen hier und (direkt oder indirekt) in anderen Teilen der Welt zu ĂŒberschreiten? Wie mĂŒsste eine Verkehrs-, Landwirtschafts- oder Energiepolitik aussehen, die innerhalb dieser ökologischen Belastungsgrenzen und in Einbeziehung der öffentlichen Gesundheit gestaltet wird?

Auch hier zeigt der Lancet Countdown, wie groß das Potential fĂŒr die öffentliche Gesundheit wĂ€re. So wĂŒrde der Umstieg auf erneuerbare Energien 1,2 Millionen vorzeitige TodesfĂ€lle in Folge von Luftverschmutzung vermeiden und darĂŒber hinaus Energiesicherheit und -stabilitĂ€t verbessern. Noch grĂ¶ĂŸer ist das Potential fĂŒr Gesundheit und Ökologie von einer ErnĂ€hrungswende hin zu einer pflanzenbasierten ErnĂ€hrung. Derzeit ist die Landwirtschaft

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Globaler KlimaRisiko-Index 1999-2018

Der Globale KlimaRisiko-Index von Germanwatch zeigt, wie stark LĂ€nder von Wetterextremen, wie Überschwemmungen, StĂŒrmen, Hitzewellen etc. betroffen sind. Untersucht werden die menschlichen Auswirkungen (Todesopfer) sowie die direkten ökonomischen Verluste. Quelle: Germanwatch

eine der Haupttreiber des BiodiversitĂ€tsverlustes, LandnutzungsverĂ€nderungen und der VerĂ€nderung biochemischer KreislĂ€ufe mit fatalen und zum Teil kaum abschĂ€tzbaren Folgen fĂŒr die Ökosysteme. Gleichzeitig sind 11,5 Millionen vorzeitige TodesfĂ€lle und eine entsprechend hohe Krankheitslast auf FehlernĂ€hrung zurĂŒckzufĂŒhren, was nicht nur fĂŒr die betroffenen Individuen, sondern auch fĂŒr die Gesundheitssysteme Ă€ußert belastend ist.

Mit der Covid-19-Pandemie haben wir darĂŒber hinaus zu spĂŒren bekommen, was das zunehmende Risiko von Zoonosen bedeuten könnte. Eine kĂŒrzlich von Mora et al. in Nature Climate Change veröffentliche Studie fand, dass die HĂ€lfte aller bekannten Krankheitserreger durch die Folgen der Klimakrise an Gefahr fĂŒr uns zunehmen werden – durch KlimaverĂ€nderungen, welche Krankheitserreger und Menschen in engeren Kontakt bringen, welche die Verbreitung und AnsteckungsfĂ€higkeit der Erreger begĂŒnstigen, oder welche die Gesundheit vieler Menschen beeintrĂ€chtigt und sie anfĂ€lliger fĂŒr Erreger machen.

Damit zeigt sich zum einen, dass eine sofortige und tiefgreifende Wende in unserem Umgang mit der ÖkosphĂ€re – einschließlich dem schnellstmöglichen Ausstieg aus fossilen Energien – die beste Gesundheitspolitik wĂ€re. Im Hinblick auf die Anpassung an die bereits unumkehrbaren KlimaverĂ€nderungen betont der Weltklimarat in seinem sechsten Bericht, dass eine StĂ€rkung der Gesundheitssysteme und Reduktion von VulnerabilitĂ€ten in der Bevölkerung zu den effektivsten Maßnahmen gehören. DafĂŒr sind global nicht nur deutlich mehr Gesundheitsinvestitionen notwendig, sondern vor allem eine bessere öffentliche Versorgung, um GrundbedĂŒrfnisse abzudecken, die Gesundheit bedingen.

LĂ€nder des Globalen Nordens kommen ihren Zusagen fĂŒr finanzielle UnterstĂŒtzung fĂŒr LĂ€nder, die am meisten von der Klimakrise gefĂ€hrdet sind, nicht nach. DarĂŒber hinaus werden nach wie vor viele Klima- und UmweltschĂ€den, die entlang der Produktions-, Transport- und Entsorgungsprozesse vieler unserer

Produkte entstehen, ausgelagert mit oft schwerwiegenden Auswirkungen auf die Gesundheit der lokalen Bevölkerung und der Ökosysteme.

Mit der EinfĂŒhrung des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes Anfang 2023 soll ein erster Schritt getan werden, um vor allem Menschenrechtsverletzungen und bestimmte Umweltverschmutzungen in den Produktions- und Lieferketten von großen Unternehmen zu bekĂ€mpfen bzw. zu ahnden. Doch weder Treibhausgasemissionen noch Auswirkungen auf den BiodiversitĂ€tsverlust werden berĂŒcksichtigt.

In vielen Politik- und Handlungsfeldern werden die Konsequenzen der ökologischen VerĂ€nderungen durch den Menschen auf unsere Gesundheit, unser Wohlbefinden, noch nicht berĂŒcksichtigt. Ein Fortschritt ist der sichtbare Diskurs darum, der sich vor allem durch die immer hĂ€ufiger und heftiger werdenden Extremwetterereignisse aufdrĂ€ngt. Die Hitze diesen Sommer und die großenteils fehlende Vorbereitung und Adaptation Deutschland auf diese tödlichsten klima-bedingten Ereignisse in unseren Breitengraden, ist in Medien, Politik und im Gesundheitssektor angekommen. Wie die Covid-19-Pandemie verdeutlichte auch diese Hitzewelle: Wir sind verwundbar, wir mĂŒssen uns hierzulande und global ernsthafter auf Krisen vorbereiten und vor allem mĂŒssen wir ihre Ursachen ganzheitlich, gemeinschaftlich und effektiv angehen.

Mehr Informationen unter: https://cphp-berlin.de

Dorothea Baltruks ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Centre for Planetary Health Policy (CPHP).

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6 Fragen an 
 Gerhard Trabert

Professor fĂŒr Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie sowie GrĂŒnder des Vereins „Armut und Gesundheit“

beeinflusst Armut die Lebenserwartung? Armut geht in unserer Gesellschaft hĂ€ufig mit physischem und psychischem Leid und höheren Erkrankungsraten bis zu einer signifikant geringeren Lebenserwartung einher. Zwischen dem reichsten und dem Ă€rmsten Viertel der deutschen Bevölkerung besteht ein Lebenserwartungsunterschied von 8,6 Jahren bei den MĂ€nnern und von 4,4 Jahren bei den Frauen. Die Daten des Sozialberichtes „Datenreport 2021“ bestĂ€tigen diese signifikant niedrigere Lebenserwartung Armutsbetroffener. 31 Prozent der von Armut betroffenen MĂ€nner erreichen das 65. Lebensjahr nicht.

1Wie

2Andererseits fĂŒhren chronische Krankheiten wie AIDS oder Krebs zunehmend zu materieller Armut
 Die Deutsche AIDS-Hilfe und die Deutsche Krebshilfe bestĂ€tigen, dass es bei Betroffenen immer hĂ€ufiger zu einer materiellen Verarmung kommt. Die AntrĂ€ge auf finanzielle UnterstĂŒtzung haben bei diesen Organisationen in den letzten Jahren deutlich zugenommen.

und Impfmaßnahmen seltener wahr. Ein niedrigschwelliges Versorgungsangebot „vor Ort“ innerhalb sozialer Brennpunkte, Wohnungsloseneinrichtungen, Drogenberatungsstellen, ArbeitsĂ€mter, Schulen, KindergĂ€rten wurde partiell in den vergangenen Jahren verschiedentlich praktisch umgesetzt und zeigte durchweg eine hohe Inanspruchnahme durch die Zielgruppe. Dies sollte interdisziplinĂ€r geschehen. Ziel ist dabei nicht die Schaffung einer Alternativversorgungsstruktur. Jede Patientin und jeder Patient hat ein Recht auf eine adĂ€quate medizinische Hilfe im Regelversorgungssystem.

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sieht die finanzielle Situation der Betroffenen aus? Die derzeitige Gesundheitsversorgung vieler Bevölkerungsgruppen ist absolut unzureichend. Zahnbehandlungen, notwendige Brillenanschaffungen, HörgerĂ€tezusatzmaterialien, physikalische Maßnahmen, um nur einige wenige zu benennen, sind fĂŒr armutsbetroffene Menschen nicht finanzierbar! Das notwendige Geld können sich die Menschen, von den derzeitigen sozialen Transferleistungen (449€ fĂŒr eine alleinstehende Person) die sie erhalten, nicht ansparen. Ein Budget von ca. 17,14 Euro innerhalb des Regelsatzes ist fĂŒr eine sinnvolle und notwendige GesundheitsfĂŒrsorge zuwenig – insbesondere in Pandemiezeiten.

3Wie

Was drĂŒckt der Begriff der „GleichwĂŒrdigkeit“ fĂŒr Sie aus ? Dieser Begriff, den der dĂ€nische Therapeut Jesper Juul in die deutsche Sprache eingefĂŒhrt hat, drĂŒckt fĂŒr mich eine fundamentale menschliche Beziehungs- und Kommunikationsebene aus: Menschen in WĂŒrde zu begegnen und ihnen damit ein StĂŒck WĂŒrde, die bei armen Menschen oft verloren gegangen ist, zurĂŒckzugeben. Diese WĂŒrde spiegelt sich gerade auch in einer fĂŒr jedermann unabhĂ€ngig von seinem*ihrem sozialen Status zugĂ€nglichen und umfassenden Gesundheitsversorgung wider.

6Warum

mĂŒsste hier gehandelt werden? Untersucht man das Gesundheitsverhalten der von Armut betroffenen Menschen, so fĂ€llt auf, dass sie das bestehende medizinische Angebot meist nicht ausreichend wahrnehmen, bzw. dass das medizinische Versorgungssystem diese Mitmenschen nicht erreicht. Sie nehmen prĂ€ventive Gesundheitsangebote wie z. B. Vorsorgeuntersuchungen

4Wie

sind gerechte Gesellschaften besser fĂŒr alle? Richard Wilkinson und Kate Pickett belegen in „Gleichheit ist GlĂŒck“ (2009), dass mit zunehmender Ungleichverteilung der vorhandenen gesellschaftlichen Ressourcen nicht nur bei Armen, sondern interessanterweise auch bei den Reichen Problemkonstellationen ansteigen: Physische sowie psychische und soziale Probleme wie Stress, Depressionen, Gewalt, Konkurrenz, soziale Verwahrlosung nehmen zu. Mehr Gleichheit fördert das gegenseitige Vertrauen mit der Folge, dass die Menschen glĂŒcklicher sind und damit in allen gesellschaftlichen Klassen die Lebenserwartung steigt, Depressionen deutlich seltener festgestellt werden, die Quote von Gewalttaten geringer ausfĂ€llt und vieles mehr. Wir benötigen also nicht mehr Wachstum, sondern mehr Gleichheit.

Prof. Dr. Gerhard Trabert referierte auf dem Kongress Medizin & Gewissen in NĂŒrnberg 2022 zum Thema „Gesundheit ist ein Menschenrecht“. Mehr unter: gerhardtrabert.de

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Foto: Gerhard Trabert

1Wie entstand der NĂŒrnberger Kodex? Die US-amerikanischen Richter im NĂŒrnberger Ärzteprozess entwickelten den spĂ€ter so genannten „Nuremberg Code“, den NĂŒrnberger Kodex mit seinem zentralen Prinzip des „informed consent“: der freiwilligen und jederzeit widerrufbaren Zustimmung eines Versuchsteilnehmers nach seiner bestmöglichen AufklĂ€rung ĂŒber den beabsichtigten wissenschaftlichen Versuch.

2 WasfĂŒr eine Vorgeschichte hatte er in Deutschland? Schon 1931 waren mit den „Reichsrichtlinien zur Forschung am Menschen“, die der Reichsminister des Inneren herausgab, ethische Regularien fĂŒr Versuche mit Menschen vorgeschrieben worden: die Unverzichtbarkeit der Einwilligung bei nichttherapeutischen und die in der Regel unerlĂ€ssliche Einwilligung bei therapeutischen Versuchen. Diese Richtlinien wurden allerdings wenig beachtet, aber sie wurden wĂ€hrend der NS-Zeit auch nicht aufgehoben. Formal galten sie bis 1945.

3Wie war die weitere Entwicklung des Prinzips „informed consent“ nach 1947? Diese völkerrechtlich verbindlichen Rechtsfiguren flossen u. a. ein in die Deklarationen des WeltĂ€rztebundes zu „Ethischen GrundsĂ€tzen fĂŒr die medizinische Forschung am Menschen“ von Helsinki (1964), Tokio (1975) und in letzter Überarbeitung Fortaleza (2013). Diese Prinzipien gelten inzwischen sowohl im Arzt-Patienten-VerhĂ€ltnis als auch bei der informellen Selbstbestimmung bei der Weitergabe von personenbezogenen Daten (u. a. Beschluss des BVG vom 28.09.2022).

4 Gab es RĂŒckschlĂ€ge bei der Umsetzung des NĂŒrnberger Kodex? Leider muss diese Frage bejaht werden. Beispielhaft seien Medikamentenversuche bis 1975 an Heimkindern in Bethel, Bielefeld, oder im Auhof, Hilpoltstein in Mittelfranken aufgefĂŒhrt, weiterhin Versuche zur Polio-Impfung in Westberlin sowie mit dem Antipsychotikum Chlorprothixen in Neu-DĂŒsselthal. An mehreren dieser Versuche nahmen als verantwortliche Mediziner

6 Fragen an 
 Horst Seithe

Facharzt fĂŒr Kinder- und Jugendmedizin, Mitglied der IPPN W-Regionalgruppe NĂŒrn-

und AmtstrÀger sogar ehemalig hohe NS-FunktionÀre teil. Bei allen Versuchen wurden weder eine umfassende AufklÀrung noch eine Zustimmung von Eltern oder teilnehmenden Jugendlichen dokumentiert.

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Prof. Sondra Crosby hat bei ihrem Vortrag in NĂŒrnberg Folterungen durch MilitĂ€r und CIA aufgegriffen, an denen auch Mediziner*innen beteiligt waren... Ja, erinnert sei hier an die Teilnahme von ahnungslosen zuschauenden Soldaten an Atombombenversuchen in den USA oder an die Syphilis-Experimente in Tuskegee/Alabama von 1932 bis 1972 und nicht zuletzt an die aktive Teilnahme von amerikanischen Ärzten und Psychologen an Folter im GefĂ€ngnis von Abu Ghraib oder im US-Gefangenenlager Guantanamo Bay. Mit großer Wahrscheinlichkeit gibt es in mehreren LĂ€ndern noch andere, bisher nicht aufgedeckte, unethische medizinische Versuche an Menschen oder Folterungen unter Beteiligung von Ärzt*innen.

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Und fĂŒr die Zukunft? Der „informed consent“ des NĂŒrnberger Kodex ist ein fundamentaler Kodex in der modernen Medizinethik. Er regelt grundlegend die Beziehung des Arztes / der Ärztin zu den betreuten Mitmenschen, egal ob diese Patient*in, Versuchsperson oder beides sind. Neben anderen bedeutenden völkerrechtlichen VermĂ€chtnissen der NĂŒrnberger Prozesse leuchtet er wie ein Fixstern hinĂŒber bis heute und in die Zukunft. Aus gesundheitspolitischen, medizinethischen und juristischen GrĂŒnden bleibt der NĂŒrnberger Kodex weiterhin aktuell und zukunftsweisend. Wir mĂŒssen uns verzerrenden Darstellungen und verfĂ€lschenden Einvernahmen seiner Inhalte durch unterschiedliche Gruppierungen entgegenstellen. Wir mĂŒssen diesen Kodex bekannter machen und ihn in unserem eigenen Alltag mit Leben fĂŒllen. In den beruflichen, wissenschaftlichen und politischen Kontexten mĂŒssen wir auf seine Einhaltung dringen und diese, wenn es sein muss, auch einklagen.

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MEDIZIN & GEWISSEN

Das große Schiff Gesundheitswesen

Wir mĂŒssen uns darauf besinnen, worum es in der Medizin eigentlich geht

Das ganze große Schiff „Gesundheitswesen“ fĂ€hrt in die falsche Richtung. Kleine Kurskorrekturen werden da nicht helfen. Es muss zu einer radikalen KursĂ€nderung kommen, sonst wird dieses solidarische Gesundheitswesen untergehen, und mit ihm die Humanmedizin.

Im Krankenhausbereich nehmen private Investoren immer grĂ¶ĂŸeren Raum ein. Immer weiter wachsende Klinikkonzerne locken inzwischen auch internationales Kapital mit Renditen von bis zu zehn Prozent, was kein anderer Wirtschaftszweig zu bieten hat. Man könnte derartige Dividenden auch als Diebstahl von Gemeineigentum bezeichnen. Es gibt kein Land, in dem der Anteil von Krankenhausbetten in der Hand privater, börsennotierter Klinikkonzerne grĂ¶ĂŸer ist als in Deutschland. In ArbeitsvertrĂ€gen von ChefĂ€rzten ist heute von Leitzahlen bei Diagnosen und Operationsziffern, vom Case Mix Index und von Akquisitionsverpflichtungen die Rede ist, weniger von Medizin. Wie konnte es so weit kommen?

Zwischen 1999 und 2002 wurde das zeitorientierte TagessatzSystem durch die diagnoseorientierten Fallpauschalen abgelöst, die Diagnosis Related Groups (DRG). Von da an wurden die KrankenhĂ€user nach der Zahl und Schwere der behandelten FĂ€lle bezahlt. Diese Umstellung hatte erhebliche Auswirkungen: LiegezeitverkĂŒrzung und Fallzahlerhöhung, um im gleichen Zeitraum maximal viele FĂ€lle und maximal schwere Diagnosen abrechnen zu können. Die Liegezeit sank auf die HĂ€lfte, die Zahl der Patient*innen stieg trotz der massiven Stellenstreichungen um ein FĂŒnftel. Der Anstieg des Arbeitsdrucks war enorm, besonders in der Pflege. Dort wurden zehntausende Stellen gestrichen, wĂ€hrend Ă€rztliche Stellen zunahmen. Die einfache Logik war: PflegekrĂ€fte verursachen Kosten, aber Ärztinnen und Ärzte generieren Einnahmen.

Aus dem DRG-System ergibt sich der Case Mix Index. Der Case Mix Index ist der Durchschnitt aller DRGs, die ein Krankenhaus gegenĂŒber den Kassen zur Abrechnung bringt. Je höher der Case Mix Index, desto höher die VergĂŒtung. Erreicht eine Abteilung den von der GeschĂ€ftsleitung vorgegebenen Case Mix Index nicht,

droht ihre Schließung. Erreicht ein ganzes Krankenhaus die Gewinnzone nicht, dann droht Schließung oder Verkauf. Das fĂŒhrt zu einem enormen Druck der GeschĂ€ftsleitungen auf die Ă€rztlichen und pflegerischen Berufe. Sie werden zu ökonomischem Denken in Gewinn- und Verlustkategorien gezwungen und verlieren dabei notgedrungen den eigentlichen Ă€rztlichen und pflegerischen Auftrag aus dem Auge. Nur dasjenige Krankenhaus, das mit möglichst geringen Kosten Kranke in möglichst kurzer Zeit behandeln konnte, machte nun Gewinne. Wer sich auf zeitraubende, empathische Medizin einließ, der machte Verluste. Die Frage war nicht: „Was brauchen die Kranken?“, sondern: „Was bringen sie ein?“ Die Frage war nicht: „Wie viele Ärzt*innen und PflegekrĂ€fte werden fĂŒr eine gute Medizin gebraucht?“, sondern: „Wie viele Stellen kann man streichen?“ Das Fatale an diesem Bezahlsystem war und ist die VerknĂŒpfung der medizinischen TĂ€tigkeit und der Diagnosen mit der VergĂŒtung. Indem nun allein die Diagnosen die Einnahmen des Krankenhauses generierten, wurde sie zum zentralen Zielobjekt der Ökonomen. Tausende von KodierfachkrĂ€ften und Medizincontrollern der KrankenhĂ€user kĂ€mpfen seitdem mit Tausenden von KodierfachkrĂ€ften und Medizincontrollern der Krankenkassen um jeden Euro.

Das Versagen der Krankenhausfinanzierung hatte neben den Privatisierungen eine zunehmende Zahl von Krankenhausschließungen zur Folge. Weil das DRG-System beispielsweise die kinderĂ€rztliche TĂ€tigkeit völlig unterbewertet, wurden viele Kinderkliniken wegen „roter Zahlen“ geschlossen. Eine Ă€hnliche Entwicklung nahm die Geburtshilfe, die nie eine angemessene Abbildung in den DRGs gefunden hatte, sodass bis heute ein Kreißsaal nach dem anderen geschlossen wird. Immer mehr ganze KrankenhĂ€user fielen dem Rotstift zum Opfer, denn die Defizite konnten von den kommunalen Haushalten nicht mehr ausgeglichen werden. Die Vernichtung von Gemeineigentum durch

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Krankenhausschließungen geschieht völlig planlos, nicht nach Bedarf, sondern nach Bilanz.

Weniger bekannt ist, dass auch im Bereich der Alten- und Pflegeheime private Investoren inzwischen ganze Ketten zusammenkaufen und die stationĂ€re professionelle Altenpflege zum Spielball von Profitinteressen geworden ist. Jedes Jahr geht es um den großen Kuchen von 23 Milliarden Euro in der stationĂ€ren und elf Milliarden Euro in der ambulanten Pflege. Man mĂŒsste global aktiven Investoren, Finanzjongleuren und Immobilienkonzernen dringend Einhalt gebieten. Auch hier geht es nur mit GemeinnĂŒtzigkeit.

Dass inzwischen aber sogar auch Arztpraxen unter dem Etikett „Medizinische Versorgungszentren“ zum Objekt international agierender Finanzinvestoren geworden sind, ist fast nicht bekannt. In Anlehnung an die Polikliniken der DDR, die 1989 im Zuge der allgemeinen Anschlusswut mit ausradiert worden waren, wurde 2003 durch eine GesetzesĂ€nderung eine neue Form der kassenĂ€rztlichen Versorgung ermöglicht. Seitdem können Medizinische Versorgungszentren gegrĂŒndet werden, in denen beliebig viele Ärzte und Ärztinnen und Psychotherapeut*innen, selbstĂ€ndig oder angestellt, in Vollzeit oder Teilzeit, fachgleich oder fachĂŒbergreifend, in Kooperation mit nichtĂ€rztlichen Heilberufen zusammenarbeiten können. Um Wildwuchs zu verhindern, mĂŒssen diese MVZs unter Ă€rztlicher Leitung stehen. Das hört sich gut an. Das Modell ist flexibel, voller kreativem Potential und kann Berufsaussteiger mit familienfreundlichen Arbeitszeiten zurĂŒcklocken. Dabei hatte man aber nicht mit der KreativitĂ€t des Kapitals gerechnet. Da nĂ€mlich fortan auch KrankenhĂ€user ein MVZ grĂŒnden können, kann z. B. eine eigens gegrĂŒndete Mini-Klinik mit vier Betten und einem Schlaflabor in Nordhessen plötzlich mehr als 150 Augenarzt-MVZs in ganz Deutschland betreiben. Diese investorenbetriebenen MVZs suchen sich lukrative Sparten aus, also Augenheilkunde und OrthopĂ€die, wo inzwischen schon ein FĂŒnftel der ambulant tĂ€tigen Ärzte in investorenbetriebenen, oder besser investorengetriebenen MVZs arbeiten. So entstehen immer neue, immer grĂ¶ĂŸere Konstruktionen: Ein augenĂ€rztliches Oligopol wie die Ober-Scharrer-Gruppe hatte in einem Jahrzehnt vier

verschiedene EigentĂŒmer und wurde zuletzt im Dezember 2021 an den kanadischen Pensionsfonds Ontario Teacher’s Pension Plan Board bei einer Gewinnerwartung von 125 Millionen Euro fĂŒr geschĂ€tzte zwei Milliarden Euros verkauft. Man könnte das unterbinden, wenn auch MVZs der GemeinnĂŒtzigkeit unterliegen wĂŒrden. Mit einer derart kleinen GesetzesĂ€nderung wĂ€re dem Spuk ein Ende gesetzt.

Wir mĂŒssen uns darauf besinnen, worum es in der Medizin eigentlich geht. Wir mĂŒssen uns daran erinnern, dass wir eine Aufgabe haben. Diese Aufgabe droht unterzugehen, in Management-Programmen, in Codierungen, in Konzerninteressen, in Studien und im Kampf ums Geld. Wenn wir Ärzt*innen unsere Patient*innen zu Sachen, zu WerkstĂŒcken machen lassen, ist es aus mit der Medizin. Man mĂŒsste Ärzt*innen dann in die Rote Liste der bedrohten Arten aufnehmen. Unsere Aufgabe ist die Begleitung unserer Patient*innen in der einsamen Welt der Krankheit, oder im gĂŒnstigen Fall aus der einsamen Welt der Krankheit – so weit es eben geht – wieder zurĂŒck in die Welt der Gesundheit. Und deswegen lautet die immer wieder gleiche Botschaft: Es geht um die Rettung des solidarischen Gesundheitswesens und der Humanmedizin vor dem WĂŒrgegriff des Kapitalismus.

Im FrĂŒhjahr 2022 ist Bernd Hontschiks Buch „Heile und herrsche. Eine gesundheitspolitische Tragödie“ im Westend-Verlag erschienen. Hontschik sprach auch als Referent beim IPPNW-Kongress „Medizin und Gewissen“ 2022 in NĂŒrnberg.

Mehr unter: chirurg.hontschik.de

Dr. Bernd Hontschik ist Chirurg und Publizist.

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Foto: Jonathan E. Shaw / CC BY-NC 2.0 Foto: © Barbara Klemm

WeiterfĂŒhrende Informationen:

‱ Dokumentation des Kongresses „Medizin und Gewissen“ 2022: www.medizinundgewissen.de/dokumentation

‱ „Zum Jahrestag des NĂŒrnberger Ärzteprozesses“ Hörfunkbeitrag auf BR2: https://br.de/s/5sbFjGa

‱ IPPNW-Webseite des Bereichs „Soziale Verantwortung“: www.ippnw.de/soziale-verantwortung

‱ Kampagne „Krankenhaus statt Fabrik“: www.krankenhaus-statt-fabrik.de

‱ Kampagne „GleichBeHandeln“: gleichbehandeln.de

Sie wollen mehr?

Die Artikel und Fotos dieses Heftes stammen aus unserem Magazin „IPPNW-Forum“, Ausgabe Nr. 171, September 2022 und Nr. 172, Dezember 2022. Im Mittelpunkt der Berichterstattung des IPPNW-Forums stehen „unsere“ Themen: Atomwaffen, Friedenspolitik, Atomenergie, Erneuerbare Energien und soziale Verantwortung in der Medizin. In jedem Heft behandeln wir ein Schwerpunktthema und beleuchten es von verschiedenen Seiten. DarĂŒber hinaus gibt es Berichte ĂŒber aktuelle Entwicklungen in unseren Themenbereichen, einen Gastkommentar, Nachrichten, Kurzinterviews, Veranstaltungshinweise und Buchbesprechungen. Das IPPNW-Forum erscheint viermal im Jahr. Sie können es abonnieren oder einzelne Ausgaben in unserem Online-Shop bestellen.

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» www.ippnw.de/bit/forum

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