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Abweichende Meinungen müssen wir tolerieren“ Ein Interview mit Jens Reich
„Abweichende Meinungen müssen wir tolerieren“
Ein Interview mit Jens Reich
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Jens Reich ist Mediziner, Molekularbiologe und IPPNW-Mitglied. Im Juni 1990 wurde er zum Vorsitzenden der DDR-Sektion der IPPNW gewählt. Während der gewaltfreien Revolution in der DDR war er als parteiloser Bürgerrechtler im „Neuen Forum“ aktiv. 1990 war er einer der Sprecher der Fraktionsgemeinschaft von Bündnis 90 und der Grünen Partei in der frei gewählten Volkskammer der DDR (Bündnis 90/Die Grünen gab es damals noch nicht). 1994 war er von den mittlerweile mit Bündnis 90/Die Grünen fusionierten gesamtdeutschen Grünen nominierter Bundespräsidentenkandidat (auf Vorschlag der IPPNW). Er gehörte von 2008 bis 2012 dem Deutschen Ethikrat an, von 2001 an war er bereits Mitglied im Nationalen Ethikrat.
Amatom: Ende der 80er, Anfang der 90er war ja politisch eine spannende Zeit. Welche Ereignisse waren für Dich damals besonders wichtig und sind deshalb in Deiner Erinnerung geblieben?
Jens Reich: Gründung und politische Aktivität des Neuen Forum im Herbst 1989.
Amatom: Im Juni 1990 wurdest Du auf der ersten Mitgliederversammlung zum Vorsitzenden der DDR-Sektion der IPPNW gewählt. Weshalb hattest Du gegen den renommierten Prof. Samuel Mitja Rapoport kandidiert?
Reich: Die damalige Führung hatte die DDR-Sektion zu einem ausführenden Organ des Gesundheitsministeriums gemacht, ohne basisdemokratische Regeln. Das widersprach den Regeln in anderen Sektionen, zum Beispiel in der Bundesrepublik. Ich hatte nichts Persönliches gegen Prof. Rapoport. Er ist ein bedeutender Wissenschaftler. Ich war auch in wissenschaftlicher Kooperation mit seinem Sohn und anderen Mitarbeitern. Aber die Mehrheit der Mitglieder stimmte eben auch in der IPPNWSektion der DDR wie im ganzen Lande für eine Befreiung von der autoritären Vorgehensweise.
Amatom: Wie arbeitete die DDR-Sektion der IPPNW vor der Wende, insbesondere zu Zeiten des Kalten Krieges?
Reich: Gegen die Opposition jüngerer Mitglieder hatte die Sektion sich zu einem politischen Instrument der Staatsmacht gemacht. Sie wollte die internationale Vernetzung in der IPPNW kontrollieren. Amatom: Dr. Heinrich Niemann schrieb in der letzten Ausgabe des Forums „ippnw intern“, die Leistungen der DDR-Sektion würden in den derzeitigen Veröffentlichungen „verkürzt, einseitig und fehlerhaft“ dargestellt. Er konstatierte: „In der DDR-Sektion engagierten sich zahlreiche (sicher mehrere Hundert) Ärztinnen, Ärzte und Student*innen für die Ziele der IPPNW, obwohl sie nicht zu kirchlichen bzw. systemkritischen Gruppen gehörten“. Hast du eine Idee, wie wir mit dieser Spannung innerhalb der IPPNW besser umgehen können?
Reich: Na ja, abweichende Meinungen müssen wir tolerieren.
Amatom: Sergej Kolesnikov, Mitglied der IPPNW Russland, meinte im Interview mit uns, viele Menschen in Russland hätten das Gefühl, ihr Land werde dämonisiert und müsse sich gegen die Bedrohungen insbesondere von Seiten der NATO verteidigen. Das klang für uns, als wäre eine Menge des Gedankengutes des Kalten Krieges noch auf beunruhigende Weise aktuell. Wie hast du die Entwicklung der Ost-West-Beziehungen seit den 90er Jahren wahrgenommen, sowohl auf IPPNW-, als auch auf allgemeinpolitischer Ebene? Reich: Seine Meinung in Ehren, und ich sehe auch, dass Russland sich eingekreist wähnt. Aber er erwähnt nicht, dass Russland selbst militärisch aggressiv geworden ist – Georgien, Ukraine, Syrien. Mit einer militärischen Besetzung solchen Typs (Afghanistan) hat die Sowjetunion zum Beginn der 80er Jahre ihren letztendlichen Kollaps vorprogrammiert. So kann man dem Frieden nicht näher kommen.
Amatom: Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führten Gesa Baum, Studium der Humanmedizin, Oldenburg und Ewald Feige, IPPNWGeschäftstelle.