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Russland sucht Zugang zum europäischen Atommarkt

Interview mit dem russischen Anti-Atom-Aktivisten Vladimir Slivyak von „Ecodefense“

Die Tochterfirma des russischen Atomkonzerns Rosatom, TVEL, will sich an der Brennelementefabrik im niedersächsischen Lingen beteiligen. Wie würde sich ein solches Joint Venture zwischen TVEL und Framatome in Lingen auf das russische Atomgeschäft auswirken?

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Dieses russisch-französische Joint Venture wäre ungewöhnlich. Rosatom hat in Russland genug eigene Kapazitäten zur Herstellung und auch ausreichend Kernbrennstoffe. Der Konzern braucht kein Geld, denn in Russland hat die Atomindustrie unbegrenzten Zugang zum Staatshaushalt. Ich bin davon überzeugt, dass es sich um eine rein politische Entscheidung handelt, die mit dem Bestreben von Präsident Putin zusammenhängt, den russischen Einfluss in Europa auszuweiten. Die Kontrolle über den europäischen Energiemarkt einschließlich des Atomstroms dient einem „geopolitischen“ Ziel. Russland ist einer der Hauptexporteure von Gas in die EU, und Kohle ist ein weiterer wichtiger Bestandteil des Energiemarktes. Deutschland bezieht derzeit fast die Hälfte seiner Kohleimporte aus Russland – doch nur wenige Menschen wissen, wie groß der russische Einfluss auf den EU-Atommarkt ist.

In Ungarn, Bulgarien, der Slowakei, Tschechien und Finnland sind russische AKW-Konstruktionen in Betrieb, die von Russland mit Brennstoff versorgt werden. In Ungarn sind zwei neue – durch Russland finanzierte – Reaktoren geplant. In Finnland bereitet Rosatom ebenfalls den Bau eines russischen Reaktors vor. Russland besitzt 34 Prozent der Anteile an der Gesellschaft Fennovoima, die das AKW bauen soll. Es gibt auch Pläne für neue Aufträge in Bulgarien und anderen EU-Ländern. Und jetzt will Rosatom einen größeren Anteil am Brennstoffmarkt der EU: Zusammen mit Framatome will es Brennelemente in weitere europäische Länder liefern. Russland nutzt die Energieversorgung, um politisch Einfluss zu nehmen.

Ein weiteres Teil des Puzzles ist die Kooperation von Rosatom mit Urenco, einem Konzern, an dem Deutschland, die Niederlande und Großbritannien beteiligt sind. Seit 1996 nimmt Rosatom immer wieder radioaktive Abfälle aus Urenco-Anlagen entgegen, die offiziell zur „Wiederaufbereitung” nach Russland transportiert werden. Dies ist jedoch wirtschaftlich und auch im Hinblick auf die Produktion von Kernmaterialien unsinnig: Russland hat in der Vergangenheit über eine Million Tonnen solcher Abfälle angehäuft und tut damit nichts. Interessant ist, dass Urenco für die „Entsorgung” in Russland nur einen niedrigen Preis zahlt – die Verbringung nach Russland beseitigt damit ein sehr schmerzhaftes Problem. Warum macht Rosatom einem europäischen Konkurrenzunternehmen ein so gutes Angebot? Ich denke, die Antwort ist, dass Rosatom in erster Linie Zugang zum europäischen Atommarkt haben will – und deshalb Staatsgelder investiert. Dieser Zugang wird zu einer Zusammenarbeit nicht nur bei der Herstellung von Brennelementen, sondern auch im Bereich neuer Reaktoren führen und Rosatom viele Türen öffnen.

Es einfach zu erraten, was als nächstes passiert: Frankreich ist an dem Punkt angelangt, wo es den Preis für seine Atomindustrie zahlen muss. Allein für die Instandhaltung vorhandener alter AKWs werden etwa 100 Milliarden Euro veranschlagt. Und der Abfallberg wächst, erst recht, wenn Frankreich in naher Zukunft beginnt, alte Reaktoren stillzulegen. Für neue AKWs aus Frankreich gibt es kaum internationale Aufträge, und überall sind die Kosten viel höher als erwartet, die Bauzeiten zu lang. Die EU- Taxonomie, über die Frankreich an Gelder kommen möchte, ist bis jetzt nicht in Kraft, und es ist nicht klar, um welche Summen es überhaupt geht, weil die Investoren der Atomkraft gegenüber skeptisch sind. Wenn Russland investiert, wird Frankreich bereit sein, dem Partner im Gegenzug mehr Kontrolle über den Atommarkt in der EU zu geben.

Was kann die deutsche Anti-Atom-Bewegung hier tun?

Ich finde, die deutsche Antiatom-Bewegung sollte mehr Druck auf ihre teilweise grüne Regierung ausüben, den Atomausstieg konsequent zu verfolgen. Solange weiterhin Brennelemente in Deutschland produziert werden, ist das kein Ausstieg. Verglichen mit dem, was schon bewältigt wurde, wäre es jetzt ein Leichtes, die Atomanlagen in Lingen und Gronau abzuschalten. Und der vollständige Ausstieg aus der Atomenergie wäre das, was für bessere Klimaschutzmaßnahmen getan werden muss. Wenn die Atomenergie Teil des Energiemixes bleibt, wird sie wie in Frankreich ständig Geld verschlingen – das Geld, das für den Ausbau erneuerbarer Energien und die Reduktion der Emissionen benötigt wird. Wir können das Klima nur retten, wenn wir vollständig aussteigen.

Wie wird die Klimakrise in Russland wahrgenommen?Was sind die Sorgen der Menschen, die dort leben?

Die Menschen in Russland haben kaum Informationen über die Klimakrise. Sie sind zwar besser informiert als vor zehn Jahren, aber es fehlen Informationen darüber, was die Klimakrise verursacht und was getan werden muss, um sie zu verlangsamen. Es gibt eine Menge Propaganda, die von den Behörden und großen Unternehmen verbreitet wird. Vor allem, dass die Klimakrise natürlich sei und nichts dagegen getan werden könne. Und es gibt kaum Gegenpropaganda. Diese Situation kommt natürlich den fossilen Konzernen zugute, die Präsident Putin nahestehen.

An welchen Themen arbeitet die russische Klimabewegung?

Die Klimabewegung konzentriert sich hauptsächlich auf den Abbau und Verbrauch von Kohle, und die Bewegung ist sehr klein. Weil die russische Öffentlichkeit schlecht informiert ist und weil es in Russland eine weit verbreitete Meinung ist, dass wir ohne Kohle im Winter nicht überleben können. Zweitens ist der russische Staat extrem feindselig gegenüber Aktivist*innen, das betrifft auch die Umweltbewegung. Die Demokratie liegt in Russland momentan auf Eis.

Russland ist derzeit der wichtigste Kohlelieferant für Deutschland. Wie hat sich die Umweltsituation in den russischen Kohleregionen, z. B. im Kuznetsk-Becken, in den letzten Jahren entwickelt?

Auch wenn Russland selbst deutlich weniger Kohle verbraucht als im 20. Jahrhundert, nimmt die Abbaumenge jedes Jahr zu, weil die Nachfrage international wächst. Europa und Asien importieren gleich viel Kohle. Die Bevölkerung im Kuzbass bezahlt dafür mit ihrer Gesundheit und manchmal mit dem Leben. Die Anwohner*innen v.a. in der Umgebung von Kohlebergwerken protestieren oft, aber sie werden in Moskau nicht gehört, weil der Staat mehr Kohle ins Ausland verkaufen will. Die Regierung ist nur an der industriellen Entwicklung und an Geld interessiert, wie vor hundert Jahren, als wir nichts über die Zusammenhänge zwischen Umwelt, Gesundheit und Wirtschaft wussten.

Die Bevölkerung sorgt sich um die Gesundheit und die Umwelt, und um eine nötige Diversifizierung der lokalen Wirtschaft, die weitgehend von der Kohle abhängig ist. Sie fragt sich, wie sie überleben soll, wenn in einigen Jahren die Nachfrage nach Kohle weltweit zurückgeht und Unternehmen schließen müssen. Die Menschen machen sich große Sorgen um die Arbeitsplätze. Meiner Meinung nach handelt die Regierung kriminell, wenn sie nichts tut, um neue Arbeitsplätze außerhalb der Kohle zu schaffen und die lokale Wirtschaft zu verändern. Die russische Regierung erzählt den Kohlearbeitern weiterhin, dass der Kohlebergbau wachsen wird und dass dies Teil der nationalen Energiestrategie ist.

Wie wirkt sich das Schrumpfen demokratischer Räume auf die Arbeit der Umweltbewegung aus?

Dieser Prozess betrifft nicht nur meine Organisation „Ecodefense”, sondern viele Umwelt-, Menschenrechts- und andere aktivistische Gruppen. Die demokratischen Institutionen funktionieren nicht mehr – es ist unmöglich geworden, öffentliche Diskussionen in der Gesellschaft zu organisieren. Proteste sind nicht mehr erlaubt, die politische Opposition ist fast ausgeschaltet. Ich bin schon seit Sowjetzeiten Aktivist, trotzdem habe ich in meinem Land noch nie so finstere Zeiten erlebt. Der Zivilgesellschaft bleibt jede Einflussmöglichkeit verschlossen und es ist unklar, wie wir einen Ausweg finden können. Russland ist für Aktivist*innen momentan ein sehr gefährlicher Ort. Das wird die Chancen unseres Landes auf eine gesunde Entwicklung auf lange Sicht beeinträchtigen.

Anmerkung der Redaktion: Bei Druckabgabe dieses Hefts wurde bekannt, dass der Einstieg von TVEL in die Brennelementeproduktion in Lingen vorerst gescheitert ist.

Vladimir Slivyak ist Co-Vorsitzender der russischen Umweltorganisation Ecodefense und Träger des Right Livelihood Award. Er wurde 2021 mit demAlternativen Nobelpreis ausgezeichnet.

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