IPPNW forum 138/2014 – Die Zeitschrift der IPPNW

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ippnw forum

das magazin der ippnw nr138 juni2014 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung

- Killer Robots – bald bittere Realität? - In memoriam: Hans-Peter Dürr - 6 Fragen an: Mako Oshidori © Igor Golovniov

Ukraine zwischen Russland und EU: Gemeinsame Sicherheit statt Konfrontation


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EDITORIAL Dr. Jens-Peter Steffen ist Referent für Friedenspolitik bei der deutschen Sektion der IPPNW.

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eit Wochen beschäftigt die Krise in der Ukra­ ine viele Menschen und die IPPNW. Wir su­ chen nach Erklärungen der Ereignisse und zu­ gleich nach Wegen, um die Eskalation zu einem offenen Bürgerkrieg in dem Land zu verhindern. Zum Verstehen und zu den friedenspolitischen Perspektiven möchte der Schwerpunkt dieses Heftes Hinweise geben. Einen Überblick über das Wirrwarr von Positionen und Gruppierungen im Zuge der Maidan-Proteste bietet uns im Schwerpunkt dieser Ausgabe der Blogger und Publizist Kai Ehlers.

Originalfoto: ~no bullshit~, creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0

Die diesjährige Mitgliederversammlung der IPPNW in Dresden benannte als einen zentralen Eskalationsgrund der Krise die unter deutscher Führung verfolgte EU-Politik, die Ukraine in den EU-Binnenmarkt einzubinden. Noch bleibt das Ziel, den Staat zur EUPeripherie zu machen, um einen freien Marktzugang für europäisches und deutsches Kapital in die Ukraine zu erhalten. Zusammen mit der Forderung des IWF nach erheblichen Kürzungen der Staatsausgaben würde die EU-Dominanz die ukrainische Wirtschaft kaputt konkurrieren. Bewaffnete Aggression entsteht auch aus Furcht vor dem sozialen Sprengstoff solcher Politik. Über die Rolle der EU im Eskalationsprozess schreibt in dieser Ausgabe auch der Autor Jürgen Wagner von der Informationsstelle Militarisierung. Bislang haben die Versuche eines Dialogs kaum die von uns gewünschten Deeskalations- oder gar Friedensschritte gebracht. Doch die Friedensbewegung bleibt dabei und setzt auf die Vermittlerrolle der OSZE, die diese nicht mit dubiosen militärischen Delegationen infrage stellen darf. Welche Schritte für eine friedliche Lösung nötig wären, berichtet der Politikwissenschaftler Andreas Buro. Über die fragwürdige Rolle vor allem westlicher Medien und deren tendenziöse Berichterstattung schreibt unser ehemaliger Vorstandsvorsitzender Matthias Jochheim und unser Beiratsmitglied Mohssen Massarrat gibt einen Einblick in Hintergründe des Konflikts zurück bis in die Zeiten des Kalten Krieges. Die Aufklärungsarbeit der Friedensbewegung bleibt wichtig, denn Scharfmacher in der Maske der Wissenschaft und mit Einfluss auf ihre Regierungen finden sich auf allen Seiten. Für einen Zbigniew Brzezinski ist die Ukraine bereits seit 1997 zentral in dem Bemühen, Russland als Weltmachtkonkurrent der USA endgültig zu zerbrechen. Ihm gegenüber schmiedet ein Alexander Dugin an der Idee einer eurasischen Macht von Lissabon bis Wladiwostok unter Moskauer Führung. Solchen „Globalstrategen“ ist gemein, dass sie sich um die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen am allerwenigsten kümmern. Eine erhellende Lektüre wünscht, Ihr Dr. Jens-Peter Steffen 3


INHALT Palästina: Eindrücke von der IPPNW-Begegnungsreise

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THEMEN Killer Robots – bald bittere Realität?.........................................................8 Sicherheit durch strukturelle Friedenspolitik......................................10 Palästina/Israel: Matrix of Control............................................................ 12 Atomwaffen – ein Bombengeschäft.........................................................14 Stimmen der Opfer von Atomkatastrophen.........................................16 Blickkontakt mit der Blattwanze............................................................... 18 Historisierung der Tschernobylkatastrophe......................................... 19

IN MEMORIAM Die IPPNW trauert um Hans-Peter Dürr...............................................15

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Foto: www.eltpics.com, creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/

Kooperation statt Konfrontation: Hintergründe der Krise um die Ukraine

Kooperation statt Konfrontation............................................................... 20 Roter Faden durch den ukrainischen Dschungel............................ 22 Assoziationsabkommen und EU-Expansionspolitik........................24 Die Wahrheit stirbt im Krieg zuerst........................................................ 26 Das Ziel ist Russland, gemeint sind andere...................................... 27 Ukraine – ein mit System organisiertes Chaos................................ 28

WELT IPPNW-Weltkongress: Peace, Disarmament and Health in

Atomkatastrophen: Stimmen der Opfer

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the 21st Century................................................................................................ 30

RUBRIKEN Editorial.......................................................................................................................3

Foto: Ian Thomas Ash, documentingian.com

Meinung......................................................................................................................5 Nachrichten..............................................................................................................6 Aktion........................................................................................................................31 Gelesen, Gesehen.............................................................................................. 32 Gedruckt, Geplant, Termine........................................................................ 33 Gefragt..................................................................................................................... 34 Impressum/Bildnachweis.............................................................................. 33


MEINUNG

Henrik Paulitz ist Referent für Energiepolitik bei der IPPNW Deutschland.

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edienberichten zufolge wollen E.On, RWE und EnBW nun den Abriss und die Atommüllbeseitigung dem Staat übertragen und sich abgesehen von einer – angeblichen – Restzahlung von 30 Milliarden Euro aus der Verantwortung stehlen. Man darf aber für den Abriss und die Atommülllagerung getrost von Kosten im hohen dreistelligen Milliardenbereich ausgehen. Nicht umsonst wollen die Konzerne insbesondere aus der Haftung für ihre Hinterlassenschaften entlassen werden.

Die Energiekonzerne haben mit dem jahrzehntelangen Betrieb der Atom­ kraftwerke Gewinne im mindestens dreistelligen Milliardenbereich realisiert.

Es stellt sich sogar die Frage, ob die Konzerne sich nicht klammheimlich die 30 Milliarden Euro wieder an anderer Stelle von den Steuerzahlern oder Stromkunden rückerstatten lassen würden. Sie sind es schließlich gewohnt, zu kassieren, nicht zu zahlen. Wenn alles nach geltendem Recht zugeht, kommen die Konzerne möglicherweise aber nicht ganz so billig davon. Ihr Abwicklungsmodell könnte nämlich gegen EU-Recht verstoßen: Artikel 174 des EU-Vertrages schreibt das Verursacherprinzip als Grundsatz der Umweltpolitik fest. Deutschland würde möglicherweise ein Vertragsverletzungsverfahren der EU riskieren, sollte die Politik dem Druck der Konzerne wieder einmal nachgeben.

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as Modell verstößt auch gegen geltendes nationales Recht. Es ist ein eiserner Grundsatz des Atomrechts und insbesondere auch Grundlage der erteilten Atomkraftwerksgenehmigungen, dass die Betreiber für die „Entsorgung“ ihrer Hinterlassenschaften verantwortlich sind, ohne die Gesundheit der Menschen zu gefährden. Es stellt sich die Frage, ob in einer Demokratie geltendes Recht für eine wirtschaftliche Betätigung Bestand hat, oder ob es nach Gutsherrenart stets so verändert wird, dass die Konzerne ihre Gewinne maximieren können und die Bevölkerung die Zeche zahlen muss – sowohl finanziell als auch hinsichtlich der Gesundheitsgefährdungen. Warum sollten die Grundlagen der erteilten Genehmigungen geändert werden, wenn doch die Konzerne für diese stets einen „Bestandsschutz“ eingefordert haben? 5


Foto: marlon_75 (CC BY-SA 2.0)

Foto: throgers (CC BY-NC-ND 2.0)

N ACHRICHTEN

Marshallinseln klagen vor Internationalem Gerichtshof

Bayernkaserne: Kein Ort für jugendliche Flüchtlinge

Globale Gesundheitspolitik

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ie Republik der Marshallinseln hat am 24. April 2014 ein Klageverfahren beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag eingeleitet. Ziel ist es, die Atomwaffenstaaten für die eklatante Verletzung des Völkerrechts und den Verstoß gegen den Atomwaffensperrvertrag zur Rechenschaft zu ziehen. Den Staaten USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, China, Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea wird im Kern vorgeworfen, ihre Verpflichtungen zur nuklearen Abrüstung, die aus Art. VI des Atomwaffensperrvertrags und dem Völkergewohnheitsrecht hervorgehen, nachhaltig zu verletzen. Unterstützt werden die Kläger von der internationalen Juristenorganisation IALANA. Der Vorstoß der Marshallinseln wurde von führenden Politikern der ganzen Welt, Nichtregierungsorganisationen, Nobelpreisträgern und hochrangigen Experten begrüßt. Die Republik der Marshallinseln, selbst Opfer von 67 US-Atomwaffenversuchen, versucht weder Schadensersatz noch Kompensationsleistungen zu erreichen, sondern vielmehr geht es darum, Rechtsschutz durch Feststellungs- und Unterlassungsanträge des IGH zu erhalten. Dadurch sollen die Atomwaffenstaaten zur Einhaltung ihrer Verpflichtungen gezwungen werden. Doch nur drei der neun Staaten, Großbritannien, Indien und Pakistan haben sich der Gerichtsbarkeit des IGH unterworfen. Die Übrigen werden jedoch dazu aufgerufen in diesem konkreten Fall, ihre Rechtsposition darzulegen.

ie bayerische Ärzteinitiative für Flüchtlingsrechte ist bei einem Besuch der Münchner Bayernkaserne für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Ende April erneut auf eine massive Missachtung von Kinder- und Flüchtlingsrechten gestoßen. Bei der Altersfestsetzung durch das Stadtjugendamt würden viele unbegleitete jugendliche Flüchtlinge fälschlich für volljährig erklärt und ihrer Zukunftschancen beraubt. Der Ärzteinitiative liegen zahlreiche dokumentierte Fälle von eindeutig minderjährig wirkenden Flüchtlingen vor, die von der Behörde für volljährig erklärt und damit ihrer Chancen auf Betreuung und Bildung beraubt wurden. Ein 16-jähriger schilderte den Ärzten, dass er nachts nicht schlafen könne, weil die erwachsenen Männer in seinem Zimmer laut redeten, Alkohol trinken und ihm Schläge androhen würden, wenn er um Ruhe bittet. Ein anderer wurde in eine abgelegene Gemeinschaftsunterkunft ohne Sozialbetreuung geschickt. Einer der Jugendlichen war akut selbstmordgefährdet, nachdem er für volljährig erklärt worden war, und wurde nach einigen Tagen in der Psychiatrie in eine Gemeinschaftsunterkunft „verteilt“. „Selbst seinem Anwalt wurde nicht mitgeteilt, wohin“, kritisiert IPPNW-Mitglied Dr. Thomas Nowotny für die bayerische Ärzteinitiative in einem Offenen Brief an den Münchener Oberbürgermeister Dieter Reiter.

ie von Sozialverbänden, NGOs, WissenschaftlerInnen und Gewerkschaften gegründete Deutsche Plattform für Globale Gesundheit, in der die IPPNW mitarbeitet, hat nun ein Positionspapier zum Konzeptpapier „Globale Gesundheitspolitik“ der Bundesregierung von 2013 vorgelegt, das demnächst der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Darin wird das Papier der Bundesregierung grundsätzlich begrüßt. Es weise in die richtige Richtung, greife aber vielfach zu kurz und enthalte auch Zielsetzungen, die sich als falsch erwiesen. Den Willen der beteiligten Ministerien vorausgesetzt, hätte ein kohärenteres und weniger von Partikularinteressen geprägtes Konzeptpapier erheblich weiter gehen können. Die Fakten und Zusammenhänge seien bekannt. Die Plattform stellt den Einfluss sozialer Faktoren von Gesundheit, wie Ungleichheit, Lebensbedingungen, Bildung, Umwelt und Frieden in den Mittelpunkt. Diese bestimmen Gesundheit mehr als eine gute medizinische Versorgung und medizinischer Fortschritt. Das Papier der Plattform fokussiert auf multidisziplinäre Public Health Ansätze und auf Gesundheitsförderung, die im Konzept der Regierung viel zu kurz kommen, statt auf Biomedizin und Gesundheitsindustrie. Sie mahnt ein klares Bekenntnis für ein menschenrechtliches Verständnis von Gesundheit an, das Gesundheit nicht als „Geschäftsmodell“, sondern als Anspruch aller Menschen begreift. Papier der Plattform „Globale Gesundheit“: http://kurzlink.de/papier_gg Konzept der Bundesregierung: http://kurzlink.de/BR_konzept

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N ACHRICHTEN

Keine Teilnahme an „Atomend­ lager-Kommission“

Grenzen öffnen für Menschen, Grenzen schließen für Waffen

Friedensprojekt Tent of Nations: Verwüstung durch Bulldozer

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ie IPPNW lehnt eine Teilnahme an der vom Bundestag beschlossenen Kommission zur „Endlagerung“ hoch radioaktiver Abfälle ab. Die Zusammensetzung der Kommission wurde zugunsten der Atomindustrie ausgehandelt. Inhaltliche Vorfestlegungen in der politischen Besetzung der Kommission stimmten misstrauisch, und da Umweltgruppen eine marginale Rolle eingeräumt wurde, erwartet die IPPNW keine ergebnisoffene Diskussion. Trotzdem wäre dann die Zivilgesellschaft für ein absehbares Mehrheitsergebnis haftbar. Laut Gesetz ist das Bundesamt für kerntechnische Entsorgung praktisch allein für den hoch-, mittel-, und schwachaktiven Müll zuständig. Dabei befasst es sich im Kern mit den gleichen Problemen wie die Kommission. Beim Rückbau der AKWs entstehen gewaltige Mengen radioaktiven Mülls, von denen nur die 5 % hochaktiven Mülls von der Kommission behandelt werden, während die Zuständigkeit für die restlichen 95 % des Mülls beim Bundesamt liegt, von dem ein wenig umweltfreundlicher Umgang mit dem Schutt zu befürchten sei. Den Forderungen, das geplante Endlagerungs-Gesetz auszusetzen und zuerst die Kommission ohne Parteiproporz zu bilden wurde nicht nachgegangen, was eine tatsächlich ernsthafte Auseinandersetzung und einen transparenten Dialog nach Konsensprinzip ausschließt. Darum lehnt der überwiegende Teil der Anti-AKW-Initiativen eine Mitarbeit ab. Die IPPNW wird die Arbeit der Kommission kritisch begleiten.

m 26. Februar 2014 demonstrierten Vertreter der Kampagne „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel“ in Berlin für die Aufnahme eines grundsätzlichen Verbots von Rüstungsexporten in Artikel 26,2 des Grundgesetzes. Bereits am Vortag wurden der Bundestagsvizepräsidentin, Edelgard Bulmahn, 95.000 Unterschriften übergeben. Parallel zur Forderung eines Rüstungsexportverbots verlangten die SprecherInnen der Kampagne die Öffnung der EU-Grenzen für Armuts- und Kriegsflüchtlinge. Den Zusammenhang stellte Jürgen Grässlin her: „Waffenexporte produzieren Flüchtlinge.“ Genauer wirft die Kampagne der Bundesregierung sowie auch der EU vor, mit ihrer hemmungslosen Rüstungsexportpolitik an Krieg und Menschenrechtsverletzungen weltweit eine Mitschuld zu tragen, da exportierte Kleinwaffen, die „Massenvernichtungswaffen moderner Kriege“, immer wieder in Konflikten, z. B. in Jugoslawien, Türkei, Irak, Afghanistan und Libyen, auftauchen und unzählige Menschen töten. Überlebenden, die vor der Waffengewalt fliehen, wird aber der Zugang zur EU verwehrt. Außerdem trägt die Bundesregierung aktiv durch den Export von Grenzzäunen z. B. an Saudi-Arabien und Algerien dazu bei, eine Flucht zu verhindern. Das Aktionsbündnis fordert einen Kurswechsel der Bundesregierung sowohl in der Rüstungsexportpraxis, als auch beim Umgang mit Geflüchteten, um einen Beitrag dazu zu leisten, aus der „Spirale der Gewalt“ auszubrechen. 7

m 19. Mai 2014 zerstörten israelische Bulldozer über 1.500 Apfel- und Aprikosenbäume und Weinstöcke der Familie Nassar bei Bethlehem. Die Familie kämpft seit vielen Jahren einen juristischen Kampf, um ihr Land und ihre Bäume zu schützen. Daoud Nassar besitzt eine Besitzurkunde für sein Land, das der Großvater 1916 noch unter dem Sultan im Osmanischen Reich erworben hat. Dem historischen Stempel auf dem Dokument folgten im Laufe der Zeit britische, jordanische und sogar israelische Beglaubigungen. Da das Grundstück als Ort der Versöhnung allen Nationen und Religionen zur Verfügung steht, genießt es besondere internationale Aufmerksamkeit. Trotzdem ist der einzige Hügel zwischen Bethlehem und Hebron, der nicht von israelischen Siedlern besetzt ist, nicht sicher. Mit Hilfe von Bürokratie, Paragrafen und Verfahren soll die Familie zur Aufgabe des Grundstücks gezwungen werden. Durch internationale Hilfe können die Verfahrenskosten von über 100.000 € gedeckt werden. Trotz angebotener Ausreisevisa und hoher Kaufangebote denkt die Familie nicht daran, aufzugeben. Seit 1991 kämpfen die Nassars nun um den Weinberg, der in der, unter israelischer Zivil- und Sicherheitsverwaltung stehenden, C-Zone liegt. Mitglieder der deutschen Sektion von IPPNW und pax christi hatten den Weinberg im Rahmen einer Begegnungsfahrt nach Israel-Palästina am 3. Mai 2014 besucht. www.tentofnations.org


FRIEDEN

Killer Robots – bald bittere Realität? FONAS-Fachgespräch zum Thema autonome Waffensysteme am 12. März 2014

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eit Jahren besteht eine vielschichtige öffentliche Debatte zum Thema autonome Waffensysteme – ein Diskurs, der stark von ethischen und moralischen Faktoren geprägt ist. Doch was ist der aktuelle Stand? Wie weit ist die Technik tatsächlich vorangeschritten und was sagt das Völkerrecht dazu?

Milliarden in diese Forschungsbereich investiert. Der Betrag, der für die Erforschung der Folgen solcher Waffen ausgegeben wird, ist hingegen sehr gering.

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rotz großer Investitionen ist der momentane Stand der Technik relativ bescheiden. „Die Wissenschaft ist nun mal eine Schnecke“, erklärt Informatiker Prof. Dr. Hans-Jörg Kreowski. Seit 40 Jahren seien die Probleme der Robotik bekannt und immer noch nicht gelöst. Roboter sind immer noch sehr weit vom Menschen entfernt. Das Problem liege bei den exponentiell steigenden Lösungsmöglichkeiten, die dem Roboter zur Auswahl stehen. Der einzige Ausweg dazu: nicht exakte Lösungen in Kauf zu nehmen – was nur funktioniert, wenn man sich Fehler leisten kann. Doch wer möchte sich schon Fehler leisten, wenn es um Leben und Tod geht? Bisher ist nur der Einsatz autonomer Waffensysteme verboten. Laut Thomas Küchenmeister von der „International Campaign to Stop Killer Robots“, ist es deshalb höchste Zeit am Ursprung anzusetzen und auch die Forschung in diesem Bereich zu stoppen. Ansonsten könne es zu einem RoboterWettrüsten ohne sicheren Ausgang kommen, ganz abgesehen davon, was passieren könnte, wenn eine solche Technik in die Hände von Terroristen gelangt.

Circa 80 Länder sind bereits im Besitz unbemannter Luftfahrzeuge. Einige wenige, darunter die USA, Großbritannien und Israel, verfügen auch über bewaffnete Drohnen. Doch noch sind autonome Systeme ineffizient und unzuverlässig. Nach offiziellen Angaben sind deshalb bisher noch keine autonomen Waffensysteme zum Einsatz gekommen. Aber durch neue Entwicklungen könnten diese in etwa 20 bis 50 Jahren zur bitteren Realität werden.

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983 investierten die Vereinigten Staaten im Rahmen der „Strategic Computing Initiative“ über 500 Millionen US-Dollar in ein Forschungsprojekt, das Fahrzeuge mit künstlicher Intelligenz ausstatten sollte. Dies war der Anfang der modernen Robotik. Heute existiert ein breites Anwendungsspektrum von Robotern. Autonome Roboter zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich in einer unbekannten und veränderbaren Umgebung bewegen können, selbst abwägen und Entscheidungen treffen müssen sowie darauf programmiert sind zu lernen.

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Für Kampfroboter bedeutet dies, dass die Kontrolle der Gewaltausübung nicht mehr beim Menschen, sondern bei der Maschine liegt. Doch wie sind autonome Waffensysteme zu definieren? Die Frage nach einer konkreten Definition ist schon durch mehrere Abstufungen des Wortes Autonomie sehr komplex. Eine autonome Waffe kann ferngesteuert, fernbedient, fernüberwacht oder bereits vollkommen selbststeuernd sein. Die bisher einzige klare Definition lieferte 2012 das US-amerikanische Department of Defense. Danach versteht man unter einem autonomen Waffensystem ein solches, das, einmal aktiviert, selbst seine Ziele auswählen und angreifen kann, ohne weitere Intervention durch Menschen.

och werden derartige Tötungsmethoden nicht schon vom Völkerrecht verboten? Voraussetzung für Waffengewalt ist nach Völkerrecht das Unterscheidungsgebot – es muss zuverlässig zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten unterschieden werden können – sowie das Verhältnismäßigkeitsgebot, nachdem vor der Gewaltanwendung eine gewissenhafte Abwägung nötig ist. Beides ist von autonomen Waffensystemen nur sehr schwer bis gar nicht umzusetzen. Generell dürfen laut Völkerrecht Zivilpersonen, Unbeteiligte und Kulturgüter bei einem Kampfeinsatz nicht beschossen werden. Ob Maschinen hinreichend genau programmiert werden können, um dies einzuhalten, ist fraglich. Natürlich haben Kampfroboter auch Vorteile. Sie geraten nie in Panik und befolgen blind ihre Befehle, ohne emotional zu reagieren. Vor allem aber sind beim Robotereinsatz keine eigenen Soldaten bedroht. Doch will man dafür in Kauf nehmen, dass Maschinen ohne moralisches Verhalten über Leben und Tod entscheiden? Ist es nicht fahrlässig, sich auf das Berechenbare zu

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eit 30 Jahren werden von staatlicher Seite große Summen für die Forschung an autonomen Waffensystemen ausgegeben – vor allem in den USA. Diese haben sich zum Ziel gesetzt, innerhalb der nächsten Jahre ein Drittel ihrer Bewaffnung autonom zu steuern. Aber auch in Europa werden jährlich mehrere

PROTOTYP VON BOSTON DYNAMICS „ATLAS“ IM JAHR 2013. ER SOLL FÜR DAS US-VERTEIDIGUNGSMINISTERIUM FAHRZEUGE STEUERN UND IN GEFÄHRLICHEN UMGEBUNGEN ARBEITEN. 8


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inen guten Überblick zum Thema künst­ liche Intelligenz verschafft der Film „Plug & Pray“, in dem Joseph Weizenbaum, Computer­ pionier und Kritiker des technologischen Größen­ wahnsinns, durch die Laboratorien der künst­ lichen Intelligenz in USA, Japan, Deutschland und Italien führt: www.plugandpray-film.com

beschränken und die Ethik außer Acht zu lassen? Nach Physiker und Friedensforscher PD Dr. Jürgen Altmann sollte es bei der Anwendung von Gewalt immer eine bedeutungsvolle menschliche Steuerung geben. Dies ergäbe sich allein schon aus der im Grundgesetz verankerten Menschenwürde und aus der Forderung der Martens’schen Klausel, sein Verhalten einem öffentlichen Gewissen anzupassen. Zwar bleibt auch bei autonomen Waffen immer noch der Mensch – der Programmierer – die verantwortliche Instanz, doch findet hier keine moralische Abwägung mehr statt. Ein Soldat ist meist für mehrere Luftfahrzeuge gleichzeitig verantwortlich, sodass die Frage „töten oder nicht?“ bei der Kampfhandlung durchaus in den Hintergrund gerät. „Die Interpretation des Völkerrechts ist in diesem Bereich sehr weich, was ein Verbot dieser Waffen umso dringlicher macht“, so Altmann.

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ür ein solches Verbot setzen sich das „International Committee for Robot Arms Control“ (icrac) sowie die „Campaign to Stopp Killer Robots“ ein. Die Organisationen plädieren vor allem auch für mehr Transparenz und größer angelegte Inspektionen bei der Nutzung solcher Waffensysteme, da man von außen nur schwer beurteilen könne, ob ein bestimmter Angriff autonom verlief oder nicht. Im Oktober 2013 haben sich über 30 Staaten für ein Verbot ausgesprochen, darunter die deutsche Bundesregierung. Kürzlich hat auch das EU-Parlament die nationalen Gesetzgeber dazu aufgefordert, Gesetze zu erlassen, welche autonome Waffen verbieten. Die Große Koalition hat darauf bereits in ihrem Koalitionsvertrag reagiert, in dem es heißt, Deutschland werde sich „für eine völkerrechtliche Ächtung voll automatisierter Waffensysteme einsetzen“. Doch damit ist die Debatte keineswegs zu Ende. Thomas Göbel vom Auswärtigen Amt hält ein starkes Engagement der Zivilgesellschaft weiterhin für notwendig, um nicht bald Maschinen die Entscheidung zwischen Leben und Tod zu überlassen.

Sandra Klaft ist Studentin der Sozialwissenschaft an der Universität Göttingen und war im Frühjahr Praktikantin in der IPPNW-Geschäftsstelle in Berlin. 9


FRIEDEN

Sicherheit durch strukturelle Friedenspolitik Kritik der außenpolitischen Strategie der deutschen Regierung

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um friedenspolitischen Engagement der IPPNW gehört u. a. die Kritik der Auslandseinsätze der Bundeswehr. Derzeit befinden sich rund 4.880 SoldatInnen in 16 Auslandseinsätzen. Neben den militärischen Einsätzen regt uns auch das außenpolitische Mittun Deutschlands in seinen Bündnissen, wie beim aktuellen Beispiel Ukraine, zum Nachdenken und Protest an. Der Massierung der Auslandseinsätze der Bundeswehr unterliegt eine Strategie der militärischen „Ertüchtigung“ Deutschlands. Zu dieser Strategie gehört eine Rüstungsexportpolitik, die regionale „Gestaltungsmächte“ wie Indonesien und Saudi-Arabien aufrüstet. Diese Strategie, die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zum globalen Machtspieler treibt, drückt eine vorrangig zivile und entwicklungspolitisch abgestimmte Gesamtstrategie in den Hintergrund. Sie ist ohne militärische Gewaltandrohung als „letzte Instanz“ nicht zu denken. „Sicherheit durch eine strukturelle Friedenspolitik“ statt „Sicherheitspolitik als Risikomanagement“. Der Titel dieses Artikels wendet sich mit seinem ersten Teil gegen eine Formulierung, die einer Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und des German Marshall Fund of the United States (GMF) entnommen ist. Ich zitiere aus der Studie „Neue Macht. Neue Verantwortung“, die unter Mitarbeit von über 50 Politikern, Wissenschaftlern und MitarbeiterInnen aus Ministerien entstand, zur Notwendigkeit militärischer Einsätze:

„Da aber, wo Störer die internationale Ordnung infrage stellen; wo sie internationale Grundnormen (etwa das Völkermordverbot oder das Verbot der Anwendung von Massenvernichtungswaffen) verletzen; wo sie Herrschaftsansprüche über Gemeinschaftsräume oder die kritische Infrastruktur der Globalisierung geltend machen oder gar diese angreifen; wo mit anderen Worten Kompromissangebote oder Streitschlichtung vergeblich sind: Da muss Deutschland bereit und imstande sein, zum Schutz dieser Güter, Normen und Gemeinschaftsinteressen im Rahmen völkerrechtsgemäßer kollektiver Maßnahmen auch militärische Gewalt anzuwenden oder zumindest glaubwürdig damit drohen zu können.“ Das ist nicht mehr die Forderung nach „Schutzverantwortung“. Es geht vielmehr um Interessen und Positionsabsicherung durch militärische Drohgebärden und Gewaltmaßnahmen.

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us dieser Studie schöpfen führende Politiker. Bundespräsident Gauck sowie die Bundesminister Steinmeier und von der Leyen erklärten auf der Münchener Sicherheitskonferenz diese außenpolitische „Verantwortung“ Deutschlands für die Welt. Das Mehr an außenpolitischer „Verantwortung“ rechtfertigt danach – angeblich immer äußerstes Mittel – das entsprechende Mehr an militärischem Engagement. Absolut kein Entwurf einer Politik, die mit zivilen Mitteln das Entstehen politischer Krisen zu verhindern sucht und schon gar keine Ideen für Grundlagen und Strukturen einer solchen Politik. 10

Originalton Steinmeier: „Der Einsatz von Militär ist ein äußerstes Mittel. Bei seinem Einsatz bleibt Zurückhaltung geboten. Allerdings darf eine Kultur der Zurückhaltung für Deutschland nicht zu einer Kultur des Heraushaltens werden. (…) Entscheidend ist (...), dass wir (…) darüber nachdenken, wie wir den Instrumentenkasten der Diplomatie ausstatten und für kluge Initiativen nutzbar machen.“

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nd Bundespräsident Gauck: „Deutschland ist überdurchschnittlich globalisiert und es profitiert deshalb überdurchschnittlich von einer offenen Weltordnung – einer Weltordnung, die Deutschland erlaubt, Interessen mit grundlegenden Werten zu verbinden. Aus all dem leitet sich Deutschlands wichtigstes außenpolitisches Interesse im 21. Jahrhundert ab: dieses Ordnungsgefüge, dieses System zu erhalten und zukunftsfähig zu machen. Wir fühlen uns von Freunden umgeben, wissen aber kaum, wie wir umgehen sollen mit diffusen Sicherheitsrisiken wie der Privatisierung von Macht durch Terroristen oder Cyberkriminelle. Wir beschweren uns, zu Recht, wenn Verbündete bei der elektronischen Gefahrenabwehr über das Ziel hinausschießen. Und doch ziehen wir es vor, auf sie angewiesen zu bleiben, und zögern, eigene Fähigkeiten zur Gefahrenabwehr zu verbessern. Aus all dem folgt: Die Beschwörung des Altbekannten wird künftig nicht ausreichen!“ Schließlich von der Leyen: „… Krisen und Konflikte appellieren an unser humanitäres Gewissen, nicht diejenigen im Stich zu lassen, die am meisten leiden. Daher


ist Abwarten keine Option. Wenn wir über die Mittel und Fähigkeiten verfügen, dann haben wir auch eine Verantwortung, uns zu engagieren. Verstehen Sie mich nicht falsch: Dies bedeutet nicht, dass wir dazu tendieren sollten, unser ganzes militärisches Spektrum einzusetzen – auf keinen Fall.“

wir eine Politik erreichen, die Kriegen effektiv vorbeugt, dann müssen auch wir die entsprechenden Interessen, Mittel und Ziele einer verantwortlichen deutschen und europäischen Außenpolitik definieren. Aber der Militarisierung deutscher Außenund Sicherheitspolitik müssen wir uns widersetzen.

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Für eine solche präventive Friedenspolitik gibt es bleibende Bezugspunkte:

er gemeinsame Tenor der Reden liegt in der Forderung, dass Deutschland sich nicht um bewaffnete Konflikte drücken dürfe. Die Androhung des Militärischen ist und bleibt Grundlage der Diplo­ matie. In diesem Sinne forderte Ursula von der Leyen angesichts der Ukrainekrise im SPIEGEL eine stärkere Rolle der NATO: „Jetzt ist für die Bündnispartner an den Außengrenzen wichtig, dass die NATO Präsenz zeigt“, sagte sie und weiß sich mit vielen Stimmen in der EU auf einer Linie. Dazu ist auch der „robuste“ Einsatz zum Schutz der Zerstörung syrischer C-Waffen im Mittelmeer zu rechnen. Flagge zeigen, wie es so heißt. Auch die Friedensbewegung muss sich den aktuellen Ausdrucksformen von Problemen, Konflikten, Herrschaftsverhältnissen und Verhaltensweisen sowie den Werthaltungen analytisch stellen. Wollen

Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik hat sich an den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen, insbesondere Artikel 2, Absatz 4, zur Unterlassung einer „Androhung oder Anwendung von Gewalt“ und dem Friedensgebot des Grundgesetzes zu orientieren.

Einstellung von Rüstungsproduktion und Rüstungsexporten. Als ein weiterer Schritt muss die Entwicklung der Bundeswehr zur Interventionsarmee gestoppt werden: d. h. keine Beschaffung von Kampfdrohnen wie der Reaper aus den USA oder der Heron aus Israel, die, wenn nicht gleich, doch jederzeit zu Kampfdrohnen nachgerüstet werden können.

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o gesehen ordnen sich unsere Aktionen, Kampagnen und Programme ein in die übergeordnete Forderung nach der Schaffung politischer Strukturen einer vorbeugenden Konfliktbearbeitung. Eben: „Sicherheit durch eine strukturelle Friedenspolitik statt ‚Sicherheitspolitik als Risikomanagement‘“.

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eutschland muss die Friedenslogik in ihren Bündnissen engagiert einbringen und sie damit schrittweise „entmilitarisieren“. Das betrifft die NATO aber auch die multilateral agierende EU, der Vorstellungen einer Zivilmacht Europa fehlen. Das bedeutet konkret die Förderung ziviler Kapazitäten sowie die Forderung nach Abrüstung – und hier gerade der Massenvernichtungswaffen, wie der Atomwaffen – und Verminderung bzw. 11

Dr. Jens-Peter Steffen ist Referent für Friedenspolitik bei der IPPNW Deutschland.


FRIEDEN

Matrix of Control Begegnungsfahrt Palästina-Israel von IPPNW und pax christi

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Wasserverbrauchs vollständig von der Gnade der jeweiligen Regierung und der Besatzungsbehörden ab.

ie israelische Siedlung Ma'ale Adumim in der Westbank liegt sieben Kilometer östlich von Jerusalem malerisch auf einem Hügel. An der Einfahrt der Straße in die Stadt mit fast 50.000 Einwohnern, die sich östlich der grünen Linie auf besetztem Gebiet befindet, begrüßt ein grün bepflanztes Blumenrondell den Besucher. Kurz dahinter taucht ein Checkpoint mit israelischen Soldaten auf. Unser Reisebus passiert den Militärposten ungehindert, aber Palästinensern ist der Zutritt ohne spezielle Genehmigung untersagt. Ma'ale Adumim beeindruckt durch grüne Alleen, üppig blühende Parks und Gärten, Spielplätze, saubere Straßen, Straßenlaternen und eine Bibliothek. Es gibt mehrere Schulen, 40 Kindergärten und ein Museum. Vom obersten Punkt der Siedlung schauen wir auf einen künstlich angelegten See.

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n den unter israelischer Militärverwaltung stehenden palästinensischen Stadtvierteln von Jerusalem gibt es im Gegensatz zu Ma'ale Adumim keine Bürgersteige und Straßenlaternen. Die staubigen Wege sind mit Müll gesäumt. Teilweise stehen schwarz verrußte Container am Straßenrand, in denen der Müll verbrannt wird. Eine Müllabfuhr gibt es hier nicht, obwohl die Palästinenser Gemeindeabgaben zahlen müssen, die sogenannte „Arnona“. 70 % der Menschen Ost-Jerusalems leben unterhalb der Armutsgrenze, bei den palästinensischen Kindern in Ost-Jerusalem sind es laut UNO sogar mehr als 80 %. Chaska Katz von ICAHD (The Israeli Committee against House Demolitions), eine in ihrem ehrenamtlichen Engagement beeindruckende Israelin, die uns auf unserer Bus-Tour durch Jerusalem begleitet, erklärt uns anhand von Karten die israelischen Pläne für ein Groß-Jerusalem. Die israelische Regierung will im Osten Jerusalems auf palästinensischem Boden den Bau einer neuen Stadt mit dem vorläufigen Namen E1 vorantreiben. E1 soll eine Verbindung bilden zwischen den Siedlungen Pisgat Seev und Ma'ale Adumim, sodass diese Städte mit Jerusalem zu einem „Groß-Jerusalem“ zusammenwachsen würden. Bei einer Realisierung dieses Bebauungsplans würde zwischen Ramallah und Bethlehem ein Besiedlungsriegel entstehen, was einer Zweiteilung der Westbank gleichkäme. Auf diese Weise wird die Entstehung eines lebensfähigen palästinensischen Staates erheblich erschwert. Die mit der Mauer illegal in die Stadtverwaltung von Jerusalem eingegliederten Gebiete werden für den weiteren Bau israelischer Siedlungen genutzt. Mit dem Bau der Mauer wurden etwa 105.000 Palästinenser, die Inhaber eines Jerusalem-Auf-

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och vor einigen Minuten sind wir mit unserem Bus durch die palästinensischen Siedlungen Jabel Mukaber und Abu Dis gefahren. Der Gegensatz könnte kaum größer sein. Zunächst fallen die großen schwarzen Wasserbehälter auf den palästinensischen Dächern auf. Während die israelischen Siedlungen 24 Stunden täglich Zugang zu Wasser haben, ist der Zugang zu Wasser für die Palästinenser auf ein paar Stunden am Tag begrenzt, im Sommer sogar auf ein paar Stunden in der Woche. Nach Aussage des deutschen Hydrologen Clemens Messerschmid stehen einem Palästinenser durchschnittlich etwa 77 Liter Wasser pro Tag und Person zur Verfügung. Ein israelischer Bürger verfügt im Durchschnitt über 278 Liter pro Person und Tag. Zum Vergleich: Die WHO empfiehlt eine Menge von mindestens 100 Litern. Die Wasserversorgung unterliegt nach den Militärerlassen von 1967 allein der israelischen Militärverwaltung. Selbst in den A-Zonen, die nach dem Oslo-Abkommen unter vollständiger palästinensischer Kontrolle stehen, hängt die Menge des palästinensischen 12


Halper glaubt, dass es Versöhnung nur durch Wiederherstellung von Gerechtigkeit geben kann – eine Gerechtigkeit, die durch gewaltfreie Aktionen und durch das Festhalten an Menschenrechten herbeigeführt werden müsse. Dafür setzen er und die ehrenamtlichen Mitglieder von ICAHD sich bei der Zerstörung palästinensischer Häuser vor Planierraupen und leisten israelischen Soldaten Widerstand.

enthaltstitels sind, geografisch ausgeschlossen. Ihnen wurde de facto das Bleiberecht in Jerusalem entzogen.

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ährend laut ICAHD von 1967 bis 2003 in Jerusalem 90.000 Wohneinheiten für jüdische Siedler geschaffen wurden, wurden palästinensischen Einwohnern im gleichen Zeitraum kaum Baugenehmigungen erteilt. Die wachsende palästinensische Bevölkerung ist so gleichsam genötigt, „illegal“ zu bauen. In der Westbank einschließlich des annektierten Ost-Jerusalems sind Hauszerstörungen durch das israelische Militär an der Tagesordnung. ICAHD schätzt, dass in den besetzten Gebieten seit 1967 ca. 29.000 Häuser von Palästinensern zerstört worden sind. Eine Schätzung, die auf Angaben des israelischen Innenministeriums, UN-Organisationen, der Gemeindeverwaltung Jerusalems, Menschenrechtsgruppen und Beobachtern vor Ort beruht. Allein im Jahr 2013 zerstörte die israelische Regierung 634 Gebäude und machte so 1.033 Palästinenser obdachlos. Die auf den Trümmern ihrer Häuser sitzenden verzweifelten Menschen müssen für den „illegalen Bau“ auch noch eine hohe Strafe zahlen.

An der Begegnungsfahrt Palästina-Israel vom 29. April bis 10. Mai 2014 der deutschen Sektionen von IPPNW und pax christi haben 31 Personen teilgenommen. Eine Dokumentati­ on der Reise wird voraussichtlich ab Juli in der IPPNW-Ge­ schäftsstelle vorliegen und im Internet abrufbar sein. Weitere Informationen über ICAHD unter: http://icahd.de

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er amerikanisch-israelische Friedensaktivist Jeff Halper, Professor für Anthropologie und Mitbegründer von ICAHD bezeichnet das System aus strategisch angelegten Siedlungen, Schnellstraßen nur für Siedler und der Mauer als „Matrix of Control“ (Kontroll- und Herrschaftsmechanismen). Es gebe ein Labyrinth von Gesetzen und Militärverordnungen. Kafkaeske bürokratische Hindernisse erschwerten Planungen jeder Art, wohingegen der Bau von nach internationalem Recht verbotenen Siedlungen kontinuierlich weitergehe. Immer mehr palästinensisches Land werde so enteignet und gehe verloren. Eine angemessene Infrastruktur gäbe es nahezu ausschließlich für Siedlungen, den palästinensischen Dörfern werde sie vorenthalten.

Angelika Wilmen ist Pressesprecherin der IPPNW und nahm an der Reise teil. 13


FRIEDEN

Atomwaffen – ein Bombengeschäft Eine neue Kampagne will die Banken dazu bewegen nicht länger in Atomwaffen zu investieren

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ls Tim Wright von ICAN Australien mich vor zwei Jahren fragte, ob wir in Deutschland an einer Kampagne zur Beendigung von Investitionen in Atomwaffen arbeiten wollten, konnte ich mir nicht vorstellen, dass deutsche Banken in Atomwaffenhersteller investieren. Das war ein Irrtum. Denn mit der ersten Studie 2012 „Don’t Bank on the Bomb“ wurde mir klar: Elf deutsche Finanzinstitute gaben Kredite und Anleihen in Milliardenhöhe. 2013 belegte die zweite Ausgabe der Studie, dass Deutschland immer noch mächtig an der Industrie der Massenvernichtung beteiligt ist: Acht Finanzinstitute finanzieren Mischkonzerne die Atomwaffenkomponenten und -Trägersysteme herstellen mit knapp 7,6 Milliarden Euro.

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ie Träger der neuen Kampagne „Atomwaffen – ein Bombengeschäft“, ICAN Deutschland und „atomwaffenfrei. jetzt“ beschlossen, den anfänglichen Fokus auf die Commerzbank zu legen. Die Commerzbank belegt in der Rangliste zwar erst Platz 2 hinter der Deutschen Bank, aber sie hat im letzten Jahr ihre Investitionen in Atomwaffenhersteller verdreifacht. Aber die Commerzbank schwächelt wirtschaftlich und muss sich daher sehr um ihr Image kümmern. Sie ist aus der Nahrungsmittelspekulation ausgestiegen und investiert nicht in Konzerne, die in die Herstellung von Landminen und Streubomben involviert sind. Daher schätzen wir, dass eine reelle Chance besteht, die Commerzbank auch zu einer Vorreiterrolle in Bezug auf Atomwaffen zu bewegen und so auf andere Finanzinstitute Druck auszuüben. Wir haben von der Landminenkampagne gelernt, dass die Delegitimierung von

Waffen am deutlichsten durch Desinvestition verdeutlicht werden kann. Wenn der Kunde oder Aktionär aktiv eine Investition ablehnt, muss das Finanzinstitut um sein Image bangen. Dies wiederum hat Einfluss auf die Konzerne, die solche Kredite brauchen. Es kommt zur wirtschaftlichen Entscheidung: Lohnt es sich für die Firma weiterhin Atomsprengköpfe, Raketen oder U-Boote herzustellen, oder ist es besser, sich auf andere zivile Sparten zu konzentrieren?

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arüber hinaus kann man das Thema Atomwaffen über die Investitionsfrage in die öffentliche Aufmerksamkeit zurückholen. Bürger und Bürgerinnen begreifen, dass Atomwaffen überhaupt noch hergestellt werden – und dass nicht nur in Indien, Pakistan oder Nordkorea. Kunden eines der betreffenden Finanzunternehmen können außerdem selbst aktiv werden, sie haben einen wichtigen Hebel in der Hand. Also wollen wir die Kunden von Deutscher Bank, Commerzbank, Allianz, BayernLB, Helaba, KfW, Sparkasse und DZ Bank bitten als Erstes ihre Bank anzuschreiben. Tipps für das Verfassen eines solchen Briefs finden sich auf der Webseite der Kampagne. Dort findet man auch die genauen Zahlen, wie viel Geld welche Bank in welche Firma investiert. Erster Erfolg? Die Kampagne wurde am 8. Mai 2014 mit einer Aktion bei der Hauptversammlung der Commerzbank in Frankfurt gestartet. Mit einer Parodie des DFB-Werbespots für die Commerzbank liefen JoggerInnen in grauen Kapuzensweatshirts zur Frankfurter Messehalle 11. Das Transparent mit dem Spruch „Die Bombe an Ihrer Seite“ begrüßte die AktionärInnen, die zur Hauptversammlung eintrafen. Jeder be14

kam einen Kampagnenflyer. Auch auf der Hauptversammlung selbst ging der Protest vor den 3.000 Aktionären weiter, durch einen Gegenantrag der Kritischen Aktionäre sowie eine Rede des jungen ICANCampaigners Martin Hinrichs. Er stellte auch die Frage, warum die Commerzbank ihre Rüstungsrichtlinie bei Streumunition auch auf Mischkonzerne anwendet, bei Atomwaffen aber nicht? Der Vorstandsvorsitzende Martin Blessing antwortete: „Atomwaffen gehören zu den sogenannten kontroversen Waffen, die selbstverständlich in unserer Waffenrichtlinie geregelt sind. Die Commerzbank prüft Transaktionen mit Rüstungsbezug gemäß der Waffenrichtlinie jeweils intensiv und kritisch in einer Einzelfallbetrachtung. Die Commerzbank ist damit eine von wenigen Banken, die diesen sensiblen Bereich vorbildlich geregelt hat.“ Für uns ist diese Antwort widersprüchlich, die Zahlen sagen etwas anderes. Wir haken nach und bleiben dran!

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eiter geht es im September mit einer Aktionswoche gleich nach der Veröffentlichung der dritten Ausgabe der Studie „Don’t Bank on the Bomb“. Wir wollen bundesweit Aktionen vor CommerzbankFilialen durchführen. Wir suchen schon jetzt Gruppen, die eine solche Aktion übernehmen wollen. Transparente stellen wir zur Verfügung! Mehr unter: atombombengeschaeft.de

Xanthe Hall ist Abrüstungsreferentin der IPPNW Deutschland.


Foto: Jens Jeske, 2011

IN MEMORIAM

Die IPPNW trauert um Hans-Peter Dürr Prof. Dr. Dr. hc. Hans-Peter Dürr begleitete und inspirierte die Arbeit der IPPNW seit vielen Jahren Ein Baum, der fällt, macht mehr Lärm, als ein Wald der wächst. Lass uns deshalb dem wachsenden Wald lauschen.“

waren „Peacemaker“ und hatten immense Bedeutung für die sozialen Bewegungen in unserem Land und darüber hinaus. Global denken – vernetzt handeln! Nicht nur in unserem Land, weltweit war Hans-Peter Dürrs Vernetzungsdenken und -wirken einzigartig: mit Ost und West, Nord und Süd, mit Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Politik und Wirtschaft. Diese Vernetzung fand ihren Ausdruck in dem von ihm 1987 gegründeten „Global Challenges Network“. Dürrs Anliegen war dabei, die weltweiten Antworten auf die bedrohlichen Herausforderungen der Gegenwart in einem globalen Netzwerk zu verbinden.

Diese tibetanische Weisheit wurde von Hans-Peter Dürr oft zitiert. Am 18. Mai ist er im Kreis seiner Familie aus dem Leben geschieden. Die Deutsche Sektion der IPPNW trauert um ihr Mitglied des wissenschaftlichen Beirates Prof. Dr. Dr. hc. Hans-Peter Dürr. Die IPPNW war geehrt und bereichert durch seine Mitarbeit. Seiner Frau Sue und seiner ganzen Familie gilt unsere tiefe Anteilnahme.

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ans-Peter war von großer Freundlichkeit und einer ansteckenden Neugierde. Wurde einem die Ehre zu Teil, ihn in seinem Arbeitszimmer im Max-Planck-Institut für Physik im Föhringer Ring 6 aufsuchen zu dürfen, fand man ihn in einem kleinen schlauchartigen Zimmer umgeben von Tausenden Büchern und Schriften. Freundlich zugewandt teilte er sein neues Denken. Aber kein Gespräch über die globalen Herausforderungen, über das, was ihn gerade beschäftigte und das, was er gerade aus den USA oder Fernost mitgebracht hatte, das nicht die Frage enthielt „Und wie geht es der IPPNW?“ und „Wie geht es Dir?“

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eit Bestehen der IPPNW war Hans-Peter Dürr ihr freundschaftlich verbunden. Mit großem Interesse begleitete und inspirierte er unsere Arbeit.

Verantwortung übernehmen, mit wissenschaftlichen Argumenten der Aufrüstung entgegentreten und die Gefahren der Nukleartechnik aufzeigen, Wissen dafür einsetzen, zukunftsfähige Lösungen zum Überleben unseres Planeten zu entwickeln, dafür wurde Hans-Peter Dürr 1987 mit dem Right Livelihood Award, dem alternativen Friedensnobelpreis, ausgezeichnet und in diesem Anliegen trafen sich Hans-Peter Dürr und die IPPNW.

Vielen von uns war Hans-Peter Lehrer, Ratgeber, Vorbild und Mitstreiter. Er begeisterte und ermutigte. Er lud ein zu einem neuen Denken und zu einem anderen Leben. Er hat uns immer wieder aufs neue inspiriert. Er war ein wunderbarer Mensch. Hans-Peter Dürr hat bei vielen Mitgliedern der IPPNW tiefe Spuren hinterlassen. Mit seinem Buch „Warum es ums Ganze geht“ bleibt uns ein großartiges Vermächtnis.

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ls Peter Hauber Hans-Peter Dürr 1985 aus Anlass der Verleihung des Friedensnobelpreises an die IPPNW einlud, den Einführungsvortrag zu einem Benefizkonzert zu halten, bat Dürr das Thema und den Vortragstitel ändern zu dürfen. Er wolle nicht über „die technische Machbarkeit von SDI“ sprechen lies er wissen, ihm liege eine andere Utopie am Herzen: der Frieden. Ist es doch die Machbarkeit des Friedens, von der das Überleben der menschlichen Zivilisation abhänge. Einem friedlichen Miteinander näherzukommen wurde zur gemeinsamen Aufgabe. Auf unseren Kongressen, die sich einer Kultur des Friedens widmeten, begeisterte Hans-Peter Dürr seine Zuhörer, teilte mit uns seine Vision eines neuen Denkens, ermutigte uns „Frieden ist möglich!“ und lud uns ein, „die Kunst des Friedens“ zu erlernen.

Er hat uns gelehrt, wie wir weiter zu arbeiten haben. „Wir dürfen nicht aufgeben und die falschen Weichenstellungen nicht als gegeben und unveränderlich hinnehmen. Alles ist in Bewegung!“ Die Zukunft ist offen, alles ist gestaltbar! Auf der Website von Global Challenges Network war dieses Zitat zu finden: „Wenn ich sterbe, habe ich kein Bewusstsein mehr, aber das, was ich gedacht habe, ist im Hintergrund aufgehoben. Es hat sich mit dem Weltgeist vermengt, hat das Gesamte als Information beeinflusst und steckt darin“.

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n Horst-Eberhard Richter hatte Dürr einen Verbündeten und Vertrauten gefunden. Gemeinsam arbeiteten sie in der von Michael Gorbatschow initiierten „International Foundation for the Survival and the Development of Humanity“ zusammen. Beide

Frank Uhe, IPPNW

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ATOMENERGIE

Stimmen der Opfer von Atomkatastrophen Internationale IPPNW-Tagung zu den Folgen von Atomkatastrophen für Mensch und Umwelt

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er in Japan lebende Dokumentarfilmer Ian Thomas Ash zeigte zur Einführung der Tagung seinen Film „A2-B-C“. Der Titel bezieht sich auf die Einstufung von Kindern und Jugendlichen nach den Resultaten des Schilddrüsenscreenings in der Präfektur Fukushima; die genannten Gruppen umfassen größere Veränderungen der Schilddrüsen bis hin zum Krebs. Ash zeigt das Leben von Kindern aus der Präfektur Fukushima, die mit Personendosimetern und fast ohne Spiel und Bewegung im Freien aufwachsen, und die Sorgen und Probleme ihrer Mütter. Eine Mutter erzählt, dass ihr Kind unmittelbar nach dem Atomunfall zweimal Nasenbluten bis zur Ohnmacht hatte und heute noch zu wenig Leukozyten hat. Eine andere, bei deren Kind der Schilddrüsenultraschall zahllose kleine Knoten zeigte, erfuhr, das seien, „wissenschaftlich keine Knoten“. Sorge um die Zukunft und Auseinandersetzung mit der Bürokratie sind Alltag, Anzeichen von Erschöpfung sind nicht zu übersehen. „Wir müssten mal richtig wütend werden“, ruft eine Frau unter Tränen. Damit schließt der Film. Dr. Mikhail Malko aus Belarus lobt die Dokumentation und merkt an, das im Film beschriebene Nasenbluten sei als erster Grad der Strahlenkrankheit einzustufen.

traten sie sogar die Auffassung, unterhalb von 100 mSv seien Schäden nicht erkennbar. Noch nicht einmal die Pädiatrische Gesellschaft Japans erlaubte sich Zweifel. Die Japanese Society of Public Health verstieg sich gar zu der Aussage, das größte Gesundheitsrisiko sei die Angst vor Strahlung.

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eith Baverstock (Strahlenbiologe, ehemals WHO, jetzt Universität von Finnland) unterstrich in seinem Vortrag das Versagen sowohl der WHO als auch der IAEA bei der Bewältigung der Katastrophe von Fukushima. Eine Arbeitsgruppe der WHOEuropa habe sich 1990 mit den psychosozialen Belastungen nach einer Atomkatastrophe befasst. Diese seien ein nicht zu unterschätzendes Gesundheitsrisiko – nicht zuletzt deshalb, weil das Vertrauen in Behörden und andere Autoritäten im Gesundheitswesen verloren gehe. Die psychosozialen Belastungen seien real. Sie hätten nichts mit der sogenannten Radiophobie zu tun. Baverstock gab auch seiner Sorge Ausdruck, dass die Diskussion um die gesundheitlichen Folgen von Atomkatastrophen von der Propaganda der Nuklearindustrie und der etablierten akademischen Welt vereinnahmt werde. In der Tendenz sei das auch in anderen Feldern der öffentlichen Gesundheit zu sehen, so sei etwa bei der evidenzbasierten Medizin mittlerweile die „Evidenz“ im Begriff, von der Pharmaindustrie gekapert zu werden.

Aus dem „unsystematischen Überblick über die Risiken ionisierender Strahlung“ von Wolfgang Hoffmann (Universität Greifswald) bleibt festzuhalten, dass auch die sogenannte Hintergrundstrahlung bei Kindern Leukämien induziert. Die Befunde aus unterschiedlichen Settings (Deutschland, Schweiz, Frankreich) zeigten das gleiche Risiko. Alle Leukämien seien durch niedrige Strahlendosen induzierbar, was bei Röntgen und CT zu bedenken sei. Die These, unterhalb von 100 mSv seien keine Schäden zu erkennen, bezeichnete Hoffmann als „infame Lüge“. Hier würden Ergebnisse ignoriert, die seit 40 Jahren vorlägen. Warnungen vor Schädigungen des Erbguts gab es schon 1955, wie Prof. Inge Schmitz-Feuerhake in ihrem Beitrag zu den genetischen Folgen ionisierender Strahlung feststellte. Schmitz-Feuerhake diskutierte verschiedene Studien zu angeborenen Fehlbildungen und zu Erkrankungen von Kindern strahlenbelasteter Eltern.

Katsumi Furitsu (Genetikerin und Strahlenbiologin, Medizinische Hochschule Hyogo) wies darauf hin, dass die in Japan zu lösenden Probleme eher politischer und ökonomischer als wissenschaftlicher Natur seien. Sie sprach die prekäre Lage der Evakuierten und den ungenügenden Gesundheitsschutz der Aufräumarbeiter im AKW Fukushima Dai’ichi an. Sorgen machten ihr neue Schulbücher in Japan, in denen die Gefährlichkeit der Radioaktivität verharmlost werde. Das Agieren und die Verlautbarungen der japanischen Regierung und der internationalen pro-nuklearen Organisationen (ICRP, IAEA, UNSCEAR, WHO usw.) sowie deren Zusammenspiel hält die Ärztin für verbrecherisch.

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or die Frage, ob sie flüchten oder bleiben sollte, sah sich die Allgemeinmedizinerin Kaoru Konta aus der Kleinstadt Inawashiro, Präfektur Fukushima, im März 2011 gestellt. Ihre Kinder schickte sie weg, sie selbst blieb, denn ihre Heimatstadt hatte sich über Nacht um 3.000 Evakuierte aus Nami’e-machi (südlich des AKW, heute Verbotszone) vergrößert. Es gab in der ersten Zeit

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r. Norio Iri’e (Nara, Japan) hatte die Einschätzungen von acht hochrangigen japanischen Institutionen und wissenschaftlichen Gesellschaften zu den gesundheitlichen Auswirkungen der Nuklearkatastrophe zusammengestellt. Sie alle pflichteten den Thesen von japanischer Regierung und IAEA bei, zum Teil ver16


Foto: Ian Thomas Ash, documentingian.com

Foto: www.stephan-roehl.de

reproduktiven Alter und Schwangeren ergaben, dass fast 45 % an Schilddrüsenstörungen leiden, die gerade noch nicht als Unterfunktion zu bezeichnen sind.

leergekaufte Geschäfte und aufgrund der Stromsperren und der erdbebenzerstörten Straßen erhebliche Versorgungsschwierigkeiten. In ihrer Praxis hatte sie nun zeitweise 200 Patienten am Tag, darunter auch Strahlenbelastete und Dekontaminationsarbeiter. Dr. Konta bestätigte, dass das Ergebnis der Schilddrüsenuntersuchungen mit den Eltern der Kinder nicht diskutiert werden darf. Bei Kindern steige das Übergewicht stark an. Allgemein nähmen Herzkrankheiten als Todesursache zu.

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samu Takamatsu (Leiter einer Kinderklinik in Osaka) stellte die Befunde des Schilddrüsenscreenings der Präfektur Fukushima vor. Die offizielle Argumentation sei, dass die bisher gefundenen Krebs- und Krebsverdachtsfälle nicht im Zusammenhang mit dem AKW-Unfall zu sehen seien. Sie wären ohnehin aufgetreten, und seien durch die Qualität der Ultraschallgeräte und die große Menge der Untersuchten nur früh entdeckt worden. Nach amtlicher Lesart seien die gewonnenen Daten als Grundlinie für die weitere Forschung zu sehen. Dr. Takamatsu stellte dem die bisherige japanische Schilddrüsenkrebsinzidenz von 0,5/100.000 bei 15-19-jährigen und von 1,1/100.000 bei 15-24-jährigen im Zeitraum von 1975-2008 gegenüber und zeigte auch regionale Ballungen und den Vergleich zu den hoch belasteten Gebieten um Tschernobyl. Screening-Effekte seien zwar nicht auszuschließen, aber man könne von einem realen Ausbruch von Schilddrüsenkrebs in der Präfektur Fukushima sprechen.

Dr. Yasuyuki Tane’ichi aus Koriyama schloss seine orthopädische Praxis bei 0,7 μSv/Stunde und „einer Bodenbelastung wie in der Evakuierungszone“. Etwa 200 Ärzte hätten die Präfektur verlassen. Das Universitätskrankenhaus der Medizinischen Hochschule Fukushima solle bis 2015 um 330 Betten vergrößert werden. Vizepräsident der Hochschule ist Yamashita Shun’ichi, vormals Leiter des Gesundheitsmanagements der Präfektur Fukushima nach der Katastrophe. Die Aufstockung der Bettenzahl um über 40 % sei bemerkenswert, weil Yamashita 2011 vor Ärzten verschiedentlich vorgetragen hatte, dass keine oder nur geringe Auswirkungen der Strahlung zu erwarten seien. Die ärztlichen Untersuchungen, wie etwa das Schilddrüsenscreening, seien nur für unter 18-jährige, die als Bürger der Präfektur registriert sind, kostenlos. Gerade diese kostenlosen Untersuchungen würden jetzt als Druckmittel verwendet, um die Strahlenflüchtlinge zur Rückkehr in kontaminierte Gebiete zu bewegen.

Katsuma Yakasaki (Physiker, Ryukyu Universität, Japan) sprach in seinem Beitrag von einer „täterorientierten Wissenschaft“, die es zu überwinden gelte. Die oft festgestellten zu niedrigen Dosisanzeigen der amtlichen Messpunkte in der Präfektur Fukushima hänge mit deren Kalibrierung auf 90 % der Effektivdosis zusammen, außerdem seien Metallteile so angebracht, dass sie insbesondere das Cäsium reflektierten und damit den Messwert verfälschten. Die mit über 1 mSv/Jahr kontaminierte Landfläche schätzt Yakasaki auf genauso groß oder sogar größer als nach Tschernobyl. Die amtliche japanische Dosisabschätzung berücksichtige nur 40 % der Luftdosis, man gehe dabei davon aus, dass die Menschen sich 16 Stunden/Tag nicht im Freien aufhielten.

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arisa Danilova (Belorussische Akademie für ärztliche Weiterbildung) gab einen Überblick über die Schilddrüsenerkrankungen auf dem Gebiet der Republik Belarus nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl. Zwischen 1986 und 1989 fanden die ersten Schilddrüsenscreenings in den Bezirken Mogil’ev und Gomel’ statt, die jedoch unter Ausrüstungsmangel litten. Groß angelegte Studien mit internationaler Beteiligung scheint es erst ab 1990 gegeben zu haben. Danilova präsentiert eine Fülle von Daten zum Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Erwachsenen. Daneben gibt sie Informationen zu anderen Erkrankungen wie angeborener Schilddrüsenunterfunktion, autoimmuner Schilddrüsenentzündung, Knoten und Kropf. Bei Knoten ist das Malignitätsrisiko nach Danilova erhöht bei Strahlenexposition, Bestrahlung von Kopf und Hals in der Vergangenheit sowie in sehr jungem oder in fortgeschrittenem Alter. Chronische Tonsilitis ist ebenfalls weit verbreitet. Klinische Untersuchungen an Frauen im

Der vollständige Tagungsbericht kann abgerufen werden unter www.strahlentelex.de/Stx_14_654-655_S04-07.pdf Die Dokumentation der Tagung ist zu finden unter: www.tschernobylkongress.de/dokumentation-arnoldshain Annette Hack ist Diplom-Übersetzerin und Japanologin. 17


Foto: bby, creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0

ATOMENERGIE

Blickkontakt mit der Blattwanze Beobachtungen der Tierwelt in den verstrahlten Zonen um Tschernobyl und Fukushima In Arnoldshain saßen einige TagungsteilnehmerInnen abends bei einem Glas Wein und unterhielten sich. Timothy Mousseau und Cornelia Hesse-Honegger kamen dazu. Sie tauschten sich untereinander über ihre Arbeitsmethoden aus, sie beantworteten bereitwillig und humorvoll meine Fragen. So ging es z. B. darum, wie sie die zu untersuchenden Tiere fangen, wie der Untersuchungsablauf aussieht, was am Ende mit den Tieren geschieht.

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s wurde deutlich, dass beide trotz aller wissenschaftlichen Genauigkeit den Tieren mit Respekt gegenübertreten, sie nicht als Objekte, sondern als Mitbewohner unseres Planeten betrachten, dass sie versuchen, Schmerzen zu vermeiden und dass sie die Tiere in aller Regel nach der Untersuchung wieder freilassen. Ich musste an Albert Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben“ denken.

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ie reagieren Insekten, Vögel, kleine Säugetiere, Pflanzen auf erhöhte Radioaktivität? Der Biologe Timothy A. Mousseau von der University of South Carolina in Columbia, USA, hat mit seinem dänischen Kollegen Anders P. Møller und weiteren MitarbeiterInnen seit 2000 die Tierwelt rund um Tschernobyl untersucht. Seit 2011 hat das Team zehn Forschungsreisen nach Fukushima unternommen.

Bei der Frage, wie die Forscher Vögel und Insekten fangen, berichtete Cornelia Hesse-Honegger, dass sie aus Erfahrung weiß, zu welcher Tageszeit sich Blattwanzen an welchen Stellen der bevorzugten Pflanzen aufhalten. Sobald sie aus einer Entfernung von ca. 150 cm eine Wanze entdeckt hat, schaut sie zur Seite und summt zur Ablenkung ein Lied. Bei direktem Blickkontakt lässt sich nämlich die Blattwanze sofort fallen und ist dann wegen ihrer perfekten Tarnung am Boden nicht mehr zu finden. Nur aus dem Augenwinkel in Richtung Wanze schauend nähert sich die Sammlerin dann und schüttelt das Insekt von der Wirtspflanze herunter in eine Schale. Also: Der Blickkontakt mit der Blattwanze ist zu vermeiden!

Über die wichtigsten Befunde berichtete Mousseau auf der Internationalen Tagung zu den Folgen von Atomkatastrophen für Mensch und Umwelt in Arnoldshain: Sowohl die absolute Zahl der Vögel und Insekten (abundance) als auch die Artenvielfalt (biodiversity) geht in Relation zum Grad der am jeweiligen Fundort gemessenen Radioaktivität zurück. Ferner fanden die Forscher Farb- und Formvarianten, Fehlbildungen, Unfruchtbarkeit, bei Vögeln auch Katarakte und Krebsgeschwulste sowie Minderung der Lebensdauer. In der Umgebung von Tschernobyl sind viele Arten bereits ausgestorben. Mousseau erwähnte auch die Behauptungen der IAEO, in den menschenleeren Sperrzonen würde die Tierwelt prächtig gedeihen. Seit 2006 seien im Fernsehen mehrfach entsprechende Filme gezeigt worden. Der Biologe sagte, es gäbe keine einzige wissenschaftliche Arbeit, auf die sich die IAEO berufen könne. Behauptungen und Filme seien nichts anderes als Propaganda der Atomindustrie.

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imothy Mousseau bestätigte diese Beobachtung; er geht aber anders vor; sein Team muss schnellstmöglich viele Vögel bzw. Insekten fangen, um nicht zu lange im hoch verstrahlten Gebiet bleiben zu müssen. Das zehnköpfige Team verwendet Netze. In der Fukushima-Sperrzone ist es kaum möglich, wenig belastete „Cold Spots“ für die Kontrolluntersuchungen zu finden. Zu große Entfernung des Kontrollgebiets ist wegen anderer Biotop-Bedingungen aber auch nicht ideal. Im Gespräch erfuhren wir weiter, dass gefangene Vögel genau untersucht, gemessen und gewogen werden; ein spezielles Strahlenmessgerät stellt die radioaktive Belastung der Tiere fest. Timothy erklärte auch, wie man bei kleinen Vögeln ein paar Tropfen Blut oder, bei den Männchen, etwas Samenflüssigkeit gewinnen kann. Wenn alle Daten und Proben gesammelt sind und dazu noch die Radioaktivität am Fundort gemessen und notiert wurde, dürfen die Vögel wieder davonfliegen – in eine allerdings tödlich belastete „Freiheit“.

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ornelia Hesse-Honegger, Wissenschaftszeichnerin aus der Schweiz, berichtete über ihre Studien an Blattwanzen (Heteroptera), die sie im Süden Weißrusslands, aber auch in der Umgebung von Atomkraftwerken in der Schweiz und in Deutschland, ferner in der Nähe der Wiederaufarbeitungsanlagen in Sellafield (GB) und La Hague (F) sowie der Atomfabrik Hanford (USA) gesammelt hat. Je nach Radioaktivitätsgrad fand sie bei bis zu 30 % der Blattwanzen Asymmetrien, Farbveränderungen, Fehlbildungen der Fühler, Beine, Füße, des Brustkorbs und des Bauches, der Flügel und Augen. Sie hat die z. T. nur zwei bis drei Millimeter großen Insekten mit ihren Auffälligkeiten detailgenau gezeichnet. Die spontane Mutationsrate liegt bei einem Prozent, in den intakten Referenzbiotopen in Ghana und Costa Rica gab es überhaupt keine Fehlbildungen.

Dr. Winfrid Eisenberg ist Arzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin. 18


Historisierung der Tschernobylkatastrophe Ein Besuch in dem Land, das am stärksten durch die Tschernobylkatastrophe kontaminiert wurde

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m Februar dieses Jahres fuhr eine Gruppe von acht ärztlichen Kollegen und Anti-AKW-Aktivisten aus Japan und sieben IPPNWlerinnen aus Deutschland gemeinsam nach Belarus (Weißrussland). Die Reise war von Dörte Siedentopf und Angelika Claußen (IPPNW) in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Kirche Hessen und Nassau vorbereitet worden. Ziel war, eine Begegnung zwischen belarussischen und japanischen Ärzten zu ermöglichen, um sich über die gesundheitlichen Auswirkungen von Tschernobyl und Fukushima auszutauschen. In Belarus wird von öffentlicher Seite seit dem 20. Jahrestag des Super-GAUs konsequent die Historisierung der Tschernobylkatastrophe betrieben, und die gesundheitlichen Folgen verschwiegen oder kleingeredet. Es wurden Denkmäler in den betroffenen Gebieten errichtet und in den Schulen wird die Katastrophe inzwischen museal dargestellt.

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elarussischen Wissenschaftlern ist es kaum möglich, zu internationalen Tagungen ins Ausland zu reisen. Während japanische Ärzte in Minsk an Fortbildungskursen für Ultraschalluntersuchungen der Schilddrüse teilnehmen, durfte z. B. der Direktor der Klinik Juri Demidchik Japan nicht besuchen. Auf unserer Konferenz in Minsk sprach er über Schilddrüsenkrebs bei Kindern. Bis heute ist die Häufigkeit von Schilddrüsenkarzinomen deutlich höher als vor 1986, was vermutlich auf die immer noch vorhandene Cäsium-Belastung zurückzuführen ist. Außerdem beschrieb er die hohe Selbstmordrate bei jugendlichen Erkrankten.

In Gomel haben wir das „Research Center for Radiation Medicine and Human Ecology“ besucht. Ein Krankenhaus mit ca. 300 Betten und einer großen Poliklinik. Bisher wurden dort die 140.000 belarussischen Liquidatoren kostenlos untersucht und betreut. Die Gesamtzahl der für die Folgen von Tschernobyl eingesetzten Liquidatoren betrug 830.000. Von den 140.000 Liquidatoren sind jetzt noch 60.000 dezentral in den Gebietskrankenhäusern registriert. Viele sind bereits verstorben, wobei eine Zunahme von strahlenbedingten Herz-Kreislauferkrankungen eine Rolle spielt. Die Lebenserwartung liegt zwischen nur 50 und 60 Jahren.

Olga Aleinikowa bestätigte in ihrem Referat eine erhöhte Leukämierate bei Kindern unter einem Jahr, in den ersten Jahren nach der Katastrophe. Sie ist Direktorin des „Belarus Research Center for Pediatric Onkology, Hemotology and Immunology“. Wir haben dieses moderne Krankenhaus außerhalb von Minsk besichtigt, das von Gruppen aus Österreich und Deutschland unterstützt wird. Die Klinik ist gut ausgestattet und hat auf uns einen ausgezeichneten Eindruck gemacht. Es wird dort nicht nur Patientenversorgung durchgeführt, sondern auch wissenschaftlich gearbeitet. Elternbetreuung ist hier selbstverständlich und für Kinder, die länger in der Klinik bleiben, gibt es schulischen Unterricht.

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elarus ist ein sehr armes Land. Die wirtschaftlichen Verluste durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl werden von belarussischen Experten auf 235 Milliarden US-Dollar geschätzt. Es ist für uns unverständlich, dass dieses so sehr von der Reaktorkatastrophe betroffene Land, jetzt im Norden an der Grenze zu Litauen mit Hilfe von Russland sein erstes Atomkraftwerk errichten will.

Alexander Mechlaew, Mitarbeiter des privaten BELRAD-Institutes, beschrieb erste Ergebnisse von Strontium-90 Messungen, die er in Kartoffeln, Getreide (Brot) und Pilzen gefunden hatte. Unabhängig von der Strontium-90-Halbwertzeit findet sich trotzdem eine gleichbleibende Anreicherung, besonders in Kartoffeln.

Dr. Barbara Hövener und Dr. Dörte Siedentopf sind Mitglieder des Vorstandes der deutschen Sektion der IPPNW.

Angelika Claußen referierte zu den gesundheitlichen Gefahren der Niedrigstrahlung, Alfred Körblein u. a. zur Kindersterblichkeit nach Fukushima. Die japanischen Teilnehmer berichteten von der gesundheitlichen, sozialen und politischen Situation in ihrem Land. Es gibt dort Anti-AKW-Gruppen, die aber jede für sich statt zusammenarbeiten. Die japanische IPPNW-Sektion ist noch nicht bereit, sich mit den Gefahren der zivilen Atomenergienutzung auseinanderzusetzen, im Fokus stehen dort die Atomwaffen. 19


UKRAINEKRISE

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er „March of Peace“ am 15. März 2014 in Moskau. Tausende Menschen demon­ strierten hier für Kooperation und Frieden, statt Konfron­ tation und militärischer Intervention im Konflikt mit der Ukraine.


Kooperation statt Konfrontation Die Nachwirkungen der Maidan-Proteste in der Ukraine stellen das Land vor eine Zerreißprobe

„KEIN KRIEG“ MOSKAU, RUSSLAND

„KEIN KRIEG!“ LUGANSK, UKRAINE

„UKRAINE, FRIEDEN“ ST. PETERSBURG, RUSSLAND 21

Foto: © Vadim Lurie, n-ost

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ie Situation in und um die Ukraine ist unübersichtlich, Interessenlagen, Gruppierungen, Hintermänner sind schwer durchschaubar, die westliche Berichterstattung ist teilweise tendenziös. Es ist nicht einfach, sich aus der Ferne ein Bild von der Lage zu machen, die Entwicklung scheint immer bedrohlicher zu werden. Die Medien sind voll von Bildern gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen den sogenannten „Pro-Russischen“-Separatisten und Ukrainern. Jedoch gibt es auch eine andere Seite: So gingen in Moskau am 15. März rund 30.000 Menschen beim „March of Peace“ auf die Straße. Sie trugen russische und ukrainische Fahnen und wendeten sich gegen eine militärische Intervention Russlands auf der Krim. Auch in Sankt Petersburg fand am 1. Mai eine Antikriegskundgebung statt. Die Teilnehmer demonstrierten auf einem Marsch durch das Zentrum für Frieden und Freundschaft mit der Ukraine, für eine Annäherung Russlands an die EU und für mehr Demokratie. Im ostukrainischen Lugansk demonstrierten im April Tausende StudentInnen, UniversitätsmitarbeiterInnen und Lehrkräfte für eine vereinte Ukraine und eine friedliche Lösung der Konflikte.


UKRAINEKRISE

Roter Faden durch den ukrainischen Dschungel Der Publizist Kai Ehlers über die Hintergründe der Maidan-Bewegung(en)

Warum gerade die Ukraine?

und wird ihn vermutlich auch weiterhin bündeln, wenn die neue Regierung die neo-liberale Auflösung sozialistischer Strukturen in Zukunft noch beschleunigen will. Damit stehen die Maidan-Proteste in einer Reihe mit ähnlichen Unruhen an vielen anderen Orten der Welt, die sich gegen Ausbeutung und Nivellierung im Zuge der heutigen neo-liberalen Globalisierung wenden.

Auch ein halbes Jahr nach Beginn des Aufruhrs ist die Ukraine ein schönes, mit Naturschätzen gesegnetes, von seinen Möglichkeiten her reiches Land, geografisch, ethnisch, kulturell und politisch vielgestaltig, ein Durchzugsgebiet der Völker und Kulturen seit Beginn der europäischen Siedlungsgeschichte. Die Vielgestaltigkeit der Ukraine ist ihre Potenz, als Zerrissenheit, die nach Identität schreit, ist sie zugleich ihr Problem.

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nübersehbar ist aber auch die Spaltung des Maidan: Aus der allgemeinen sozialen Protestmasse des Maidan ging der „Rechte Sektor“ als radikaler, nationalistischer bewaffneter Arm des Maidan hervor. Im Gegenzug entstanden erste Elemente des „Anti-Maidan“, anfangs noch durch die Regierung Janukowytschs organisiert. In dem Zuge, in dem der „Rechte Sektor“ nach Eintritt einiger seiner Führungsfiguren in die Kiewer Übergangsregierung landesweit für die Fortführung der „nationalen Revolution“ mobilisierte, erweiterte sich der „Anti-Maidan“ zu einer dem Kiewer anti-russischen Nationalismus entgegengesetzten pro-russischen Bewegung, die ihrerseits gewaltbereite Nationalisten hervorbrachte.

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alten wir fest: In der Ukraine laufen die zentralen sozialen, nationalen und geopolitischen Transformationslinien der Gegenwart auf einem exemplarischen Problemfeld zusammen:

»» Sozial geht es um die Suche nach einer neuen Ordnung unter dem Druck des nachsowjetischen Traumas, das sich zugleich untrennbar mit anti-russischen Ressentiments verbindet. »» National geht es um den Konflikt zwischen nachholender Nationenbildung und in die Zukunft weisender föderaler Regionalisierung. »» Geopolitisch geht es um den Übergang von einer unipolaren in eine multipolare Ordnung.

Als „Euro-Maidan“ und „Anti-Maidan“ stehen sich beide Bewegungen inzwischen gegenüber. Dabei sind gerade die radikalsten „Euro-Maidaner“ keineswegs Freunde des Westens, im Gegenteil, als Nationalisten, die für eine Ukrainisierung der Ukraine eintreten, sind sie nicht nur radikale Gegner Russlands, sondern im Kern auch des europäischen Liberalismus und Föderalismus. Ihre Orientierung auf Europa entspringt blankem Opportunismus.

Man lese für das grundlegende Verständnis dieser Situation die Bücher des US-Ideologen Zbigniew Brzezinski, der die Ukraine seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 als „Filetstück“ bezeichnet, welches derjenige sich einverleiben müsse, der die Herrschaft über Russland, von da aus über Eurasien und auf diesem Wege über den Globus erreichen – oder wie Brzezinski es neuerdings formuliert – behalten und verteidigen wolle. Hintergrund für diese aktuelle kleine Wende Brzezinskis ist der von ihm konstatierte Niedergang der US-amerikanischen Vormacht in einer Welt des von ihm als Gefahr für den Weltfrieden eingestuften „political awakening of people“ und des Auftauchens neuer globaler „Player“ in Asien, China, Indien und anderswo. Russland und Brasilien gehören dazu – die B.R.I.C-Staaten.

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ie „Anti-Maidaner“ andererseits sind in der Mehrheit keineswegs vor allem Gegner Europas und keineswegs sind alle dafür sich Russland anzuschließen; vielmehr stehen viele von ihnen mit ihren Forderungen nach regionaler Autonomie und föderaler Gliederung des Landes europäischem Gedankengut weitaus näher als die zentralistisch denkenden rechten „Euro-Maidaner“. Anti-europäisch ist nur eine Minderheit extremer, russisch orientierter oder gar aus Russland zur „Bruderhilfe“ über die offenen Grenzen diffundierter russischer Nationalisten, von denen es in Russland nicht wenige gibt.

Der gespaltene Maidan

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n der „Maidan-Revolution“ fließen diese drei Elemente in widersprüchlicher, aber die bestehenden Verhältnisse grundsätzlich herausfordernder Weise zusammen.

nzwischen sind die rechten Maidan-Nationalisten, legalisiert durch ihre Regierungsbeteiligung als paramilitärische Truppe, zur Durchsetzung der „Nationalen Revolution“ an der Seite der von der Übergangsregierung neu geschaffenen „Nationalgarde“ und des ukrainischen Heeres zu „antiterroristischen Aktionen“ ins Land ausgeschwärmt. Die extremen pro-russischen Nationalisten ihrerseits sind bereit, ihnen militärisch zu begegnen. Gemä-

Ist der Maidan eine fortschrittliche demokratische Bewegung? Antwort: Ja – und nein. Die Bewegung des Maidan hat den sozialen Protest gegen die Ergebnisse der Rückverwandlung der sowjetsozialistischen Sozialordnung in eine privatkapitalistische oligarchische Willkürherrschaft in radikaler Weise gebündelt – 22


ßigte örtliche Bevölkerung, die sich von Kiew nicht vertreten sieht, die im Grunde soziale Forderungen nach Entoligarchisierung, nach sozialer und politischer Selbstbestimmung vertritt, Grundforderungen, wie sie anfangs auch den Kiewer Maidan motivierten, wird in diesen Wirbel mit hineingerissen. Die Folgen dieser Konstellation konnten in Odessa, Slawjansk, Charkow und anderen Orte des Südens und Ostens beobachtet werden, wo beide Seiten aufeinanderprallen.

heit nicht erfolgt, jedenfalls nicht in dieser Form und nicht in zu den für Russland hohen politischen und ökonomischen Kosten, wenn der Kreml sich angesichts des Umsturzes in der Ukraine nicht zu diesem Schritt als Präventivmaßnahme zur Sicherung der Schwarzmeerflotte veranlasst oder gar gezwungen gesehen hätte.

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uch die Eurasische Union, vom Westen lange belächelt, nun plötzlich als aggressive Konkurrenz wahrgenommen, ist vonseiten Kasachstans, Russlands und Weißrusslands nicht als Verdrängungsprojekt gegenüber der EU projektiert, sondern als tendenzieller Kooperationspartner in einem sich zwischen den Polen China und Europa plural neu ordnenden Eurasien als Teil einer multipolar gedachten Weltordnung.

In Odessa führte das zu einem Pogrom, in dessen Verlauf ein Pro-Kiewer Mob seine „Gegner“, die sich in die dortige Gewerkschaftszentrale geflüchtet hatten, einschloss und bei lebendigem Leibe verbrannte.

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ie Kiewer Übergangsregierung beabsichtigte offenbar, die sozialen Konflikte ins nationalistische Fahrwasser abzulenken, um sie so als „separatistisch“, „pro-russisch“, „landesverräterisch“, „terroristisch“ u. ä. zu denunzieren und mit diesen Begründungen unterdrücken zu können.

Russlands Haltung Ob Russland bereit ist, sich in die Ereignisse in der Ukraine militärisch einzumischen, muss sich zeigen. Zu hoffen ist, dass die russische Führung sich nicht dazu hinreißen lässt. Mit der Einverleibung der Krim hat die russische Regierung bereits ein unmissverständliches Zeichen gesetzt, dass sie eine weitere Ausdehnung von NATO und EU nach Osten nicht hinzunehmen bereit ist. Russlands Haltung ist jedoch, allen Behauptungen der westlichen Propaganda zum Trotz, in ihrer Grundlinie defensiv. Die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation wäre mit Sicher-

Kai Ehlers ist Publizist. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt auf den Veränderungen im nachsowjetischen Raum und deren lokalen wie globalen Folgen. www.kai-ehlers.de 23


UKRAINEKRISE

Assoziationsabkommen und EU-Expansionspolitik Die Rolle der EU im Eskalationsprozess in der Ukraine

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erade weil die Ukraine immer tiefer in Chaos und Bürgerkrieg versinkt, ist es dringend erforderlich, sich der Dynamiken zu vergewissern, die zu dieser Katastrophe geführt haben. Während dabei hierzulande ausführlich – und teils ja durchaus zurecht – die problematische russische Rolle auf Schärfste verurteilt wird, unterbleibt gleichzeitig jedoch systematisch jegliche kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung. Da die Eskalationsspirale mit der Entscheidung des damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch in Gang kam, im November 2013 die Verhandlungen um das Assoziationsabkommen mit der Europäischen Union auf Eis zu legen, soll im Folgenden ein kritischer Blick auf dieses Vertragswerk als ein Schlüsselinstrument europäischer Expansionsbestrebungen geworfen werden.

Imperialer Nachbarschaftsraum Was den Sinn und Zweck der Europäischen Union anbelangt, verabschiedet man sich in der politischen Elite allmählich von sämtlichen Sentimentalitäten. So äußerte sich etwa der ehemalige britische Premier Tony Blair folgendermaßen: „Für Europa ist es wesentlich, dass es versteht, dass die einzige Möglichkeit, um Unterstützung für Europa zu erhalten, heute nicht auf einer Art Nachkriegssicht basieren kann, dass die EU notwendig für den Frieden ist. […] Die Existenzberechtigung Europas basiert heute auf Macht, nicht auf Frieden. […] In einer Welt, in der vor allem China dabei ist, zur dominierenden Macht des 21. Jahrhunderts zu werden, ist es für Europa vernünftig, sich zusammenzuschließen, um sein kollektives Gewicht zu nutzen, um globalen Einfluss zu erlangen.“ Um aber als veritable Globalmacht auf gleicher Augenhöhe mit Ländern wie China um Macht und Einfluss ringen zu können, ist aus Sicht der politischen Eliten die Kontrolle des europäischen Nachbarschaftsraums zwingend erforderlich. Exemplarisch formulierte dies der polnische

Außenminister Radek Sikorski folgendermaßen: „Wenn die EU eine Supermacht werden will – und Polen befürwortet dies –, dann benötigt sie die Kapazitäten, um Einfluss in der Nachbarschaft ausüben zu können.“

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u diesem Zweck wurde im Jahr 2003 mit der Kommissionsmitteilung „Größeres Europa“ die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) auf den Weg gebracht, die offiziell ein Jahr später ins Leben gerufen wurde. Sie erstreckt sich derzeit auf 15 Länder südlich und östlich der Europäischen Union und definiert damit ein Einfluss- und Interventionsgebiet, eine Art imperialen Großraum, wie aus einem zentralen Strategiedokument der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton vom 15. Oktober 2013 hervorgeht: „Die Union muss in der Lage sein als Sicherheitsgarant – mit Partnern so möglich, autonom wenn nötig – in seiner Nachbarschaft entschieden zu handeln, dies schließt direkte Interventionen ein. Strategische Autonomie muss sich zuerst in der Nachbarschaft der Europäischen Union materialisieren.“ Offiziell geht es bei der ENP darum, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft zu fördern, allerdings ohne den Ländern aber eine realistische Beitrittsperspektive zu eröffnen. Faktisch sollen die Nachbarländer jedoch mittels besagter Assoziationsabkommen neoliberal „reformiert“ und als Absatz- und Investitionsgebiete dauerhaft in die EUEinflusssphäre integriert werden: „Die Assoziationsabkommen, welche die EU im postsowjetischen Raum vorantreibt, sind ein Schlüsselelement bei der Ausweitung der EU-Einflusssphäre nach Osten“, urteilt etwa Joachim Becker, Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien.

Neoliberales kommen

Assoziationsab-

Mit der Ukraine führten die jahrelangen Verhandlungen 2012 zu einem unterschriftsreif vorliegenden Dokument, das 24

aus einem knapp 500-seitigen Hauptteil sowie aus etwa 2.000 Seiten Anhängen und Protokollen besteht. Drei Aspekte sind dabei unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten besonders problematisch: Erstens soll innerhalb von 10 Jahren eine Freihandelszone errichtet werden; zweitens sollen hierfür alle Zölle und anderen Maßnahmen zum Schutz der heimischen Wirtschaft fast komplett abgeschafft werden; und drittens wird im Assoziationsabkommen die Einführung gemeinsamer – europäischer wohlgemerkt – Produktions- und Zertifizierungsstandards verbindlich festgeschrieben. Von EU-Seite wird argumentiert, der verschärfte Wettbewerb würde der Ukraine nach dem Abschluss eines Assoziationsabkommens einen regelrechten Wirtschaftsboom bescheren. So prognostiziert EU-Erweiterungskommissar Štefan Füle für diesen Fall eine Verdopplung der ukra­ inischen Exporte in die EU und einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um bis zu 12 Prozent. Demgegenüber wird von russischer Seite richtigerweise argumentiert, die Abschaffung von Schutzzöllen und nicht-tarifären Handelshemmnissen würde die ukrainischen Firmen, die durch die Einführung teurer europäischer Produktstandards und Zertifizierungsprozesse noch zusätzlich belastet würden, der übermächtigen EU-Konkurrenz schutzlos ausliefern. So äußerte sich etwa Sergej Glasjew, Präsident Wladimir Putins Berater für eurasische Integrationsfragen: „Wenn die Ukraine die Vereinbarung über die Assoziation mit der EU unterzeichnet und sich in diese nicht gleichberechtigte Freihandelszone begibt, so wird sie bis 2020 im Wirtschaftswachstum und in der Handelsbilanz ein Minus erhalten. Wir schätzen die Verluste auf etwa minus 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts pro Jahr. Bis 2020 wird eine Verdrängung ukrainischer Waren vom eigenen Markt, begleitet von einem Wirtschaftsrückgang und einer Verringerung der Entwicklungsmöglichkeiten erfolgen.“


ein Assoziationsabkommen mit der Europäischen Union schließt dauerhaft einen Beitritt zur Zollunion, der Russland, Weißrussland, Kasachstan und bald wohl Armenien angehören, kategorisch aus (und umgekehrt).

Foto: © Vadim Lurie, n-ost

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„FRIEDEN, ARBEIT, MAI(DAN)“. EIN WORTSPIEL, WELCHES SICH AUF DIE SOZIALISTISCHE PAROLE „FRIEDEN, ARBEIT, MAI“ BEZIEHT, DIE AN DEN 1.-MAI-KUNDGEBUNGEN IN DER SOWJETUNION SKANDIERT WURDE. ANTI-KRIEGS-KUNDGEBUNG AM 1. MAI 2014 IN ST. PETERSBURG.

Solche Bedenken scheinen auch innerhalb der Janukowytsch-Regierung eine wichtige Rolle gespielt zu haben, weshalb versucht wurde, diverse Schutzoptionen für heimische Unternehmen in das Abkommen hineinzuverhandeln, was von der EU jedoch kategorisch abgelehnt worden war. Als Russland darüber hinaus auch noch beträchtliche Vergünstigungen in Aussicht stellte (einen Preisnachlass auf Gaslieferungen von ca. $3 Mrd. jährlich und den Aufkauf von Staatsanleihen in Höhe von $15 Mrd.), war es vollkommen vernünftig, dass die Janukowytsch-Regierung das Abkommen im November 2013 versenkte. Dies wiederum setzte einen – seitens der

USA und der EU massiv unterstützten – Eskalationsprozess in Gang, der schließlich zur Absetzung von Janukowytsch und der Etablierung einer durch nichts legitimierten Übergangsregierung führte.

Militärisches kommen

er Ukraine kommt hierbei als Land, das aus russischer Sicht als wichtiger Pufferstaat gegen die als feindlich empfundene westliche Expansion empfunden wird, eine zentrale Bedeutung zu. Gerade deshalb dürften angesichts der im Assoziationsabkommen enthaltenen Passagen, über die die Ukraine faktisch in die EU-Militärpolitik integriert wird, in Moskau sämtliche Alarmglocken klingeln. Konkret heißt es: „Die Parteien sollten […] die schrittweise Annäherung im Bereich der Außenund Sicherheitspolitik, einschließlich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) fördern. Vor allem mit Blick auf eine Steigerung der ukrainischen Teilnahme an EU-geführten zivilen und militärischen Krisenmanagementoperationen sowie an den wichtigen Übungen und Manövern, einschließlich denen im Rahmen der GSVP.“ Diese Passage ist im politischen Teil des Assoziationsabkommens enthalten, der von der Putschregierung am 21. März 2014 unterzeichnet wurde – ein deutliches Signal für das Bestreben, sich dauerhaft in der westlichen Einflusssphäre ein- oder besser unterordnen zu wollen.

Assoziationsab-

Das Assoziationsabkommen mit der Ukraine ist aber nicht nur von wirtschaftlicher, sondern noch mehr von geopolitischer Bedeutung. Dies rührt daher, dass es sich hierbei faktisch um eine Entscheidung für den Beitritt zu einem von zwei sich mittlerweile zunehmend feindlich gegenüberstehenden Bündnissen handelt. Denn 25

Jürgen Wagner arbeitet bei der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen und ist Autor der IMI-Studie Ukraine: „Ringen um Machtgeometrie. Neoliberales Assoziationsabkommen und europäisch-russische Machtkonflikte.“


Foto: © Vadim Lurie, n-ost

„KEINE HASSPROPAGANDA“. ANTI-KRIEGS-KUNDGEBUNG AM 1. MAI 2014 IN ST. PETERSBURG.

Die Wahrheit stirbt im Krieg zuerst Deutsche Medien und die Krise in der Ukraine Die Wahrheit stirbt im Krieg zuerst“ – das ist eine empirisch vielfach gesicherte historische Beobachtung. Andreas Buros „Münchhausen“-Projekt liefert uns dazu eine eindrucksvolle Sammlung von Belegen. Die Entwicklungen in der Ukraine mit Putsch und bürgerkriegsartigen Kämpfen – nicht unwesentlich mit angefeuert durch die Bundesregierung, deren EU-Partner und die US-Verbündeten – haben in den hiesigen Mainstream-Medien eine Berichterstattung gefunden, die uns weiteres Material für die Lügensammlung liefert. Glücklicherweise reagiert aber ein aufmerksamer Teil der Öffentlichkeit mit wacher Kritik auf die Desinformation, wie starke Zuschauerreaktionen an die ARDSender zeigen. Hier zwei Beispiele für das Versagen von Informationsmedien: Die angeblichen OSZE-Beobachter, darunter mehrere deutsche Bundeswehrsoldaten in Zivil, waren bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa weder delegiert noch überhaupt bekannt gewesen, sondern das Ergebnis einer Verabredung der Bundesregierung mit dem Kiewer Regime. Sie hielten sich zum Zeitpunkt ihrer Festnahme auch nicht dort auf, wo sie die ukrainischen Truppen direkt hätten beobachten können, sondern in der von diesen belagerten Stadt Slawjansk. Dass die dortigen Kräfte sie als „Spione“ ihrer Gegner ansahen, war unter den gegebenen Umständen wohl kaum anders zu erwarten gewesen – eine Einmischung in den ukrainischen Konflikt, der mit dem aktuellen Mandat der OSZE-Kräfte dort nichts zu tun hatte. Aufklärung in

unseren Mainstream-Medien? Abgesehen von der Kritik des MdB Gauweiler weitgehend Fehlanzeige. w w w.german -fo r eign - p olicy.co m /d e / fulltext/58848

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ravierender noch der Fall des Massakers an mindestens 46 Demonstranten in Odessa, die vor der Gewalt rechtsradikaler Straßenkämpfer in das dortige Gewerkschaftshaus geflohen waren – die faschistischen Kader zündeten das Gebäude durch Molotowcocktails und andere Brandsätze an, und fielen sogar noch über Menschen her, die sich durch Sprung aus den oberen Etagen des Gebäudes zu retten versuchten. Die Verantwortlichen für die pogromartige Ausschreitung waren klar zu identifizieren, aber in unseren Massen-Medien erschien das Ganze nur als schwer zu durchschauende „Tragödie“. h t t p: // b o r o t b a.o r g /n e o - n a z i _ t e r r o r_ in _ o d e s s a - _ m o r e _ t h a n _ 4 0 _ k ill e d - _ hundreds_injured.html www.freitag.de/autoren/ maennlicherlinker/der-medien-gau-vonodessa

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her in den Randzonen unserer Massenmedien erlebt man an der Wahrheitsfindung ernsthaft interessierten Journalismus, etwa im Interview des NDRFernsehens mit der früheren ARD-Korres­ pondentin Gabriele Krone-Schmalz, die ein Mal mehr in hervorragender Weise journalistische Aufklärung betreibt, und das heißt in diesem Fall: die Mechanismen der medialen Desinformation benennt. Für uns als Friedensengagierte besonders wichtig: Sie benennt den §7 des geplanten 26

Assoziierungsabkommens EU-Ukraine, der eine intensivierte militärische Zusammenarbeit zwischen den Vertragspartnern vorsieht – im Mainstream schlicht nicht erwähnt. Ihre Beispiele für die völlig parteiische, propagandistisch-antirussische Diktion der ARD-Kommentatoren und deren Verzicht auf saubere, beide Seiten des Konflikts beleuchtende Recherche sind überzeugend. Es ist wohltuend eine so scharfsinnige und unbestechliche Beobachterin wie Gabriele Krone-Schmalz zu hören, die sich in völlig logischer Weise auch mit dem Schreckgespenst des „Antiamerikanismus“ auseinandersetzt, und feststellt, dass es nichts mit Ressentiments gegen die USA zu tun hat, wenn nach den Kriegen der letzten Jahrzehnte, nach Abu Ghraib und Guantanamo die Werteführerschaft der US-Regierung erheblich an Kraft verloren hat. Mit Recht sorgt sich Krone-Schmalz um die Zukunft der Demokratie, wenn die Medien sich weiter in Richtung von Propaganda-Instrumenten der jeweiligen Machtelite entwickeln. www.ndr.de/fernsehen/sendungen/zapp/ zapp7411.html

Matthias Jochheim ist Arzt für Allgemeinmedizin, Psychotherapeut und ehemaliger Vorsitzender der IPPNW Deutschland.


UKRAINEKRISE

Das Ziel ist Russland, gemeint sind andere Die EU steht vor dem Scherbenhaufen einer ihr aufoktroyierten Politik

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n der Oberfläche erscheint der Konflikt in der Ukraine als ein Konflikt zwischen dem Westen und Russland: Die USA und die EU möchten die Ukraine an die EU heranführen und Russland will dieses Ansinnen auf seine Weise torpedieren. Doch diese Erzählung ist lediglich die halbe Wahrheit. Um die ganze Wahrheit zu erfassen, muss genauer hinter die Logik des nuklearen Abschreckungssystems während des Kalten Krieges geschaut werden. Im Kern beruhte die Abschreckung auf gegenseitiger atomarer Vernichtung. Rein äußerlich hat dieses System zwar einen Atomkrieg verhindert, tatsächlich zementierte es die jeweils innerhalb beider Blöcke nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen ökonomischen, politischen und militärischen Abhängigkeiten von der jeweiligen Hegemonialmacht. So ersichtlich diese Abhängigkeiten im Sowjetblock angesichts sowjetischer Panzer während des DDR-Aufstandes und des Prager Frühlings waren, so verborgen blieben sie im westlichen Block. Hier regierte nicht die nackte Gewalt, sondern ganz marktwirtschaftlich der Tausch Sicherheit für westeuropäische Staaten gegen allerhand ökonomische und politische Zugeständnisse.

ieses Verhalten kann man auch in der auf Europa bezogenen US-Energiestrategie erkennen: Europas Abhängigkeit von russischen Öl- und Gaslieferungen sollte auf ein Minimum reduziert, die Abhängigkeit von den Energielieferungen aus dem unter eigener Kontrolle stehenden Mittleren Osten deutlich erhöht werden. Deshalb wurden die zentralasiatischen Staaten mit beträchtlichen Öl- und Gasvorräten zu Partnern erklärt, die NATO-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt, und in Usbekistan und Aserbaidschan gar US-Militärstützpunkte errichtet. US-Konzerne erhielten den Auftrag, die kostspielige Nabucco-Pipeline von Zentralasien nach Westeuropa zu errichten. Gleichzeitig begann man, die osteuropäischen Staaten an die EU und die NATO „heranzuführen“.

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amit sind wir bei dem aktuellen Konflikt in der Ukraine angelangt. Die für Europa und Eurasien zuständige Abteilungsleiterin des US-Außenministeriums Victoria Nuland brüstete sich am 13. Dezember 2013 vor der „U.S. Ukraine Foundation“, dass die US-Regierung seit 1991 mehr als fünf Mrd. US-Dollar für eine „wohlhabende und demokratische Ukraine“ investiert habe. Mit dieser Unterstützung sollten die Voraussetzungen geschaffen werden, die Ukraine an die EU anzugliedern. Die EU-Politiker waren dumm genug, um den US-Ball aufzunehmen und dieses auf eine tiefe Spaltung zwischen Russland und EU zielende USProjekt voranzutreiben. Nun steht die EU vor einem gefährlichen Scherbenhaufen einer ihr aufoktroyierten Russland- und Ukrainepolitik. Kluge und erfahrene Politiker aus allen politischen Lagern und ganz wenige unvoreingenommene Journalisten warnen inzwischen mehr oder weniger verschlüsselt davor, den egoistischen Interessen der USA auf den Leim zu gehen. Auch weite Teile der Bevölkerung lehnen es ab, sich der pro-atlantischen Propaganda der Mainstream-Medien zu unterwerfen, während Obama, USKongress und Senat nicht aufhören, die EU zu massiven Sanktionen gegen Russland zu drängen. Dabei weiß jeder, dass die Hauptleidtragenden einer Zuspitzung des Ukrainekonflikts nicht die US-Amerikaner, sondern die Europäer wären. Bereits erschienen in: Stern.de vom 07.05.2014

Dazu gehörten die Besetzung aller für die Hegemonialmacht sensiblen Posten bei der Weltbank, der WTO und vor allem der IWF, der Aufkauf umfangreicher US-Dollars als Reservewährung im Rahmen des Bretton-Woods-Systems, damit der US-Dollar seine Position als Weltgeld festigen kann und die Unterordnung unter das amerikanische Ölregime und die Versorgung mit Öl aus Saudi-Arabien, das sich in einem Geheimabkommen verpflichtet hatte, das Öl nur in US-Dollar zu verkaufen. Zu nennen sind auch Versuche, den Euro durch US-Hedgefonds zu schwächen und schließlich die Beteiligung der Europäer an den teilweise völkerrechtswidrigen Kriegen im Balkan, in Afghanistan, Irak, Libyen und im syrischen Bürgerkrieg sowie an der Aufheizung des Atomkonflikts mit dem Iran.

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mmerhin haben die USA es geschafft, trotz sinkender Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaft und der seit 26 Jahren andauernden Handelsbilanzdefizite, den US-Dollar als Leitwährung zu halten und sämtliche Finanzkrisen durchzustehen. Dies erklärt auch, warum sie an einer nuklearen Abrüstung nach dem Zusammenbruch der Blockkonfrontation absolut kein Interesse hatten. Die USA blockierten nicht nur eine weltweite Abrüstung der Nuklearwaffen, sie weigerten sich auch, ihre in Europa stationierten Atomraketen abzuziehen. Mehr noch: Die USA schürten durch ihr Programm von landgestützten Raketenabwehrwaffen für Europa ein neues nukleares Wettrüsten.

Mohssen Massarrat ist Professor für Politik und Wirtschaft der Universität Osnabrück i. R. und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der IPPNW 27


Foto: © Vadim Lurie, n-ost

„FRIEDE ALLEN VÖLKERN! WIR BRAUCHEN KEINEN KRIEG!“ ANTI-KRIEGS-KUNDGEBUNG AM 1. MAI 2014 IN ST. PETERSBURG.

Ukraine – ein mit System organisiertes Chaos Vorschläge für eine Deeskalation und friedliche Überwindung des Konflikts

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ngela Merkel denkt über weitere Sanktionen gegen Russland nach. Der Kreml wirft dem Westen Machthunger vor. Eine irritierende Gruppierung einschließlich vier deutscher Offiziere, die sich auf die OSZE beruft, aber nicht der aktuellen OSZE-Delegation angehört, wird von dem russophilen Bürgermeister der Stadt Slawjansk festgenommen und aufgrund russischer Intervention wieder freigelassen. Das StateDepartment denkt über die Steigerung der Drohgebärden und Sanktionsmaßnahmen nach. NATO-Generalsekretär Rasmussen fordert zur Aufrüstung auf. Der Konflikt um die Ukraine ist ein Eldorado für markige Worte und Medienschlagzeilen. Doch was lässt sich über das scheinbare Chaos halbwegs sicher sagen? Die Krim ist Russland einverleibt – das scheint nicht mehr ernsthaft infrage gestellt zu werden. Sicher ist auch, dass am Ende des West-Ost-Konflikts US-Präsident Bush sen. und US-Außenminister Baker Michael Gorbatschow versicherten, die

Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts würden nicht Mitglieder der NATO werden. Man konnte sich demnach vorstellen, es würde ein Cordon Sanitaire entstehen – bestenfalls sogar eine Zone der Vermittlung zwischen West und Ost. Nichts dergleichen geschah. NATO und EU expandierten gen Osten. Nach 1999 traten Polen, Tschechien, Ungarn, nach 2004 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei, Slowenien und nach 2009 Albanien und Kroatien der NATO bei. Sicher ist ebenso, die Bemühungen um weitere NATO-Beitritte waren damit nicht beendet: Die nächsten Kandidaten waren Georgien, Armenien und die Ukraine. EU-Assoziierungsabkommen dienten als Vehikel zu diesem Ziel.

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s ist kaum zu bezweifeln, dass der Kreml die NATO-Einkreisung als Bedrohung empfindet. Dazu kommt das hartnäckige Bestreben der USA, Abwehrraketen in Europa zu stationieren. Angeblich seien sie gegen iranische Raketen gerichtet – was jedem Militär lächerlich und un28

glaubwürdig erscheinen muss. Sie sollen das Abschreckungspotenzial Russlands tendenziell aufheben.

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m 13. August 2008 verkündete Georgiens Präsident Michail Saakaschwili in einer Fernsehansprache: „Die georgischen Häfen und Flughäfen werden unter Kontrolle des Verteidigungsministeriums der USA gestellt, um humanitäre und andere Missionen auszuführen.“ Saakaschwilis Worte mussten in Moskau sehr bedrohlich klingen. So ist kaum zu bezweifeln, dass Moskau mit dem Eingreifen in Georgien 2008 eine erste deutliche Warnung an den Westen gab, diese Politik nicht fortzusetzen. Doch der Westen war schwerhörig. Vor diesem historischen Hintergrund ist der Konflikt um die Ukraine als ein strategischer Konflikt zwischen zwei Großmächten und ihren Bündnispartnern zu verstehen. Die westliche Strategie beruht in dem ausgehandelten aber dann vom damaligen ukrainischen Präsidenten Janukowytsch nicht unterzeichneten Partnerschaftsver-


UKRAINEKRISE

trag mit der EU. Der Vertrag hätte eine Westorientierung der Ukraine bewirkt. Die bisherige Bindung an Russland wäre deutlich verringert worden. Das Vordringen des Westens in den ehemaligen Herrschaftsund nun zumindest Einflussbereich Russlands ist die dominante strategische Komponente der aktuellen Auseinandersetzung über die Ukraine. Die Bürgerinnen und Bürger, die vor allem in Kiew und den westlichen Landesteilen der Ukraine den Protest gegen die korrupte Janukowytsch-Präsidentschaft getragen haben, fürchteten zu Recht, ihre demokratischen Freiheiten würden zunehmend erstickt werden. Sie hofften wohl auch auf eine bessere wirtschaftliche Entwicklung durch den Assoziierungsvertrag. Ihr Aufstand wurde jedoch von sehr unterschiedlichen politischen Kräften getragen, darunter auch nationalistische bis faschistische. Dies und die illegale Machtübernahme in Kiew bewirkt ihre Schwäche.

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ährend die westliche Ukraine schon seit langer Zeit trotz einer furchtbaren Vergangenheit auf Mittel- und Westeuropa kulturell und sprachlich ausgerichtet ist, orientiert sich der Osten in Teilen nach Russland und spricht auch Russisch. Die großen Bodenschätze liegen im östlichen Teil des Landes. Die dortige verarbeitende Industrie ist ein wichtiger Zulieferer für die russische Rüstungsindustrie. Der Konflikt löste Befürchtungen in den ehemaligen Mitgliedsländern des Warschauer Pakts wie Polen und den baltischen Ländern aus. Sie fordern eine militärische Verstärkung. Doch haben sie als NATO-Mitglieder wirklich einen Angriff zu erwarten? Das wäre nur vorstellbar, falls es zu einer großen kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Russland und der NATO käme. Doch weder Russland noch der Westen werden sich hoffentlich einen Krieg leisten wollen und können.

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er Kreml will offensichtlich den Marsch des Westens nach Osten nicht länger hinnehmen. Er nutzt dazu die Heterogenität der Bevölkerung der Ukraine. Nach dem Aufstand gegen die korrupte Januko-

wytsch-Regierung und der zweifelhaften Legitimität der neuen Regierung in Kiew spielte Russland die alte Regierung gegen die neue aus. Damit hält sich Moskau Ansprüche auf weitere Teile oder sogar die ganze Ukraine offen. Das heißt nicht, dass Moskau weitere Abtrennungen von der Ukraine beabsichtigt.

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as kann also getan werden, um Deeskalation und eine friedliche Überwindung des Konflikts voranzutreiben? Hier meine Vorschläge: »» Auf keinen Fall Verbindungen zwischen den Konfliktparteien abreißen lassen. Dauerhafte Gespräche in Genf mit allen Akteuren zur aktuellen Deeskalation und zur Verständigung über die Prozesse, die zu einer neuen Verfassung und zu Wahlen von Parlamenten und Repräsentanten in der Ukraine führen sollen, wären hilfreich. »» Sanktionen gegen Konfliktpartner können leicht zu Eskalationen führen, die schwer zu beherrschen sein dürften. Der durch Sanktionen Bestrafte ist ja vorverurteilt. Russland ist eine Großmacht, die man nicht demütigen sollte, wenn man mit ihr ernsthaft verhandeln will. »» Der Westen muss Kiew immer wieder dazu auffordern, auf alle Provokationen zu verzichten. »» Von Moskau ist auch von der hiesigen Friedensbewegung zu verlangen, die russophilen Kräfte im Osten der Ukraine von Gewalthandlungen abzuhalten. Eine Teilung des Landes würde eine Brückenfunktion zwischen West und Ost verhindern. »» Der Westen sollte Russland gemeinsame Verhandlungen vorschlagen, unter Anknüpfung an die ehemals erfolgreichen KSZE-Verhandlungen, über Gemeinsamkeiten und gemeinsame Interessen in der Gestaltung des Europäischen Hauses. Dabei ging es nicht nur um wirtschaftliche Interessen, sondern auch um die Errichtung eines Systems kollektiver Sicherheit. Hier wieder anzuknüpfen wäre ein wichtiges politisches Signal an Russland. »» Johan Galtung wirft die Frage auf, ob eine ukrainische Föderation nicht gleichzeitig Beziehungen zur EU und der Russischen Föderation unterhalten könne. Damit könnte aus Konfrontation ein kooperativer Dialog entstehen. Die Ukraine 29

bekäme eine Brückenfunktion. Eine interessante Perspektive, die Galtung auch für Georgien in Betracht zieht. »» Eine Ukraine mit einer solchen Brückenfunktion wird nur möglich sein, wenn das Land in militärischer Hinsicht eine neutrale Position einnimmt, also weder Mitglied der NATO noch einer russischen Militärbündnisses würde. Andere Länder der Region wie zum Beispiel Georgien, Armenien, Aserbaidschan und Moldawien könnten sich dem anschließen und eine neutrale Region in diesem konfliktreichen Gebiet bilden. Damit wäre nicht nur dem destabilisierenden Streben des Westens, die NATO immer weiter nach Osten auszudehnen, ein Riegel vorgeschoben, sondern auch eine bessere Möglichkeit eröffnet, Konflikte zwischen diesen neutralen Staaten zu lösen, etwa den Konflikt um die Enklave Bergkarabach. »» Deutschland kommt in der Wahrnehmung der Konfliktpartner eine besondere Rolle als EU-Führungsmacht zu. Doch ist zweierlei nicht zu vergessen. Deutschland hat die bisherige NATO-Expansionspolitik bedingungslos mitgetragen. Deshalb ist es als Vermittler schwer belastet. Belastet ist es auch durch seine blutige Vergangenheit bei der Eroberung von Sewastopol im Zweiten Weltkrieg. Damals wurde die Stadt fast völlig zerstört. Etwa 80 % der Bevölkerung überlebten die Kämpfe nicht.

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eine Schlussfolgerung: Eine friedliche Lösung ist möglich, wenn die alten Verhaltensweisen der Konfrontation zugunsten einer Politik der Kooperation und zivilen Konfliktbearbeitung aufgegeben werden. Abbau von Misstrauen und Aufbau von Vertrauen sind erforderlich. Die Zivilgesellschaften aller beteiligten Länder können dazu beitragen, indem sie sich gegen Feindbilder und Verhetzungen wenden.

Prof. Dr. Andreas Buro ist Politikwissenschaftler, IPPNWBeiratsmitglied und aktiv in der „Kooperation für den Frieden“.


WELT

Peace, Disarmament and Health in the 21st Century IPPNW-Weltkongress in Astana/Kasachstan vom 25./27. bis 30. August 2104

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er IPPNW-Weltkongress in Kasachstan ist ein ganz besonderes und mutiges Projekt. Die Krise in der Ukraine zeigt uns noch einmal ganz klar, wie sehr der OstWest-Konflikt und das Blockdenken unsere politische Gegenwart immer noch im Griff haben. Deshalb ist es besonders wichtig, jetzt den Kontakt mit dem Osten zu halten und zu intensivieren. Das ist nicht ganz einfach, aber lohnt die Anstrengung.

Studentisches Programm

Kasachstan ist ein Land, das sich entschieden für atomare Abrüstung engagiert. Ganz anders als die Schönwetterreden westlicher Politiker hat die kasachische Regierung gehandelt, Atomwaffen aufgegeben und ein positives Beispiel für die Welt gegeben. Dafür hat die kasachische Regierung Anerkennung verdient. Übrigens auch für das Gelingen, aus einem Vielvölkerstaat ein politisch stabiles Land zu machen.

Abenteuer Kasachstan und Zentralasien

Natürlich ist in Kasachstan nicht alles aus Gold. Ein großes Problem ist z. B. der Uranbergbau: Kasachstan verfügt über große Uranreserven. Ein heikles Thema, wenn es um Gesundheit und Proliferationsgefahren geht. Beides wird auf dem Kongress thematisiert.

Visa-Fragen

Das Programm

Die IPPNW lebt vom Mitmachen. Die Weltkongresse sind keine Funktionärstreffen, sondern ein lebendiger Ort der Begegnung politisch interessierter AktivistInnen (und solcher, die es werden sollen) aus allen Teilen der Welt. Unendlich viele Freundschaften sind so entstanden, einige davon lebenslang.

Ist das Beste an der IPPNW nicht die studentische Arbeit? Man möchte es meinen. Und auch diesmal wird es eine IPPNW-Fahrradtour in Kasachstan geben. Zudem gibt es ein studentisches Vorprogramm, damit sich die jungen Kolleginnen und Kollegen thematisch einstimmen können. Die studentischen Kongresse sind traditionell absolute Höhepunkte im Kongress-Programm.

Vor und nach dem Kongress? Zentralasien ist eine kulturell interessante Region mit Alma-Ata in Kasachstan oder aber den Ländern Usbekistan und Tadschikistan. Reiseexperten für die ehemalige UdSSR sind z. B. Ost - und Fernreisen in Hamburg (www. ostundfern.de). Leider gibt es wegen der vielfältigen unterschiedlichen Wünsche keine organisierten Touren.

In Anerkennung der wichtigen IPPNW-Arbeit erlässt die kasachische Regierung den Kongressteilnehmern die Visa-Gebühr. Die erforderliche Einladung erhalten Sie vom Veranstalter.

Ihre Teilnahme

Wir haben versucht, einen guten Mix aus regionalen Experten zusammenzustellen. Unter www.ippnw2014.org lassen sich die Details finden. Die zentralen Themen der IPPNW, die Abschaffung der Atomwaffen und die Kleinwaffen-Problematik finden umfassend Raum. Ebenfalls im Fokus stehen Fragen der gesundheitlichen Folgen der Atomwaffentests. Neu im Plenarteil sind Aspekte der gesamten nuklearen Kette. Hier wird neben Proliferationsgefahren auch das Thema Fukushima diskutiert.

Wer nicht kommen kann Unterstützen Sie den Kongress mit Spenden. Spendenkonto: Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges und in sozialer Verantwortung e. V. Bank für Sozialwirtschaft, Konto 22 22 210, BLZ 100 205 00 IBAN DE39100205000002222210, BIC (SWIFT-Code) BFSWDE33BER Stichwort „Weltkongress“

Das umfangreiche Workshop-Programm dient der Vertiefung der Debatten. Hier kommen alle TeinehmerInnen zu Wort. Die deutsche IPPNW ist eng daran beteiligt, z. B. am Workshop „Educating Health Professionals in Peace and Disarmament Work“ oder „Promises and Lies: The Pathophysiology of War in the 21th Century“ oder „Health Effects of Ionizing Radiation“.

Die Testgelände Ein Besuch des Atomtestgeländes ist das emotionale Kernstück des Kongresses. Zum Jahrestag der Entscheidung Kasachstans, ihre Atomwaffen abzugeben, werden wir per Charterflug nach Semipalatinsk reisen und von dort in die ehemalige Testregion.

Dr. Lars Pohlmeier ist Europäischer Präsident der IPPNW. 30


AKTION

Für eine andere Politik Aktionen im ersten Halbjahr 2014

Foto: Dominik Butzmann

Am 10. Mai 2014 demonstrierten in Berlin 12.000 Menschen für eine Änderung des aktuellen Regierungskurses in der Energiepolitik. Gemeinsam forderten sie von der Bundesregierung, die Energiewende nicht weiter auszubremsen, sondern konsequent und schnell umzusetzen. Im März 2014 hatten bereits Tausende Menschen in sieben Landeshauptstädten demonstriert. Im Februar dieses Jahres hat die Kampagne „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel“ vor dem Deutschen Bundestag ein Zeichen gegen den Export von Leopard-II-Panzern an Saudi-Arabien und für ein Verbot von Waffenexporten gesetzt. Die Kampagne mobilisiert seit 2011 für den Stopp des Waffenhandels und hat über 90.000 Unterschriften für eine Klarstellung im Grundgesetz gesammelt. In Artikel 26.2 des Grundgesetzes soll explizit ein grundsätzliches Verbot von Rüstungsexporten benannt werden.

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G ELESEN

Um ein Haar

Ruck nach rechts

Es lässt einen erschaudern, wenn man sich bei der Lektüre dieses Buches wieder vergegenwärtigt, dass man keinen fiktiven Thriller in der Hand hält, sondern die wahre Geschichte von der Unbeherrschbarkeit der Atomwaffentechnologie.

„Der Neofaschismus in Europa“ von Karl-Heinz Roth hilft, die geschichtlichen Entwicklungen und Zusammenhänge der europäischen Machtkonstellationen besser zu verstehen.

er Autor Eric Schlosser erzählt in seinem Buch „Command and Control“ die komplette Geschichte der Atomwaffen aus US-amerikanischer Sicht. „Command“ bedeutet dabei aber nicht nur „Befehl“ oder „Befehlshaber“, sondern auch Kontrolle, Autorität oder Dominanz über etwas oder jemanden. Das Fazit des Buches: Es ist unmöglich, 100 % Beherrschung oder Kontrolle über Atomwaffen zu haben. Und die Konsequenzen einer einzigen Atomexplosion, sei es absichtlich oder aus Versehen, wären katastrophal. Selbst wenn es bei der Explosion einer Atomwaffe, nicht zu einer Kettenreaktion und einer entsprechenden Atomexplosion käme, wären die Folgen für Mensch und Umwelt noch immer verheerend.

m besser abzuschätzen, ob unsere Demokratie mehr von rechts oder von links gefährdet ist, sind wir auch als IPPNWler immer wieder gefragt. Wir verfolgen Berichte über NSU und NSA, politische Kämpfe in der Ukraine, die Auflösung des Gesundheitswesens in Griechenland und vor allem die Richtungsentscheidungen im Deutschen Bundestag. Hier wird es nun spannend. Adjektive wie rechts und links beschreiben Politiker zu unscharf. Die Verwicklungen unserer Geheimdienste auch in den neofaschistischen Untergrund machen mich neugierig auf die Hintergründe.

D

U

Durch die Analyse des Historikers, Sozialforschers und Arztes Karl Heinz Roth „Der Neofaschismus in Europa“ verstehe ich die geschichtlichen Entwicklungen und Zusammenhänge der europäischen Machtkonstellationen besser. Roth erklärt vier Aufschwungphasen der neofaschistischen Netzwerke. 1972 bis 83, dann nach 1990 der schockartige Zerfall des osteuropäischen Staatenbündnisses, der zu Verarmung und Demoralisierung breiter Bevölkerungsschichten führte; in der dritten Phase um die Balkankrise passten subalterne Herrschaftseliten sich den NATO-Mächten an und viertens expandiert der Neofaschismus im Gefolge der aktuellen Euro-Krise.

Das Buch beginnt wie ein Thriller. Schlosser erzählt die Geschichte eines Vorfalls in einem Titan-Raketensilo. Ein junger Techniker lässt aus Versehen ein Werkzeug fallen und löst eine Katastrophe aus. Die Katastrophe zieht sich durch das ganze Buch und wird von mehreren Menschen erzählt, mit denen Schlosser Interviews führte. Eine Kette von Pannen verschlimmert das ursprüngliche Problem, bis am Ende alle nur noch wegrennen können. Schlosser webt die Geschichte dieses und vieler weiterer Unfälle ein in die Erzählung der kompletten Geschichte der Entwicklung der Atombombe, von ihren Einsätzen, Atomtests, Aufrüstung und Abrüstung. Er erzählt von Krisen und Fehlalarmsituationen, wo die Welt haarscharf an einem Atomkrieg vorbeigeschrammt ist. Für die Jüngeren unter uns ist dieses Geschichtsbuch spannend zu lesen, für uns Ältere ist es die Bestätigung, dass wir Glück haben, noch hier zu sein. Darüber hinaus bekommen wir viele neue Informationen, die aufgrund von Deklassifizierung von Geheimnissen inzwischen ans Licht gekommen sind. Aber egal ob jung oder alt, die Lehre dieses Buches ist für alle unheimlich wichtig, wenn wir weiterhin überleben wollen: Die Gefahr ist keineswegs gebannt, solange es auch nur noch eine einzige Atomwaffe gibt.

Werden die neokonservativen Parteien zu „Türöffnern“? Wie revisionistisch werden die „Vermächtnisse“ der Vergangenheit wieder belebt? Als Kernproblem behandelt Roth den Zusammenhang mit der sozialen Frage. Warum scheinen sich erneut Unterklassen und Mittelschichten für rechtsradikale Versprechungen gewinnen zu lassen? Wieweit überschneiden sich neokonservative und neofaschistische Ideologien? Wodurch unterscheiden sie sich? Das und mehr wird mit Fakten belegt klar verständlich dargestellt. Es ist nur ein Sonderheft der OSSIETZKY Zweiwochenschrift vom Dezember 2013, das ich als Lektüre empfehle. Neben dem Hauptbeitrag finden sich noch viele weitere lesenswerte Beiträge zu verschiedenen Themen im Heft. Das Heft 1/2014 der OSSIETZKY kann bezogen werden unter http://www.ossietzky.net/1-2014

Xanthe Hall „Command and Control: Die Atomwaffenarsenale der USA und die Illusion der Sicherheit“, Eric Schlosser, 2013. C.H. BECK, 24,95 €, ISBN 978-3-406-65595-1

Manfred Lotze 32


GEDRUCKT

TERMINE

Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit

JUNI

Dokumentation der Begegnungsfahrt Palästina-Israel vom 29.4.–10.5.2014

Bei der fünften Begegnungsreise der deutschen Sektionen von IPPNW und pax christi nach Palästina/Israel haben die 31 TeilnehmerInnen das Leben der PalästinenserInnen in der Westbank und in Jerusalem kennengelernt, ihre Hoffnungen und ihr Leiden unter den Folgen der israelischen Besiedlungs- und Besatzungspolitik mit Mauern, Zäunen und Kontrollpunkten. Auf dem Programm standen zahlreiche Treffen mit palästinensischen und israelischen Friedens- und Menschenrechtsgruppen. Bestellen Sie die bebilderte Dokumentation der Reise mit Kartenmaterial für 5 Euro in der IPPNW-Geschäftsstelle.

19.–22.6. Fachtagung „Die gesundheitlichen Auswirkungen radioaktiver Strahlung beim Uranbergbau“, Ronneburg 27.6. Diskussion „100 Jahre Erster Weltkrieg – Die Waffen nieder! Jetzt!“, Stuttgart

JULI 8.7. Flaggentag der Bürgermeister für den Frieden, bundesweit 17.–19.7. Pacemakers-Radtour nach Berlin 18.7. „Wir ziehen in den Krieg!?“ – Begründung von Krieg und Gewalt, damals und heute, Dr. Helmut Lohrer, Stuttgart

AUGUST 2.8. Pacemakers-Radmarathon von Bretten über Heidelberg, Mannheim, Kaiserslautern, Ramstein, Neustadt/ Weinstraße nach Bretten 2.–11.8. Sommercamp und Aktionen in Büchel

SEPTEMBER 21.9. IPPNW-Benefizkonzert zugunsten des Alternativen Nobelpreises, Berlin

GEPLANT Das nächste Heft erscheint im September 2014. Im Schwerpunkt geht es um

Informationen und Kontaktdaten: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine

Uranabbau Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 139/September 2014 ist der 31. Juli 2014. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de

IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS

AUGUST

Herausgeber: Internationale Ärzte für die Verhü-

enthalten. Sämtliche namentlich gezeichnete Arti-

tung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verant-

kel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der

wortung e.V. (IPPNW) Sektion Deutschland

Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke

Redaktion: Sabine Farrouh (V.i.S.d.P.), Angelika

bedürfen der schriftlichen Genehmigung.

Wilmen, Samantha Staudte

Redaktionsschluss

Freie Mitarbeit: Sandra Klaft, Frederik Mösinger

31. Juli 2014

Anschrift der Redaktion: IPPNWforum, Körte-

Gestaltungskonzept: www.buerobock.de, Layout:

straße 10, 10967 Berlin, Telefon: 030 / 69 80

Samantha Staudte; Druck: Oktoberdruck Berlin;

74 0, Fax 030 / 693 81 66, E-Mail: ippnw@

Papier: Recystar Polar, Recycling & FSC.

ippnw.de,

Bankverbindung:

Bildnachweise: S. 30: Foto: Ken and Nyetta,

Bank für Sozialwirtschaft, Kto-Nr. 2222210, BLZ

creativecommons.org/licenses/by/2.0; nicht ge-

10020500, IBAN DE39100205000002222210,

kennzeichnete: privat oder IPPNW.

www.ippnw.de,

für

BIC BFSWDE33BER Das Forum erscheint vier Mal im Jahr. Der Bezugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag 33

das

nächste

Heft:

25.–26.8.2014

Internationaler IPPNWStudierendenkongress Astana, Kasachstan 27.–30.8.2014

21. IPPNW-Weltkongress „Vom Atomteststopp-Vertrag zu einer atomwaffenfreien Welt – Abrüstung, Frieden und globale Gesundheit im 21. Jahrhundert“ Astana, Kasachstan


G EFRAGT

6 Fragen an … Mako Oshidori

Journalistin und Unterhaltungskünstlerin aus Japan

1

Hier in Deutschland hält man Japan für ein freies, demokratisches Land. Werden in Ihrem Land demokratische Standards eingehalten? Insgesamt gibt es starke Einschränkungen und Druck auf freie Journalisten, die sich mit den Folgen der atomaren Katastrophe auseinandersetzen wollen. In den Massenmedien werden heute fast ausschließlich die Standpunkte der Regierung und von Tepco veröffentlicht.

Andernorts lässt man Kinder durchaus Produkte aus der Region essen, um die Sicherheit der Produkte zu demonstrieren. Mütter, die sich wegen der Strahlung Sorgen machen und ihren Kindern eigene Lunchboxen mitgeben, werden diskriminiert. „Wenn du dem Staat nicht traust, dass die Produkte sicher sind und Kritik übst, dann gehe doch weg von hier!“, wird ihnen dann gesagt. 70 Prozent aller Kommunen der Präfektur praktizieren so eine Politik. Bei den Messungen kann nur Cäsium nachgewiesen werden, keine anderen Isotope, wie Strontium etc. Zudem können nicht alle Produkte gemessen werden. Also ist es unmöglich, alle Lebensmittel als sicher einzustufen.

2

Wie erleben Sie persönlich diese Einschränkungen? Der Verband japanischer Stromkonzerne hat großen Druck auf die Monatszeitschrift Fujin Koron ausgeübt. So sollte einen angekündigten Artikel von mir nur veröffentlicht werden, falls gleichzeitig drei Artikel erscheinen würden, die Atomenergie befürworten. Außerdem wurde ein geplanter Fernsehauftritt von mir abgesagt, weil eine Werbeagentur nicht wollte, dass ich über Atomenergie und Tepco spreche. Ich selbst werde vom Sicherheitsdienst beschattet und Mütter, die ich interviewen möchte, werden eingeschüchtert.

5

Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) fördert laut ihrer Satzung die "friedliche Nutzung von Atomenergie". Welche Rolle spielt die Organisation in Fukushima? Ende 2012 wurde zwischen dem Gouverneur der Präfektur und dem Generaldirektor der IAEO ein „Memorandum of Cooperation“ unterzeichnet. Darin wird Geheimhaltung bezüglich des Atomunfalls vereinbart, wenn eine Seite dies wünscht. Auf meine Frage, was der Gouverneur den Bürgern sagen will, die der IAEO keine Gesundheitsprüfung überlassen wollen, weil sie die Atomenergie befürwortet, sagte er: „Es gibt keine andere Möglichkeit, als dass die Bürger diese Vereinbarung akzeptieren.“

3

Werden bei den havarierten Reaktoren von Fukushima ähnliche Strategien angewendet? In einem Interview wurde mir berichtet, dass die Todeszahlen der Arbeiter von Tepco geschönt werden. Das heißt die Liquidatoren, die außerhalb der Arbeitszeiten starben, werden in der Statistik nicht beachtet. Bis zur Katastrophe von 2011 galten 100 Millisievert (mSv) über fünf Jahre als Grenzwert für die Arbeiter. Danach wurde er auf 250 mSv in einem Jahr erhöht. Manche Arbeiter erhielten Strahlendosen von bis zu 678 mSv. Seit 2012 sind es wieder 100 mSv in fünf Jahren. Arbeiter, die jetzt dem Grenzwert nahekommen, werden entlassen, da man sonst die Kosten für eine Krebsuntersuchung übernehmen müsste.

6

Im Dezember 2013 wurde das Gesetz zum Schutz besonderer Staatsgeheimnisse verabschiedet. Was hat sich seitdem verändert? Seit der Wiederwahl der konservativen liberaldemokratischen Partei LDP, hat Tepco nur noch wenige Informationen geliefert. Von einigen kritischen Wissenschaftlern und Beamten verschiedener Ministerien erhielt ich früher wichtige Informationen. Durch das Gesetz sind sie viel zurückhaltender geworden. Die Nachrichten über die Auswirkungen der Katastrophe nehmen seither ständig ab.

4

In der Stadt Iwaki haben Eltern durch Unterschriften erreicht, dass für das Schulessen keine Produkte aus der Präfektur Fukushima mehr verwendet werden dürfen. Warum war dafür eine Unterschriftenaktion notwendig?

Interview: Angelika Wilmen, Bearbeitung: Frederik Mösinger

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ANZEIGEN

35 JAHRE ALTERNATIVER NOBELPREIS MUSIKFEST BERLIN 2014

IPPNW-Benefizkonzert ZUGUNSTEN DES ALTERNATIVEN NOBELPREISES „RIGHT LIVELIHOOD AWARD“

Sonntag, 21. September 2014, 16 Uhr im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie DIE 12 CELLISTEN DER BERLINER PHILHARMONIKER UND DAS MARIANI KLAVIERQUARTETT WERKE VON JOHANN SEBASTIAN BACH, ROBERT SCHUMANN UND RICHARD STRAUSS ANSPRACHE OLE VON UEXKÜLL: PROJEKTE DER HOFFNUNG – 35 JAHRE ALTERNATIVER NOBELPREIS EINFÜHRUNGSVERANSTALTUNG 15 UHR: HELGE GRÜNEWALD IM GESPRÄCH MIT PETER HAUBER UND OLE VON UEXKÜLL

www.ippnw-concerts.de


Astana, Kasachstan

21. IPPNWWELTKONGRESS

Weitere Informationen unter: www.ippnw2014.org

27. August 2014 28. August 2014 29. August 2014 30. August 2014 • Eröffnungszeremonie Zeugnis kasachischer Ärzte: Die wichtigsten Ergebnisse von 50 Jahren Forschung zu den Folgen der Atomtests auf dem Testgelände Semipalatinsk für die Gesundheit der Bevölkerung. • Eröffnungsvorträge Abschaffung der Atomwaffen als humanitärer Imperativ: Aktuelle Chancen und die humanitäre Perspektive auf Konflikte und Abrüstung im Allgemeinen. • Plenarsitzung 1: Die humanitären Auswirkungen von Atomwaffen Wie und warum die Kernbotschaft der IPPNW über die medizinischen, Umweltund humanitären Folgen von Atomwaffen und Atomkriegen der Schwerpunkt einer neu entstehenden Bewegung zur Ächtung und Vernichtung der Atomwaffen wurde. • Workshops

• Plenarsitzung 2: Bewaffnete Gewalt als Public-Health-Krise • Workshops • Plenarsitzung 3: Lektionen von Atomwaffentests: Die Stimmen der Opfer Eine besondere Sitzung über die langfristigen Gesundheitsauswirkungen von Atomwaffentests und Strahlenexposition. Organisiert durch die IPPNW-Kasachstan. • Plenarsitzung 4: Die Auswirkungen der Nuklearen Kette auf Gesundheit, Umwelt und Sicherheit Eine Sitzung, die verschiedene Fakten zusammenträgt über die Risiken vom Uranabbau bis zum Atommüll und die Gefahr der Weiterverbreitung durch den Dual-Use der Atomtechnologie. • Dinner ausgerichtet von Astanas Gouverneur und Bürgermeister

• Plenarsitzung 5: Ein politischer Prozess zur Ächtung der Atomwaffen – ICAN und der Verbotsvertrag Der anhaltende Stillstand in der UN und der NPT-Konferenz haben Staaten und Zivilgesellschaft nach alternativen Wegen zu einer atomwaffenfreien Welt suchen lassen; wie die Regierenden von atomwaffenfreien Staaten den Ausschlag geben können; die Risiken und Chancen eines Verbotsvertragsprozesses im Vergleich mit anderen Initiativen.

• Exkursion nach Semei und Kurchatov Besuch der Gedenkstätte für die Opfer der Atomtests und zum Forschungsinstitut für Nuklearmedizin und Ökologie. • Seminar in der Semey State Medical University Rückkehr nach Astana für die Abreise am 31. August 2014

• Plenarsitzung 6: Multimediale Feier der Energie und Kreativität, die die IPPNW voranbringen • Abschlusszeremonie • International Council Meeting • Incoming Board Meeting

• IPPNW Regional Business Meetings • Eröffnungsfeier

25.–26.8.2014 INTERNATIONALER IPPNW-STUDIERENDEN-KONGRESS


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