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Glücksfall mit Geburtsfehlern Die Geschichte der IPPNW

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Glücksfall mit Geburtsfehlern

Die Geschichte der IPPNW

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Die Gründung der IPPNW ist ein Glück – und doch hat sie ein paar vielleicht unvermeidliche Geburtsfehler. Wie kommt das? Eine globale Föderation zu gründen, die sich aus einzelnen nationalen Organisationen zusammensetzt und nicht einfach Ableger einer internationalen Zentralorganisation ist, zieht bestimmte Konsequenzen nach sich. Die Vorteile waren: In vielen Ländern der Welt hat oder hatte IPPNW Kontakte in die politischen Eliten. Bernard Lown behandelte in den USA als Kardiologe die politische Elite Washingtons. Sein sowjetischer ärztlicher Gegenpart Prof. Evgeni Tschasov war Leibarzt von Staatssekretär Leonid Breschnew und später Gesundheitsminister unter Präsident Gorbatschow. Ähnliche Geschichten prominenter vor allem Gründungsväter (leider selten -mütter) lassen sich in anderen Ländern finden. Dies war insofern alternativlos, als dass eine Gründung einer basisdemokratischen Nichtregierungsorganisation „von unten“ in vielen Ländern kaum oder gar nicht möglich gewesen wäre.

Der heute in der Nähe von Boston lebende Lown, 1921 als Jude in Litauen geboren, emigrierte noch vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges in die USA, wo er zu einem der bedeutendsten Kardiologen der Medizingeschichte in Harvard avancierte. Ich hatte selbst das Glück, Lown in jüngeren Jahren kennenzulernen. Seine faszinierende Lebensgeschichte als brillanter Forscher, emphatischer Arzt und aufrechter Bürger, der für seine Überzeugung unter anderem als Gegner der Rassentrennung in den USA auch persönliche Nachteile in Kauf nahm, lässt sich in Bernard Lown „Die verlorene Kunst zu heilen“ nachlesen. Lown hatte es abgelehnt, Blutkonserven von weißen und farbigen Blutspendern zu trennen und wurde dafür sogar entlassen. Sein Buch sollte jede*r Medizinstudierende gelesen haben. Lown hatte eine Ausstrahlungs- und Überzeugungskraft, die einen auf geradezu einzigartige Weise in seinen Bann ziehen konnte. Für viele, mich eingeschlossen, bedeutete dies eine Erfahrung, die das ganze Leben verändert und geprägt hat. Seiner Überzeugung- und Durchsetzungskraft, gemeinsam mit einer wichtigen Zahl gleichgesinnter Kolleginnen und Kollegen, war es zu verdanken, dass auch Michael Gorbatschow sich in der persönlichen Begegnung mit IPPNWler*innen ihrem Abrüstungsansinnen nicht verschließen konnte. Wir haben guten Grund anzunehmen, dass die IPPNW-Aktivitäten das Denken und Handeln der Großmächte beeinflusst hat. Der Friedensnobelpreis ist der IPPNW 1985 dafür verliehen wurden.

Auch in den beiden deutschen Staaten wurde die IPPNW gegründet. Viele waren daran beteiligt. Exemplarisch seien für die Bundesrepublik der Frankfurter Internist Prof. Ulrich Gottstein

und der Psychoanalytiker Prof. Horst-Eberhard Richter genannt sowie Michael Roelen als Geschäftsführer und seine Frau Barbara Hoevener. Die Geschichte der bundesdeutschen IPPNW war immer geprägt durch eine autoritätskritische und basisdemokratische medizinische Bürgerbewegung. Für die bundesrepublikanische IPPNW war aufgrund unseres ärztlichen Ethos Dialog mit Politik, Militär und Diplomatie Grundlage der „politisch-humanitären“ Arbeit, aber – wenn nötig – auch scharfe Kritik am Tun dieser Akteure. Die IPPNW in der Bundesrepublik hat kurz gesagt das Selbstverständnis: Aus humanitärer und ärztlicher Berufung mit den Entscheidungsträger*innen der Politik reden, um politische Entscheidungen zu verändern.

Kompetenz und Dialogfähigkeit haben der IPPNW immer wieder Türen geöffnet – und wir sind natürlich besonders glücklich, dass die Initiative und Gründung einer internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) 2017 zu einem weiteren Friedensnobelpreis geführt hat. Auf Initiative von IPPNW und ICAN gelang es, einen UN-Vertrag über ein internationales Atomwaffenverbot zu erreichen, der im Januar 2021 nun endgültig in Kraft tritt. An allen diesen Erfolgen und Aktivitäten waren immer auch Studierende beteiligt. Viele, die heute in leitenden Funktionen im Verein sind, sind ehemalige aktive IPPNW-Studierende. Es ist ein Glückstreffer für den Verein, dass von Anfang versucht wurde, Studierende in die Arbeit einzubinden. Für beide Seiten war das interessant. Die IPPNW hat immer wieder „junge“ Impulse, Kreativität und Engagement erhalten, während die Studierenden weltweit spannende politische Erfahrungen machen konnten.

Wie aber war es in der DDR? Die DDR-IPPNW war eine Kopfgeburt von oben, die in staatsnaher enger Kooperation mit der SED und am Ende mit Einverständnis der UdSSR erfolgte. Anders hätte die Gründung einer IPPNW-Sektion in der DDR-Diktatur vermutlich nicht erfolgen können. Die staatstreue DDR-IPPNW hat gern eingestimmt in die allgemeine Friedensrhetorik der SED. Eine regierungskritische Vereinspolitik im eigenen Land und echte Partizipation einer demokratisch organisierten Mitgliedschaft war nicht vorgesehen. So wirken die Zahlen angeblich Zehntausender Unterstützerinnen und Unterstützer für atomare Abrüstung beeindruckend und etwas schal zugleich.

Diesen Zwiespalt hat die internationale IPPNW auch anderswo aushalten müssen. Dennoch blieb die Idee genial, eine Brücke über politische Unterschiede hinweg zu schaffen, um ins politische Gespräch zu kommen. So wurde die Grundlage für eine zivilgesellschaftliche Bewegung von Menschen aus dem Gesundheitswesen geschaffen, um die globale atomare Bedrohung abzuwenden. Zu Hochzeiten des Kalten Krieges diskutierten beispielsweise Ärztinnen und Ärzte im „Prime-Time-TV“ in der Sowjetunion über Friedensfragen. Wir haben ähnliche Aktionen über die Jahre fortgesetzt in anderen Zusammenhängen. Ich selbst war u. a. beteiligt bei der NATO, im Pentagon und US-Kongress oder in Nordkorea.

Die DDR-IPPNW hat sich eher als Organ des SED-Staates gesehen und nicht genug Mut gehabt, notwendige regierungskritische Arbeit zu betreiben. Man hätte sich aufgrund der Regierungsnähe vorstellen können: Aus der Basis werden progressive Ideen nach oben getragen und in die Debatte der politischen Entscheidungsgremien eingeführt. Aber in der DDR wurde engagierten und demokratisch Aktiven der Zutritt in die DDR-IPPNW verwehrt und deren Arbeit behindert. Erst auf Druck von außen, unter anderem aus der niederländischen IPPNW, wurde eine Einzelmitgliedschaft ermöglicht. Dennoch blieb die Teilnahme an internationalen IPPNW-Veranstaltungen nur einem privilegierten Kreis vorbehalten.

Erst nach der Wende entstand in der DDR-IPPNW ein nachhaltiger Demokratisierungsprozess. Eine kleinere Zahl von Medizinerinnen und Medizinern bekannte sich weiter zur nun gesamtdeutschen IPPNW. Aus dem Kreis ärztlicher DDR-Opposition engagierten sich fortan Menschen wie das Berliner Ärzteehepaar Seidel, das Ehepaar Misselwitz aus Jena, Jens Reich oder der Ilmenauer Anästhesist Helmut Krause ungehindert in der gesamtdeutschen IPPNW. Es gibt sicher viele andere, die Erwähnung verdient hätten. Diejenigen aber, an deren Revers die „offiziellen DDR-Orden“ baumelten, gehören wohl eher nicht nach oben auf diese Liste. Auch hier mag es bei einigen guten Willen gegeben haben – darüber mag und kann ich gar nicht richten – aber strukturell haben Repräsentant*innen der DDR-IPPNW das System mitgetragen. Dieses System bestand „nur aus Lüge und Heuchelei und Angst“, wie es der Sondershäuser Pastor und Regime-Kritiker Jürgen Hauskeller anlässlich der Feierlichkeiten zu „30-JahrenFall-der-Mauer“ nannte.

Auch 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung sind bei vielen, die unter dem SED-Terror leiden mussten, die Wunden nicht verheilt. Und dennoch ist es richtig und wichtig, sich der eigenen Geschichte auch innerhalb unserer Organisation in geeigneter Weise zu stellen. Allerdings kann dabei die DDR-IPPNWGeschichte nicht „weichgespült“ werden.

Für die DDR gilt: Die Menschen der DDR haben in einer friedlichen Revolution ein diktatorisches System abgeschafft und einen wichtigen Friedensbeitrag für Europa und die Welt geleistet. Zu dieser großartigen historischen Leistung haben auch ärztliche IPPNW-Kolleginnen und Kollegen an wichtiger Stelle beigetragen. Leider ist dies nicht so sehr innerhalb sondern vor allem außerhalb der offiziellen DDR-IPPNW erfolgt.

IPPNW-Gründer Dr. Bernard Lown, USA (l.) und Evgenij Chazov, UdSSR (r.) 1985 bei der Friedensnobelpreisverleihung an die IPPNW.

Der Westen muss sich vorwerfen lassen, diese unglaubliche historische Gelegenheit zu einem substanziellen Wandel internationaler Beziehungen hin zu kollektiver Sicherheit und konsequenter Abrüstung verpasst zu haben. Vor allem die USA präsentieren sich bis heute als „Sieger des Kalten Krieges“ und lenken somit wie andere NATO-Staaten auch von den eignen Fehlern wie beispielsweise der ungebremst fortgesetzten unerträglichen Militarisierung und Aufrüstung ab. Dabei hatte der Kalte Krieg nur Verliererinnen und Verlierer. Welche intellektuellen und finanziellen Ressourcen sind in den vergangenen 30 Jahren vergeudet worden.

Deshalb ist die mahnende Stimme von uns Aktiven der IPPNW wichtig und relevant. Es geht auch heute darum, in ganz unterschiedlichen politischen Kontexten internationale Kontakte zu denjenigen Studierenden, Kolleginnen und Kollegen herzustellen, die sich aufrichtig für Frieden, Gerechtigkeit und soziale Verantwortung einsetzen. Es ist ein harter Weg, der Kompromisse und Beharrlichkeit fordert, um Abrüstung und Frieden zu erreichen. Aber wer sich innerhalb der IPPNW aufmacht, wird wunderbare gleichgesinnte Menschen kennenlernen. Und wir haben bei all den Problemen der Welt nicht wenig erreicht. Lohnt die Anstrengung? Na klar, es geht ja schließlich um nichts weniger als um unser Überleben.

Zum Weiterlesen

Lars Pohlmeier zu

» 75 Jahre Ende des Zweiten Weltkrieges: blog.ippnw.de/strick-mir-keine-neuen-socken

» 30 Jahre Fall der Berliner Mauer: peaceandhealthblog.com/2019/10/03/a-bet

Weitere Anregungen

» Bernard Lown: „Die verlorene Kunst des Heilens“, Suhrkamp, 13 Euro. Was eine gute Ärztin oder einen guten Arzt ausmacht – und was auch die IPPNW damit zu tun hat.

» Mary Elise Sarotte: „1989 – The struggle to create post-cold war Europe.“ Warum wir die historische Chance einer internationalen Abrüstungs- und Sicherheitsarchitektur vergeben haben.

Zum Thema DDR

» „Leitfiguren meiner Jugend“, Rede von Pastor Jürgen Hauskeller, Festakt 30 Jahre Fall der Mauer in Sondershausen/ Thüringen: youtu.be/XxOGsWpBEJ4

» Ines Geipel: „Umkämpfte Zone“. Die erschütternde Lebensgeschichte der heutigen Rhetorik-Professorin, ehemaligen DDR-Spitzensportlerin, die ihre Leichtathletik-Weltmeistertitel wegen Dopings zurückgab, Tochter eines STASI-Agenten.

Der Autor

Dr. Lars Pohlmeier, Facharzt für Innere Medizin aus Bremen, seit der Studienzeit aktiv in der internationalen und deutschen IPPNW, Mitbegründer von ICAN und Namensgeber des AMATOM 1991.

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