IPPNW forum 136/2013 – Die Zeitschrift der IPPNW

Page 1

Al-Hazzazeh, Aleppo. Kinder spielen in den Trümmern ihrer Nachbarschaft, in der es vorher zu heftigen Zusammenstößen gekommen war. © ICRC / H. Hvanesian

ippnw forum

das magazin der ippnw nr136 dez13 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung

- Fukushima: Die Vertuschung beginnt - Gesundheit: Wenn Sparen tötet - 6 Fragen an: Jan van Aken

Arabische Welt: Zwischen Auf bruch und Abgrund


issuu.com/ippnw NEU für IPPNW-Mitglieder und AbonnentInnen:

Stapeln sich bei Ihnen auch die Zeitschriften? Als IPPNW-Mitglied oder Forum-AbonnentIn haben Sie ab jetzt die Möglichkeit, das Forum bequem online zu lesen. Interesse? Dann senden Sie uns bitte die Karte unten oder eine E-Mail an: forum@ippnw.de Bitte vergessen Sie nicht, Ihre E-Mail-Adresse anzugeben. Sie erhalten dann jeweils bei Erscheinen des Forums eine E-Mail mit dem Link zur Online-Ausgabe.

Umweltfreundlich und immer dabei: Das IPPNW-Forum online.

Ich bin bereits Mitglied/AbonnentIn und möchte zukünftig

Ich möchte das IPPNW-Forum abonnieren

keine gedruckten Ausgaben mehr erhalten. Ich lese ab der nächsten Ausgabe lieber nur noch online.

Per FAX an 030/693 81 66

zum Preis von 20 Euro jährlich zum Förderbeitrag von 40 Euro jährlich.

zusätzlich zur gedruckten Ausgabe auch einen Link zur aktuellen Online-Ausgabe erhalten.

Ich möchte das Forum erhalten als: Druck

Druck & Online

nur Online.

Name

Straße

IPPNW Deutsche Sektion Körtestraße 10 10967 Berlin

Plz, Ort

E-Mail

Unterschrift


Editorial Dr. Sabine Farrouh ist Vorstandsmitglied der deutschen Sektion der IPPNW.

V

or zwei Jahren im Forum 127 „Aufbruch im Nahen Osten“ haben wir den Menschen im Nahen Osten gewünscht, dass sie trotz der massiven Einflussnahme von außen erfolgreich sein mögen auf ihrem Weg zu mehr Freiheit, Menschenrechten und Demokratie. Heute schauen wir zweifelnd, was aus diesem Aufbruch geworden ist, den viele den „Arabischen Frühling“ genannt haben. Steht die ganze Region nicht eher am Abgrund? Haben die Menschen irgendwo mehr Freiheit erlangt? Die Menschenrechtssituation ist schlechter denn je. Und der Ruf nach mehr Demokratie? In Kairo forderten Menschenmassen 2011 auf dem Tahrir Platz ein Ende der Militärdiktatur. Zwei Jahre später wurde die demokratisch gewählte Regierung von Muhammed Mursi von eben jener Militärriege wieder aus dem Amt gefegt. In Bahrain wehrte sich die Regierung gegen die Proteste, indem sie frühzeitig auf massive Gewalt und Repression setzte. Was dort vom „Arabischen Frühling“ übrig geblieben ist, berichtet Dieter Wölfle in dieser Ausgabe. Libyen wiederum versinkt nach der vom Westen gefeierten NATO-Intervention in Gewalt und Chaos. Darüber schreibt Joachim Guilliard in seinem Artikel. Milizen und Militärräte tragen die Gewalt bis nach Mali und Niger. Auch in Syrien kämpfen Söldner aus Libyen. Louay Hussein von der gewaltfreien Bewegung „Den syrischen Staat aufbauen“ beklagt im Interview die massive Einmischung von ausländischen Kräften in den Konflikt. Die deutsche Friedensbewegung hatte gehofft, dass der „Arabische Frühling“ dem Nahen Osten eine demokratischere politische Ordnung bescheren könnte. Doch die Proteste, die sich an sozialen Missständen entzündeten, offenbarten vielschichtige Konflikte zwischen unterschiedlichen Gruppen. Die Despoten in Tunesien, Ägypten und Libyen wurden zwar gestürzt, doch die Missstände sind nicht verschwunden. Die arabische Welt steht an einem Wendepunkt. Ist ein Aufbruch noch möglich? Ist der Kampf um mehr Freiheit noch erfolgversprechend? Der Politik-Professor Werner Ruf verweist auf das Wissen der Massen, dass sie nach fünftausendjähriger pharaonischer Herrschaft Diktatoren zu stürzen vermögen. „Die Geschichte ist nicht nur in der arabischen Welt noch lange nicht zu Ende“, schreibt er. Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre. Sabine Farrouh 3


inhalt Gerechte Medizin: Gesundheitswesen und Ökonomie

8

Themen Gerechte Medizin hilft besser. ......................................................................8 Wenn Sparen tötet.............................................................................................10 Wie ist es um die Menschrechte in Europa bestellt?.................. 12

Foto: Techniker Krankenkasse

Statt Bomben, Embargo und Propaganda. .........................................14

Arabische Welt: Aufbruch oder Abgrund – wohin geht der Weg?

Mali! Mali?..............................................................................................................15 Die Vertuschung beginnt. ..............................................................................16

Schwerpunkt

18

Unvorstellbarer Alltag..................................................................................... 18 Die arabischen Revolten: Was wurde daraus?.................................. 20 Perspektiven für einen Frieden in Syrien............................................ 22 Bedrohlicher Frühling......................................................................................24 Enttäuschte Hoffnung.................................................................................... 25 Staatszerfall nach Intervention................................................................. 26

Foto: Mohamed Azazy

Zwischen Aufbruch und Abbruch............................................................ 28

Tansania: Zweite Konferenz über die verheerenden Folgen des Uranbergbaus

Welt Reise zum Anfang der Nuklearen Kette.............................................. 30

30

Rubriken Editorial.......................................................................................................................3 Meinung......................................................................................................................5 Nachrichten..............................................................................................................6 Aktion........................................................................................................................31 Gelesen, Gesehen............................................................................................. 32 Gedruckt, Geplant, Termine. ...................................................................... 33 Gefragt..................................................................................................................... 34 Impressum/Bildnachweis.............................................................................. 33


Meinung

Xanthe Hall ist Referentin der IPPNW für Abrüstung und Internationales.

S

Die Vergabe des Friedensnobelpreises an die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) ist ein wichtiges Zeichen für die Ächtung aller Massenvernichtungswaffen. Die OPCW leistete eine bemerkenswerte Arbeit zur Vorbereitung der Vernichtung der syrischen Chemiewaffen.

ie verbrachte die letzten 16 Jahre erfolgreich damit, die Chemiewaffenkonvention umzusetzen, d.h. die Arsenale der Vertragsstaaten zu überprüfen und ihre Waffen zu vernichten. Seit Gründung der Organisation wurden 58.000 Tonnen tödliche Kampfstoffe unschädlich gemacht. Das sind etwa drei Viertel des weltweiten Bestandes. Damit hat die OPCW in sehr praktischer Weise demonstriert, wie internationale Kooperation auf Grundlage völkerrechtsverbindlicher Verträge das Problem inhumaner Waffen lösen kann. Die Atomwaffen sind die einzigen verbliebenen Massenvernichtungswaffen, die noch nicht durch einen Vertrag geächtet wurden.

D

as Verbot von Chemiewaffen ist eine Errungenschaft der internationalen Zivilgesellschaft und der Diplomatie, ebenso wie das Verbot biologischer Waffen. Die Chemiewaffenkonvention, die 1997 in Kraft trat, haben inzwischen 190 Staaten unterzeichnet. Damit erkennen sie an, dass Chemiewaffen zu den inhumansten Waffen gehören, die Menschen erfunden und eingesetzt haben. Sie bewirken Krämpfe, Atemnot und Organversagen. Führt ihr Einsatz nicht zum Tod, erleiden die Opfer verheerende gesundheitliche Schäden. Einige chemische Waffen verseuchen die Umwelt so nachhaltig, dass die Spätfolgen für den Menschen kaum zu beziffern sind. Die Auszeichnung der OPCW steht wohl auch im Zusammenhang mit den 1.400 Opfern des Giftgasangriffes bei Ghouta nahe Damaskus. Das Ringen der USA und Russlands um die syrischen Chemiewaffen hat einen völkerrechtswidrigen USMilitäreinsatz abgewendet und der Diplomatie eine neue Chance eröffnet. Wo Völkerrechtsinstrumente bestehen, haben Alternativen zum Krieg als Mittel der Politik also eine realistische Chance.

D

er Friedensnobelpreis für die OPCW unterstreicht, wie wichtig Abrüstung und das Völkerrecht für den Frieden sind, und gliedert sich ein in eine Reihe von Auszeichnungen für Abrüstungsbemühungen. Im Jahr 1985 hat die IPPNW den Friedensnobelpreis für die Aufklärung der Öffentlichkeit über die Gefahren eines Atomkrieges erhalten. Die Preisverleihung an die OPCW setzt ein wichtiges politisches Signal. Der Druck auf alle Staaten, ihre Massenvernichtungswaffen zu zerstören, muss erhöht werden.

5


N achrichten

Strahlenschutzkommission nimmt viele Strahlenopfer in Kauf

Schlechte Investition: Das Geschäft mit der Massenvernichtung

WHO verzögert Bericht über Auswirkungen von Uranmunition

D

D

ie Deutsche Bank ist in Deutschland Nummer Eins bei der Finanzierung von Atomwaffenherstellern. Das geht aus der zweiten Studie „Don’t Bank On The Bomb“ von ICAN und IKV pax christi hervor. Die Studie nennt 298 Finanzdienstleister aus 30 Ländern, die in Unternehmen investieren, die Atomsprengköpfe sowie Atomwaffen-Trägersysteme entwickeln, produzieren oder warten. Weltweit investieren Finanzinstitute in einer Höhe von 235 Mrd. Euro in diese Massenvernichtungstechnik.

D

as irakische Gesundheitsministerium sieht laut einem im September veröffentlichten vorläufigen Bericht keinen Beleg für eine gestiegene Rate angeborener Fehlbildungen im Irak. Die deutschen Sektionen der IPPNW und ICBUW (International Coalition to Ban Uranium Weapons) kritisieren diese Verlautbarung. Das angewendete Studiendesign, bisherige Studienergebnisse sowie frühere gegenteilige Aussagen hochrangiger Vertreter des irakischen Gesundheitsministeriums werfen viele kritische Fragen auf.

Acht deutsche Finanzinstitute sind mit insgesamt knapp 7,6 Mrd. in die Finanzierung von Atomwaffenherstellern verstrickt. Platz 2 nach der Deutschen Bank belegt die Commerzbank, gefolgt von der Allianzauf Platz 3. Im internationalen Vergleich nimmt Deutschland nach den USA, Großbritannien und Frankreich Platz 4 ein.

Seit Mitte der 90er Jahre berichten irakische Ärzte aus vielen Regionen des Irak über eine Häufung angeborener Fehlbildungen. Ein Zusammenhang mit kriegsbedingten Umweltverschmutzungen, unter anderem mit Uranmunition, die im Irakkrieg von den USA eingesetzt wurde, wird vermutet, so auch ein Vertreter des irakischen Gesundheitsministeriums in einem BBC-Bericht von 2012. Die groß angelegte Studie zur Frage der Fehlbildungsraten im Irak haben das irakische Gesundheitsministerium und die WHO bereits im März 2012 auf den Weg gebracht. In 18 Provinzen wurden in je 600 Haushalten Befragungen zu fehlgebildeten Neugeborenen, Fehl- und Totgeburten aus den letzten 15 Jahren durchgeführt.

ie deutsche Strahlenschutzkommission will nach den Erfahrungen mit der Reaktorkatastrophe von Fukushima, den Radius der Evakuierungszone um deutsche Atomkraftwerke von zehn auf 20 Kilometer verdoppeln. Jodtabletten sollen für das gesamte Bundesgebiet vorgehalten werden. Die IPPNW begrüßt die Bereitschaft der Strahlenschutzkommission, den Katastrophenschutz um Atomkraftwerke auszubauen, kritisiert jedoch gravierende Mängel. So sei es inakzeptabel, dass dauerhafte Evakuierungen nur aus Gebieten durchgeführt werden sollen, in denen die Menschen nach einem Atomunfall mit einer jährlichen Strahlendosis von mindestens 50 Millisievert belastet sind. In Japan gelten Gebiete mit einer Belastung von 20 Millisievert pro Jahr als unbewohnbar. Selbst diesen Grenzwert sehen viele Strahlenschützer noch als zu gefährlich an. Inzwischen wird auch von der Weltgesundheitsorganisation WHO anerkannt, dass es keinen Schwellenwert gibt, unterhalb dessen Strahlung medizinisch unbedenklich wäre. Daher ist auch in Gebieten mit Strahlendosen deutlich unter 20 Millisievert pro Jahr mit erhöhten Erkrankungsraten für Leukämie, Krebs und Nicht-Krebserkrankungen zu rechnen. Viele weitere Fragen bleiben offen: Wer soll z. B. die Katastrophenschutzmaßnahmen bezahlen? Die Deckungsvorsorge für einen Super-GAU in Deutschland beträgt nur 2,5 Milliarden Euro, die Atomkatastrophe in Japan hat bereits einen dreistelligen Milliardenbetrag verschlungen. Für diese immensen Kosten müssen die Steuerzahler aufkommen.

Auch deutsche Unternehmen sind an der Herstellung von Atomwaffensystemen beteiligt. Neben Raketenproduzent EADS, an dem die deutsche Regierung mit 10,2 % beteiligt ist, gilt ThyssenKrupp (ThyssenKrupp Marine Systems/TKMS) als Hersteller von atomwaffenfähigen U-Booten. So hat die deutsche Bundesregierung Israel bereits vier U-Boote von ThyssenKrupp geliefert, die auch mit atomwaffenfähigen Marschflugkörpern ausgestattet werden können. Zwei weitere sollen folgen. Die IPPNW fordert einen Stopp dieser Lieferungen. Weitere Informationen finden Sie unter: http://kurzlink.de/schlechteinvestition 6

Unterstützen Sie die Petition von IPPNW und ICBUW zur Ächtung von Uranwaffen: w w w.openpetition.de/petition/online/ uranmunition-aechten


N achrichten

Big Pharma: Good Pharma – Bad Pharma

Bundesregierung weigert sich Atomwaffeneinsatz zu verurteilen

Historische Einigung mit Iran

I

D

I

m Zentrum des IPPNW Global Health Summer 2013 stand die Auseinandersetzung mit der Rolle der Pharmaindustrie unter der Fragestellung: Mehr Nutzen als Schaden? Eingerahmt von einer 6-tägigen Summer School und einem 3-tägigen Skills Lab diskutierten über 150 TeilnehmerInnen am 21. September 2014 „Big Pharma: Good Pharma – Bad Pharma“. Eingeladen hatte das Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité, Health Action International und die IPPNW. Internationale Experten wie Prof. Maximilian de Courten von der Universität Kopenhagen, Prof. Hans Hogerzeil von der Universität Groningen, Dr. Angela Spelsberg von Transparency International, Prof. Dr. Barbara Mintzes, von der Universität British Columbia und Prof. Dr. Adriane FughBerman von PharmedOut.org referierten und diskutieren Fragen des Zugangs zur medizinischen Versorgung, sprachen sich für eine transparente unabhängige Arzneimittelforschung aus, analysierten die Einflussnahme der Industrie auf die Medizin als Wissenschaft und Praxis und plädierten für eine größere Unabhängigkeit der Medizin und die Integrität des ärztlichen Berufs. Tenor: Aufgabe der Pharmaindustrie muss es sein ausreichend Arzneimittel zu angemessenen Preisen herzustellen, die den gesundheitlichen Notwendigkeiten entsprechen und nachprüfbar den Nutzen haben, den sie versprechen. Die Realität ist jedoch eine andere. Eine Dokumentation der Konferenz: www.health-and-globalisation.org

eutschland hat sich im Oktober 2013 in der UNO-Generalversammlung erneut geweigert, den Einsatz von Atomwaffen unter allen Umständen zu verurteilen. 124 Staaten haben eine entsprechende Erklärung unterzeichnet. Die deutsche Zustimmung scheiterte dabei insbesondere an dem Satz: „Es ist im Überlebens­ interesse der ganzen Menschheit, dass Atomwaffen nie wieder und unter keinen Umständen eingesetzt werden.“ Dies geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Anfrage der Grünen hervor. Die Formulierung „unter keinen Umständen“ stehe demnach im Widerspruch zur NATO-Abschreckungsdoktrin. Dennoch hatten sich die NATO-Mitgliedsstaaten Dänemark, Norwegen und Island der Erklärung angeschlossen. Auch Japan hat erstmals unterzeichnet – nach heftigen Protesten der Zivilgesellschaft. Anfang November haben 104 Bürgermeister und Oberbürgermeister des weltweiten Bündnisses „Mayors for Peace“ anlässlich der Koalitionsverhandlungen die Verhandlungspartner von CDU, CSU und SPD schriftlich aufgefordert, sich zu einem atomwaffenfreien Deutschland und einer atomwaffenfreien sowie friedlichen Welt zu bekennen. Wie das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ berichtete, könnten neuartige, lenkfähige US-Atomwaffen auch in Deutschland stationiert werden. Das gehe aus einem Bericht der Nationalen Nuklearen Sicherheitsbehörde an den US-Kongress hervor. Weitere Informationen: www.atomwaffenfrei.de 7

m jahrelangen Streit um das iranische Atomprogramm ist in Genf Ende November eine Einigung erzielt worden. Der Iran darf weiter Uran bis zu fünf Prozent anreichern, aber nicht darüber hinaus. Der gesamte existierende Vorrat an bis zu 20 Prozent angereichertem Uran muss unter einer Schwelle von fünf Prozent abgeschwächt, vernichtet oder so verändert werden, dass er nicht mehr angereichert werden kann. Es dürfen keine zusätzlichen Zentrifugen installiert werden. Rund die Hälfte der Zentrifugen in der Atomanlage von Natans und drei Viertel der Zentrifugen in der unterirdischen Anlage Fordow werden stillgelegt. Neue Urananreicherungsanlagen dürfen gebaut werden, existierende Anlagen nicht weiter ausgebaut. Der Schwerwasserreaktor Arak darf nicht in Betrieb genommen werden und alle Arbeiten an Brennstoffen für den Reaktor sind einzustellen. Inspektoren der IAEO soll täglich Zutritt zu den Urananreicherungsanlagen Natans und Fordow gewährt werden sowie Zugang zu Zentrifugen-Fabriken und anderen Anlagen. Im Gegenzug werden bestimmte Sanktionen vorläufig aufgehoben und erst einmal keine neuen Sanktionen verhängt. „Die Genfer Einigung ist ein Meilenstein in der Geschichte“, erklärt IPPNW-Abrüstungsreferentin Xanthe Hall. Jetzt sei es an der Zeit, Israel erneut aufzufordern, seine Bereitschaft zur Teilnahme an einer Konferenz zur Errichtung einer Zone frei von Massenvernichtungswaffen im Nahen Osten zu erklären.


SOZIALE VErANtWOrtUNG

Gerechte Medizin hilft besser Gesundheitswesen als Modell für die Wirtschaft der Zukunft?

G

esundheitssystem und Ökonomie: dazu eine Erkenntnis und eine Frage, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Die Erkenntnis: Je größer die Ungleichheit in einer Gesellschaft, desto größer sind soziale und gesundheitliche Probleme. Dieser Zusammenhang wurde anhand der offiziellen Daten von etwa 100 Staaten weltweit in fast allen Fällen bestätigt. In gerechteren Gesellschaften lebt man länger, besser und glücklicher. Das gilt auch für die reicheren Bevölkerungsschichten.

D

ie Frage: Wie müssen in einer entwickelten Volkswirtschaft die Regeln für Wirtschaft und Finanzen schrittweise verändert werden, damit auch bei Nullwachstum die Gesellschaft stabil bleibt? Das Thema Ungleichheit ist inzwischen in weiten Teilen von Politik und Gesellschaft angekommen, vor allem im Zuge der Finanzkrise. Was die Frage des Wachstumszwangs angeht, gibt es unverändert ein TINA-Syndrom in den Köpfen (=„There Is No Alternative“), also die Schein-Wahrheit, es gäbe keinen anderen Weg, als die Regeln des Marktes so hinzunehmen. Das Merkelsche „alternativlos“ entspricht dem. Dabei sollte nicht erst seit attac klar sein, dass sehr wohl „Eine andere Welt möglich“ ist. Und was hat die Erkenntnis und die Frage mit Gesundheitspolitik im engeren Sinne zu tun? Oft wird fälschlicherweise angenommen, die Erfolge des Gesundheitswesens würden zwangsläufig mit dem Aufwand korrelieren, der im Gesundheitswesen betrieben wird. Der internationale Vergleich von Gesundheitssystemen bestätigt dies nicht. Gerade besonders teure Gesundheitswesen wie in den USA oder in der Schweiz oder Deutschland schneiden nur mittelmäßig ab. Beispielsweise

erreichen skandinavische Gesundheitssysteme die Ziele mit weniger Aufwand besser. „Viel hilft viel“ scheint die falsche Strategie zu sein. Richtig aber ist: Besonders gut ist ein Gesundheitswesen, wenn die Ziele (Gesunderhaltung, Heilung von Krankheiten, Linderung von Leiden, Verlängerung der Lebenserwartung) mit möglichst wenig Aufwand erreicht werden. Das Gesundheitssystem ist dann gut, wenn die Menschen selten zum Arzt müssen und die Ziele trotzdem erreicht werden. Warum passt das bestehende Anreizsystem nicht zu einem guten Gesundheitswesen? Es lohnt sich, in einem ersten Schritt das Gesundheitssystem mit dem Aufgabenfeld von Feuerwehr und der Polizei zu vergleichen. In allen drei Bereichen geht es darum, Unerwünschtes zu vermindern. Bei Feuerwehr und Polizei ist schnell zu erkennen, was ein falsches Anreizsystem wäre, nämlich eine „leistungsorientierte“ Bezahlung von Feuerwehrleuten nach der Anzahl der Brände und der Polizisten nach der Rate der Festnahmen. Es würde ein nachvollziehbares Interesse entstehen an mehr Kriminalität und an mehr Feuer.

N

icht ganz so offensichtlich ist das im Gesundheitswesen. Deshalb war es auch durchsetzbar, die Honorare an die „Leistung“ zu koppeln. Wer also mit wenig Aufwand viel erreicht, ist finanziell im Nachteil. Zwar sind durch Budgetierungen inzwischen wieder Grenzen gezogen worden, aber das Prinzip ist weiterhin vorhanden: je mehr Krankheiten und Konsultationen, desto mehr Gewinn. Um den Vergleich mit Feuerwehr und Polizei nicht zu überziehen, möchte ich eines richtigstellen. Im Gesundheitswesen gibt es eine Besonderheit, deren Bedeutung häufig nicht erkannt wird. Sie hängt mit 8

der Sterblichkeit des Menschen zusammen. Paradoxerweise werden nämlich Krankheiten in einem besonders gut funktionierenden Gesundheitssystem mittelfristig häufiger. Wer akut gefährliche Krankheiten übersteht, hat mittelfristig mehr chronische Krankheiten. Was aber nichts an der Wichtigkeit der medizinischen Arbeit ändert, denn diese besteht nicht nur im Heilen, sondern vor allem im Lindern und Begleiten. (…)

E

s ist interessant, sich die zehn Kriterien „Guter Arzt“ anzusehen. Die Mehrzahl der Kriterien ist an kommunikative Fähigkeiten, Vertrauen, Wertschätzung, Gespräch gebunden und erfordert damit Zeit. Von diesen zehn Kriterien werden in den Honorierungssystemen der vergangenen Jahrzehnte allenfalls zwei belohnt. Alle anderen haben wirtschaftliche Nachteile zur Folge. Überspitzt gesagt verdient der erfahrene, patientenorientierte Arzt, der mit wenig Aufwand viel erreicht, am wenigsten. Wer ohne Rücksicht auf Kosten und Patientenbelastungen eine Unmenge von apparativen Untersuchungen durchführt und von Kollegen durchführen lässt, erhöht für sich und andere die Umsätze. An manchen Stellen wurde im ärztlichen Honorierungssystem die Notbremse gezogen. Bei Kassenpatienten können durch Pauschalierungen und Budgets keine unsinnigen Leistungsausweitungen betrieben werden. Im Gegenteil, zusätzlicher Aufwand innerhalb eines Quartals wird nicht bezahlt. Aber: Es ist gut für den Arzt, wenn der Patient möglichst jedes Quartal kommt, am besten für Untersuchungen mit wenig Aufwand. Das verdünnt die Arbeitsdichte, aber verdickt die Einnahmen. Dieses Vorgehen ist sogar verständlich, da die aufwendige Behandlung von Schwerkranken kassenärztlich sehr schlecht bezahlt wird. Auch der Autor dieses Textes


Foto: Techniker Krankenkasse

ist nicht völlig frei davon, bestimmte Dinge aus wirtschaftlichen Dingen tun zu müssen.

W

enn aber Termine und Diagnosen die Triebfedern einer wirtschaftlichen Praxisführung sind, dann neigen beide Faktoren zu Vermehrung. Bei Terminen ist das unmittelbar einsichtig. Diagnosen können sich ebenfalls vermehren, indem beispielsweise harmlose Befindlichkeitsstörungen zu Erkrankungen hochstilisiert werden und harmlose Laborwert-Veränderungen zu Gründen für regelmäßige Kontrollen werden. Durch Zuviel-Medizin werden Patienten auf Befindlichkeitsstörungen und leichte, alltägliche, vorübergehende Beschwerden fixiert, Patienten werden verunsichert, sie verlieren das Vertrauen in den eigenen Körper, sie werden vom Medizinsystem abhängig. Dadurch wird häufig eine chronische Störung erst hervorgerufen. (…) Ökonomische Orientierung des Handelns ist immer erforderlich, auch im Gesundheitswesen. In jedem Bereich muss letztlich mit begrenzten Mitteln ausgekommen werden. Es ist also nicht verwerflich, sondern sogar notwendig, die Ökonomie in Zusammenhang mit dem Gesundheitswesen zu sehen. Die entscheidende Frage aber sind die Prioritäten. Wenn patientenorientierte Ziele die erste Priorität bilden, und damit in zweiter Linie auch gut Geld verdient werden kann, ist das in Ordnung.

I

n den letzten Jahrzehnten scheint aber eine schrittweise Prioritäten-Umkehr stattgefunden zu haben. Im Rahmen der neoliberalen Wirtschaftsweise ist der Patient zum Kunden geworden und das Gesundheitssystem zum Gesundheitsmarkt. Ein Autokäufer mag noch als mündiger Kunde die freie Wahl haben zwischen verschiedenen Marken und Modellen und

möge sich als Käufer frei entscheiden. Wer aber als Mensch plötzlich mit der Diagnose Krebs konfrontiert ist, ist kein Kunde, sondern ein Mensch, der vor allem Vertrauen benötigt und keinen Verkäufer. Im bestehenden Umfeld ist schlechte Medizin lukrativer als gute Medizin. (…)

D

as Gesundheitswesen wird systematisch benutzt, um anderswo fehlende Wachstumsraten zu kompensieren. Seitdem heißt das Gesundheitswesen Gesundheitsmarkt: Es handelt sich um die Unterordnung des Gesundheitswesens unter das Prinzip der wachstumsfixierten Wirtschaft: Die Gesellschaft kann unten nur stabil gehalten werden, wenn jedes Jahr 2–3 % Wachstum gelingen. Als unvermeidlicher Nebeneffekt vergrößert sich die Ungleichheit, nämlich die Kluft zwischen Arm und Reich. (…) Die Volkswirtschaftslehre geht in ihren Theorien davon aus, dass der Homo oekonomikus im Prinzip unendliche Bedürfnisse hat. Über Sinn und Möglichkeit eines ständigen Wachstums von IT-Technologie kann man vielleicht noch streiten. Aber im Gesundheitswesen? Gerade dort ist ein Zwang zu ständigem Wachstum besonders unsinnig. Selbstverständlich gibt es immer wieder relevante medizinische Fortschritte, die für die Menschen genutzt werden müssen. Aber sinnvolles Wachstum im Gesundheitswesen ist selbstlimitierend. Das liegt schlicht an der Sterblichkeit des Menschen. Immer mehr Aufwand führt zu immer weniger positiver Wirkung.

weise Verminderung von gesellschaftlicher Ungleichheit hinarbeiten. Gesundheit ist ohne Politik nicht möglich. Sozialmedizinische Maßnahmen wurden schon in der Vergangenheit oft unterschätzt. Selbst die größten Errungenschaften der Medizin der letzten 200 Jahre erreichen nicht den gesundheitsfördernden Effekt der Einführung Kartoffel als Grundnahrungsmittel in Mitteleuropa oder des Baues der Kanalisation in den Städten.

W

ir müssen uns heute entscheiden, ob das Gesundheitswesen in erster Linie der Wirtschaft dienen soll oder den Patienten. Denn das Gesundheitswesen ist der Bereich des Wirtschaftens, in dem am deutlichsten wird, dass ständiges Wachstum nicht nur illusorisch, sondern auch gefährlich und sinnlos ist. Die UngleichheitsErkenntnis und die Wachstums-Frage hängen also unmittelbar zusammen. Am Beispiel des Gesundheitswesens bilden sie eine fatale Verkettung: Wachstumszwang fördert Ungleichheit fördert Krankheit. Krankheit lässt sich nicht abschaffen. Ungleichheit aber lässt sich verringern. Und Zwang zum Wachstum vielleicht durch Mut und Ideen beenden. Ein Anfang könnte exemplarisch und prädestiniert im Gesundheitswesen gemacht werden.

Kürzungen durch die Redaktion. Den vollständigen Text finden Sie unter: http://kurzlink.de/gerechtemedizin

W

er also Gesundheit fördern will, muss vor allem die Ungleichheit verringern. Die Erkenntnis am Beginn des 21. Jahrhunderts lautet: Wer heutzutage in entwickelten Ländern effektiv helfen will, der sollte nicht in erster Linie auf neue Medikamente hoffen, sondern auf eine schritt9

Wilfried Deiß ist IPPNWMitglied und Internist und Hausarzt.


Foto: nesecbeforethedub/Flickr

Wenn Sparen tötet Über die Auswirkungen der Sparpolitik auf Gesundheit und Gesundheitswesen

P

das Versprechen beinhaltet, dass der Patient nach dem unangenehmen Schlucken bald genesen werde.

rekärer Drogenkonsum, Millionen ohne Versicherungsschutz und Krankenhäuser, die an Drittewelthospitäler erinnern: Was derzeit in Griechenland zu beobachten ist, gilt auch für andere Länder und andere Zeiten. Sparprogramme kosten Menschenleben. Zwei Epidemiologen treten den Beweis an.

Stuckler und Basu sind der festen Überzeugung, dass die Austeritätspille keine Medizin war, sondern reines Gift: „Recessions can hurt. But Austerity kills“ – Rezessionen können schmerzhaft sein, aber die Austeritätspolitik tötet, so die Kernthese ihres Buchs „The Bodys Economic“, in dem die beiden Gesundheitsökonomen und Statistiker ihre jahrelange Recherche zusammengefasst haben (Basic Books, 26,99 US-Dollar).

Was ist der Unterschied zwischen dem IWF und einem Vampir? Der Vampir hört auf, einem das Blut auszusaugen, wenn man tot ist. Kein subtiler Witz? Gudjun Magnusson stand der Sinn auch nicht nach subtilem Humor, als er ihn 2009 beim Europäischen Gesundheitsforum in Bad Gastein zum Besten gab. Der designierte isländische Gesundheitsminister hatte kurz zuvor erfahren, dass der IWF nach dem Bankenkollaps 30 % Kürzungen im Gesundheitssektor des kleinen Landes forderte. Seinen Job konnte Magnusson dann nicht mehr antreten, er starb ein paar Tage nach seinem Auftritt in Bad Gastein an einem Herzinfarkt.

F

angen wir mit Griechenland an: 2009 musste Athen den Gesundheitsetat von 24 auf 16 Milliarden Euro kürzen. Danach schnellte die HIV-Rate hoch, weil nicht mehr genügend frische Nadeln an Drogensüchtige ausgeteilt werden konnten. Die Kindersterblichkeit ist um 40 % gestiegen. In den Jahren 2010 und 2011 wurde weiter gekürzt, mit der Folge, dass es in vielen Krankenhäusern heute zugeht wie in Drittwelthospitälern, selbst einfachste Dinge, wie Handschuhe, Desinfektionssprays und Schmerzmittel fehlen.

Ein paar Monate später kamen die Epidemiologen David Stuckler und Sanjay Basu nach Reykjavik und erzählten in einer Art Gedenkveranstaltung zu Magnussons Ehren von ihren Forschungen. Die beiden hatten jahrelang Daten und Statistiken durchforstet, um zu sehen, wie sich Wirtschaftskrisen auf die Gesundheit der jeweiligen Bevölkerung auswirken. Und um eine Antwort auf die uralte Frage zu erhalten, ab wann Sparen schädlich wird.

40 % der Bevölkerung dürfen aber gar kein Krankenhaus mehr aufsuchen, weil sie aus der Krankenversicherung geflogen sind. Weshalb beispielsweise in den Behandlungsräumen des Onkologen Kostas Syrigos in Athen plötzlich eine Patientin auftaucht, die ein Jahr lang keine Versorgung für ihren Brustkrebs bekommen hatte. Als sie in die Praxis kam, war der Tumor längst durch die Haut gewuchert und nässte großflächig ihre Kleidung ein.

S

eit Ausbruch der Finanzkrise tobt wieder der Glaubenskrieg zwischen jenen, die von den verschuldeten Staaten eine strikte Sparpolitik fordern und jenen, die sagen, Austerität sei kontraproduktiv, man brauche wirtschaftliche Anreize, um Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal wieder auf die Füße zu helfen. Gerne wird von den Befürwortern der Austeritätsprogramme die Metapher von der „bitteren Medizin“ benutzt, die

Nun sind Krisen selbst krankheitsfördernd. Basu und Stuckler – die ihr trockenes Zahlenmaterial immer wieder mit drastischen Fallbeispielen wie dem eben zitierten onkologischen Desaster verweben – zitieren jede Menge Studien, die belegen, dass Ar10


Soziale Verantwortung

Vielleicht am aufschlussreichsten ist das Kapitel über den wirtschaftlichen Kollaps der Sowjetunion. Russland, Kasachstan und die baltischen Staaten unterwarfen sich einer „Schocktherapie“ – mit katastrophalen Folgen: Die Lebenserwartung sank drastisch, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und die Selbstmordrate schnellten in die Höhe. Länder wie Polen und Slowenien, die einen moderaten Übergang wählten, überstanden diese Zeit sehr viel „gesünder“.

beitslosigkeit und Armut der beste Boden für chronische Krankheiten sind. So auch in Griechenland: Stressbedingte Erkrankungen wie Krebs, Herz-Kreislauf-Leiden oder Diabetes sind seit 2008 stetig gestiegen. Was bedeutet: Eigentlich hätte der Gesundheitsetat angehoben werden müssen. Der IWF aber beschloss, dass nur noch sechs Prozent des Bruttosozialproduktes dafür freigegeben werden durften. Deutschland gibt für die Gesundheit mehr als 10 Prozent aus. Durch den Anstieg der Krankheiten stiegen die Krankenhauseinweisungen dramatisch – durch die Sparpolitik fielen im selben Zeitraum aber 35.000 Klinikstellen weg.

„The Body Economic“ ist deshalb so stark, weil es den Feind mit seinen eigenen Waffen schlägt: Die beiden Epidemiologen argumentieren nicht sozial oder verantwortungsethisch, sondern streng volkswirtschaftlich. Sie rechnen die ökonomischen Langzeitschäden durch, die durch all die Selbstmorde, Infektionen, Krankheiten, Depressionen und die Arbeitslosigkeit entstehen und entlarven die Austeritätspolitik, die ja stets im Gewand wissenschaftlich kühler Sachlogik daherkommt, als destruktive Foto:dass Jens ein Volle „Ideologie, die immer noch aus dem Glauben herrührt, schlanker Staat und freie Märkte automatisch besser sind als jede staatliche Intervention.“

Ein Massaker in Zahlen All das ist so eindrücklich wie entsetzlich. Seine enorme Kraft erhält das Buch aber durch seine historische Tiefenschärfe, dadurch, dass die Zahlen aus der aktuellen Krise mit Krankenakten aus der Zeit der Großen Depression verglichen werden, mit Sterbestatistiken aus dem postkommunistischen Russland und mit Rezessionsgeschichten aus Schweden, Japan, Kanada oder Norwegen.

Zaubervariablen im vermeintlich glasklaren Kalkül

Klar, das Kapitel über Griechenland liest sich wie ein Massaker in Zahlen. In anderen Ländern, die seit 2008 harte Sparmaßnahmen beschlossen, kann man ähnliche Folgen sehen: In den USA schnellte die Selbstmordrate mit Einsetzen der Sparpolitik ebenso hoch wie in Italien und Griechenland, chronische Krankheiten steigen auch in Spanien und Portugal rapide an.

Besonders peinlich wird es immer dann, wenn sie nachweisen können, dass der IWF, der ja nur so um sich wirft mit vermeintlich unumstößlichen Zahlen, Quoten, Prozentangaben, immer wieder irgendwelche Zaubervariablen in sein vermeintlich glasklares Kalkül hinein mischt: Wer hat festgelegt, dass Griechenland nur noch sechs Prozent seines Bruttosozialprodukts für den Gesundheitssektor ausgeben darf? Die Zahl ist reine Willkür, kein Arzt, kein Gesundheitsexperte wurde vom IWF bei der Festlegung zu Rate gezogen.

N

un könnte man ganz ohne Zynismus sagen, schlimm, dass sich Menschen umbringen, schlimm auch, wenn es in solchen Zeiten mehr Kranke gibt, aber so sind Krisenzeiten eben. Man weiß seit dem 19. Jahrhundert, dass Arbeitslose doppelt so häufig Selbstmordversuche unternehmen wie Menschen, die eine Arbeit haben.

„Hätte man an die Austeritätsprogramme dieselben strengen Standards angelegt, mit der klinische Studien betrieben werden, wären sie längst ausgesetzt worden“, schreiben die beiden Autoren am Ende. „Die Nebenwirkungen der Behandlung sind katastrophal und oftmals tödlich. Es konnte kein positiver Nutzen festgestellt werden.“

Der Punkt ist nur: Als Schweden und Finnland in den Achtzigerund Neunzigerjahren durch eine Rezession gingen, blieb die Zahl der Selbstmorde konstant. Beide Länder kürzten in dieser Krisenzeit nicht im Gesundheitssektor.

A

nfang Juni hat der IWF in einem Bericht eingestanden, dass die „bittere Medizin“ in Griechenland extrem bittere Folgen hatte: Zwischen den eigenen Vorhersagen und der eingetretenen Realität gebe es einen „sehr großen“ Unterschied, schrieb der IWF. Man habe für das Jahr 2012 fest mit einem Wirtschaftswachstum gerechnet. Tatsächlich geht es weiter bergab, Griechenland befindet sich das fünfte Jahr in Folge in der Rezession.

Stuckler und Basu zählen weitere Fälle auf, in denen Staaten in Zeiten tiefer Rezession den gegenteiligen Weg gingen: Großbritannien war nach dem Zweiten Weltkrieg hoch verschuldet. Statt aber den Gesundheitssektor zu verschlanken, startete Labour 1948 ein groß angelegtes Sozialprogramm, das dem Land langfristig auf die Beine half. Und die eingangs erwähnten Isländer weigerten sich am Ende ebenfalls, die Austeritäts-Forderungen des IWF umzusetzen. Im Gegenteil, sie steigerten die Sozialausgaben von 21 auf 25 Prozent des Bruttosozialprodukts. Mit dem Ergebnis, dass sich die Gesundheitsdaten der Isländer trotz der Krise signifikant verbesserten.

Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 03.07.2013 Autor: Alex Rühle w w w.sueddeutsche.de/gesundheit /finanzkrise-in- europawenn-sparen-toetet-1.1713150

11


Soziale Verantwortung

Wie ist es um die Menschenrechte in Europa bestellt? Resümee einer gemeinsamen Veranstaltung von IPPNW und Human Rights Watch

W

ie ist es um die Menschrechte in Europa bestellt? Darüber diskutierten der Pianist András Schiff, die Europa-Abgeordnete Barbara Lochbihler, der Publizist Paul Lendvai und Hugh Williamson auf einer gemeinsamen Veranstaltung von IPPNW und Human Rights Watch in der Philharmonie im Rahmen des Musikfests Berlin. Angesichts der Tatsache, dass die Menschenrechtskonvention „zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ ins Leben gerufen wurde und es einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen den EU-Mitgliedern gibt, den Vertrag von Lissabon, könnte man annehmen, dass es sehr gut oder zumindest gut um die Menschenrechte in Europa bestellt ist. Die Podiumsdiskussion zeigte aber, dass auch in Europa noch viele Defizite bestehen. Im Vertrag von Lissabon werden die „Ziele und Werte der Union“, die für das Handeln der EU verpflichtend sind, genau festlegt und definiert. So heißt es in Artikel 2 der Charta: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Männern und Frauen auszeichnet.“

D

er Pianist András Schiff wurde in seinem Heimatland Ungarn als „Hochverräter“ beschimpft, weil er in einem Leserbrief an die Washington Post die Frage gestellt hatte, ob sein Heimatland angesichts des grassierenden Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus geeignet sei, die EU-Ratspräsidentschaft zu übernehmen. Der Rechtstrend in der ungarischen Politik und Gesellschaft ist beunruhigend, im Namen des „Großungarntums“ wird gegen Juden und „Zigeuner“ gehetzt. Die rechtskonservative Partei Fidesz, mit dem Parteivorsitzenden Victor Orbán, hat sich zu der wichtigsten bürgerlichen Partei des Landes entwickelt. Des Öfteren wurde bereits versucht, das höchste Gericht zu entmachten und somit die Macht der Partei auszubauen. Es wurden Gesetze verabschiedet, die Obdachlose kriminalisieren und im privaten Rundfunk soll Wahlwerbung verboten werden. Eine noch extremere Partei namens Jobbik sieht sich selbst als eine konservative, radikal handelnde, christliche sowie patriotische Partei. Seit den Wahlen 2010 ist sie die drittstärkste Partei im ungarischen Parlament. Diese Partei will unter anderem die Todesstrafe wieder einführen, eine „Zigeunerpolizei“ ins Leben rufen und alle Obdachlosen aus der Öffentlichkeit entfernen.

Foto: United Nations Development Programme in Europe and CIS

Cserehat, Ungarn. Eine Roma-Frau mit Kind. Roma-Familien leiden in vielen Ländern Europas noch immer unter Vorurteilen, Ausgrenzung und Diskriminierung. In Ungarn macht u. a. die rechte „Jobbik“ – drittstärkste Partei im Parlament seit 2010 – Stimmung gegen sie. 12


2

010 errang die Partei Fidesz eine Zweidrittelmehrheit, die es Orbán ermöglicht, wesentliche Teile der Verfassung zu ändern. Orbán redet von einem neuen „System der nationalen Zusammenarbeit“, Paul Lendvai, ein aus Ungarn stammender österreichischer Publizist und ein profunder Kenner Ost- und Südosteuropas, spricht von einer Gefahr für Medien und unabhängige Institutionen. Lendvai behauptet, dass die von Orbán angestrebte Macht über die Medien einer langfristig angelegten Strategie folgt. Des Weiteren kritisiert er, dass in Ungarn an vielen Orten HorthyStatuen und Denkmäler errichtet werden – Miklós Horthy war Antisemit und Befehlshaber des „weißen Terrors“ in Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg. 1944 war er als Staatsoberhaupt mitverantwortlich für die Deportation von 400.000 ungarischen Juden. Rechtsradikalismus wird in Ungarn wieder salonfähig.

aufgenommen wurde und die Vorlagen der Menschenrechtskonvention anerkannt und akzeptiert hat, könne es so leicht nicht wieder ausgeschlossen werden, Menschenrechtsverletzungen zum Trotz. Barbara Lochbihler betonte, dass die Kopenhagener Kriterien von einem offiziellen Beitrittskandidaten erfüllt werden müssen, um ein Vollmitglied der Europäischen Union werden zu können. Zu den politischen Kriterien gehören eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, die Wahrung der Menschenrechte, der Bürgerrechte und der Schutz von Minderheiten, die Zulassung politischer Parteien, die Struktur der Judikative und die Korruptionsbekämpfung. Trotzdem gibt es nach einem Fehlverhalten oder Verstößen gegen die Menschenrechtskonvention selten Konsequenzen, da häufig Abhängigkeiten wie zum Beispiel von Gas aus Russland oder ähnliche Druckmittel Sanktionen unmöglich machen.

Wie András Schiff wurde auch Paul Lendvai wegen seiner Äußerungen beleidigt und bedroht, auch wenn beide immer wieder betonen, dass sich ihre Kritik nicht gegen das Land Ungarn richtet, sondern gegen dessen Regierung, einzelne Parteien und bestimmte Personen.

A

ls alarmierende Beispiele für Menschenrechtsverletzungen nennt Lochbihler den Export von Folterinstrumenten und Waffen: Die Handelspolitik agiert viel zu oft ohne Rücksicht auf Menschenrechte. Auch die europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik müsse dringend überdacht und verändert werden, da immer noch Tausende Flüchtlinge an den abgeschotteten Grenzen der EU sterben.

H

ugh Williamson ist Direktor der Europa & Zentralasien Division bei Human Rights Watch, beaufsichtigt die Arbeit der Organisation in West- und Osteuropa, im Balkan, in der Türkei, in Zentralasien, im Südkaukasus, in Russland, in der Ukraine und in Belarus. Er beschäftigt sich mit Migration und Diskriminierung in Europa, Folter und anderen Misshandlungen unter autoritären Regimes in Zentralasien sowie Straffreiheit für Menschenrechtsverletzer und Rechtsunsicherheit in Russland.

Nach der anschließenden Diskussion mit den Zuschauern konnte festgehalten werden, dass man auch in Europa wachsam bleiben muss. Werte wie Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität, Demokratie und die Einhaltung der Menschenrechte sind auch hier nicht selbstverständlich und müssen immer wieder aufs Neue geschützt und verteidigt werden.

Hunderte Polizisten überwachen die griechisch-türkische Grenze und fast täglich finden Razzien in Athen statt, um illegale Einwanderer aufzugreifen. Human Rights Watch (HRW) veröffentlichte einen Bericht über die Situation illegaler Einwanderer in Griechenland und kam zu dem Ergebnis, dass ein zunehmend feindseliges Klima gegenüber Migranten herrsche und die Regierung keine den EU-Regeln entsprechende Migranten- und Asylpolitik vorzuweisen habe. Als eines von vielen Beispielen beschreibt Williamson den Angriff auf einen jungen Afghanen, der von einer Gruppe Jugendlicher brutal zusammengeschlagen wurde und auch die zunehmende Popularität rechter Parteien in Griechenland.

Hanna Punken studiert Sozialwissenschaften, Politik und Soziologie in Göttingen und war 2013 Praktikantin bei der IPPNW.

Das größte Problem sei es, einen Weg zu finden mit Menschenrechtsverletzungen umzugehen, denn sobald ein Land in die EU 13


Soziale Verantwortung Frieden

Foto: umg

Wahab litt an einer Fallot’schen Tetralogie. Die Herzoperation rettete sein Leben. Von l. n. r.: Prof. Dr. Thomas Paul (UMG), Prof. Dr. Ulrich Gottstein (IPPNW), Dhamyaa Khudhair Hammoodi, Wahabs Mutter, Prof. Dr. Wolfgang Ruschewski (UMG), Dr. Martin Siess (UMG).

Statt Bomben, Embargo und Propaganda 100 irakische Kinder wurden mit Hilfe der IPPNW-Irakkinderhilfe bereits in Deutschland operiert

I

S

im Dezember traf mit unserer Hilfe das 100. irakische Kind zu einer dringend benötigten Operation ein: ein 12 Monate altes Baby mit einem angeborenen Defekt der Herzkammerscheidewand (subvalvulärer Ventrikelseptumdefekt). Es wird in der Universitäts-Kinderherzchirurgie Göttingen operiert. Die Familie stammt aus einem Dorf bei Basrah und ist sehr arm. Von unserem Spendenkonto bezahlen wir die Hälfte der Rechnung, die andere Hälfte spendet das Klinikum. Hundert Mal konnten wir irakischen Familien und Kindern seit dem Ende des letzten Golfkriegs im Jahr 2003 bereits helfen. Während des inhumanen Embargos in den Jahren zuvor brachten wir große Hilfstransporte zu den Kliniken Iraks, von Nord bis Süd.

chon im Mai 1991, also 6 Wochen nach Ende des Krieges, brachten wir in großen Lastwagen Medikamente, Infusionslösungen, Babynahrung und Klinikbedarf zu den Not leidenden Kliniken, und setzten diese Transporte in den Folgejahren fort. Obgleich wir nur einen Bruchteil des Benötigten bringen konnten, retteten wir unzähligen Kindern das Leben und erfuhren große Dankbarkeit. Wir brachten mitmenschliche Hilfe statt Embargo, Bomben und Propaganda. 2003 begannen die USA und England mit dem 2. Golfkrieg. Im Mai war das irakische Regime besiegt und damit war das 13 Jahre währende Embargo aufgehoben, aber statt Frieden und Freiheit setzten Anarchie, Sprengstoffattentate, Plünderungen, Mord und Verschleppungen ein. Sehr viele Ärzte flohen mit ihren Familien aus dem Land. Eine moderne Medizin und schwierigere Operationen konnten und können im Irak nach wie vor nicht durchgeführt werden. Deshalb begannen wir gleich damit, irakische Kinder zu notwendigen Operationen in deutsche Kliniken zu bringen. Es gelang immer wieder Spenden und von den Kliniken Freiplätze oder stark reduzierte Rechnungen zu erhalten.Die Diagnosen: 16 Kriegs-und Attentatsverwundungen, 39 angeborene Herzfehler, 19 Missbildungen oder Erkrankungen der Nieren und Harnblase, 5 Darmoperationen, 5 Urogenitaloperationen, 5 Augenoperationen, 5 Hautverbrennungen, zwei Skelettund zwei Tumoroperationen sowie zwei neurochirurgische Operationen wegen Spinaltumoren.

Die Vorgeschichte Im August 1990 fiel die irakische Armee in Kuwait ein. Sofort verhängten die Vereinten Nationen auf Drängen der USA und Großbritanniens ein Totalembargo. Dem Land war damit jeder Finanzverkehr verboten, also auch der Kauf von Medikamenten und Klinikbedarf. Gleichzeitig begannen die Vorbereitungen der Alliierten für einen großen Krieg. Als Ärzteorganisation, die mit dem Friedensnobelpreis 1986 ausgezeichnet worden war, wollte das internationale IPPNW-Direktorium helfen, den Kriegsausbruch durch Verhandlungen in Bagdad zu verhindern. Der Co-Präsident Prof. Lown, sein Stellvertreter Prof. Pastore (USA), Prof. Kolesnikov (Sowjetunion) und ich (damals Vizepräsident für Europa), die Vorsitzende Spaniens (Dr. Bilbao) und der IPPNWExecutive Direktor Dr. Bill Monning reisten wenige Tage vor Weihnachten nach Bagdad. Viele hochrangige Gespräche wurden geführt - unter anderem mit den Professoren des Saddam City Universitätsklinikums. Doch sie blieben leider erfolglos. Die Wirkungen des Embargos waren bereits tragisch, Hunderte von Kindern starben an Infektionen, weil Antibiotika fehlten. Wenige Tage nach unserer Rückkehr brach der Krieg aus, der nicht nur zum Tod von Hunderttausenden irakischer Soldaten und Zivilisten führte, sondern auch zur totalen Zerstörung der Infrastruktur, der Elektrizitätswerke, der Wasserreinigung, der Brücken und vieler Krankenhäuser.

W

ir hoffen, dass im Irak endlich Frieden und Sicherheit einkehren werden. Dann wäre es nicht länger nötig, irakische Kinder zur Behandlung nach Deutschland zu holen. Unsere Hilfen für Frieden und Versöhnung werden im Irak aber unvergessen bleiben. Ich danke den vielen Kliniken von Herzen, die uns großzügig geholfen haben, unter ihnen insbesondere die Kinder-Herzchirurgie der Universitäten Göttingen, Gießen, Freiburg, Bonn und der Charité Berlin, ferner das Diakonieklinikum Rotenburg und Bad Kreuznach, die Urologische Klinik des Frankfurter Nordwest-Krankenhauses, das Frankfurter Bürgerhospital und die Urologischen Universitätskliniken Mainz, Köln und Leipzig, ferner die Neurochirurgische Klinik Koblenz. Ein besonderer Dank an meinen deutsch-irakischen Kollegen, den Frankfurter Kinderarzt Dr. med. Jabbar Said-Falyh, sowie an Dr. Folke Hess, München.

IPPNW-Spendenkonto, Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. Bank für Sozialwirtschaft, Konto 22 22 210, BLZ 100 205 00 Stichwort: Kinderhilfe Irak

Prof. Ulrich Gottstein ist Mitbegründer und Ehrenvorstand der Deutschen Sektion der IPPNW. 14


Frieden

Beilage in dieser Ausgabe Foto: Susanne Bohner

Die Hintergründe des Konfliktes und Vorschläge zur friedlichen Konfliktbearbeitung werden im Dossier VI des Monitoring-Projekts „Der MaliKonflikt oder: Der Kampf um die Kontrolle von Nord- und Westafrika“ beleuchtet. Das Dossier liegt dieser Ausgabe des IPPNW-Forums bei.

Mali! Mali? Unter dem Deckmantel der „humanitären Intervention“ verstecken sich andere Interessen

D

humanitäre Intervention gegen terroristische Islamisten dargestellt. Aber ging und geht es wirklich darum?

ie kriegerischen Auseinandersetzungen in Mali haben noch vor wenigen Monaten Schlagzeilen gemacht. Auch wenn nun die Berichterstattung seltener geworden ist, finden auch heute noch Anschläge durch islamistische Kämpfer statt. So in der wichtigen Handelsstadt Gao, wo ein Anschlag auf die Brücke zum Nachbarstaat Niger verübt wurde. In Kidal bekämpfen sich die malische Armee und Unterstützer der Tuareg-Befreiungsbewegung MNLA. (taz 10.10.2013). Gruppierungen der Al-Qaida im islamischen Maghreb (AQMI) weiten ihren Aktionsradius über die Grenzen Malis in die Nachbarstaaten aus. Die Wahl des neuen malischen Präsidenten Ibrahim Boubarcar Keita hat bislang keinen Frieden gebracht.

W

as geschah? Ein lange vorbereiteter und dann scheinbar plötzlicher Einsatz der französischen Truppen. Es folgten die begeisterte Zustimmung in Frankreich und die Beschwörung einer „natürlichen“ Gefolgschaftstreue in europäischen Medien. Und es wurde klar: Der Krieg um Mali soll nach dem Willen der herrschenden Kräfte eine Angelegenheit der Europäischen Union werden. Ferner deutet sich eine Aufgabenteilung der „Westmächte“ an. Die US-Regierung wendet sich mehr der pazifischen Region zu, und die EU soll verstärkt „Verantwortung“ für Afrika übernehmen. Dennoch wahrt die Regierung in Washington mit dem US-Africom-Militärkommando, mit zahlreichen US-Militärbasen und einem neuen US-Drohnenstützpunkt in Niger auch selbst ihre Interessen in Afrika. In deren Mittelpunkt stehen Rohstoffe: Uran in Niger für die französischen Atomkraftwerke, das vom weltgrößten Atomanlagenbauer Areva dort abgebaut wird, Öl im angrenzenden Tschad und vermutlich Öl-, Gas- und andere Rohstoffvorkommen wie Gold, Diamanten und Phosphat in Mali selbst. Drogen aus Lateinamerika finden seit Jahrzehnten quer durch die Sahara ihren Weg nach Europa – mit allen kriminellen Begleiterscheinungen dieses „Geschäftszweiges“ wie Korruption vorwiegend durch die Eliten, Entführungen und Geld-Erpressungen. Dazu kommen der Bau und die Sicherung von Transportrouten und Pipelines quer durch den Norden Afrikas.

Mali ist ein historisch bedeutsames Land an der Kreuzung der Handelswege in der Sahara, nicht zuletzt in Timbuktu. Bereits im 4. oder 5. Jahrhundert herrschte dort eine blühende Kultur unter der Königin Tin Hinan, also lange bevor es so etwas wie Frankreich gab. Dieses eroberte, massakrierte, zerstörte die bestehenden Strukturen um 1880 und gliederte Mali seiner Föderation West-Afrika ein. Heute leben im Norden Malis neben nicht ganz einer Million anderer Ethnien nur noch etwa 300.000 bis 400.000 Tuareg, die Mythen umwobenen Herrscher der Wüste.

A

b 1960 wurde Mali im Rahmen der Dekolonisation unabhängig. Präsidenten kamen durch Militärputsche an die Macht und verloren sie auf diese Weise auch wieder. 1963 wurde eine Tuareg-Rebellion von der Regierung Malis blutig niedergeschlagen: Es folgte das Kriegsrecht, Brunnen wurden vergiftet, Herden erschossen und Frauen nach Süden zwangsverheiratet. Eine traumatische Erfahrung, besonders demütigend noch dadurch, da die Tuareg sich als die besseren Muslime mit einer höheren Kultur empfinden.

D

ie angebliche humanitäre Intervention entpuppt sich bei genauerem Hinsehen, als Versuch des Westens, wozu auch Deutschland gehört, West- und Nord-Afrika unter seiner Kontrolle zu halten. Dazu galt es, die korrupten Eliten Malis gegen Kräfte aus der verarmten Mehrheit der Menschen dort abzusichern und damit die bestehenden Ausbeutungsverhältnisse, an denen der Westen teilhat, zu stabilisieren.

Mali ist etwa so groß wie Frankreich, Deutschland und Polen zusammen. Es hat ca. 12 Millionen Einwohner, die 30 verschiedenen Ethnien angehören, von denen keine dominiert. Der weitaus größte Teil der Bevölkerung, etwa 10 Millionen, lebt im südlichen Teil von Mali. Etwa 95 % der Menschen hängen dem Islam an, der meist relativ liberal ausgelegt wird.

Prof. Dr. Andreas Buro ist Politikwissenschaftler, IPPNW-Beiratsmitglied und aktiv in der „Kooperation für den Frieden“.

Der Mali-Konflikt mit dem Eingreifen des französischen Militärs und dem Einsatz deutscher Logistik wird immer wieder als eine 15


Foto: Ian Thomas Ash, documentingian.com

„Unsere Kinder und Enkelkinder sind keine bloßen Statistiken, die uns kalt lassen können.“ (John F. Kennedy)

Die Vertuschung beginnt Über die Verharmlosung der gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe in Fukushima durch UNSCEAR

katastrophe von Fukushima. Die Wissenschaftler kommen darin zum Schluss, dass „kein erkennbarer Anstieg der Krebshäufigkeit in der Bevölkerung zu erwarten ist, der mit der Strahlenexposition durch das Unglück in Verbindung gebracht werden könnte.“ Dem Laien mag dies als Entwarnung gelten, dem wissenschaftlich versierten Leser fallen rasch die gravierenden Einschränkungen dieser vermeintlichen Heilsbotschaft auf. Zwischen den Zeilen ist zu lesen: Es wird zu erhöhten Krebsraten kommen, aber sie werden im statistischen Grundrauschen, also der ohnehin hohen Zahl der Krebserkrankungen in der Bevölkerung, unentdeckt bleiben; und sie werden nicht kausal mit der Strahlenexposition in Verbindung zu bringen sein. Die aufwendige KiKK-Studie, die einen signifikanten Anstieg der Krebsraten bei Kindern in der Umgebung deutscher Atomkraftwerke fand, zeigte allerdings, dass es durchaus möglich ist, solche Effekte aus dem statistischen Rauschen hervorzuheben und überzeugende Dosis-Wirkungsbeziehungen herzustellen – wenn man dies will.

Die Anzahl unserer Kinder und Enkelkinder mit Krebs in ihren Knochen, Leukämie in ihrem Blut und Gift in ihren Lungen mag manchem im Vergleich zu natürlichen Gesundheitsrisiken statistisch gering vorkommen. Aber dies ist kein natürliches Gesundheitsrisiko und hier geht es nicht um Statistik. Der Verlust auch nur eines einzigen menschlichen Lebens oder die Missbildung eines einzigen Säuglings, der lange nach uns das Licht der Welt erblicken mag, sollte uns alle berühren. Unsere Kinder und Enkelkinder sind keine bloßen Statistiken, die uns kalt lassen können.“ Was John F. Kennedy 1963 zu den Auswirkungen überirdischer Atomwaffentests sagte, trifft auch heute noch zu. Uns Ärzten liegt das Einzelschicksal unserer Patienten am Herzen. Was soll ein Arzt in Fukushima einem jungen Mann sagen, der fragt, ob ihm seine Arbeit in der Dekontaminationseinheit gesundheitlich schaden wird? Was soll man der Mutter sagen, die sich Sorgen über die auffälligen Schilddrüsenzysten macht, die bei ihrem dreijährigen Mädchen gefunden wurden? Was kann man der jungen Frau raten, die in den Wirren der ersten Tage des Super-GAUs aus der Sperrzone um das AKW in ein Gebiet mit noch höherer Strahlung evakuiert wurde und die jetzt Angst hat, schwanger zu werden?

D

er UNSCEAR Bericht will dies jedoch offenbar nicht. Er stellt nach Meinung zahlreicher WissenschaftlerInnen eine bewusste Missinformation der Öffentlichkeit und eine systematische Verharmlosung der gesundheitlichen Risiken von Fukushima dar. UNSCEAR nutzte für seinen Bericht nur Daten der ersten anderthalb Jahre seit Beginn der Katastrophe und verkündete im Mai 2013 in einer groß publizierten Presseerklärung, dass bislang keine gesundheitlichen Effekte in Fukushima beobachtet werden konnten. Doch was bedeutet das, wenn wir über Schadstoffe

Vor Kurzem veröffentlichte das Wissenschaftliche Komitee der Vereinten Nationen zu den Auswirkungen Radioaktiver Strahlung (UNSCEAR) seinen vorläufigen Bericht zu den Folgen der Atom16


Atomenergie

sundheitlichen Folgen zu erwarten sind. Jede auch noch so kleine Strahlendosis bringt ein statistisches Risiko mit sich, Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu entwickeln. Dennoch behaupten die Autoren von UNSCEAR, dass keine nachweisbaren gesundheitlichen Folgen durch die massive Freisetzung radioaktiver Strahlung in Fukushima zu erwarten sind. Die Tatsache, dass eine Krebserkrankung keine Herkunftsbezeichnung trägt und sich nie eindeutig auf eine einzelne Ursache zurückführen lässt, wird von der Atomlobby und auch von UNSCEAR genutzt um jegliche Kausalität abzustreiten – eine Taktik, wie man sie zu Genüge bereits von der Tabakindustrie oder der Asbestwirtschaft kennen.

sprechen, die ihre Wirkung über Jahrzehnte und Jahrhunderte entfalten? Eine definitive Prognose für alle Ewigkeit zu wagen, wie das UNSCEAR in seinem Bericht tut, und dafür noch nicht einmal alle zur Verfügung stehenden Daten oder die derzeitigen Ereignisse in Fukushima miteinbezieht, ist keine gute Wissenschaft. Denn die Atomkatastrophe dauert noch an: Die ungeschützten Kraftwerksruinen stellen noch immer eine große Gefahr dar und durch Lecks werden weiterhin jeden Tag mehrere Hundert Tonnen radioaktives Wasser in den Pazifik gespült.

Z

udem stützen sich die Annahmen von UNSCEAR zur radioaktiven Belastung der Arbeiter in Fukushima ausschließlich auf die Daten des Kraftwerkbetreibers TEPCO. Das Komitee verlässt sich dabei fast blind auf die Dosisangaben der Kraftwerksbetreiber und ignoriert Berichte über Manipulationen und Ungereimtheiten dieser Messwerte. Bezüglich der Angaben zur inneren Verstrahlung durch radioaktiv kontaminierte Nahrungsmittel beschränkt sich UNSCEAR auf die Datenbank der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO), einer Organisation deren selbst erklärtes Ziel die weltweite Unterstützung und Förderung der Atomenergie ist – nicht gerade eine neutrale Quelle für unabhängige Forschung. Institute und Forschungseinrichtungen, die die Ereignisse in Fukushima kritischer beurteilen und von höheren Strahlendosen ausgehen, werden von den Mitgliedern des Komitees ignoriert.

Z

eitgleich mit dem UNSCEAR Bericht veröffentlichte auch der UN-Sonderbeauftragte zum Menschenrecht auf Gesundheit, Anand Grover, seinen Bericht zu der Situation in Fukushima. Er prangert darin an, dass den Betroffenen das Recht auf Gesundheit und auf eine gesunde Umwelt verwehrt wird. Sie hätten keinen Zugriff auf ihre medizinischen Daten, keine Möglichkeit, eine Zweitmeinung einzuholen, und erhielten keine Unterstützung, wenn sie den Beschluss fassten, die kontaminierten Gebiete zu verlassen. Bei der Lektüre von Grovers ausgewogenem, gut recherchiertem und einfühlsamem Bericht wird der eklatante Unterschied zur UNSCEAR-Publikation besonders deutlich. In der Debatte um die Folgen von Fukushima geht es um mehr als nur die Unabhängigkeit der medizinischen Forschung, die sich nicht vor wirtschaftlichen und politischen Interessen beugt. Es geht auch, und vor allem, um das Recht eines jeden Menschen, in einer gesunden Umwelt ohne radioaktive Verstrahlung zu leben. Den Bewohnern der verstrahlten Gebiete wird dieses Menschenrecht derzeit verwehrt.

Diese Einseitigkeit in der Berichterstattung ist im Wesentlichen nicht neu. UNSCEAR war bereits in der Vergangenheit durch eine unangemessene Nähe zur Atomlobby aufgefallen. So wurde beispielsweise in der Bewertung des Super-GAUs von Tschernobyl entgegen vorliegender Forschungsergebnisse behauptet, dass als einzige gesundheitliche Folge 54 Fälle von Schilddrüsenkrebs aufgetreten seien. Alle gesundheitlichen Folgen für die Liquidatoren, die betroffene Bevölkerung in den stark verstrahlten Gebieten und für die Menschen in Europa, die dem radioaktiven Fallout ausgesetzt waren, wurden geflissentlich ignoriert. Und auch in der Aufarbeitung von Fukushima werden die betroffenen Gebiete außerhalb der Präfektur Fukushima gerne außer Acht gelassen und somit das Ausmaß der Folgen kleingerechnet.

Als Ärztinnen und Ärzte sind wir eine Verpflichtung eingegangen, uns der Gesundheit unserer Patienten zu widmen, Schaden von ihnen abzuwenden und Empfehlungen auf solide wissenschaftliche Erkenntnisse zu basieren. Als Mitglieder der IPPNW haben wir Bernard Lowns Aufruf verinnerlicht: „Never whisper in the presence of wrong“ („Im Angesicht von Unrecht sollst du nicht flüstern“). Die Verharmlosung der gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima ist ein Unrecht. Den Beschwichtigern geht es um politische Interessen, um Profite, Gel­ der, um die Zukunft der 50 japanischen Atomreaktoren und das Vermeiden folgenschwerer Schadensersatzansprüche. Uns muss es jedoch um das Schicksal der verstrahlten Menschen gehen. Ihr Leben und ihre Gesundheit auf ein statistisches Problem zu reduzieren, ist zynisch und unangemessen. Deshalb müssen wir uns als Ärztinnen und Ärzte dagegen wehren und unsere Stimme erheben.

A

uch werden in dem aktuellen UNSCEAR-Bericht grundlegende Erkenntnisse der Strahlenbiologie ignoriert. So wird beispielsweise behauptet, das ungeborene Kind hätte dieselbe Strahlenempfindlichkeit wie ein Kleinkind. Dabei wissen wir spätestens seit den 1950er Jahren, dass Strahlenexposition im Mutterleib das Krebs- und Missbildungsrisiko von Kindern signifikant steigert. Selbstverständlich hat ein Embryo eine vielfach höhere Strahlenempfindlichkeit – vor allem aufgrund der höheren Zell­ teilung und des weniger ausgebildeten Immunsystems. Aus diesem Grund versuchen wir Mediziner, wo immer möglich, Kinder und Schwangere vor unnötiger Strahleneinwirkung zu schützen. Der Strahlenschutzbeauftragte der japanischen Regierung, Shunichi Yamashita, behauptet gerne, dass bei Strahlendosen unter 100 mSv keine gesundheitlichen Folgen zu erwarten sind. Ein solcher Schwellenwert ist natürlich ebenso unwissenschaftlich wie eine „sichere Menge“ an Zigaretten, die ein Kind rauchen dürfte, ohne gesundheitlichen Schaden zu nehmen. Mittlerweile wird selbst von UNSCEAR und der IAEO anerkannt, dass es keinen Schwellenwert für Strahlung gibt, unterhalb dessen keine ge-

Dr. Alex Rosen ist Kinderarzt aus Berlin und stellvertretender Vorsitzender der deutschen Sektion der IPPNW. 17


Arabische Welt

Z

wei Millionen Menschen sind nach Schätzungen der UN bereits aus Syrien geflohen. Für Millionen, die nicht fliehen konnten oder wollten, ist der Krieg seit fast drei Jahren zum fürchterlichen Teil ihres Alltags geworden.

Aleppo Sisi, Aleppo. Patronenhülsen sammeln ist ein neues Hobby syrischer Kinder. Foto: © ICRC / H. Hvanesian


Ausführlichere Reportagen und Artikel von Karin Leukefelds Reisen nach Syrien und in die Region finden Sie auf ihrer Webseite unter: www.leukefeld.net

Unvorstellbarer Alltag Seit fast drei Jahren ist das Leben im und mit Krieg Alltag für Hunderttausende Syrer und Syrerinnen

F

ast drei Jahre lang dauert der Krieg in Syrien bald an. In unserem Alltag taucht er immer wieder auf in Form von neuen Schreckensmeldungen und Todeszahlen, die für die meisten Menschen hier ebenso abstrakt sind, wie die Vorstellung vom Leben im Krieg aber auch vom Leben vor dem Krieg in Syrien. Die Journalistin Karin Leukefeld bereiste das Land seit Jahren immer wieder und ist eine der wenigen Journalistinnen, die auch heute noch regelmäßig nach Homs und Damaskus reisen, um von dort zu berichten. Sie kennt ein Stück des Alltags, der für uns so weit weg ist und für Hunderttausende dort bittere Realität. „Man lernt zu unterscheiden, ob ein Geschoss ein- oder abgeht. Manche Syrer können sogar Waffensysteme unterscheiden, die zum Einsatz kommen.“ Kaum vorstellbar, wie Menschen Tag für Tag mit dem Getöse von Granaten leben, die nur ein paar Kilometer weit weg einschlagen, wie Kinder zurückgebliebene Patronenhülsen zum Spielen sammeln und Eltern jeden Tag bangen, ob sie unversehrt von der Schule heimkehren. Umso wichtiger, dass uns davon berichtet wird. Damit wir nicht vergessen, dass dieser Krieg mehr ist, als ein 3-Minüter in der Tagesschau.

Homs

Damaskus 19

Fotos: Karin Leukefeld

Damaskus


Arabische Welt

Die arabischen Revolten: Was wurde daraus? Wohin geht der Weg in Nordafrika und Nahost?

Wann ist ein Putsch ein Putsch?

selindustrien, wie gerade die Raffinerien sind im Besitz von Magnaten des alten Regimes, vor allem aber auch des Militärs sind, das – je nach Angaben – zwischen 15 % und 40 % der ägyptischen Ökonomie kontrolliert. Mit dem Putsch sind diese Versorgungsmängel verschwunden.

Der erste im Juni 2012 frei gewählte Präsident Ägyptens, Mohamed Mursi, wurde am 3. Juli 2013 nach tagelangen Massenprotesten gegen seine Politik vom Militärrat abgesetzt. Die säkulare Opposition behauptete, über 22 Mio. Unterschriften für den Rücktritt des Präsidenten gesammelt zu haben. Damit wurde versucht, der Legitimation Mursis eine andere Legitimation entgegen zu stellen. Handelte das Militär also als Vollstrecker des Volkswillens?

US-Politik: Regionale Statthalter verzweifelt gesucht Die USA sind offensichtlich nicht mehr in der Lage oder willens, allein ihre und die Interessen des Westens in diesem Raum militärisch zu sichern. Nach den verlorenen Kriegen in Afghanistan und Irak ist die Bevölkerung kriegsmüde, Wirtschaft und Infrastruktur befinden sich in einem wohl nicht mehr umkehrbaren Niedergang. Als neue Statthalter bieten sich Saudi-Arabien, Katar und die Staaten des Golf-Kooperationsrats (GCC) an, die durch eine Islamisierung der Region ihre eigenen Herrschaftssysteme abzusichern versuchen.

Verfassung: ein Instrument für Demokratieabbau? Ägypten hatte sich am 30. November 2012 eine neue Verfassung gegeben. In der verfassunggebenden Versammlung hatten – auch aufgrund des Boykotts linker und säkularer Gruppen – die Muslimbrüder und die salafistische Nour-Partei 66 der 100 Sitze erhalten. Diese Verfassung war im Dezember 2012 bei einer Wahlbeteiligung von 33 % mit 64 % der abgegebenen Stimmen angenommen worden. Die Verfassung war stark islamistisch geprägt: Frauenrechte wurden massiv eingeschränkt, auch ein Minderheitenschutz fehlte, was insbesondere die koptische Gemeinschaft als Gefahr empfand. Schließlich wurde die religiöse al Azhar-Universität für gewisse Teile der Verfassung nahezu in den Rang eines Verfassungsgerichts erhoben: Nach Art. 4 müssen Rechtsgelehrte der Universität „zu Fragen, die das islamische Recht betreffen, gehört werden“. Laut Artikel 11 schützt der Staat „die Moral und die Öffentliche Ordnung“. Hier wird dem Einfluss der Religiösen Tür und Tor geöffnet.

S

yrien und die säkularen Regime in Tunis, Kairo, Tripolis und Algier waren stets auch eine politische Herausforderung für die reaktionären Despoten am Golf und entscheidendes Gegengewicht gegen deren Interessen in der Arabischen Liga. Nun scheint eine neue Ordnung möglich: In grotesker Weise gelingt es Saudi-Arabien, das wie kein anderes Land täglich elementare Menschenrechte verletzt, sich mit Applaus der westlichen Politik an die Spitze der Kämpfer für Freiheit und Demokratie im Nahen Osten zu setzen.

D

Ägypten aber bleibt zentraler Ort der Weltpolitik: Es ist nicht nur das bevölkerungsreichste Land der arabischen Welt und ihr kultureller Mittelpunkt, es kontrolliert auch den Suezkanal und hat eine gemeinsame Grenze mit Israel. Deshalb wohl gaben die USA den Militärs grünes Licht für ihren Putsch, um so einen möglichen Bürgerkrieg und die sich daraus entwickelnden Unwägbarkeiten zu vermeiden. Von Putsch durfte aber nicht gesprochen werden,

ie Muslimbrüder nutzten die ihnen formal zugefallene Macht, um wichtige Posten in der Verwaltung mit ihren Leuten zu besetzen, insbesondere zahlreiche Gouverneursposten – ein schleichender Staatsstreich? Die soziale Situation wurde angeheizt durch akute Versorgungsmängel und rasant steigende Preise. War dies organisiert? Schlüs20


Foto: Mohamed Azazy

der TahRir-Platz in Ägyptens Hauptstadt Kairo im Juni 2012

Perspektiven?

denn sonst könnten die USA ihre jährliche Militärhilfe in Höhe von 1,3 Mrd. US-Dollar, das wichtigste Instrument zur Kontrolle des Militärs, nicht fortsetzen.

Es mag sein, dass der Putsch Ägypten vorläufig vor einer Konfrontation zwischen Säkularen und Islamisten bewahrt hat. Aber: Die Muslimbrüder sind abermals in ihrer fast hundertjährigen Geschichte zu Opfern geworden, die sich nun sogar auf eine demokratische Legitimation berufen können. Die Konfrontation dürfte sich nicht auf Ägypten beschränken lassen, sondern könnte aufgrund der sozialen Verankerung der Muslim-Brüder die gesamt earabische Welt erfassen. Dann würde sichtbar, auf welch tönernen Füßen das saudische Regime und seine despotischen Partner am Golf wirklich stehen.

Katar: pro Muslimbrüder, Saudi-Arabien: pro Salafisten Seit über zwei Jahren ist immer deutlicher sichtbar, dass die USA und in ihrem Gefolge die EU zusehen, wie Katar und Saudi-Arabien in der ganzen Region mit viel Geld und Waffen die Islamisten unterstützen. Eine neue verlässliche Regionalmacht am Golf soll den Fluss von Öl und Gas sichern, die Region unter Kontrolle halten und vor allem ein politisch-strategisches Gegengewicht gegen den Iran, den gemeinsamen Erzfeind der Despotien am Golf, Israels und der USA bilden. Der Sturz des Assad-Regimes ist Teil dieser regionalen Strategie, in der sich Islamisten aller Couleur von den saudischen Wahabiten über die Katarer bis zur türkischen AKP einig sind.

D

ie westliche Politik hat sich in ein schwer lösbares Dilemma laviert: Die Unterstützung putschistischer Militärs kann keine politische Lösung der Krise bringen, den Muslimbrüdern verhilft der Putsch zu einer neuen Märtyrer-Gloriole. Das Comeback des alten Regimes hinter den Gewehrläufen lässt erahnen, dass die Gewerkschaften und die Linken ihre wenigen erkämpften Freiheiten verlieren und die sozialen Ursachen des Volkszorns sich weiter zuspitzen werden. Dem steht gegenüber das Wissen der Massen, dass sie nach fünftausendjähriger pharaonischer Herrschaft Diktatoren zu stürzen vermögen. Die Geschichte ist nicht nur in der arabischen Welt noch lange nicht zu Ende.

W

ie aber gerade der Krieg in Syrien zeigt, ist die islamistische Front keineswegs ohne innere Gegensätze: Während SaudiArabien die dem Wahabismus zuneigenden Salafisten stützt, setzen die Katarer auf die Muslimbrüder. Diese sind den Saudis ob ihrer Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit wie auch ihrer breiten Anhängerschaft im ganzen arabischen Raum bis zur Türkei ein Dorn im Auge.

Der Text basiert auf einem längeren Artikel, der in Heft 9 der Zeitschrift Sozialismus erschienen ist.

Der Kampf um die Hegemonie zwischen den Despotien scheint offen ausgebrochen. Dazu gehört, dass Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Kuwait, nicht aber Katar, der ägyptischen Militärführung sofort nach dem Sturz Mursis 12 Mrd. US-Dollar zur Verfügung stellten – mehr als das Doppelte dessen, was der IWF als Kredit in Aussicht gestellt hatte. Katar, das die Muslimbrüder allein im letzten Jahr mit 8 Mrd. Dollar unterstützt hatte, erscheint als vorläufiger Verlierer.

Prof. Werner Ruf ist emer. Professor für internationale Politik. 21


Arabische Welt

Perspektiven für einen Frieden in Syrien Interview mit Louay Hussein von der Bewegung „Den Syrischen Staat aufbauen“ Forum: Der Bürgerkrieg in Syrien ist aktuell eine der weltweit größten humanitären Katastrophen. Wie ist ein Friedensprozess in der gegenwärtigen Situation überhaupt möglich?

In dieser Zeit ist in Syrien das soziale System und die komplette Infrastruktur zerstört worden, Zehntausende Syrer sind umgekommen, Tausende sind an Hunger und Durst gestorben.

Louay Hussein: Zurzeit leben noch etwa 20 Millionen syrische Bürger in unserem Land, die zur Zielscheibe der Kriegsparteien geworden sind. Der Friedensprozess in Syrien hängt nicht von den Parteien in Syrien ab, die am Krieg beteiligt sind, sondern von den ausländischen Kräften, die sie finanzieren, unterstützen und lenken. So kämpft Saudi Arabien zum Beispiel auf syrischem Boden und auch die USA. Für mich ist es sehr schmerzhaft mit anzusehen, dass der bewaffnete Kampf uns Syrer entmündigt hat. Man hat uns die Möglichkeit genommen, über unser eigenes Schicksal selbst zu entscheiden.

Frieden in Syrien kann nur geschaffen werden, wenn es tatsächlich Kräfte gibt, die den Frieden wollen. Wir Syrer und Syrerinnen wollen den Frieden, aber die vor allem im Ausland handelnden Parteien streiten sich noch immer darüber, wer überhaupt an der Konferenz Genf II teilnehmen soll. Ich fürchte, dass der Aufstand der syrischen Massen für eine bessere Zukunft misslungen ist. Meiner Meinung nach ähnelt Syrien momentan der Lage Deutschlands am Ende des zweiten Weltkrieges. Das Land ist zerstört und die Bevölkerung in alle Richtungen verstreut und geflohen. USA und Russland entscheiden jetzt über die Entwicklung, Zukunft und über das Schicksal unseres Landes.

Syrien besteht aus mehreren ethnischen und religiösen Gemeinschaften. Der Mehrheit der Sunniten wird eingeredet, dass die Alawiten der regierenden Minderheit sie töten und um ihr Schicksal betrügen wollten. Bei den Alawiten wird umgekehrt propagiert, dass die Sunniten sie vernichten und um ihr Hab und Gut betrügen wollen. Die Mehrheit der alawitischen Gemeinde lebt an der Mittelmeerküste von Syrien. Aus den Metropolen Aleppo, Homs, Hama und Idlib, die im Nordosten Syriens liegen, sind fast zwei Millionen Einwohner Richtung Mittelmeerküste geflüchtet. In dieser Region gibt es auch stark christlich geprägte Gemeinden. Bisher haben wir von keiner nennenswerten Konfrontation unter den verschiedenen religiösen Gemeinden gehört. Das zeigt ganz praktisch, dass die Menschen der verschiedenen Religionsgemeinschaften miteinander leben wollen. Der Frieden ist aber abhängig davon, dass sich ausländische Kräfte nicht länger in den Krieg einmischen.

Trotzdem hoffen wir nach Genf II auf einen möglichen Frieden. Und dass das Interesse an unserem Land bestehen bleibt, damit es – wie damals Deutschland – mit der Aussicht auf eine bessere Zukunft wieder aufgebaut werden kann. Dafür braucht Syrien die Hilfe von allen Kräften weltweit, die sich für Frieden einsetzen. Forum: Welche Rolle spielt die Souveränität Syriens im Prozess der zweiten Genfer Konferenz? Hussein: Für uns Syrer wird es schwierig sein, bei der zweiten Genfer Konferenz unsere nationale syrische Souveränität zu erhalten. Wir versuchen so unabhängig wie möglich zu agieren, damit jene syrischen Kräfte, die an „Genf II“ teilnehmen, nicht von den USA und Russland gelenkt werden. Wir wünschen uns daher, dass unabhängige Kräfte partizipieren, die sich um die Souveränität unseres Landes bemühen.

Forum: Bietet die geplante zweite Konferenz in Genf eine Chance für Friedensverhandlungen? Hussein: Wir erwarten die zweite Genfer Konferenz mit großer Spannung. Unser Land zerfällt immer mehr in einzelne Regionen, die von unterschiedlichen Gruppierungen eingenommen, gelenkt und geführt werden. Und diese Fragmentierung bedroht die staatliche Existenz Syriens. Ein Zerfall des syrischen Staates würde aber keiner Konfliktpartei nützen. Das ist der Beweggrund für die beteiligten Kräfte, sich ernsthaft mit der geplanten Konferenz auseinanderzusetzen.

Wir versuchen auch den beteiligten Großmächten klar zu machen, dass kein dauerhafter Frieden in Syrien möglich ist, ohne die syrischen Kräfte einzubinden, die sich für die Souveränität und Unabhängigkeit des Landes einsetzen. Ihnen muss der notwendige Einfluss zugestanden werden. Wenn wir als Vertreter der innersyrischen Opposition nicht als unabhängige Teilnehmer anerkannt werden und unsere Interessen vertreten können, werden wir nicht an der Konferenz teilnehmen. Daher führen wir momentan Gespräche mit den verschiedenen Kräften im Inland und im Ausland.

Wir machen uns große Sorgen um unser Land. Die gegenwärtige katastrophale Lebenssituation der Bevölkerung interessiert ja kaum jemanden mehr. Die internationale Staatengemeinschaft will die zweite Genfer Konferenz vor allem deshalb, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Was nach der ersten Genfer Konferenz im Juni 2012 in Syrien passierte, hat niemanden wirklich gekümmert.

Forum: Was erwarten Sie von der deutschen Friedensbewegung? Was können wir tun, um diesen Friedensprozess zu befördern? 22


Hussein: Die deutsche Friedensbewegung sollte auf ihre eigene Regierung maximalen Druck ausüben, damit sie im Interesse des syrischen Volkes handelt. Nach zweieinhalb Jahren Krieg in Syrien habe ich in Berlin endlich die Ehre gehabt, einen Vertreter des Außenministeriums der Bundesrepublik zu treffen. Obwohl wir in den letzten Monaten gehört haben, dass die deutsche Regierung ihre bisherige Haltung in Bezug auf die Lage in Syrien überdenke, hat sich bisher leider nichts geändert. Der Vertreter des Außenministeriums wiederholte exakt das, was die Amerikaner sagen. Ich hoffe, dass sich der Druck der Friedensbewegung auf die Regierung in Deutschland, wie auch in ganz Europa, so vergrößert, dass sie endlich aus der Erfahrung vorhergegangener Bürgerkriege lernen und im Interesse des Volkes und im Interesse der Souveränität unseres Staates agieren.

Louay Hussein

weiterkämpfen und lehnen es ab, in andere Städte auszuwandern, wo wir unkomplizierter leben könnten.

Die Bundesregierung ist aufgefordert, für keine der innersyrischen Konfliktparteien Partei zu ergreifen, sondern mit beiden Parteien in Dialog zu treten, sich um eine offene Beziehung zu bemühen und dementsprechend zu handeln.

Forum: Wie sieht die Lage auf dem Land aus? Können sie Ihrer Arbeit auch dort nachgehen?

Forum: Glauben Sie, dass Baschar al-Assad zurücktreten wird?

Hussein: Die Lage ist sehr brisant und gefährlich. Unsere Mobilität ist stark eingeschränkt. Wir sind hauptsächlich in Damaskus und einigen Dörfern und kleinen Orten tätig. Denn überall lauert die Gefahr, getötet oder verschleppt zu werden. In diesen Kriegszeiten ist Damaskus wie ein kleines Dorf geworden. Man kann sich in dieser großen Stadt nicht von einem Stadtteil zum anderen frei bewegen.

Hussein: Für mich ist Assad kein Held des Friedens, sondern ein Held des Krieges und des bewaffneten Kampfes. Er ist der Chef der größten und stärksten Miliz in Syrien. Damit stellt sich die Frage nicht, ob der Konflikt mit oder ohne Assad zu lösen ist. Mit Gewalt kann man Assad nicht aus der Machtposition entfernen. Das haben wir auch der Außenstelle der Europäischen Union versucht klarzumachen.

Auf dem Land haben die religiösen Extremisten zudem einen viel stärkeren Einfluss als die demokratischen Kräfte. Doch auch wenn die Salafisten, Dschihadisten und Extremisten hier eine sehr große Rolle spielen und das Land durch ihre Aktivitäten lähmen und zerstören, bedeutet das nicht automatisch, dass die Bevölkerung ihnen wohl gesonnen ist. Die Menschen in Syrien neigen allgemein mehr zu säkularen, demokratischen Tendenzen, auch wenn deren Entfaltung durch die momentanen real existierenden Verhältnisse verhindert wird.

Doch sie blieben bei ihrer Position. Die Europäer haben unsere Aufrufe, das Regime zu Fall zu bringen so ausgelegt, dass der Regimewechsel auch die Absetzung von Assad bedeutet. Das ist nicht unser Punkt. Wir wollten das diktatorische Regime durch ein demokratisches System ersetzen. Für uns ging es nie um einen Kampf gegen Assad, sondern um einen Kampf für die Freiheit und Demokratie in Syrien und die Mitbestimmung unseres Schicksals.

Wenn wir Syrer tatsächlich vor der Frage stünden, wem wir unsere Stimme geben würden, kann ich behaupten, dass die Mehrheit den säkularen und demokratischen Kräften mehr vertrauen würde als den extremistischen. Wir haben Angst vor den unbegrenzten, finanziellen Möglichkeiten der religiösen extremistischen Kräfte, die aus den Golfstaaten, aber auch aus den europäischen Staaten kommen. Die Möglichkeiten im Sinne von Demokratiebildung aktiv zu werden, sind unter den gegenwärtigen kriegerischen Umständen sehr gering.

Die gleichen Kräfte wollen auch Assad durch Ahmad al-Dscharba ersetzen, ohne die Syrer dabei nach ihrer Meinung zu fragen. AlDscharba hat sehr enge Beziehungen zu Saudi Arabien, er wurde jetzt zum Präsidenten und Sprecher der Nationalen Koalition, der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte gemacht. So gehen sie mit unseren Rechten um. Sie legen für uns fest, wer unser Präsident werden soll. Viele Syrer werden alles daran setzen, die Souveränität ihres Landes zu bewahren. Und wir stehen an der Spitze dieser Strömung. Daher wollen wir auf syrischen Boden bleiben und hier

Das Interview führte Angelika Wilmen, IPPNW. 23


Arabische Welt

Bedrohlicher Frühling Der israelische Blickwinkel

Foto: David Jones

mehrheit und den gut organisierten und politisch mächtigen „Datim“, den Religiösen. Es ging um die Wehrpflicht für Orthodoxe, um bezahlbare Lebenskosten für junge Familien, um die Zukunft der Siedlungsbewegung und – ganz wie bei uns – um Sparen und Schuldenabbau. Die großen Gewinner der Wahl waren die populistische Kümmerer-Partei „Jesh Atid“ („Es gibt eine Zukunft“), die mehr soziale Gerechtigkeit versprach, und die Siedler-Partei „Das Jüdische Haus“, die mehr Siedlungen versprach. Der arabische Frühling und die „Palästinafrage“ rangierten weit unten auf der Themenliste. An einer Lösung des Konflikts mit den Nachbarn haben die großen Parteien zurzeit anscheinend kein Interesse. Die mittlerweile 10 Jahre alte Mauer tut ihren Dienst und versteckt das Unrecht und Leid der Palästinenser hinter blankem Beton.

Zur Hölle mit dem arabischen Frühling – der hat uns gerade noch gefehlt!“ Mein Freund Roi, Medizinstudent und für israelische Verhältnisse politisch eher links, schimpft sich in Rage. „Als hätten wir nicht genug Probleme, jetzt brennt auch noch unsere halbe Nachbarschaft ab.“ Roi ist so etwas wie der personifizierte junge Mainstream und hat ein gutes Gespür für seine Landsleute. Den Geschehnissen, die die arabische Welt seit drei Jahren bis ins Mark erschüttern kann er wenig abgewinnen. Während wir telefonieren, sitzt er auf dem Dach seiner Wohnung im hippen TelAviver Stadtteil Neve Tzedek und schaut aufs Mittelmeer. Dort, zwischen trendigen Cafés, IT Start-ups und Eiscreme-Läden wirkt der „Nahe Osten“ sehr weit entfernt. Der Gazastreifen liegt nicht einmal 75 km weiter südlich und doch gefühlt auf einem anderen Planeten. Auch die Grenze zu Ägypten ist keine 150 Kilometer entfernt. Doch welche Auswirkung haben die Ereignisse dort auf das Leben der Menschen in Tel Aviv?

D

as einzige außenpolitische Thema, welches noch die Gemüter der Israelis zu erhitzen vermochte, war die von Premier Netanjahu immer wieder bedrohlich angekündigte iranische Atombombe: „Der Iran wird bald Atomwaffen haben – das wird die Spielregeln grundlegend ändern“, warnt auch Roi. Vor dem Hintergrund dieser, von den meisten Israelis als existenzielle Bedrohung wahrgenommenen Situation, verlieren selbst die exorbitanten Mieten Tel Avivs ihren Schrecken. Iran – Syrien – Hisbollah: Der sogenannte „schiitische Halbmond“ ist die Projektionsfläche der israelischen Zukunftsangst. Mehrmals riskierte die israelische Luftwaffe bereits eine kriegerische Auseinandersetzung und bombardierte Ziele in Syrien – angeblich wegen Waffenlieferungen an die Hisbollah. Laut Roi wäre es für Israel wohl am günstigsten, wenn der Bürgerkrieg in Syrien nie ein Ende fände – denn weder die vom Iran und der Hisbollah unterstützten AssadRegierung noch die islamistischen Oppositionsgruppen würden ein Tauwetter in den syrisch-israelischen Beziehungen einläuten. Und an den dritten Weg – eine echte demokratische Vertretung des gesamten syrischen Volkes – glaube ja schon lange keiner mehr, so Roi.

Roi versucht mir zu erklären, weshalb sich viele Israelis mit den arabischen Revolutionen so schwer tun: „Es ist wie 1979: Damals war der Iran ein enger Verbündeter Israels. Dann stürzten die Massen den Schah und riefen nach Demokratie. Stattdessen kamen die Mullahs.“ Roi zieht Parallelen zur AKP-Regierung in der Türkei und der Wahl der Muslimbrüder in Ägypten – zwei weitere ehemalige Verbündete, deren Regierungen heute auf Distanz zum jüdischen Staat gehen. „Auch die Hamas in Gaza wurde schließlich demokratisch gewählt. Es ist immer dasselbe: sobald es freie Wahlen gibt, gewinnen die Islamisten.“ Der Machtkampf in Ägypten, der Bürgerkrieg in Syrien, der Machtzuwachs der Hisbollah im Libanon, das wackelige Regime der Haschemiten in Jordanien – Israel sieht sich derzeit umringt von neuen, unbekannten Bedrohungen.

D

ass die israelische Politik auch ihren Beitrag zur Erosion der Beziehungen mit den ehemaligen Verbündeten beigetragen hat, wird dabei gerne vergessen. Sowieso spielt die Außenpolitik in der öffentlichen Debatte in Israel seit einigen Jahren eine Nebenrolle. Die Wahlen im Januar 2013 wurden von anderen Themen beherrscht: vom Konflikt zwischen der säkularen Bevölkerungs-

„Es ist, als säßen wir in der Arche und um uns tobt die Sintflut. Eines Tages machen wir die Fenster auf, der Sturm wird vorbei sein und wir werden die Welt um uns herum nicht wieder erkennen. Bis dahin sitzen wir hier drinnen, beschäftigen uns mit uns selbst und tun das, was wir eh am besten können – miteinander streiten.“ Israel merkt zurzeit, wie wenig Einfluss es trotz seiner mächtigen Armee auf die Ereignisse um sich herum hat. Wie gelähmt schaut man dem Treiben in den Nachbarländern zu und hofft, dass nach dem großen Sturm noch etwas übrig ist von den „strategischen Partnern“. Ein bisschen Selbstkritik lässt Roi am Schluss doch noch zu: „Irgendwie haben wir das ja selbst verbockt. Wir hatten ja die Möglichkeit, uns mit unseren Nachbarn zu versöhnen. Jetzt ist die Chance weg und wir sitzen wie Kanarienvögel auf der Stange und schließen die Augen, weil wir gar nicht sehen wollen, was um uns herum passiert …“

Dr. Alex Rosen lebte in den Jahren 1999/2000 in Jerusalem, wo er als Volontär in einer Einrichtung für jüdische und moslemische Behinderte arbeitete. 24


Enttäuschte Hoffnung Der palästinensische Blickwinkel

Foto: Hossam el-Hamalawy

Z

stritten sind. Das alles führt dazu, dass die Palästina-Solidarität in der arabischen Welt in den Hintergrund gerät. Die Palästinenser sind die eigentlichen Verlierer dieser Epoche.

u Beginn der Arabellion beobachtete man Solidaritätsbekundungen der rebellierenden Massen auf den Straßen. Junge Tunesier und Ägypter riefen nicht nur zur Entmachtung der arabischen Despoten auf, sondern zeigten offen ihre Solidarität mit dem palästinensischen Volk. Sie skandierten gegen die Besatzung und gegen die uneingeschränkte Unterstützung der Besatzungsmacht Israel durch die westliche Welt. Diese beeindruckenden Bilder veranlassten Journalisten, Politiker und auch Wissenschaftler zu der Annahme, dass diese Solidaritätsbewegung der Arabellion in der westlichen Welt, aber auch in Israel wahrgenommen wird. Schließlich sollte genau dieser Zorn, diese Leidenschaft, die Menschen und vor allem Verantwortlichen in der westlichen Welt aufrütteln – und somit den Friedensverhandlungen zwischen Israel und Palästina eine neue Basis geben. Verhandlungen auf Augenhöhe und mit absehbaren sowie akzeptablen Ergebnissen.

E

inige palästinensische politische Gruppierungen konnten und wollten sich aus ideologischen und aus Eigeninteresse nicht aus den Konflikten in den verschiedenen Ländern heraushalten. Eine Parteinahme, bei der es nicht um ein schlichtes politisches Statement ging, sondern um ein direktes Eingreifen in das Geschehen. Dies führte zu einer Verstärkung der palästinensischen Spaltung. Und: Tatsächlich hat sich die politische und wirtschaftliche Situation der Palästinenser weiter verschlechtert und destabilisiert. Auf den Straßen Palästinas herrscht eine hoffnungslose Stimmung, die die Machthaber in Ramallah schamlos ausgenutzt haben, um sinnlose Verhandlungen mit den Israelis bei fortlaufendem Siedlungsbau und Landraub zu beginnen. Die Ausrede der Fatah-Regierung, der Druck aus den westlichen Staaten und sogar manchen arabischen Staaten, die Verhandlungen nun endlich zu beginnen, wäre zu groß gewesen, ist schlichtweg heuchlerisch. Diese Führung hatte auf ihrer Agenda nur diesen einen Weg. Sie wollte nichts anderes, als die Verhandlungen und hat die Hoffnungslosigkeit der Palästinenser ausgenutzt. Die Regierung hat das eigene Volk 20 Jahre lang nie in dem Maße unterstützt, dass es Widerstand gegen die Besatzung konsequent und kontinuierlich aufrecht hielt. Stattdessen hat sie Vetternwirtschaft betrieben und ein Staatsgebilde mit Almosenwirtschaft aufgebaut.

Das Gros der Experten war der Meinung, dass dieser Zorn dazu führen wird, dass die westlichen Regierungen Druck auf Israel ausüben, um Zugeständnisse für die Palästinenser zu erreichen. Sie waren der Meinung, dass unbedingt etwas geschehen müsse, bevor er die arabischen Massen erreicht und ein Siedepunkt überschritten würde, der die wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen der westlichen Welt im Nahen Osten gefährdete.

D

ie Bilder aus den Straßen Tunesiens und Ägyptens und die anhaltende Solidaritätswelle für Palästina sorgten bei den Menschen im besetzten Palästina für Freude und Hoffnung. Sie waren geradezu euphorisch, voller Zuversicht. Diese Stimmung fand sich nicht nur bei den einfachen Menschen, sondern erreichte auch die politische Elite.

I

n den vergangenen Monaten haben die Besatzungsmacht Israel und ihre Siedlertrupps mehrmals die Heiligtürmer in Jerusalem geschändet und versucht palästinensische Beduinen aus der Negev-Wüste mit völkerrechtswidrigen Plänen zu vertreiben. Schlimm genug – schlimmer aber noch: Diese Ereignisse haben nicht einmal bei den offiziellen arabischen Regimen – den neuen und alten – Protest hervorgerufen. Und auch die mit sich selbst beschäftigten arabischen Massen, die noch vor zweieinhalb Jahren Transparente mit Solidaritätsbekundungen schwenkten, haben es kaum zur Kenntnis genommen.

Meiner Meinung nach war diese Einschätzung übereilt. Denn heute – zweieinhalb Jahre später – müssen wir leider feststellen, dass die Palästinafrage noch immer nicht mehr als eine Randnotiz in der regionalen und internationalen Politik darstellt. Palästina ist für die Menschen weit entfernt, sie können inmitten des anhaltenden Umwälzungsprozesses in ihren Ländern kaum über den eigenen Tellerrand schauen. Die arabischen Staaten, die die Palästinenser traditionell unterstützt haben, sind zurzeit mit eigenen Problemen bis hin zu Bürgerkriegen beschäftigt. Die internen Konflikte haben eine vernichtende Wirkung auf die Zivilgesellschaft und die nationale Wirtschaft im Nahen Osten. Zudem beobachten wir zunehmend eine unheilige Allianz der Regimes im arabischen Golf unter der Führung der Wahabitischen Saudis und der Moslembrüder der Region. Eine Allianz, die Glaubenskriege und ethnische Zwiste in der gesamten arabischen Welt nicht nur unterstützt, sondern – schlimmer noch – fördert und fordert. Ein weiteres Element der sich zuspitzenden Lage ist die Tatsache, dass ausgleichende Kräfte der demokratisch-liberalen Lager zer-

Raif Hussein ist Vorsitzender der Palästinensischen Gemeinde Deutschland und der DeutschPalästinensischen Gesellschaft. 25


ArABISchE WELt

Staatszerfall nach Intervention Wie sieht es in Libyen zwei Jahre nach der NATO-Intervention aus?

Foto: European Commission DG ECHO, EU Humanitarian Aid and Civil Protection

Z

nen sollte, genauer zu untersuchen. Rebellenkommandeure und der Gesundheitsminister der libyschen Übergangsregierung schätzten im September 2011 die Zahl der Toten beider Seiten auf 30 bis 50 Tausend. Eine bei Wikipedia veröffentlichte Zusammenfassung von Berichten über die wichtigsten Kämpfe ergibt ca. 16.000 getötete Zivilisten und Kombattanten. Erfahrungsgemäß wird während eines Krieges jedoch nur ein kleiner Teil der Opfer auf diese Weise erfasst, sodass die wirkliche Zahl der Toten um ein Vielfaches höher liegt (siehe dazu die IPPNW-Studie „Body Count – Opferzahlen nach 10 Jahren ‚Krieg gegen den Terror‘“). Eine zuverlässige Schätzung kann nur eine dringend nötige statistische Erhebung liefern.

wei Jahre nach der als Erfolg gefeierten NATO-Intervention in Libyen versinkt das Land immer tiefer in Chaos und Gewalt. Am 31. Oktober 2011, wenige Tage nach der Ermordung des libyschen Staatsoberhaupts, Muammar al Gaddafi, erklärte die NATO ihren Militäreinsatz in Libyen für beendet. Westliche Politiker und Medien feierten ihn als den bis dato „gelungensten Fall“ einer „internationalen humanitären Militärintervention“. Offiziell dienten die am 19. März 2011 begonnenen Luftangriffe ausschließlich dem Schutz der libyschen Zivilbevölkerung. Faktisch unterstützten die 14 beteiligten NATO-Staaten jedoch eine bewaffnete Aufstandsbewegung gegen die Regierung eines souveränen Landes. Der dadurch angefachte, knapp achtmonatige Krieg verwüstete weite Teil der Infrastruktur und zerstörte letztlich auch die schwachen Verwaltungsstrukturen, die unter Gaddafi im dünn besiedelten Wüstenstaat entstanden sind. Das Nachbarland der EU, das nach den Statistiken des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) bis dahin den höchsten Lebensstandard Afrikas aufwies, versinkt seither immer tiefer in Chaos, Willkür und Gewalt.

E

in erheblicher Teil der Toten geht auf das Konto der NATO, deren Bomber und Kampfhubschrauber den Aufständischen vor jeder Einnahme einer Stadt den Weg freigeschossen haben. Insgesamt warfen sie in 9.600 Kampfeinsätzen 30.000 Bomben ab. Im Irak, wurden bei vergleichbaren Angriffen im Schnitt zwei Menschen pro Einsatz getötet. Libyen ist seit dem Sieg der NATO und ihrer libyschen Verbündeten ohne eine zentrale Staatsgewalt, ohne funktionierende Regierung, Verwaltung und Polizei. Es fehlt eine reguläre nationale Armee, die sich gegen die Milizen und lokale Militärräte, unter

Obwohl die NATO sich formal auf eine UN-Resolution stützte, machte die UNO bisher keine Anstrengungen, die Auswirkungen des Militäreinsatzes auf die Bevölkerung, deren Schutz er die26


trIPOLIS, JANUAr 2012. BINNENFLÜchtLINGE VErtrEIBEN SIch DIE ZEIt MIt ANGELN. ÜBEr 60.000 MENSchEN KONNtEN AUch NAch DEM ENDE DES KrIEGS NIcht IN IhrE hEIMAtrEGIONEN ZUrÜcKKEhrEN. UNtEr IhNEN AUch DIE tAWArGhA, DENEN DIE rÜcKKEhr VErWEIGErt WUrDE WEGEN IhrEr ANGEBLIchEN UNtErStÜtZUNG GADDAFIS.

denen die Macht aufgeteilt ist, durchsetzen könnte. Alle Anstrengungen, das Land wieder zu stabilisieren, sind bisher gescheitert. Lege man die gängige Definition zugrunde, so sei Libyen nicht bloß ein schwacher, sondern überhaupt kein Staat mehr, so der renommierte US-Politologe Robert D. Kaplan. Das Land stehe knapp zwei Jahre nach dem Sturz Gaddafis vor dem Zerfall, warnte auch eine NATO-Delegation, die Ende Juni 2013 das Land bereiste.

zogen. Sieht man vom Öl-und Gassektor ab, ist von Wiederaufbau nichts zu sehen.

Absehbare Entwicklung

Eine zentrale Forderung ist stets die Auflösung der Milizen. Diese reagieren nicht selten mit rücksichtsloser Gewalt. So wurden im Juni dieses Jahres 31 Demonstranten in Bengasi getötet und über 100 verwundet, als eine dem Verteidigungsministerium unterstellte Miliz das Feuer auf eine Demonstration vor ihrer Kaserne eröffnete.

D

er Unmut der Bevölkerung über die Unfähigkeit der Regierung, die grundlegenden Dienste wieder in Gang zu bringen sowie über die extreme Korruption und Selbstbedienungsmentalität der neuen Herren entlädt sich immer häufiger in heftigen Protesten.

Diese Entwicklung kam keineswegs überraschend. Viele Kenner des Landes hatten davor gewarnt, dass ein gewaltsamer Umsturz ein Machtvakuum und anhaltende Kämpfe rivalisierender Gruppen und Stämmen zur Folge haben werde. Den wenigsten der aufständischen Gruppierungen, die ab Februar 2011 mit Waffengewalt die Regierung bekämpften, ging es um Demokratie und Menschenrechte. Die meisten kämpften für lokale oder Stammesinteressen oder für eine dominierende Rolle des Islam. Sie bildeten auf städtischer oder Stammesebene Milizen und Militärräte, die weitgehend eigenständig operierten. Diese waren nach dem Sieg nicht bereit, die Waffen abzugeben und sich der neuen Regierung unterzuordnen.

Die Auseinandersetzungen nehmen seither noch schärfere Züge an: Dutzende Politiker, Richter, Journalisten und Aktivisten, die sich gegen das Treiben der Milizen und islamistischer Gruppierungen engagierten, fielen in den letzten Monaten Attentaten zum Opfer, Bombenanschläge zerstörten öffentliche Einrichtungen in Bengasi, und wütende Stammesmilizen unterbrachen die Trinkwasserversorgung von Tripolis. Zur größten Zerreißprobe entwickelt sich aktuell der Kampf um die Hoheit über die libyschen Ölhäfen. Deren seit Monaten anhaltende Blockade hat den Erdölexport und damit auch die staatlichen Einnahmen nahezu zum Erliegen gebracht. Die Regierung droht mit dem Einsatz der Armee.

Viele nutzten das Machtvakuum, um benachbarte Gemeinden, lokale Schmuggelrouten, Grenzübergänge, See- und Flughäfen oder industrielle Anlagen unter ihre Kontrolle zu bringen, die ihnen seither als lukrative Einnahmequellen dienen. In anderen Fällen wurden Militärräte von kriminellen Banden infiltriert oder neu geschaffen, um unter deren Deckmantel Plünderungen, Drogenhandel und Ähnliches betreiben zu können.

A

nfang Oktober wurde der libysche Ministerpräsident Ali Seidan selbst von Milizen entführt, die formal unter dem Befehl der Regierung stehen. Auch wenn er nach einigen Stunden von einer anderen Miliz befreit wurde, zeigt die Entführung exemplarisch die Macht- und Hilflosigkeit der Regierung.

A

ngesichts ihrer Ohnmacht integrierte die Übergangsregierung einen Teil der Milizen in den staatlichen Sicherheitsapparat. Deren Kommando behielt aber ihre bisherige Führung. Die Libyer blieben daher weiterhin der Willkür der Milizen ausgeliefert, die meist völlig außerhalb des Gesetzes agieren. Zigtausende Anhänger des alten Regimes wurden nach dem Sturz Gaddafis gefangen genommen, aus ihren Wohnungen vertrieben oder exekutiert. Und auch heute geht jede Miliz in ihrem Gebiet auf eigene Faust gegen Personen vor, die sie als Gegner der neuen Ordnung ansehen. Nach wie vor gibt es Berichte über „klandestine Gefangenenlager, die von Milizen betrieben werden, die niemand Rechenschaft schuldig sind“, schrieb Ende August der UN-Sonderberichterstatter über Folter, Juan Méndez. Auch Human Rights Watch berichtete über fortgesetzte willkürliche Gefangennahmen sowie Folter und Tod in illegalen und teils geheimen Gefängnissen.

In den westlichen Hauptstädten ist Libyen längst kein Thema mehr. Der NATO fällt nichts anderes ein, als der Regierung durch die Ausbildung mehrerer Tausend Soldaten unter die Arme zu greifen. Wer diese letztlich kontrollieren wird, bleibt jedoch auch innerhalb der Allianz fraglich.

Joachim Guilliard verfasste zahlreiche Artikel zum Nahen und Mittleren Osten und ist Mitautor des Buches „Bomben auf Bagdad“.

Westliche Konzerne, die sich von einem Umsturz bessere Investitionsmöglichkeiten erhofften, sind längst enttäuscht wieder abge27


Foto: Al Jazeera English

Der Pearl-Platz in Bahrains Hauptstadt Manama: 2011 Zentrum der friedlichen Proteste. Heute ist das Monument abgerissen, der Platz wird von Polizei und Militär kontrolliert.

Zwischen Aufbruch und Abbruch Was wurde aus den friedlichen Protesten in Bahrain?

D

U

er viele Jahre anhaltenden Benachteiligung und Korruption durch die Herrscherfamilie Al-Khalifa überdrüssig, sah die Mehrheit der bahrainischen Bevölkerung im Frühjahr 2011 die Gelegenheit gekommen, diese Regierung zu stürzen. Diese setzte frühzeitig auf massive Gewalt und Repression, wodurch sie sich letztendlich retten konnte.

nmittelbar neben dem Kreisverkehr steht einer der modernen Wolkenkratzer, welche in den letzten Jahren zahlreich gebaut wurden. Das Gebäude war kurz vor den Demonstrationen fertiggestellt worden und die ersten Räumlichkeiten wurden zu dem Zeitpunkt schon bewohnt. Mittlerweile steht das Gebäude leer, was bei diesen Sicherheitskontrollen nachvollziehbar ist. Außerdem ist ein leer stehender Wolkenkratzer in Bahrain nichts Besonderes. Hier häuften sich in den letzten Jahren zahlreiche leer stehende, teilweise ziemlich interessant konstruierte Gebäude. Man hatte wohl geglaubt, mit den neuen Metropolen am Golf konkurrieren zu müssen.

Das Perlenmonument in der Mitte eines Kreisverkehrs im Zentrum von Manama, der Hauptstadt von Bahrain, wurde im März 2011 abgerissen. Der Platz war damals Mittelpunkt des Protests, an dem die Mehrheit der bahrainischen Bevölkerung teilgenommen hatte. Seit dem Abriss wird der Platz stets intensiv überwacht, obwohl das Monument nicht mehr existiert. Somit können an diesem Ort keine Demonstrationen mehr stattfinden, alle Zufahrtswege werden von Kampffahrzeugen gesperrt.

Dabei ignorierten die Eigentümer, oft Angehörige des Herrscherhauses, offensichtlich die Bedürfnisse der zum großen Teil armen Bevölkerung. Angesichts des sehr knapp gewordenen Grundwas28


ArABISchE WELt

z. B. mit der Zerstörung von ca. 30 schiitischen Moscheen zum Ausdruck brachte.

sers sind diese schweren Hochhäuser, die die Poren des Bodens versiegeln und dessen Wasseraufnahmefähigkeit vermindern, ökologischer Unsinn.

Ü

berhaupt schürte sie sektiererische Antipathien zwischen den Volksgruppen der Sunniten und Schiiten und behauptete, die Proteste seien vom schiitisch geprägten Iran gelenkt. Solches Gedankengut ist dem Einheitsgefühl einer Nation nicht dienlich. Aber was hätte eine Unrechtsherrschaft auch von einer starken, vereinten Bevölkerung? Und was hätte die amerikanische Marine, die in Bahrain ihren größten Stützpunkt im Mittleren Osten unterhält, von einem Unruhe stiftenden Volk, das seine Energie gegen das Herrscherhaus richtet und somit den stabilen Status quo gefährdet?

D

ass die Herrschenden die Bedürfnisse der Bevölkerung und die ökonomische Vernunft aus den Augen verloren haben, zeigt sich auch bei der Verwaltung der staatseigenen Fluggesellschaft Gulfair. Während des Höhepunktes der Demonstrationen zeigte die Führung von Gulfair ihre „Solidarität“ mit ihrem Besitzer und stellte Flüge nach Iran, Irak und Libanon ein, sozusagen wegen politischer Differenzen mit diesen Ländern, aber wohl auch als Schikane gegen die schiitische Bevölkerungsmehrheit, die diese gern bereisten Ziele nicht mehr direkt anfliegen konnte. Circa ein Viertel der Fluggäste von Gulfair blieb daraufhin aus. Und das bei einer Fluggesellschaft, die ohnehin seit Jahren Verluste beklagt. Mittlerweile werden diese Flugziele teilweise wieder angeflogen. Es gibt immer noch, wahrscheinlich tägliche, Demonstrationen, die nach vorheriger Anmeldung innerhalb der Dörfer stattfinden dürfen, sodass sie fernab vom Stadtzentrum bleiben. Dennoch finden auch illegale Demos in belebteren Stadtteilen statt, begleitet von Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften, wenn auch weniger als früher.

I

Foto: Gregg Carlstrom

„Wir kommen wieder“ Graffitis des inzwischen abgerissenen Monuments auf dem Pearl Platz finden sich an vielen Gebäuden in Bahrain.

m Frühjahr 2011 sammelten sich zahlreiche Demonstranten beispielsweise vor dem staatlichen Al-Salmaniya Krankenhaus, in das Verletzte vom Perlenplatz eingeliefert wurden. Die Sicherheitskräfte hatten damals das Krankenhaus umstellt und auch das Gesundheitspersonal über zwei Tage eingesperrt. Als man es schließlich herausließ, wurden die Personalien aufgenommen und auch Patienten durchsucht. Ein Teil von ihnen wurde abgeführt – was manche nicht überlebten. Auch die Ärzte wurden später einzeln einbestellt und vernommen. Einige blieben Tage bis Monate inhaftiert, wo sie Folter erlitten. Das Ausmaß der Strafe richtete sich z. B. je nach Einsatz bei der Behandlung von Verletzten vom Perlenplatz. Mittlerweile sind die inhaftierten Ärzte frei.

Mittlerweile ist ein anderes Regierungskrankenhaus in Betrieb: das King Hamad Hospital. Der Bau wurde bereits in der Vergangenheit zweimal geplant und die finanziellen Mittel bereitgestellt. Das Haus wurde beide Male nicht gebaut. Doch das Geld ist jedes Mal in privaten Taschen verschwunden – was keine Besonderheit in der Region ist. Beim dritten Anlauf wurde es gebaut, war jedoch bei Beginn der Demonstrationen im Februar 2011 noch nicht fertiggestellt. Dafür aber im Folgejahr, dann de facto als sunnitisches Krankenhaus. Das bedeutet auch, dass die Ärzteschaft nach diesem einschränkenden Kriterium ausgewählt wurde, mit ungünstiger Auswirkung auf die medizinische Versorgung. Zeitweise wurden dennoch u. a. drei schiitische Weiterbildungsassistenten eingestellt, welche jedoch später wegen anhaltender Proteste z. B. in sozialen Netzwerken entlassen wurden.

D

as Parlament existiert nach wie vor, mit dem Unterschied dass es jetzt mit von der Regierung gestellten Parlamentariern belegt ist. Die größte Oppositionspartei Al-Wifaq ist ohnehin vom Parlament ausgeschlossen und deren Anhänger wurden staatlich verfolgt. Im staatlichen Fernsehen wird gezeigt was für Waffen bei Al-Wifaq sichergestellt wurden. Bei all den angeblich gefundenen Waffen bei der Protestbewegung, über die oft berichtet wird, stellt sich die Frage, warum es nicht zu einem größeren Blutbad aufseiten der Sicherheitskräfte kam und warum die Regierung trotz massenhaftem Volksaufstand nicht gestürzt werden konnte. Wer diese einschlägige und völlig uninteressante Berichtserstattung verfolgt ist ungewiss. Aber auch diese sinnlosen Nachrichtensendungen sind in dieser Region selbstverständlich.

Jetzt ist auf dem Krankenhausgebäude die Fahne von Bahrain groß aufgemalt, scheinbar um das Nationalgefühl zu stärken gegen „Angriffe auf das Vaterland“. Dabei schürte gerade die Regierung Ängste vor sektiererischer Gewalt, in dem sie, weder erwiesene noch glaubhafte Anschuldigungen gegen die Ärzteschaft hervorbrachte. So wurde behauptet die Ärzte stellten eine Bedrohung für sunnitische Patienten dar. Insgesamt verkaufte sich die Regierung als Schutzmacht der sunnitischen Minderheit, was sie

Dieter Wölfle ist Arzt und IPPNW-Mitglied und reist regelmäßig in die Region.

29


Welt

Reise zum Anfang der Nuklearen Kette

E

Afrikas Uranvorkommen im Fokus des Atomindustrie

s war eine Reise auf – zumindest für die deutsche IPPNW – neuem Terrain: Die internationale Atomwirtschaft konzentriert sich bei ihrer Suche nach profitablen Uranvorkommen zunehmend auf Afrika. In Ländern wie Niger und Namibia kann man die Folgen des Uranbergbaus bereits besichtigen. Nachdem in Tansania beträchtliche Vorkommen entdeckt wurden, soll dort in den nächsten Jahren mit dem Abbau dieses hochgiftigen, radioaktiven Schwermetalls begonnen werden. Probebohrungen haben stattgefunden, Konzessionen wurden vergeben – und die Bevölkerung wird über die zu erwartenden Folgen belogen. In Zusammenarbeit mit Organisationen wie dem Uranium Network hat die IPPNW – initiiert von den Kollegen der Schweizer Sektion – eine Delegationsreise in das ostafrikanische Land organisiert. Von der deutschen Sektion waren Susanne Grabenhorst, Eva-Maria Schwienhorst und Helmut Lohrer dabei. Die internationale Delegation bestand aus etwas 50 Teilnehmern, die aus Australien, Kanada, den USA, Österreich, der Schweiz, der Mongolei und – neben Tansania – aus allen Teilen Afrikas stammten. Viele der Teilnehmer kennen die Probleme des Uranbergbaus aus unmittelbarer Betroffenheit.

D

er erste Teil der Reise führte uns ins Landesinnere, wo in Bahi und Manyoni zwei der Areale, auf denen Uran gefördert werden soll, besucht wurden. Viel zu sehen war nicht: In Manyoni ragen überall dort, wo Probebohrungen stattfanden, blaue Plastikrohre aus dem Boden. In Bahi sind die Spuren der Erkundungsarbeiten seit der letzten Regenzeit verwischt. Aus

der Bevölkerung, die auf dem Gebiet ihre Rinder weidet und seit Generationen Reis anbaut, gibt es allerdings besorgniserregende Berichte über Hautreaktionen und andere Störungen, die nach dem Kontakt mit auf ihren Feldern stehenden Flüssigkeiten auftraten. Hier wird bereits erkennbar, wie mit den Risiken umgegangen wird: Die Konzerne rücken mit den Substanzen, die sie bei den Bohrungen als Schmiermittel einsetzen, nicht heraus. Die berichteten Gesundheitsstörungen werden heruntergespielt. Es ist genau dieses Muster, das sich wie ein roter Faden durch alle Bereiche der Atomwirtschaft zieht. (Siehe auch www.ippnw-students.org/hibakusha – Natürlich hatten wir die Ausstellung auf unserer Reise im Gepäck!)

A

uf der Rückfahrt in die Hauptstadt Dodoma, wo am nächsten Tag eine Konferenz zur Information der Bevölkerung stattfand, nahm die bis dahin ohne Zwischenfall verlaufende Reise eine dramatische Wende: Unser Konvoi wurde von der örtlichen Polizei in Bahi gestoppt und zur Polizeistation eskortiert, wo Anthony Lyamunda, der tansanische Organisator unseres „field trips“, stundenlang verhört wurde. Die gesamte Delegation wartete, bis er lange nach Anbruch der Nacht endlich frei kam. Wir wurden Zeugen der Repression, die für die Aktivisten vor Ort alltäglich ist. Dieser Einschüchterung trotzten auch mehrere Hundert Einwohner von Bahi und Manyoni, als sie am nächsten Tag mit Bussen und PKWs nach Dodoma fuhren, um sich auf unserer Konferenz über die Auswirkungen des Uranbergbaus auf Gesundheit und Umwelt zu informieren. Die nächste Station der Reise war eine zweite Konferenz, die gemeinsam mit der 30

Rosa-Luxemburg-Stiftung in Dar es Salaam organisiert wurde. Die Eröffnungsrede hielt der tansanische Gesundheitsminister, auch mehrere Mitarbeiter der Regierung waren der Einladung gefolgt. Obwohl in den Beiträgen z. B. aus dem Bergbauministerium die zu erwartende Position der Regierung vertreten wurde, blieben die zahlreichen Vorträge von internationalen Wissenschaftlern und Aktivisten nicht ohne Wirkung: Schon während der Konferenz berichtete die tansanische Presse in großer Offenheit über das Thema, und auch Wochen nach unserer Abreise ist die durch die Konferenz angestoßene Debatte nicht verstummt.

I

m Tansania besteht die reale Chance, durch die Förderung dieser gesellschaftlichen Debatte den Einstieg in den Uranbergbau noch zu verhindern. Unterstützung kommt aktuell von ganz unerwarteter Seite: Infolge des Rückgangs des Uranpreises hat der russische Konzern ROSATOM, der die Konzession für das in Tansania am weitesten gediehene Uranprojekt „Mkuju River“ besitzt, seine Uranmine „Honeymoon“ in Süd-Australien auf Eis gelegt. Was aus dem Projekt in Tansania wird, wissen wir nicht. Aber es wird deutlich: Über nukleare Abrüstung sowie den Ausstieg aus der Atomenergie und die damit sinkende Nachfrage können wir den Ausbau der Uranwirtschaft mit all ihren fatalen Folgen für Menschen und Umwelt beeinflussen.

Dr. Helmut Lohrer ist International Councillor der Deutschen Sektion der IPPNW.


aktion

Schluss mit Ausreden! Aktion vor dem Auswärtigen Amt in Berlin 124 Staaten haben am 21. Oktober 2013 in der UNO-Generalversammlung eine Erklärung unterzeichnet, in der sie den Einsatz von Atomwaffen unter allen Umständen verurteilen. Deutschland war nicht dabei. Die deutsche Zustimmung scheiterte insbesondere an dem Satz: „Es ist im Überlebensinteresse der ganzen Menschheit, dass Atomwaffen nie wieder und unter keinen Umständen eingesetzt werden.“ Die Formulierung „unter keinen Umständen“ stehe im Widerspruch zur NATO-Abschreckungsdoktrin. Als Protest auf Deutschlands Weigerung, Atomwaffeneinsätze bedingungslos zu verurteilen, entrollten Aktivisten von ICAN und IPPNW in Berlin vor dem Außenministerium ein Banner mit der Aufschrift „Atomwaffen ächten“ und fordern die deutsche Bundesregierung auf, sich endlich für ein internationales Verbot von Atomwaffen einzusetzen.

31


gelesen

Ein gewichtiger Reiseführer

Von deutschem Boden aus

Das Reisehandbuch Palästina ist der erste Reiseführer, der einen Blick auf Palästina aus der Sicht der Palästinenser bietet.

Das Buch „Geheimer Krieg“ deckt auf, wie der US-Geheimdienst mit deutscher Hilfe seinen „Krieg gegen den Terror“ betreiben konnte.

as Reisehandbuch ist mit seinen 1,3 kg sicher nicht der klassische Reiseführer, den man bei Reisen im „Heiligen Land“ gerne jederzeit in der Tasche mit sich trägt. Es ist als „Handbuch“ eher ein Nachschlagewerk für alle, die mehr über Palästina aus der Sicht der Palästinenser erfahren möchten.

uch nicht mehr, Frau, du wirst sie nicht mehr finden! Das Schicksal aber, Frau, beschuldige nicht! Die dunklen Mächte, Frau, die dich da schinden Sie haben Name, Anschrift und Gesicht. Bertolt Brecht

D

S

Was bereits in den letzten Wochen die Nachrichten bestimmte, liegt nun als Buch vor. Christian Fuchs und John Goetz dokumentieren ihre jahrelangen Rechercheergebnisse zu der Verquickung deutscher und US-amerikanischer Geheimdienste. Es sind alarmierende Ergebnisse, die zeigen, wie von Deutschland aus der Krieg gegen den Terrorismus gesteuert wird.

Nachdem der Reiseführer Palästina und die Palästinenser auf Arabisch, Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch und Russisch große Erfolge feierte, ist er jetzt endlich auch in Deutsch erschienen. Es ist kein „ausgewogenes“ Buch, die „Alternative Tourism Group“ stellt Palästina dezidiert aus der Sicht der Palästinenser dar; als Gegengewicht gegen eine Flut von Reiseführern, die sich in ihren Beschreibungen hauptsächlich auf Israel und seine Bedeutung für das Judentum und Christentum konzentrieren.

Die Autoren beschreiben detailliert, wie die CIA mithilfe eines Logistikzentrums in Frankfurt Geheimgefängnisse in aller Welt aufbauen konnte, in denen gefoltert wurde. Die US-Firma, die die Kidnapping-Flüge organisierte, wird von deutschen Ministerien nach wie vor mit Millionenaufträgen versehen. BND-Agenten der „Hauptstelle für das Befragungswesen“ verhören für amerikanische „Dienste“ syrische oder pakistanische Asylbewerber, um potenzielle Drohnenziele zu bestimmen.

Dabei wurde akribisch alles zusammengetragen, was interessant und wissenswert ist. Das Land mit seiner Geografie und vielfältigen Natur; die Geschichte von prähistorischer Zeit bis heute; die palästinensische Gesellschaft; die wichtigsten religiösen und historischen Stätten; Orte mit Bedeutung für die Gegenwart auch im heutigen Israel – Städte, Örtchen, die zerstörten Dörfer von 1948, Flüchtlingslager und israelische Siedlungen auf der Westbank; die moderne Kultur. Es beinhaltet Informationen, die Begegnungen mit der palästinensischen Bevölkerung ermöglichen – Adressen von Organisationen und Kontaktpersonen, dazu einen ausführlichen Webguide, informatives Kartenmaterial und jede Menge wunderschöne, aber zum Teil auch bewegende, traurig machende Bilder.

Fuchs und Goetz weisen erstmals nach, wie in der US-Kommandozentrale Aricom von Stuttgart und Ramstein aus Drohneneinsätze in Afrika gesteuert und mutmaßliche Terroristen aus der Luft getötet werden. Sie zeigen, wie Deutschland zum wesentlichen Bestandteil der US-„Sicherheitsarchitektur“ geworden ist, eines Systems, das sich öffentlicher Kontrolle versucht zu entziehen, das bevorzugt im „Geheimen“ agiert. Verfassungsbruch wird dabei billigend in Kauf genommen. Es ist das große Verdienst der Autoren, bisher Geheimes für uns sichtbar gemacht und den dunklen Mächten Name, Anschrift und Gesicht gegeben zu haben. Fuchs und Goetz praktizieren investigativen Journalismus von seiner besten Seite: Sie klären uns auf über das Treiben von US-Militärs und Geheimdiensten in Deutschland. Ein beunruhigendes Buch, das unseren entschiedenen Protest herausfordern sollte – sehr zur Lektüre empfohlen von

Ein Buch, in dem es Spaß macht zu stöbern, das mich nicht losließ, als ich anfing, über mir bekannte Orte nachzulesen und mit den Darstellungen aus herkömmlichen Reiseführern zu vergleichen. Es wird mich sicher noch lange begleiten, nicht nur zur Vorbereitung unserer kommenden Begegnungsreise.

Frank Uhe Sabine Farrouh Geheimer Krieg – Wie von Deutschland aus der Kampf gegen den Terror gesteuert wird: Rowohlt 2013, 265 Seiten, 19,95 €, ISBN 978-3498021382

Palästina Reisehandbuch: Palmyra-Verlag 2012, 649 Seiten, 29,90 €, ISBN 978-3-930378-80-7 32


GEDrUcKt

tErMINE

Mit Risiken und Nebenwirkungen

JANUAr 25.–27.1. Katastrophales humanitäres Leid – Die Debatte über Atomwaffen neu ausrichten! Workshop Lobbyarbeit, Berlin

IPPNW-Informationsblatt für Schüler und Lehrer zu Bundeswehreinsätzen

vier Mon kannst Du Monate daue n Einsatzdauer von eise maximal vier Als Soldat/Soldatin ieten mit viele 2012 wurde die tz darf normalerw tze in Kriegsgeb Jahren 2010 und werden. Ein Einsa Dauer sind Einsä zwischen den n. Doch allein hängig von der tionszeit folge schritten. Unab . el der Fälle über t Dich krank. ndheit verbunden mach Gesu und rund einem Viert deine en: Krieg tötet nwirkungen für n IPPNW warn Risiken und Nebe ensorganisatio Ärzte der Fried Ärztinnen und

3.

1.

es Du hattest groß dest Glück und erlei e an Leib und Seel . keinen Schaden

4.

Du wirst schwer verletzt und ver­ piel lierst zum Beis ein oder mehrere Gliedmaßen.

5.

Du kommst mit Uran­Munition in Kontakt und erkrankst Jahre später an Krebs.

g Du hast im Krie e er­ schlimme Ding t lebt, die Du nich st. vergessen kann Du erleidest eine posttraumati­ sche Belastungs­ störung.

2.

Deine Eltern, dein Partner, deine Kinder, Ange­ hörigen und Freunde leiden unter deinem Einsatz im Kriegsgebiet.

6.

t­ verletzt versehen Du tötest oder Kind isten – z. B. ein lich einen Zivil lässt . Dieses Ereignis oder eine Frau los. t nich n lang Dich dein Lebe

7.

Du wirst tödlich st. verletzt und stirb

In acht Bundesländern gibt es Kooperationsverträge zwischen Bundeswehr und Schulministerien. Jugendoffiziere besuchen Schulen, um die Jugendlichen über den Bundeswehrdienst und Bundeswehreinsätze zu informieren – natürlich einseitig. Als Gegengewicht hierzu hat die IPPNW nun ein Infoblatt für Schüler herausgebracht mit einer ergänzenden Hintergrundinformation für Lehrkräfte, die über Risiken und Nebenwirkungen eines Bundeswehreinsatzes im Kriegsgebiet aus ärztlicher Sicht aufklären. tion Schülerinforma

benwirkungen Risiken und Ne Kriegsgebiet rufen hreinsatzes imMonaten zu einem Auslandseinsatz einbe we es nd Regenera­ eines Bu ungszeit von 12 en 20 Monate flicht Verp aten in rn. Danach müss ab einer

Erhältlich im Internet (als PDF zum Selberausdrucken) unter: ht tp: // kur zlink .d e / ippnw-s chu elerinfo http://kurzlink.de/ippnw-lehrerinfo

31.1. Redaktionsschluss IPPNWforum 137/Ausgabe März 2014

FEBrUAr 11.–12.2. ICAN-Campaigners Meeting, Mexiko 13.–14.2. Staatenkonferenz zu humanitären Folgen von Atomwaffen, Mexiko 16.2. Berlin

Friedensfilmpreisverleihung,

21.–22.2. Strategiekonferenz der Kooperation für den Frieden, Köln 26.2.–2.3. IPPNW-Reise nach Belarus

MÄrZ 4.–7.3. Konferenz zu Tschernobylund Fukushima-Folgen, Arnoldshain

GEPLANt

16.–29.3. IPPNW-Delegationsreise Türkei/Kurdistan

Das nächste Heft erscheint im März 2014. Im Schwerpunkt geht es um

Von Tschernobyl bis Fukushima

APrIL

Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 137/März 2014 ist der 31. Januar 2014. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de

Informationen und Kontaktdaten: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine

IMPrESSUM UND BILDNAchWEIS Herausgeber: Internationale Ärzte für die Verhü-

kel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der

tung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verant-

Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke

wortung e.V. (IPPNW) Sektion Deutschland

bedürfen der schriftlichen Genehmigung.

Redaktion: Sabine Farrouh (V.i.S.d.P.), Angelika

Redaktionsschluss

Wilmen, Samantha Staudte

31. Januar 2014

Freie Mitarbeit: Hanna Punken, Kaoru Maeno

Gestaltungskonzept: www.buerobock.de, Layout:

Anschrift der Redaktion: IPPNWforum, Körtestra-

Samantha Staudte; Druck: Oktoberdruck Ber-

ße 10, 10967 Berlin, Telefon: 030 / 69 80 74 0,

lin; Papier: Recystar Polar, Recycling & FSC.

Fax 030 / 693 81 66, E-Mail: ippnw@ippnw.de,

Bildnachweise: S. 6 rechts: Baby in Fallujah mit

www.ippnw.de, Bankverbindung: Bank für Sozial-

Herzfehler und Fehlbildungen der Gliedmaßen,

wirtschaft, Konto-Nr. 2222210, BLZ 10020500,

© Donna Mulhearn; S. 7 rechts: Nanking2012,

IBAN DE39100205000002222210, BIC BFSW-

Wikimedia; S. 36: Foto: kersy83/Flickr (Creative

DE33BER

Commons), nicht ge-

Das Forum erscheint vier Mal im Jahr. Der Be-

kennzeichnete:

zugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag

oder IPPNW.

für

privat

enthalten. Sämtliche namentlich gezeichnete Arti33

das

11.–13.4. IPPNW-Jahrestreffen und Mitgliederversammlung, Dresden

nächste

Heft:

SAVE thE DAtE/ VOrMErKEN AUGUSt 27.–30.8. 21. IPPNW-Weltkongress in Astana, Kasachstan: From a Nuclear Test Ban to a Nuclear Weapon Free World – Disarmament, Peace and Global Health in the 21st Century 25.–26.8. Internationaler IPPNWStudierendenkongress


gefragt

6 Fragen an … Jan van Aken © DiG | TRIALON

IPPNW-Beirat und Mitglied des Bundestages

1

4

Deutschland hat gefährliche Chemikalien nach Syrien geliefert, obwohl andere westliche Länder dies aus gutem Grund immer wieder verweigert hatten. Ist die Behauptung der Bundesregierung, sie könne sicherstellen, dass die Chemikalien nur zivil verwendet wurden, glaubwürdig? Die Bundesregierung behauptet ja noch nicht mal, dass sie den Verbleib der Chemikalien sicherstellen würde. Sie sagen einfach, dass sie keinen Grund haben, Assad zu misstrauen – damit ist die Geschichte für sie zu Ende. Dass sie die Chemikalien und Ausrüstungsgegenstände für Chemiewaffenfabriken in ein Land verschifft haben, das bekanntermaßen ein umfangreiches Chemiewaffenprogramm hatte, ist einfach ein unglaublicher Skandal. Warum man sich damals darauf eingelassen hat und ob und welchen Deal es dabei mit dem Assad-Regime gab, wollen wir jetzt ganz genau wissen – allen voran von Steinmeier, der neben anderen die politische Verantwortung trug.

CDU und SPD haben im Koalitionsvertrag beschlossen, dass der Bundestag zukünftig zeitnah über genehmigte Rüstungsgeschäfte informiert werden soll. Wird Rüstungsexportpolitik zukünftig transparenter? Nein. Der Beschluss von SPD und CDU ist schlicht eine Lachnummer. Informiert werden soll ja nur über die endgültigen Ausfuhrentscheidungen. Wirklich wichtig jedoch ist, wie die Bundesregierung die so genannten Voranfragen entscheidet. Rüstungsunternehmen sondieren über die Voranfrage, ob sie im Falle eines offiziellen Exportantrages mit einem positiven Bescheid rechnen können. Dieser ist grundsätzlich bindend. Bei einer positiven Antwort stellen die Hersteller dann oft erst Jahre später den Exportantrag. Das ist keine Transparenz, das ist Augenwischerei. SPD und CDU fürchten wahre Transparenz. Jede öffentliche Debatte würde sie in die Defensive zwingen. Und ihre Exportvorhaben erschweren. Würde die neue Regierung tatsächlich ernsthaft ihre Rüstungsexportpolitik transparenter machen wollen, hätte sie z. B. beschließen können, einen Rüstungsexportbericht alle drei Monate vorzulegen und den Bundestag zeitnah über die gestellten Voranfragen zu unterrichten.

2

Auch am völkerrechtswidrigen Drohnenkrieg der USA ist die Bundesregierung beteiligt. Deutsche Firmen lieferten offenbar mit Genehmigung der Bundesregierung Bauteile für die US-amerikanischen Kampfdrohnen. Hat Deutschland den USA auch Daten für ihren Drohnenkrieg geliefert? Ja, und das ist auch kein Geheimnis. Der BND hat zugegeben, seit 2003 Mobilfunkdaten Terror verdächtiger Personen an die USA weitergegeben zu haben. Wir müssen davon ausgehen, dass Deutschland über die wenigen bekannt gewordenen Fälle hinaus massenhaft Daten an die USA weitergibt, die für gezielte Tötungen mit Drohnen genutzt werden – nicht nur in Afghanistan und Pakistan. In den letzten Jahren wurde seitens der Bundesregierung zudem immer wieder die Lieferung von Motoren, Propellern und anderen Komponenten für US-Drohnen genehmigt.

5

Beide Parteien haben sich auch geeinigt, dass die Richtlinien für die Waffenausfuhr aus der rot-grünen Regierungszeit in Zukunft verbindlich gelten. Was ist davon zu halten? Das heißt, es geht weiter wie bisher – fast jede Waffe darf in fast jedes Land geliefert werden. Auch bisher haben alle Regierungen formuliert, dass sie alle Einzelfallentscheidungen auf der Basis der „Politischen Grundsätze“ treffen. Und sie haben sich auch alle an diese Grundsätze gehalten, denn diese sind alles andere als restriktiv. Das bezeugt auch der neueste Rüstungsexportbericht. Platz 1 der Abnehmer deutscher Rüstungstechnologie belegt 2012 Saudi-Arabien – dort stehen schwere Menschenrechtsverletzungen auf der Tagesordnung und es liegt unzweifelhaft im Krisengebiet Nahost. Ich denke, dass wir klare Verbote brauchen, um solch hemmungslose Kriegswaffenexporte zu verhindern.

3

Sollte Deutschland Snowden Asyl gewähren? Ja, natürlich. Denn sollte Snowden an die USA ausgeliefert werden, droht ihm wegen seiner politischen Überzeugung eine lebenslange Haftstrafe, er würde wegen Geheimnisverrat verurteilt werden. Snowden hat aufgedeckt, dass die Geheimdienste uns alle skrupel – und grenzenlos ausspionieren. Für seine Courage hat er nicht nur unser aller Anerkennung verdient, sondern auch eine sichere Zuflucht.

6

Wird die zukünftige Bundesregierung Panzer nach Saudi Arabien liefern? Ja, wenn das saudische Königshaus sie haben will, wird die Bundesregierung ihr diesen Wunsch nicht verwehren. 34


Anzeigen

Aussichten

Der IPPNW-Kunstkalender 2014 mit Werken von Béla Faragó Clemens Heinl Hubertus Hess Udo Kaller Tobias Loemke Gerhard Rießbeck Format 49 x 49 cm Preis 25,– Euro zzgl. Porto Einzelbestellungen über den webshop der IPPNW www.ippnw.de Sammelbestellung (ab 10 Exemplare) bei Dr. med. Helmut Rießbeck www.psychotherapie-riessbeck.de Die Regionalgruppe Nürnberg-Fürth-Erlangen der IPPNW hat

Die Nürnberg-Fürth-ErlanbereitsRegionalgruppe zahlreiche Kulturprojekte realisiert. Die Verbindung von politischer hatzahlreiche also bereits Tradi tion. genKunst der und IPPNW hatAussage bereits KulSechs national renommierte fränkische Künstler konnten turprojekte realisiert. Die Verbindung von für das Projekt gewonnen werden. Sie erklärten sich bereit, Kunst und politischer Aussage hat Honorierung also beden IPPNW-Kalender ohne jegliche finanzielle zu unterstützen, undSechs stellten national jeweils zwei Kunstwerke zur reits Tradition. renommierte fränkische Künstler konnten für das Projekt gewonnen werden. Sie erklärten sich bereit, den IPPNW-Kalender ohne jegliche IPPNW-Postkarte_210x129mm.indd 1 finanzielle Honorierung zu unterstützen, und stellten jeweils zwei Kunstwerke zur

Verfügung. Mehr noch, einzelne Künstler arbeiteten sich in le Risiko des Projekts wird ausschließlich von Sponsoren aus Risiko des Projekts wird von Verfügung. Mehr noch, politische Anliegen der IPPNW ein einzelne und setzten Künstler diese künst- der Regionalgruppe getragen. Die ausschließlich entstehenden Überschüslerisch um. Der sich größereinTeilpolitische der Werke nimmt Bezug aufder die se kommen demaus Hilfsprojekt »Famulieren und Engagieren« Sponsoren der Regionalgruppe getraarbeiteten Anliegen Anliegen der IPPNW. Auf den Kalenderblättern finden sich in der IPPNW in voller Höhe zugute. Mit seinem quadratischen IPPNW ein und setzten diese künstlerisch gen. Die entstehenden Überschüsse komkurzen Sätzen Hinweise auf Arbeitsfelder der IPPNW sowie Format, der brillanten Druckqualität und der hochwertigen men demwirdIPPNW-Programm um. Der größere Teildieder nimmt Be- Verarbeitung entsprechende Weblinks, eineWerke tiefere Auseinandersetder Kalender nicht nur in»Famulieren Arztpraxen und zung jeweiligen Themen ermöglichen. ein besonderer Blickfangin sein. und Engagieren« der IPPNW voller Höhe zug mit aufdendie Anliegen der IPPNW. Das Auffinanzielden Krankenhäusern

Kalenderblättern finden sich in kurzen Sätzen Hinweise auf Arbeitsfelder der IPPNW sowie entsprechende Weblinks, die eine tiefere Auseinandersetzung mit den jeweiligen Themen ermöglichen. Das finanzielle

zugute. Mit seinem quadratischen Format, der brillanten Druckqualität und der hochwertigen Verarbeitung wird der Kalender 25.06.13 nicht nur in Arztpraxen und Krankenhäusern ein besonderer Blickfang sein.

09:07


VORMERK EN /S AV E THE DATE

Astana, Kasachstan 21. IPPNW-WELTKONGRESS August 2014 (voraussichtlich 27.–30.8.)

From a Nuclear Test Ban to a Nuclear Weapon Free World – Disarmament, Peace and Global Health in the 21st Century INTERNATIONALER IPPNW-STUDIERENDEN-KONGRESS voraussichtlich 25.–26.8.2014 Weitere Informationen demnächst unter: www.ippnw.org


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.