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Mehr als nur Greenwashing
Erdgas und Atomkraft gelten nun als „grün“
Die Aufnahme von Atom und Gas in die Taxonomie ist ein fatales Signal – und ein Geschenk an Frankreich, das mit uralten und maroden Meilern ein gefährliches Spiel treibt.
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Die EU-Taxonomie, das Kernstück eines EU-Regelwerks, mit dem Finanzströme in Europa in nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten gelenkt werden sollten, war in ihrer ursprünglichen Form durchaus ambitioniert. Sie hätte auf dem Finanzmarkt ein einheitliches grünes Siegel schaffen und damit die Gefahr des Greenwashings angeblich nachhaltiger Finanzprodukte unterbinden können. Mit der Aufnahme von Atomkraft und Erdgas in die Regularien wird dieses Ziel in sein Gegenteil verkehrt. Aus der Finanzbranche ist zwar zu hören, dass sich private Investoren auch in Zukunft davor hüten werden, Geld in die Atomindustrie zu stecken – es gibt aber stark ins Gewicht fallende Ausnahmen. So ist das 750 Milliarden umfassende, zur Hälfte durch grüne Anleihen finanzierte Resilienzprogramm NextGenerationEU, das den nachhaltigen Wiederaufbau nach der Pandemie fördern soll, an die Taxonomie-Kriterien gekoppelt.
Die Kriterien könnten insgesamt bei der Vergabe öffentlicher EU-Gelder oder der Anpassung von Gesetzen herangezogen werden, befürchtet Magdalena Senn vom Verein Finanzwende. Nach Einschätzung der Deutschen Umwelthilfe könnte sich hierzulande vor allem das Greenwashing von Erdgas nachteilig auf die Energiewende auswirken. Unter dem grünen Label wäre es demnach erlaubt, durchgängig und bei voller Auslastung einige Jahre lang Strom aus fossilem Gas zu produzieren. Neue Gaskraftwerke würden somit Windund Solaranlagen nicht nur ergänzen, sondern mit ihnen auch konkurrieren. Erdgas als grüne Übergangstechnologie zu adeln, ist ohnehin absurd. Nach Erkenntnissen der vergangenen Jahre entstehen bei Förderung und Transport des fossilen Brennstoffs oft die schädlichsten Klimagase. Doch dieser Teil des Lebenszyklus wird im Taxonomie-Entwurf völlig ausgespart.
Noch verheerender ist die Einstufung von Atomkraft als nachhaltige Übergangstechnologie. Die entsprechenden Bestimmungen im EU-Kommissionsentwurf gleichen einem Freibrief für die europäische Atomindustrie. AKW-Betreiber müssen sich für den Schadensfall nicht versichern. Wie der radioaktive Müll endgelagert werden soll, darf bis 2050 offen bleiben. Was dann vorliegen muss, ist nur ein Endlager-Konzept. Bis 2045 genehmigte AKW-Neubauten gelten als nachhaltig, genauso wie Nachrüstungen überalterter Reaktoren im Zuge ihrer Laufzeitverlängerung.
„Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens“ missachtet
Dieses großzügige Geschenk an Frankreich ist grotesk und war dennoch absehbar: Bereits 2019 bestand Präsident Emmanuel Macron darauf, Atomkraft als nachhaltig einzustufen. Zunächst konnte er sich gegen die Technische Expertengruppe nicht durchsetzen. Doch mit einem Kompromiss erreichten seine Unterhändler, dass Gutachter nochmals überprüfen sollten, ob Atomkraft mit den Nachhaltigkeitszielen der Taxonomie bzw. dem Grundsatz „Do No Significant Harm“ vereinbar sei.
Dass sie es nicht ist, liegt auf der Hand, und jedes unabhängige Expertengremium hätte dies bestätigt. Nicht so das „Joint Research Centre (JRC) der EU, das von EURATOM mitfinanziert wird und der Atomlobby nahesteht. Dass die EU-Kommission ausgerechnet dieses Gremium mit dem Gutachten beauftragte, zeigt bereits, wohin die Reise gehen sollte. Über den im März 2021 veröffentlichten JRC-Bericht fällte das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) ein vernichtendes Urteil. Der Bericht „betrachtet die Folgen und Risiken der Kernenergienutzung für Mensch und Umwelt sowie für nachfolgende Generationen nur unvollständig oder spart diese in seiner Bewertung aus“, heißt es in der Stellungnahme. Außerdem seien „Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens“ missachtet worden. Diese und andere kritische Bewertungen wurden von der EU-Kommission gänzlich ignoriert. Sie folgte stattdessen dem Votum einer dem EURATOM-Vertrag unterstellten, atomfreundlichen Expertengruppe. Das Ergebnis ist bekannt.
Offensichtlich leistete die Atomlobby ganze Arbeit, auch im Hinblick auf die öffentliche Meinung. In Deutschland war im vergangenen Jahr zu beobachten, wie Pro-Atom- Behauptungen in der Medienlandschaft wieder salonfähig oder zumindest als diskussionswürdig erachtet wurden. Währenddessen kündigte Frankreich den Bau sechs großer Reaktoren sowie die Entwicklung von „small modular reactors“ an. Der unabhängige Energie- und Atompolitikanalyst Mycle Schneider hält diese Projekte für völlig unrealistisch. „Noch nie war der Graben zwischen Wahrnehmung und Realität so groß“, sagt er. Das Fiasko um den „Europäischen Reaktor“ (EPR) in Flamanville steht dafür beispielhaft. Ursprünglich sollte Frankreich mit 20 dieser Meiler der „dritten Generation“ bestückt werden. Doch die Kosten des „Vorzeigeprojekts“ stiegen rasant von 3,3 auf 19,1 Milliarden Euro an, während sich der Bau um über zehn Jahre verzögerte. Inzwischen steht in Frage, ob der EPR jemals ans Netz gehen wird – ein baugleicher Meiler in China musste wegen Brennelementschäden abgeschaltet werden. Die Ursache könnte an nicht zu behebenden Konstruktionsfehlern liegen.
Reaktoren werden immer störanfälliger
Was dem Streit um die Atomkraft eigentlich zugrunde liegt, sind geplante Laufzeitverlängerungen uralter Meiler. 19 der 56 französischem Reaktoren haben die 40 Betriebsjahre, für die sie ausgelegt waren, bereits jetzt überschritten, weitere folgen bald. Um sie länger betreiben zu können, müssen sie nach Aufl agen der Atomaufsichtsbehörde umfangreich nachgerüstet werden. Das kostet dem französischen Rechnungshof zufolge 100 Milliarden Euro, allein für den Zeitraum 2014 bis 2030. Kein Wunder also, dass der hochverschuldete, überwiegend staatliche Energiekonzern EDF alles daran setzt, an billige Kredite zu gelangen. Allerdings wird Geld allein die massiven Probleme von EDF nicht lösen können. Wegen des Fachkräftemangels können die Altmeiler nur hintereinander, nicht zeitgleich generalüberholt werden. Viele von ihnen werden also ohne die notwendige Nachrüstung jahrelang am Netz bleiben, was die Aufsichtsbehörde offensichtlich durchgehen lässt. Die französische Reaktorfl otte wird indessen immer störanfälliger. Vor Kurzem mussten auch einige jüngere, baugleiche Meiler wegen entdeckter Risse im Notkühlsystem außer Betrieb genommen werden. Ende vergangenen Jahres standen so 15 Reaktoren gleichzeitig still, weshalb Frankreich am 22. Dezember 2021 bis zu 13 Gigawatt Strom importierte. Ein großer Teil davon kam aus Deutschland.
Ein grundsätzliches Problem der französischen Atomindustrie sieht Mycle Schneider in systematisch auftretenden groben Nachlässigkeiten bis hin zum Betrug. Bekanntestes Beispiel: Im Schmiedewerk „Creusot Forge“ wurden Qualitäts-Zertifi - kate für mangelhafte Reaktor-Bauteile systematisch manipuliert, was jahrzehntelang unerkannt blieb.
Hinzu kommt, dass die Sicherheit maroder Meiler durch Nachrüstungen kaum erhöht werden kann. Eine von den europäischen Grünen bereits 2019 beauftragte Studie, welche die ältesten Reaktoren mit 900 MW unter die Lupe nahm, lässt daran keinen Zweifel. So könnten wichtige Komponeten wie der Reaktordruckbehälter nicht ausgetauscht werden – doch gerade hier ist die Gefahr, altersbedingte Risse nicht zu entdecken, am größten. Darüber hinaus ist das antiquierte Sicherheitsdesign der Meiler nicht auf Störfälle ausgelegt, die in heutigen Zeiten passieren können.
Ein Wille zum Umbau ist nicht in Sicht
Frankreich hat sich über Jahrzehnte hinweg in eine energiewirtschaftliche Sackgasse hineinmanövriert, indem es mit aller Macht an der Atomkraft festhielt und die Energiewende sträflich vernachlässigte. Einen Ausweg gäbe es allemal. Inzwischen ist Strom aus Wind- und Solarkraft erheblich billiger als Atomstrom, sogar inklusive der Systemkosten (wie Netze und Speicher). Für den zügigen, schrittweisen Umbau des Energiesystems in Frankreich bedarf es nur des politischen Willens. Der ist nicht in Sicht und wird mit Aufnahme der Atomkraft in die Taxonomie immer länger auf sich warten lassen. In der Zwischenzeit jedoch spitzt sich die Gefahr eines Super- GAUs in Frankreich weiter zu. Geschähe er tatsächlich, hätte ganz Europa darunter zu leiden.
Die Bundesregierung sollte deshalb alles in ihrer Macht stehende tun, um den schmutzigen Deal der alten Regierung ungeschehen zu machen und das Greenwashing von Atom und Gas zu verhindern. Ein „Nein“ zur Atomkraft wird dafür nicht reichen, sie muss es auf Erdgas ausweiten, in Brüssel ihr ganzes politisches Gewicht in die Waagschale werfen und notfalls auch klagen. Beenden muss sie außerdem, dass marode Meiler in ganz Europa mit Brennstoff aus Deutschland beliefert werden. Sonst verliert sie ihre Glaubwürdigkeit. Eine Schließung der Atomfabriken in Lingen und Gronau ist längst überfällig.
Der Artikel erschien am 18.1.2022 im „Freitag“. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.