ippnw forum
das magazin der ippnw nr162 juni2020 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung
Foto: © Bildwerk Rostock
- Bewaffnete Drohnen für die Bundeswehr? - Streit um die Nukleare Teilhabe - Gesundheitsversorgung in Moria
Friedensarbeit in Zeiten der Coronakrise: Chancen und Risiken
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Unsere neue Reihe
Aus den Schwerpunktthemen des IPPNW-Forums aus: IPPNWforum 160 dezember 2019 internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung
Foto: © Max Ernst Stockburger
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Menschenrechte verteidigen! Gesundheitliche Folgen von Flucht
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Sept ember 2019 internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung
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Juni 2019 internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung
März 2019 internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung
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Dezember 2018 internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung
Foto: © Lasse Lecklin
Foto: © Ralf Schlesener
Foto: Atombombengeschäft
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In unserer neuen zehnseitigen Publikationen „IPPNW-Thema“ finden Sie alle Artikel der Schwerpunkte aus dem IPPNW-Forum. Damit haben Sie für Veranstaltungen und Büchertische eine kompakte Publikation, die Informationen zu einem bestimmten Thema bündelt, und die Sie an Interessierte weitergeben können. Die Ausgaben des IPPNW-Themas können in der Geschäftstelle oder über den Online-Shop der IPPNW für einen Euro bestellt werden: shop.ippnw.de
Nukleare Aufrüstung in Europa: Höchste Zeit für das Atomwaffenverbot!
Radioaktivität kennt keine Grenzen – Europa braucht den Atomausstieg
Gegen die Militarisierung der EU – Europa als Friedensprojekt gestalten
Humanität und Menschenrechte statt Ausgrenzung und Abschottung
Per FAX an 030/693 81 66
Ich möchte folgende Ausgaben des IPPNW-Thema bestellen (bitte Menge angeben): 3/2020 Für ein gesundes Klima – Aufrüstung stoppen, Frieden fördern! 12/2019 Menschenrechte verteidigen! Gesundheitliche Folgen von Flucht 9/2019 Nukleare Aufrüstung in Europa: höchste Zeit für ein Atomwaffenverbot!
6/2019 Radioaktivität kennt keine Grenzen – Europa braucht den Atomausstieg! 03/2019 Gegen die Militarisierung der EU – Europa als Friedensprojekt gestalten 12/2018 Humanität und Menschenrechte statt Ausgrenzung und Abschottung
Name
IPPNW Deutsche Sektion Körtestraße 10 10967 Berlin
Straße
Plz, Ort
Unterschrift
EDITORIAL
Rasande Tyskar / CC BY-NC 2.0 (Collage)
Dr. Ute Watermann ist Mitglied im Vorstand der deutschen IPPNW.
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eit Anfang des Jahres hält uns Covid-19 in Atem. Die Krise zeigt uns, wie verletzlich unsere Gesellschaft ist und wie verbunden mit dem Rest der Welt. Wie kann Friedensarbeit in diesen Zeiten aussehen?
Global-Health-Forscher Remco van de Pas plädiert dafür, neue multilaterale Ansätze zu finden (S. 22-23). Seit dem Ausbruch der Pest, die im 14. Jahrhundert über neue Handelswege nach Europa kam, habe es viele Epidemien gegeben, die immer auch gesellschaftliche Innovationen erzwangen. Ob die neuen Instrumente zum Empowerment der Bürger oder zur totalitären Überwachung verwendet werden, ist heute die kritische Frage. IPPNW-Beiratsmitglied Prof. Norman Paech analysiert die Corona-Verordnungen aus juristischer Sicht. Mit dem neuen Notverordnungsrecht habe sich der Bundestag aus der Regelung der Pandemie verabschiedet, sein Gesetzgebungsrecht auf das Bundesgesundheitsministerium übertragen und die Kontrolle der Exekutive aufgegeben. Die Notstandsregelungen seien eine Missachtung der Verfassung, deshalb seien Proteste gegen ihre Auswirkungen ernst zu nehmen (S. 24-25). Martin Kirsch von der IMI wirft einen Blick auf die Befugnisse der Bundeswehr im Landesinneren, die seit 1968 schrittweise ausgeweitet wurden. Der Einsatz von Soldat*innen mit polizeiähnliche Befugnissen, wie er im März 2020 beschlossen wurde, sei mit der Verfassung schwerlich vereinbar. Damit sei auch der Punkt gekommen, wo sich Friedens-, Bürgerrechts- oder antifaschistische Gruppen aktiv gegen diese autoritäre Gefahr wehren müssten (S. 26-27). In Staaten mit vulnerablen Gesundheitssystemen bringt die Coronakrise eine massive Gefährdung der Bevölkerungen mit sich. In vielen Ländern, die von den USA und der EU mit Sanktionen belegt sind, gibt es seit Jahren eine Blockade von lebenswichtigen Medikamenten und medizinischen Hilfsmitteln. Deshalb müssten die einseitigen Zwangsmaßnahmen gegen Länder wie Iran, Syrien oder Venezuela aufgehoben werden, meint die IPPNW-Co-Vorsitzende Susanne Grabenhorst (S. 28-29). Das Titelbild dieses Hefts stammt von einer Kundgebung für die dezentrale Unterbringung von Geflüchteten in Schwerin April 2020, an der sich ein IPPNW-Mitglied beteiligte. Eine anregende Lektüre wünscht Dr. Ute Watermann 3
INHALT Türkei: Am Frieden darf man nicht sparen
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THEMEN Bewaffnete Drohnen für die Bundeswehr?.............................................8 Türkei: An Gesundheit und Freiheit darf man nicht sparen.....10 Rückblick und Auftrag: 75 Jahre seit Kriegsende......................... 12 Quo vadis, Israel? ..............................................................................................14 Gesundheitsversorgung in Moria: Die EU entzieht sich ihrer Verantwortung...........................................15 Streit um die Nukleare Teilhabe................................................................16 Atomenergie in Zeiten der Coronavirus-Pandemie........................ 18
SCHWERPUNKT Corona und Sanktionen: Hilfe statt Strafe!
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60 Jahre Ostermärsche: Kreativer Protest trotz Corona............ 20 The Rich Man’s Disease: Globalisierungsparadoxon und Coronavirus ................................................................................................ 22 Corona im Zeichen der Ermächtigung...................................................24 Bundeswehreinsatz im Landesinnern: An der
Foto: © imago images / ZUMA Wire
Grenze der Verfassung – und darüber hinaus.................................. 26 Hilfe statt Strafe! Sanktionen in Zeiten der Corona-Pandemie..................................... 28
WELT
Pandemiepläne für AKWs? Der Letzte macht das Licht aus
Internationales und Weltkongress:
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Wie geht es jetzt weiter?............................................................................... 30
RUBRIKEN Editorial.......................................................................................................................3 Meinung......................................................................................................................5 Nachrichten..............................................................................................................6 Aktion........................................................................................................................31
Foto: Hanna Poddig
Gelesen, Gesehen.............................................................................................. 32 Gedruckt, Geplant, Termine........................................................................ 33 Gefragt..................................................................................................................... 34 Impressum/Bildnachweis.............................................................................. 33 4
MEINUNG
Fabian Scheidler ist freischaffender Autor und Publizist sowie Mitbegründer des unabhängigen Nachrichtenmagazins Kontext TV. www.fabianscheidler.de
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Deutschland und andere Industriestaaten erlegen ihren Bevölkerungen und ihrer Wirtschaft ein Schockprogramm auf, um die CoronaEpidemie einzudämmen.
abei werden Maßnahmen ergriffen, die ohne Beispiel in der jüngeren Geschichte sind: Grundrechte werden suspendiert und große Teile der Wirtschaft lahmgelegt. Vergleicht man diese Maßnahmen mit der Reaktion auf eine andere, weitaus schwerwiegendere Krise, die Bedrohung des Lebens durch Klimawandel und Artensterben, fällt ein deutlicher Kontrast ins Auge: Während sich die Staaten in der Corona-Epidemie als extrem handlungsstark erweisen und für die Gesundheit ihrer Bürger*innen auch auf Wirtschaftsinteressen keine Rücksicht nehmen, ist in der Klimafrage seit 40 Jahren so gut wie nichts passiert. Forderungen nach wirkungsvollen Klimaschutzmaßnahmen werden regelmäßig mit dem Verweis abgeschmettert, dass man nicht in die Freiheitsrechte von Menschen und Unternehmen eingreifen könne. Doch angesichts des Virus ist plötzlich fast alles möglich. Billionenschwere Rettungspakete werden international auf den Weg gebracht – Geld, das für einen sozial-ökologischen Umbau angeblich nie da war. Um die Klimaziele zu erreichen, braucht es einen raschen, tiefgreifenden Umbau unserer gesamten Ökonomie. Entscheidend wird dabei sein, wie die umfangreichen Rettungspakete für die Wirtschaft aussehen. Warum zum Beispiel nicht für die Mitarbeitenden von Airlines massiv neue Stellen bei der Deutschen Bahn schaffen, wo in den vergangenen Jahrzehnten hunderttausende Arbeitsplätze abgebaut wurden? Warum nicht massiv in die öffentliche Gesundheitsversorgung investieren, die lange kaputtgespart und privatisiert wurde, und damit auch für weitere Pandemien sowie für kommende Hitzewellen gerüstet zu sein? Und warum nicht Einkommen- und Vermögensteuern für die Reichsten auf 70 Prozent und mehr erhöhen, damit sie ihren fairen Anteil am gesellschaftlichen Umbau leisten? All das ist keine Utopie. Aber es kann nur Wirklichkeit werden, wenn sich die Zivilgesellschaft aus der gegenwärtigen Schreckstarre befreit, um in die folgenreichen Entscheidungsprozesse der nächsten Wochen einzugreifen. Einen Shutdown der Demokratie darf es nicht geben.
> Neues Buch von Fabian Scheidler: siehe Seite 32 5
MONUSCO Photos – Flickr / CC BY-SA 2.0
N ACHRICHTEN
UN-Blockade zu globalem Waffenstillstand
Mahnwache gegen Bau eines Atommüllagers in Würgassen
Das Open-Skies-Abkommen steht vor dem Aus
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N-Generalsekretär António Guterres hat am 23. März 2020 angesichts der SARS-CoV-2-Pandemie einen „sofortigen weltweiten Waffenstillstand“ gefordert. Zivilist*innen in Konfliktgebieten müssten vor den verheerenden Auswirkungen der Pandemie geschützt werden. Insgesamt standen zuletzt mehr als 110 Länder hinter seinem Aufruf. Eine geplante Resolution des UN-Sicherheitsrat zur Coronavirus-Pandemie scheiterte im Mai allerdings an dem Streit zwischen den Weltmächten USA und China. Der Leiter der globalen Risiko-Bewertung des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik Jean-Marc Rickli bedauerte die Blockade eines globalen Waffenstillstands während der Corona-Pandemie durch den UNSicherheitsrat. Ein derartiger Beschluss wäre ein wichtiges Symbol für die Förderung des Friedens weltweit gewesen, sagte Rickli. Er sieht das Vorhaben durch die Ablehnung der USA schwer beschädigt. Auch die Hilfsorganisation Oxfam warf dem UN-Sicherheitsrat Versagen vor. Weltweit lebten zwei Milliarden Menschen in Konfliktgebieten, wo Gesundheitssysteme kollabierten und Krankenhäuser bombardiert würden. Die Corona-Pandemie lasse sich nur dann wirksam bekämpfen, wenn nicht weiter gekämpft werde. Stattdessen handelten zahlreiche Länder weiter mit Waffen und Kriegsgeräten, darunter auch Deutschland. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron habe versucht, die Initiative zu retten, so Rickli. Doch die USA hätten eine internationale Führungsrolle Macrons nicht zulassen wollen.
or dem Beginn der Erkundungsarbeiten in Würgassen haben am 18. Mai 2020 etwa 50 Anti-Atom-Aktivist*innen gegen den Bau des Zwischenlagers für Atommüll demonstriert. Auf dem Gelände des ehemaligen Atomkraftwerks Würgassen soll ab 2027 schwach- und mittelradioaktive Abfälle aus ganz Deutschland deponiert werden. Dabei handelt es sich um Teile von Reaktorkernen und Ionenaustauschharze, die in der Aufbereitung von Reaktorwasser genutzt werden sowie um zahlreiche kontaminierte und radioaktive Materialien aus dem Reaktorgebäude – zum Beispiel Röhren, Filter und Schläuche oder Planen, Schuhhüllen, Sicherheitskleidung, Waschlappen, Gerätschaften und Werkzeug. Die IPPNW hat die Abgeordneten des Deutschen Bundestages aufgefordert, den Bau des Atommülllagers im Länderdreieck Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Hessen zu verhindern. Auch wenn sich schwach- und mittelradioaktive Materialien, anders als der hoch radioaktive Atommüll, nicht durch massive Wärmeentwicklung auszeichneten, benötigten sie ebenfalls aufwendige Maßnahmen der Abschirmung und der langfristigen Lagerung für Hunderttausende von Jahren. Auch geringe Dosen ionisierender Strahlung verursachten nachweislich gesundheitliche Folgen, wie zahlreiche epidemiologische Studien der letzten dreißig Jahre gezeigt hätten. Das Risiko für Fehlbildungen, Mutationen und strahlenbedingte Erkrankungen wie Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen sei schon durch geringe zusätzliche Strahlendosen messbar erhöht. 6
ie USA wollen ein weiteres Rüstungskontrollabkommen kündigen. Robert O‘Brien, Nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident Donald Trump, kündigte am 21. Mai 2020 an, dass sich die USA aus dem Vertrag zwischen den NATOStaaten und ehemaligen Mitgliedern des Warschauer Pakts zur gegenseitigen militärischen Luftüberwachung zurückziehen wollen. Als Grund wurden „wiederholte Verstöße Russlands gegen die Vereinbarung“ angegeben. Die USA würden sich nicht mehr an Abkommen halten, die von anderen Vertragspartnern verletzt würden, sagte O‘Brien. Der Vertrag trat am 1. Januar 2002 in Kraft. Das Abkommen zum Offenen Himmel („Open Skies“) erlaubt den 34 Unterzeichnerstaaten jährlich mehrere Beobachtungsflüge im Luftraum der Vertragspartner. Diese Flüge sollen der „Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung in schwierigen sicherheitspolitischen Zeiten“ dienen. An allen Flügen nehmen immer sowohl Vertreter der beobachtenden und der beobachteten Staaten teil. Im Oktober 2019 hatte O’Brien noch gewarnt, dass ein Rückzug aus dem Abkommen trotz der Probleme mit Kaliningrad, Südossetien und Abchasien Russland nutzen und Amerikas Alliierten schaden könne. Der russische Militäranalyst Pawel Felgenhauer sagte, der Vertrag über den Offenen Himmel symbolisiere „in erster Linie das Vertrauen zwischen ehemaligen Gegnern im Kalten Krieg, aber heute gibt es kein Vertrauen“.
UN-Sondeberichterstatter Idriss Jazairy gestorben
Abrüstungsarbeit während der Pandemie
Tschernobyl: Waldbrände wirbeln Radioaktivität auf
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er UN-Sonderberichterstatter zu den negativen Auswirkungen einseitiger Zwangsmaßnahmen, Idriss Jazairy, ist am 27. Februar 2020 gestorben. Er war ein erfahrener Diplomat: Sieben Jahre lang war er Berater des algerischen Staatschefs Houari Boumedienne gewesen, und später Botschafter Algeriens in Belgien, den USA, beim Heiligen Stuhl und Ständiger Vertreter beim UN-Büro in Genf. Idriss Jazairy hatte im letzten Jahr auf Einladung der IPPNW bei einer Pressekonferenz und Abendveranstaltung in Berlin die humanitären Folgen der Sanktionen in Syrien scharf kritisiert: Die Zwangsmaßnahmen verstärkten die durch den Krieg verursachten Leiden der syrischen Bevölkerung. Von 2016 bis 2019 war er Exekutivdirektor des Genfer Zentrums für die Förderung der Menschenrechte. Nach seinem Ausscheiden aus diesem Amt wurde Jazairy als Wissenschaftler an das Zentrum für Islamische Studien der Universität Oxford berufen. Bis zuletzt setzte er sich für die Menschenrechte ein und war Brückenbauer zwischen dem globalen Norden und Süden. Die IPPNW trauert um diese zutiefst beeindruckende Persönlichkeit. „Mit dem Tod von Idriss Jazairy, der für seine Arbeit zur Verteidigung der Schwachen und für sein Engagement für das Völkerrecht gelobt wurde, hat die Welt einen Verfechter der Menschenrechte verloren“, schreibt Farhana Haque Rahman, Vizepräsidentin des Inter Press Service in ihrem Nachruf.
nfang April 2020 sprach die Hohe Beauftragte für Abrüstungsfragen der Vereinten Nationen, Izumi Nakamitsu, über die Folgen der Covid-19-Pandemie für die Abrüstungsarbeit. Die größte unmittelbare Auswirkung von Covid-19 sei die Verschiebung der Überprüfungskonferenz des Vertrags über die Nichtverbreitung von Atomwaffen (NVV) auf nächstes Jahr. Die Überprüfungskonferenz findet alle fünf Jahre in New York statt und würde dieses Jahr den 50. Jahrestag des Inkrafttretens des Vertrages markieren. Mehr als 80 zivilgesellschaftliche Organisationen haben am 11. Mai 2020 eine gemeinsame Erklärung an die Vertragsstaaten des NVV verabschiedet. Unter den Unterzeichnern ist auch die IPPNW. Darin drängen sie die Regierungschefs, mit größerer Dringlichkeit zu handeln, um unerfüllte Versprechen zur Reduzierung nuklearer Risiken zu erfüllen, Fortschritte bei der Abrüstung voranzutreiben und ihre Verpflichtung zur „vollständigen Abschaffung von Atomwaffen“ zu verwirklichen. In der Erklärung heißt es: „Wir befinden uns (...) an einem Wendepunkt in den langjährigen Bemühungen, die Gefahr eines Atomkrieges zu verringern und Atomwaffen abzuschaffen. Die Spannungen zwischen den atomar bewaffneten Staaten der Welt nehmen zu, das Risiko des Einsatzes von Atomwaffen w ächst, Milliarden von Dollar werden ausgegeben, um Atomwaffen zu ersetzen und aufzurüsten, und wichtige Abkommen, die den atomaren Wettbewerb in Schach gehalten haben, sind ernsthaft in Gefahr“.
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ünktlich zum 34. Jahrestag des SuperGAUs rückte die radioaktiv kontaminierte Region rund um Tschernobyl wieder ins mediale Rampenlicht. Waldbrände hatten am 3. April 2020 nur wenige Kilometer entfernt von den Reaktorgebäuden begonnen. Über eine Fläche von mehr als 46.000 Hektar Wald- und Grasland in der massiv radioaktiv verseuchten Sperrzone südwestlich der Reaktorruine von Tschernobyl loderten über einen Zeitraum von vier Wochen die Brände. Am 13. April 2020 kamen die Flammen bis zu 500 Meter an den Sarkophag heran, der den gefährlichsten Atommüll in der Region abschirmen soll. Die Flammen ließen sich trotz massiver Löschversuche mit Tausenden von Feuerwehrleuten und finanzieller und logistischer Unterstützung aus der EU anfänglich nicht löschen. Es waren die schwersten und längsten Waldbrände in der Sperrzone von Tschernobyl. Die französische IRSN schätzt, dass insgesamt 700 Gigabecquerel an radioaktivem Cäsium-137 in die Atmosphäre aufgewirbelt wurden. Außerhalb der Sperrzone wurden keine relevant erhöhten Strahlenwerte gemessen, lediglich eine etwa hundertfache Erhöhung der Konzentration von radioaktivem Cäsium-137 in der Luft von Kiew. Die Feuerlöschtruppen allerdings mussten direkt in der Sperrzone arbeiten und waren vor den stark erhöhten Strahlenwerten vor Ort nicht ausreichend geschützt.
http://dazv.gov.ua/en/news-and-media.html / CC BY 4.0
N ACHRICHTEN
FRIEDEN
Bewaffnete Drohnen für die Bundeswehr? Die Zivilgesellschaft muss sich entschieden einmischen
Die Ausstattung der Bundeswehr mit bewaffneten Drohnen ist in Vorbereitung. Mitten in der Corona-Pandemie hat das Verteidigungsministerium die lang angekündigte Debatte über ethische, völkerrechtlich und verfassungsrechtliche Fragen zu diesem Thema begonnen. In den kommenden Wochen soll im Verteidigungsausschuss ein Grundlagenpapier beraten werden, das wesentliche Weichen für die Bewaffnung der German Heron TP stellen könnte.
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eit mehreren Jahren beschäftigt sich die deutsche IPPNW mit militärischen Drohnen und ihrer Bewaffnung. Aus der Gesundheitsperspektive lehnen wir jeden militärischen Aufrüstungsschritt ab. Was ist darüber hinaus das besonders Beunruhigende an der Bewaffnung militärischer Drohnen? Neben Kriegsgefahr, Vernachlässigung ziviler Lösungspotentiale, Ressourcenverschwendung und Umweltschäden bringen die bewaffneten Drohnen spezifische Probleme mit sich. Sie sind ein weiterer Schritt in Richtung einer permanenten Kriegführung ohne Kriegserklärung und mit vorgeschobenen oder nicht völkerrechtskonformen Gründen. Zum Beispiel liefert für Frankreich (und in der Folge für Deutschland) ein Terroranschlag die Begründung für einen jahrelangen Krieg in anderen Staaten. Es fällt schwer zu glauben, dass deutsche Politiker*innen selbst an alles glauben, was sie in die Begründungen für deutsche Auslandseinsätze hinein formulieren. Die Schwelle für solche Einsätze wird durch bewaffnete Drohnen, die das Risiko für die eigenen Drohnenpilot*innen ausschließen und das Risiko für die Bodentruppen an-
geblich deutlich vermindern, sinken. In anderen Staaten wurde die Entscheidung für außergerichtliche Tötungen erleichtert und die Grenzen zwischen Strafverfolgung, Krieg und willkürlicher Beseitigung von Gegner*innen verschwimmen. Drohnen sind zudem wichtig im Prozess der Digitalisierung des Krieges. Immer mehr Abläufe werden automatisch vollzogen und das Schreckgespenst der autonomen Waffensysteme rückt näher. Elektronische Kampfführung, Cyberkrieg und Drohnen müssen gemeinsam betrachtet werden. Menschen haben im Krieg schon immer schreckliche Entscheidungen getroffen, aber die Vorstellung, dass autonome Waffen aufgrund ihrer Programmierung und ihrer gesammelten Daten Entscheidungen über Leben und Tod treffen, ist noch beunruhigender. So viel verstehen wir inzwischen alle von der Digitalisierung, dass wir wissen: Auch diese technische Entwicklung hat wie alle anderen (zum Beispiel die Kernspaltung) ihre Risiken. Algorithmen sind manipulationsanfällig und sie lenken Entscheidungen in bestimmte Richtungen, das kennen wir von den Algorithmen von Facebook 8
und Google. Algorithmen können dazu führen, dass Abläufe außer Kontrolle geraten, das kennen wir von den Börsen. Durch die Zurverfügungstellung des Luftwaffenstützpunkts Ramstein bietet Deutschland eine direkte Unterstützungsleistung für die Drohneneinsätze der USA und im Rahmen der Bekämpfung des internationalen Terrorismus werden wichtige Daten an die USA und andere Staaten weitergegeben, die in die Datensysteme einfließen. Diese Daten werden auch für Drohnenangriffe genutzt. Die meisten Drohnenangriffe sind allein schon aus dem Grund rechtswidrig, dass die Drohnen auf und über fremden Staatsgebieten eingesetzt werden. Hierin liegt eine Verletzung des Gewaltverbots, eines Kernpfeilers des Völkerrechts, und insbesondere der Unverletzlichkeit staatlichen Territoriums. Anerkannte Ausnahmefälle bestünden nur bei Einwilligung der betroffenen Staaten, einer Resolution des UNSicherheitsrats oder im Fall der Selbstverteidigung gegen den Angriff eines anderen Staates oder eines nicht anders abzuwehrenden Angriffs.
IM STRÖMENDEN REGEN: PROTEST VON FRIEDENSAKTIVISTINNEN VOR DEM VERTEIDIGUNGSMINISTERIUM IN BERLIN, 11. MAI 2020
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ie Bundesregierung fördert mit ihrer zu weit gehenden Auslegung der UNCharta in Bezug auf den Einsatz in Syrien und Irak die internationale Gewaltspirale. Sie trägt so dazu bei, dass bewährte völkerrechtliche Standards untergraben werden. Sollte Deutschland einmal über eigene bewaffnete Drohnen verfügen, droht eine weitere Eskalationsstufe, falls diese dann auf der völkerrechtswidrigen Grundlage des Syrien- und Irakeinsatzes eingesetzt werden. Nur eine klare und eindeutige Rückbesinnung und das Bekenntnis zu einer engen Auslegung des völkerrechtlichen Gewaltverbots und des Selbstverteidigungsrechts können das verhindern.
nachgewiesen worden: Ängste, Schlafstörungen, Depressionen, psychosomatische Beschwerden, posttraumatische Symptome. Diese traten auch bei den Menschen auf, die nicht körperlich verletzt wurden, aber unter der ständigen Überwachung und Bedrohung aus der Luft litten.
Baureihe. Mit 13 Metern Länge und 26 Meter Spannweite ist sie deutlich größer als die zur Zeit in Afghanistan und Mali benutzte Heron 1. Sie hat alle technischen Voraussetzungen für eine Bestückung mit Raketen oder „Subdrohnen“ – diese Voraussetzungen sind bereits mitbestellt und werden eingebaut. Die Schulung für die Waffenbedienung ist vertraglich vereinbart und wurde bereits eingeleitet. Die Munition kann innerhalb von zwei Monaten geliefert werden.
nnerhalb der militärischen Logik wird argumentiert, dass bewaffnete Drohnen die Zivilist*innen schützen, da sie zielgenau Kämpfer*innen treffen und Unbeteiligte weniger gefährden würden als andere Waffen. Abgesehen davon, dass die Unterscheidung in „böse“ Kämpfer*innen und „gute“ Zivilist*innen schon immer eine Illusion war, zeigen die Zahlen bisher, dass Drohnenangriffen bisher Tausende von Zivilist*innen zum Opfer gefallen sind mit einer sicherlich sehr hohen Dunkelziffer, weshalb die Zielgenauigkeit bezweifelt werden kann.
Auch innerhalb der militärischen Logik gibt es neben denen, die bewaffnete Drohnen für die Sicherheit der Soldat*innen als essentiell darstellen, andere, die überzeugt sind, dass ein Drohnenpilot, der außerhalb des Kampfgeschehens sitzt, nicht mit der selben Sorgfalt, Verantwortlichkeit und Verbundenheit zu seinen Mitkämpfer*innen arbeitet und damit die schlechtere Alternative ist. Befürworter*innen führen an, dass durch lange Befehlsketten nur gut geprüfte Entscheidungen zum Waffeneinsatz getroffen werden. Wie das mit dem flexiblen Einsatz zum Schutz angegriffener Bodentruppen zusammengehen soll, ist nicht ohne weiteres nachzuvollziehen. Die Drohnen sind zudem überwiegend im Zielland bzw. im benachbarten Ausland stationiert. Dort müssen sie gewartet und bewacht werden. Es stellt sich also die Frage: Schützen die Drohnen die Soldat*innen oder müssen sich Soldat*innen in Gefahr begeben, um Drohnen zu schützen?
Über die Toten hinaus sind Verletzungen, bleibende Behinderungen und die Zerstörung von Gesundheitsversorgungsstrukturen belegt. Materielle Werte und Existenzgrundlagen wurden vernichtet, Bildungssysteme beeinträchtigt. Psychische Folgen sind in einer Reihe von Untersuchungen
Seit Jahren wird die Ausstattung der Bundeswehr mit bewaffneten Drohnen vorbereitet. Seit letztem Jahr läuft auf Beschluss Susanne des Bundestags ein Leasingvertrag mit Grabenhorst ist Airbus bzw. Israel Aerospace Industries für Co-Vorsitzende das Waffensystem G-Heron TP, eine spe- der deutschen ziell für die Bundeswehr weiterentwickelte IPPNW.
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Welche Möglichkeiten haben wir als Zivilgesellschaft, uns gegen diese Entwicklungen zu engagieren? Ausgerechnet während der Corona-Pandemie wurde am 11. Mai 2020 im Verteidigungsministerium die lang angekündigte Debatte über ethische, völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Fragen begonnen. Es gab Beteiligungsmöglichkeiten über E-Mail und Twitter, weitere Veranstaltungen sollen folgen. Möglicherweise wird im Juni im Verteidigungsausschuss ein Grundlagenpapier erarbeitet, das wesentliche Weichen stellen könnte. Es ist daher nötig, dass sich die Friedensbewegung jetzt an der Debatte beteiligt, zum Beispiel mit Briefen an Abgeordnete und mit Leser*innenbriefen. Mehr unter: http://drohnen.frieden-undzukunft.de
FRIEDEN
An Gesundheit und Freiheit darf man nicht sparen Reise in die Türkei in Corona-Zeiten
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uch in diesem Jahr hatten wir eine Reise in den Südosten der Türkei geplant. Die Gruppe war kleiner als in den letzten Jahren. Die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes und die zunehmende Repression in der Türkei schrecken doch viele ab und einige von uns erlebten heftigen Widerstand von Verwandten und Freunden. Dabei haben wir selbst bisher keine schlechten Erfahrungen gemacht – Kontrollen ja, manchmal auch schikanöse – mehr aber nicht. Journalist*innen können im Südosten nicht mehr arbeiten, auch Vertreter*innen der Deutschen Botschaft haben kaum noch Zugang.
Ich flog schon am 8. März und nahm am nächsten Tag in Diyarbakir am Prozess gegen den abgesetzten Oberbürgermeister und Arztkollegen Dr. Adnan Selçuk Mızraklı teil, den ich seit vielen Jahren aus der Ärztekammer kenne. Er wurde in einem politischen Schauprozess in Abwesenheit zu neun Jahren und vier Monaten Haft verurteilt. Die Höhe der Strafe war für alle Anwesenden sichtbar ein Schock. Richtern und Staatsanwälten bleibt keine freie Entscheidung nach Recht und Gesetz. Wer nicht spurt, wird abgesetzt. Außer mir nahmen noch zwei Deutsche am Prozess teil, die aber am nächsten Morgen wieder abflogen. Weitere internationale Beobach-
ter*innen waren nicht gekommen. DR. ADNAN
SELÇU K MIZRAK LI Ich konnte bei unserer Dolmetscherin Serra und ihrer Familie bleiben. Wir hatten aber nicht viele Möglichkeiten, uns mit Organisationen zu treffen. Als ich ankam, gab es in der Türkei offiziell keine Corona-Infektionen. Das war wegen der Nähe zum Iran nicht glaubhaft. Trotz Grenzsperrung kommen immer Menschen auf jahrtausendealten Schmugglerrouten durch das unwegsame Gebirge. Nachdem Präsident Erdogan in Brüssel war, wurde auch in der Türkei der erste Erkrankungsfall gemeldet. Dann stieg die Zahl schnell an und auch in Diyarbakir wurden Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen verhängt. Die Menschen waren in großer Sorge, besonders weil sie wenig Vertrauen in die Maßnahmen der Regierung haben. Als am 14. März die Gruppe aus Deutschland nachkommen wollte, war die Einreise in die Türkei nicht mehr möglich. Das Newrozfest wurde abgesagt. Diesmal brauchte die Regierung keinen politischen Grund dafür.
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ch konnte bei Serra bleiben, aber nach einigen Tagen sah ich ein, dass mein weiterer Aufenthalt nicht sinnvoll war. Gespräche drehten sich nur noch um Corona. Viele Menschen waren ängstlich, wenn sie hörten, dass ich aus Deutschland gekommen bin. Die Vereine mussten ihre Arbeit einstellen. Im Frauenverein Rosa waren Vorstandsmitglieder dabei, die Räume zu putzen und zu desinfizieren. Wir trafen uns mit dem gebührenden Abstand und hörten gerne, dass ihre Arbeit gut angelaufen war. Das ZAN-Institut ermöglicht mittellosen Kindern den Schulbesuch. Es wird von der „Kinderhilfe Mesopotamien“ aus Köln unterstützt. In der Altstadt Sur entsteht ein 10
neues Haus, ebenso wie die Musikschule, die von JANUN in Hannover unterstützt wird. Beide Baustellen konnten wir besichtigen und mit Vorständen über die weiteren Pläne sprechen. Auf dem Frauenmarkt im Stadtteil Baglar war die Stimmung gut, die angebotenen Waren frisch und reichlich. Die Stadtverwaltung hat den Frauen sogar Toilettenhäuschen aufgestellt und unterstützt sie. Beim „Demokratischen Kongress der Völker“ (DTK), einer kurdischen NGO, trafen wir auf die Abgeordnete Leyla Güven, die wir im letzten Jahr im Hungerstreik besucht hatten, und andere Vorstandsmitglieder. Neben dem Bericht über die vielfältigen Repressionen drehte sich unser Gespräch darum, wie man der kurdischen Sache in Europa besseres Gehör verschaffen könnte. Ein wichtiger Schritt wäre, dass die Kurden aus den verschiedenen Ländern und mit verschiedenen gesellschaftlichen Vorstellungen sich einigen und gemeinsam agieren. Der Ko-Vorsitzende berichtete, dass sie auf diesem Weg in letzter Zeit ein gutes Stück vorangekommen seien. Sie seien sich der Differenzen bewusst, aber angesichts der existenziellen Bedrohung müssten ideologische und andere Differenzen außen vor bleiben. Unsere Partner in der Türkei erwarten von uns, dass wir Druck auf die deutsche Bundesregierung ausüben, damit die einseitige Unterstützung der türkischen Politik und die Kriminalisierung der Kurden in Deutschland und Europa beendet werden. Bei der Ärztekammer trafen wir uns traditionsgemäß unter dem Spruch des Kollegen Mahmut Ortakaya: „An Gesundheit und Freiheit darf man nicht sparen“. Eine Aussage, die in Coronazeiten aktueller ist denn je. Der Lungenfacharzt Ortakaya – die graue Eminenz der Ärztekammer Diyarbakir – empfing uns gemeinsam mit zwei jungen Vorständen, einer Frau und einem Mann, wie es in kurdischen Gremien üblich ist. Natürlich war auch hier die Pandemie ein wichtiges Thema. Das türkische Gesundheitssystem ist in den letzten Jahren privatisiert und kommerziell ausgerichtet worden: Bei steigenden Krankenzahlen wird es schnell an seine Grenzen stoßen.
Wiederaufnahme des Prozesses gegen Dr. Serdar Küni aus Cizre Serdar Küni hat viele Jahre lang als Arzt sion vor dem Kassationsgericht in Gaziin Cizre gearbeitet. Er war President der antep frei. Bei der Revision wurde das Ärztekammer in Sirnak und Leiter des Verfahren wegen schwerer Formfehler Büros der türkischen Menschenrechts- an das Gericht für schwere Straftaten in stiftung in Cizre. Bei den bewaffneten Sirnak zurück verwiesen. Dort sollte der Prozess am 1. Juni stattAuseinandersetzungen in kurdischen Städten finden. Die Staatsanwalt2015/16, die zu besonschaft fordert sieben bis 15 Jahre Haft. Coronabeders vielen Opfern und Menschenrechtsverletdingt wird es für internazungen in Cizre führten, tionale Beobachter*innen behandelte er Kranund selbst für die Menke und Verletzte unter schenrechtler*innen und schwierig-sten BedinKolleg*innen aus der Türgungen, gemäß der ärztkei nicht möglich sein, das Verfahren zu beobachten. lichen Ethik und interEs ist zu befürchten, dass nationaler Konventionen, DR. SERDAR KÜNI er im Schatten der Krise die auch die Türkei verurteilt wird. unterzeichnet hat, ohne Ansehen von politischer Überzeugung, Herkunft und Beteiligung an Kämpfen. Am 19. Oktober 2016 wurde er für sechs Die türkische Menschenrechtsstiftung Monate in Sirnak inhaftiert. Man warf bittet deshalb, Dr. Küni durch Briefe ihm vor, verwundete kurdische Kämp- an die türkischen Autoritäten zu unterfer behandelt und nicht bei der Polizei stützen. Adressen und Musterbriefe begemeldet zu haben und bezichtigte ihn kommen Sie bei Ernst-Ludwig Iskenius deshalb der Mitgliedschaft in der PKK. (iskenius@ippnw.de) oder Gisela PenteEr kam trotz Verurteilung bis zur Revi- ker (g.penteker@gmail.com).
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nter anderem fordert die Türkische Ärztekammer, die vielen seit 2016 entlassenen Beschäftigten im Gesundheitswesen wieder einzustellen und so die große Personalnot zu lindern. Eine große Sorge sind die Gefangenen in den überfüllten Gefängnissen, denen schon in normalen Zeiten eine Gesundheitsversorgung verwehrt wird. Sorgen machen sie sich auch um die Flüchtlinge in den Lagern und um die Menschen im syrischen Kriegsgebiet, dessen Infrastruktur weitgehend zerstört ist, da Krankenhäuser und Schulen gezielt bombardiert worden sind und Hilfsorganisationen keinen Zugang haben. Die Kollegin Elif hatte am Vortag in einem lokalen kurdischen Sender Hygiene-Tipps gegeben. Viel mehr Handlungsmöglichkeiten haben sie nicht. Die Regierung nutzt die Pandemie für weitere Repressionen. 11
Ich bin froh, dass wir auch in diesem Jahr unsere Verbundenheit mit den Menschen in Kurdistan zeigen konnten. Wir werden weiter die Prozesse gegen die Kolleg*innen und andere Menschenrechtler*innen begleiten und in der Ärzteschaft und Politik um Unterstützung werben.
Gisela Penteker ist Türkeibeauftragte der IPPNW und organisiert seit Langem die Reisen in den Südosten des Landes.
FRIEDEN
IPPNW-DEMONSTRATION GEGEN ATOMTESTS IN ALMA-ATA, KASACHSTAN 1990
Rückblick und Auftrag 75 Jahre seit Kriegsende – 75 Jahre seit den Atombomben von Hiroshima und Nagasaki
Der 8. Mai 1945 wurde zum Tag der Befreiung von den Nazi-Verbrechern und des Endes des brutalen Zweiten Weltkrieges. Über 60 Millionen Menschen waren getötet worden, viele Länder lagen in Trümmern. Was war vorausgegangen?
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m September 1939 begann Hitlerdeutschland den zweiten Weltkrieg mit dem Überfall auf Polen. Die NS-Propaganda hatte „gute Vorarbeit“ geleistet – die deutsche Bevölkerung empörte sich nicht. Man wollte zwar keinen Krieg, doch man bewunderte den raschen Sieg und das diplomatische Geschick der Regierung, mit dem „Todfeind“ Sowjetunion einen Kooperationsvertrag, sogar zur Teilung Polens, abgeschlossen zu haben. Als Hitler und seine Generalität in den folgenden Monaten ein europäisches Land nach dem anderen überfielen, immer glorreicher und erfolgreicher wurden, staunte man in Deutschland. Man fürchte-
Der Misserfolg des Attentats vom 20. Juli 1944 auf Hitler führte bei vielen von uns, die sich in der stillen NS-Opposition befanden, zu großer Enttäuschung und gleichzeitig zu der Erkenntnis, dass Hitler weiterhin beim Großteil des Volkes der „von der Vorsehung bestimmte große Führer des Deutschen Volkes“ war, und dass er bis auf den letzten Meter kämpfen und sterben lassen werde. Niemand durfte am Endsieg zweifeln, er musste sonst mit dem Todesurteil rechnen. Wie war dieser unbedingte Gehorsam zu erklären? Dass die Generäle und Offiziere Hitlers Befehlen weiterhin folgten und der Goebbels-Propaganda glaubten, dass Deutschland trotz aller Niederlagen siegen oder aber durch ehrenvollen Waffenstillstand überleben würde? Man hoffte auf einen Zwist zwischen Truman, Churchill und Stalin und auf die deutsche „Wunderwaffe“, deren Vorgänger – die V1 und V2 – ja schon für Angriffe auf England genutzt wurden.
DAS STADTZENTRUM VON STALINGRAD, FEBRUAR 1943
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ie tragischen letzten Kriegsmonate erlebte ich an der französischen Kanalküste und dann im September 1944 glücklicherweise bereits in englischer Kriegsgefangenschaft, in die ich mit hunderten deutschen Soldaten in der Bretagne gekommen war. Im Gefangenenlager in England herrschte weiterhin die strenge NS-Disziplin. Die deutsche Lagerführung forderte, dass die Offiziere mit dem „deutschen Gruß“ zu grüßen seien. Die vom Lagerlautsprecher verbreiteten Nachrichten über die ständigen Rückzüge der Wehrmacht nach ihren Kämpfen gegen „die feindliche Übermacht“ wurden als „Feindpropaganda“ bezichtigt und der Lautsprecher zerstört. Es wurde erwartet, dass wir weiter an den Endsieg glaubten, und wer daran zweifelte, wurde nachts
te zwar um die Zukunft, war aber gleichzeitig stolz. Das ging so bis zur Katastrophe von Stalingrad und der Totalniederlage der Rommel-Armee in Afrika. Nun überwog bei vielen Deutschen die Sehnsucht nach einem Ende des Krieges. 12
PROTEST IN DER „KRIEGSSTADT“ STUTTGART, JAHRESTREFFEN 2019
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von einem Rollkommando in den tiefen Feuerlöschteich geworfen und musste nach Hilferufen von der englischen Bewachung gerettet werden. An „Führers Geburtstag“, dem 20. April 1945, zwei Wochen vor dessen Selbstmord in Berlin, mussten wir beim Appell gehorsam Adolf Hitlers gedenken.
as NATO-Großmanöver, das unter dem lieblichen Namen „Defender“ an der Grenze zu Russland stattfinden sollte und durch die Corona-Krise nur verzögert wurde, soll mit schwersten Waffen geprobt werden, die natürlich bei ihrem richtigen Einsatz als Vernichtungswaffen benutzt werden würden, zu denen auch Atombomben der NATO gehören.
Der 8. Mai wurde für mich und viele andere wirklich zum „Tag der Befreiung“, nicht nur vom furchtbaren Krieg und den ständigen Bombardierungen der deutschen Städte, sondern vor allem von dem verbrecherischen und brutalen NS-Regime.
Lassen wir nicht zu, dass der deutschen Bevölkerung weisgemacht wird, dass wir wegen der uns „schützenden“ nuklearen Teilhabe auch selber Atomwaffen besitzen müssten. Lassen wir nicht zu, dass Milliarden Euro für die Anschaffung atomwaffenfähiger Kampfflugzeuge und anderer Kriegswaffen ausgegeben werden! Die 49,3 Milliarden US-Dollar, die Deutschland 2019 für militärische Rüstung ausgegeben hat, wären dringend nötig für Millionen Menschen in Hunger, Krankheit und Not auf unserer Erde und zur Verhütung und Behandlung der Corona-Krankheit und ihrer Folgen. Wir leben gegenwärtig in der „Corona-Krise“ – aber noch viel wichtiger: Wir müssen heraus aus der „Menschheitskrise des nationalen Egozentrismus“ – hin zu einer Politik von Frieden und Mitmenschlichkeit.
Für eine Mehrheit im Gefangenenlager war es hingegen ein „Tag der Niedergeschlagenheit“. Viele nahmen noch mit klammheimlicher Hoffnung die Fortführung der Kämpfe der Japaner gegen die US-Truppen wahr, bis dann am 6. und 9. August angekündigt wurde, die USA hätten zwei Riesenbomben auf Japan geworfen. Erst viel später erfuhren wir, dass es Atombomben waren.
Dies ist die stark gekürzte Version des Vortrags von Prof. Ulrich Gottstein, der für das Jahrestreffen im Mai 2020 in Rotenburg eingeplant war – das leider abgesagt werden musste.
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ie die Weltgeschichte weiterging, das wissen zumindest wir Mitglieder von IPPNW und ICAN und die Forum-Leser*innen. Die große Hoffnung, es werde nach 1945 keine großen Kriege mehr geben und ganz bestimmt keine atomare Aufrüstung, hat sich nicht erfüllt. Seit 1980 klären wir deshalb die internationale Politik und Weltbevölkerung über die Einmaligkeit der Atomwaffen auf, deren radioaktiver Inhalt seine strahlende Tötungskraft über Jahrhunderte oder Jahrtausende behält. Und seit ebenfalls 40 Jahren werben wir in der IPPNW für „Frieden und Kooperation statt Konfrontation“. Dazu brauchen wir Ausdauer und viel Kraft und müssen den Einfluss von Propaganda sehr ernst nehmen, wie uns das „Beispiel Goebbels“ lehrt.
Prof. Dr. Ulrich Gottstein ist Mitbegründer und Ehrenvorstandsmitglied der deutschen IPPPNW sowie aktives Mitglied von ICAN Deutschland. 13
FRIEDEN
Foto: Förster / IPPNW
VOR DER ABRAHAMSMOSCHEE IN HEBRON, WESTJORDANLAND (2019)
Quo vadis, Israel?
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Das Ende vom Traum eines palästinensischen Staates?
m Koalitionsvertrag der neuen israelischen Regierung ist festgeschrieben, dass die Regierung ab dem 1. Juli 2020 das Jordantal annektieren kann. Sollte sich die Knesset dafür entscheiden, alle Siedlungen im Westjordanland sowie das Jordantal zu annektieren, würde dies einen lebensfähigen palästinensischen Staat und somit auch eine Zweistaatenlösung endgültig unmöglich machen. Benjamin Netanyahu und Benny Gantz scheinen daran kein Interesse zu haben. Schon jetzt haben sie, noch bevor die neue Regierung vereidigt war, angekündigt, 7.000 neue Wohneinheiten für Siedler*innen im Gebiet E2 in der Nähe von Bethlehem und der Siedlung Efrat zu genehmigen, was die palästinensischen Gebiete weiter zerteilen wird.
Journalist Gideon Levi drückt seine Enttäuschung in einem bewegenden Artikel in der Zeitung Haaretz vom 16. Mai 2020 aus. „Europa wird das Erasmus+-Programm aussetzen. Das ist Europas Antwort auf die Annexion … Statt wirkliche Sanktionen zu verhängen – vom pauschalen Einreiseverbot von Siedlern nach Europa bis zu Wirtschaftssanktionen – drohen sie mit Erasmus+ ... Wahrscheinlich werden sie bald Israels neuen Außenminister einladen, und er wird versprechen, an der Zweistaatenlösung festzuhalten. Und viereinhalb Millionen Menschen werden weiterhin ohne Rechte und ohne Zukunft ersticken und Brüssel wird sich weiter auf den Rücken klopfen und sich gut fühlen! Sie haben ja gedroht – Erasmus zu streichen!“
zung dieser Drohung eine Aufkündigung des Oslo-Abkommens bedeuten. Die palästinensische Autonomiebehörde würde die Verantwortung für die palästinensische Bevölkerung an die Besatzungsmacht zurück geben. Dass das wirklich passieren wird, ist kaum vorstellbar. Schließlich hängen sehr viele Arbeitsplätze und die Existenz von vielen großen Familien daran.
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Die Deutsch-Arabische Gesellschaft (DAG) warnt Außenminister Heiko Maas in einem Brief, dass seine Intervention gegen die Sanktionen mit großer Wahrscheinlichkeit in Israel als die Versicherung Deutschlands gelesen werden, dass es – wie stets in der Vergangenheit – bei leeren Worten bleiben wird. Sollte es zu einem neuen Ausbruch der Gewalt im Nahen Osten kommen, hätte der Außenminister dafür eine Mitverantwortung, so die DAG.
Der „Trump-Friedensplan“ ist ein klarer Bruch des Völkerrechts. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein gewichtiger internationaler Akteur. Sie muss endlich ihrer Verantwortung gerecht werden und alles für die Einhaltung von Völkerrecht und Menschenrechten tun. „Mit Israel reden“ ist nicht genug! Zumindest der Waffenhandel sollte sofort beendet werden. Und Palästina muss als Staat anerkannt werden, wie es Schweden und 138 weiteren UNMitglieder bereits getan haben.
iele, die weiter auf eine Zweistaatenlösung setzen, haben auf Europa gehofft, nachdem die US-Administration aufgehört hat, die Palästinenser*innen auch nur in Gespräche einzubeziehen. Doch Europa scheint uneins zu sein wie eh und je. Der Außenbeauftragte der EU Josep Borell hat wiederholt betont, dass die EU keinerlei Änderung in den Grenzen von 1967 anerkennen wird, es sei denn, sie seien von der israelischen Regierung mit den Palästinenser*innen ausgehandelt worden. Frankreich, Spanien, Schweden, Belgien und vor allem Luxemburg drängen angeblich auf eine harte Linie; vom britischen Außenminister hört man, er werde keine Annexion unterstützen. Doch der deutsche Außenminister Heiko Maas hat sich gegen Sanktionen ausgesprochen: Man wolle im Gespräch bleiben. Er scheint sich durchgesetzt zu haben. Der israelische
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alästinenserpräsident Mahmud Abbas hat am 15. Mai 2020 das Ende aller Vereinbarungen mit Israel und den USA einschließlich der Sicherheitsvereinbarungen erklärt. In der Vergangenheit hatte er schon öfter ähnliche Drohungen geäußert, diese aber bisher nicht umgesetzt. Welche Konsequenzen hätte das in den besetzten Gebieten? Letztendlich würde eine Umset14
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nsere israelischen Freunde, die der jetzigen Regierung kritisch gegenüberstehenden sowie unsere palästinensischen Freunde sagen uns immer wieder, der Druck auf Israel müsse von außen kommen. Nur wenn Israel spüre, dass es weh tut, sich außerhalb des Völkerrechts zu stellen, könne sich etwas ändern.
Sabine Farrouh ist IPPNWMitglied und organisiert die IPPNWBegegnungsreisen Palästina-Israel.
Gesundheitsversorgung in Moria
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Leave no one behind! Die EU entzieht sich ihrer Verantwortung Blutuntersuchungen, bildgebender Diagnostik und fachärztlichen Konsultationen weg bzw. sind nur noch in Notfällen möglich. Da die Räumlichkeiten und personellen Kapazitäten der medizinischen Strukturen in Moria nicht dem Versorgungsbedarf entsprechen, ergeben sich für die Patient*innen stundenlange Wartezeiten und viele von ihnen werden am Ende nicht ärztlich untersucht. Außerdem ist es erschreckend, wie viel Leid und Krankheit durch die Lebensbedingungen und die anhaltende Ungewissheit in Moria bedingt sind.
ur Zeit leben mehr als 20.000 Menschen in Moria auf Lesbos, einem Camp mit einer ursprünglichen Aufnahmekapazität von 3.100 Menschen. Die Geflüchteten werden im Rahmen der europäischen Abschottungspolitik auf den griechischen Inseln festgehalten. So soll es der EU-TürkeiDeal von 2016 ermöglichen, alle „irregulär“ ankommenden Geflüchteten, die kein Asyl beantragen oder deren Antrag abgelehnt wird, in die Türkei abzuschieben. Weiterhin verbietet der Deal Geflüchteten die Inseln zu verlassen, bis über ihren Asylantrag entschieden wurde, was Jahre dauern kann.
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isher gab es auf Lesbos nur wenige Fälle von Covid-19. Während die Ausgangssperren für Griech*innen langsam gelockert werden, dürfen die Geflüchteten das Camp weiterhin nicht verlassen. Maßnahmen zur Erkennung und Vorbereitung auf einen Ausbruch, wie die Einführung einer zentralen Triage (in der systematisch nach Symptomen von Covid-19 gescreent wird) und der Einrichtung von Isolationsmöglichkeiten, wurden zwar mit einiger Verspätung getroffen, erscheinen aber anggesichts der Enge und hygienischen Zustände des Camps völlig unzureichend. Sobald es den ersten Fall im Camp gibt, wird ein Ausbruch nicht mehr zu verhindern sein.
Die Lebensbedingungen in Moria werden von Geflüchteten selbst als höchst unmenschlich und erniedrigend beschrieben. Trotz jahrelanger Kritik von NGOs und der griechischen Bevölkerung hat sich die Situation zunehmend verschlechtert. Zur Unterbringung stehen oft nur dicht gedrängte Zelte zu Verfügung, es fehlt an sanitären Anlagen, die Wasser- und Stromversorgung funktioniert meist nur stundenweise, für Essen und Trinkwasser muss mehrmals täglich stundenlang angestanden werden. Es kommt immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und sexualisierter Gewalt. All dies führt nicht nur zu Haut-, Durchfall-, und Atemwegserkrankungen, die meisten Menschen leiden insbesondere psychisch unter der Situation. Viele haben schon im Herkunftsland und auf der Flucht Krieg, Folter oder andere Gewalt erlitten, und werden durch die andauernde existentielle Unsicherheit, die Polizeipräsenz, die Gewalt in Moria weiter traumatisiert.
Wenn in der EU Menschenrechte tatsächlich für alle gelten würden, wäre Moria schon längst evakuiert worden. Stattdessen entzieht sich die EU der Verantwortung, Abschreckung und Grenzsicherung werden über Menschenleben gestellt. Spätestens jetzt, mit der Bedrohung durch die Covid-19-Pandemie, ist die Auflösung des Camps die einzig sinnvolle Maßnahme zum Schutz der Menschen.
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ie Covid-19-Pandemie und die damit verbundenen Maßnahmen haben all dies nochmal verschärft. Einerseits sind (auch durch die faschistischen Übergriffe im März) viele Unterstützungsstrukturen zusammengebrochen, andererseits dürfen die Menschen das Camp nur noch in Ausnahmefällen verlassen. Dadurch nimmt die Anspannung im Camp spürbar zu. Die Gesundheitsversorgung der Menschen in Moria war schon vor Beginn der Pandemie prekär. Sie wird zu großen Teilen von NGOs übernommen, mit eingeschränkten Möglichkeiten zur Überweisung an Einrichtungen des griechischen Gesundheitssystems. Seit dem Lockdown – der Schließung des Camps aufgrund des Coronavirus – fallen die ohnehin schlechten Möglichkeiten zu
Charlotte Linke und Jessica Horst sind Ärztinnen aus Berlin und arbeiten aktuell für eine NGO in Moria (Lesbos). 15
Fotos: Fotomovimiento / CC BY-NC-ND 2.0
KATASTROPHALE LEBENSBEDINGUNGEN: FLÜCHTLINGSLAGER AUF DEN GRIECHISCHEN INSELN (2018)
ATOMWAFFEN
Streit um die Nukleare Teilhabe Politische, technische und sogar militärische Argumente sprechen für den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland
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undesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer teilte im April 2020 mit, eine Art Generalüberholung der deutschen Luftwaffe durchführen zu wollen. Im Zuge dessen möchte sie neben 93 Eurofightern auch 45 Kampfjets des Typs F-18 von der US-Firma Boeing kaufen. 30 dieser F-18 sollen dabei die Fähigkeit der Bundeswehr erhalten, Atomwaffen abzuwerfen. Auf diese Art und Weise könnte Deutschland die „nukleare Teilhabe“ weiterhin praktizieren. Im Bundestag gibt es dazu Diskussionsbedarf. In einem fraktionsübergreifenden Beschluss von 2010 hieß es, die Bundesregierung solle sich für den Abzug der Atomwaffen einsetzen. Anfang Mai erklärte Rolf Mützenich, der Fraktionsvorsitzende der SPD, dass die nukleare Teilhabe grundsätzlich überprüft werden solle. Saskia Esken und Norbert Walter Borjans äußerten sich ähnlich. Die nukleare Teilhabe möchte ich hier anhand technischer, militärischer und politischer Aspekte analysieren.
Technisch Ein genauer Blick auf die Atombomben in Büchel lohnt sich, um das Ausmaß der Absurdität der nuklearen Teilhabe zu begreifen. Die B61-Atombomben haben eine sogenannte „Dial-a-yield“-Funktion, wodurch sich die genaue Sprengkraft wählen lässt. Diese liegt Experten zufolge zwischen 0,3 Kilotonnen (kt) und 170 Kilotonnen je nach
Modell. Die B61 ist 13-mal zerstörerischer als die Hiroshimabombe, andere heutige Atombomben besitzen sogar ein Mehrfaches an Sprengkraft. Die B61 gilt damit als „taktische Atomwaffe“, die für den „begrenzten Einsatz auf dem Gefechtsfeld“ geeignet sei. Ursprünglich waren sie dafür gedacht, russische Truppen auf dem großflächigen Vormarsch zu stoppen, indem ein Gebiet atomar verseucht wird. Selbst diese menschenverachtende und zynische Logik greift aus technischer Sicht schon lange nicht mehr. Die Reichweite der Tornado-Flugzeuge ist zu gering, man könnte absurderweise lediglich Verbündete aus der NATO angreifen. Auch das neue Modell, die F-18, hat wohl nicht ausreichend Reichweite, um damit an die russische Grenze zu fliegen und wieder zurück, da sind sich die Rüstungsexperten einig. Hinzu kommt, dass es von Radarsystemen erkannt werden kann und deshalb schon abgefangen werden würde, bevor es seinen militärischen Zweck erfüllen könnte. Daher ist es auch aus technischer Sicht geboten, die nukleare Teilhabe Deutschlands kritisch zu überprüfen. Haben Atomwaffen in dieser Form überhaupt einen militärischen Nutzen?
Militärisch Aus militärischer Sicht ist die nukleare Teilhabe Deutschlands bedeutungslos. Es gibt kein Szenario, in dem deutschen Atombombern eine Rolle zukäme, weder im Angriffs- noch im Verteidigungsfall.
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Rolf Mützenich bezieht sich in seiner Kritik auch auf die Unberechenbarkeit der USA unter ihrem aktuellen Präsidenten. Die USA behalten es sich vor, strategische Angriffe auch mit einem atomaren Erstschlag zu vergelten. Natürlich ist es eine Horrorvorstellung, dass ausgerechnet Donald Trump Kontrolle über das größte Nukleararsenal der Welt hat. Unter der Trump-Administration wird offen über das Einsetzen von taktischen Atomwaffen in der Kriegsführung gesprochen, weit über den Einsatz als abschreckendes Druckmittel hinaus. Die Vorstellung, dass NATOStaaten, insbesondere Deutschland, sich dieser US-Strategie anschließen und einen Erstschlag mit Atomwaffen ausführen, ist militärisch und politisch schwer denkbar.
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igenmächtig könnten die USA die Bomben in Büchel nicht einfach einsetzen. Das Zwei-Schlüssel-Prinzip bedeutet, dass die USA die Bomben scharfmachen, und dann deutsche Soldat*innen die Bombe ins Ziel bringen. Das wäre Donald Trump viel zu umständlich, er verfügt selbst über genügend eigene Raketen. Für den Angriff kommen die Bomben in Büchel höchstwahrscheinlich also gar nicht in Frage. Auch im Verteidigungsfall wäre mit ihnen nichts zu gewinnen. Im Falle eines feindlichen Angriffes würde u.a. Büchel zerstört werden. Ohnehin ist ein Zweitschlag militärisch sinnlos. Die Logik der Abschreckung basiert darauf, sich willig und fähig zu zeigen, einen Erstschlag zu vergelten. Sobald ein solcher Erstschlag aber durch-
PROTESTAKTION VON IPPNW, ICAN UND DFG-VK GEGEN DEN GEPLANTEN KAUF VON ATOMBOMBERN VOR DEM BUNDESTAG, 7. MAI 2020 geführt wurde, bricht diese Logik in sich zusammen. Ein Zweitschlag macht dann keinen Sinn mehr, denn die Abschreckung soll den Erstschlag verhindern und nicht als Rechtfertigung für einen Zweitschlag dienen. Auch aus militärischer Sicht ist die nukleare Teilhabe also obsolet.
Politisch Es bleibt noch die zweigeteilte politische Perspektive. Einerseits, dass die Atomwaffen eine politische Abschreckungswirkung erzielen. Andererseits, dass die in Deutschland lagernden Atomwaffen im Falle eines Ausstiegs aus der technischen nuklearen Teilhabe sonst einfach in ein anderes Land verbracht würden. Die politische Abschreckung hat eine innere und äußere Dimension. Nach außen scheitert die Abschreckungslogik an den technischen und militärischen Gegebenheiten, wie oben beschrieben. Die Abschreckung ist damit nicht glaubwürdig. Natürlich wissen auch potenzielle Feinde, wie es um die Bomben bestellt ist.
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ie innere Dimension verdient mehr argumentative Sorgsamkeit. Eine NATO, die sich auch in der Frage der Atomwaffen einig ist, mag im Zweifel schlagkräftiger sein, so heißt es von Befürwortern der nuklearen Teilhabe. Eine NATO, die sich an militärisch nutzlose Atomwaffen krallt, ist allerdings aus der Zeit gefallen. Transatlantische Geschlossenheit zu zeigen sollte durch andere Formen der politischen Ko-
operation viel besser möglich sein. Weiter wird argumentiert, dass die Atomwaffen in Büchel der Bundesregierung ein Mitspracherecht in der NATO erkaufen würden. Ist das so? Institutionell kann davon keine Rede sein. Außer Frankreich sind alle Alliierten Teil der Nuclear Planning Group, eines Beratungsgremiums des NATO-Rates. Einen besonderen Kreis an Eingeweihten gibt es offiziell nicht. Der erhöhte Einfluss Deutschlands durch Atomwaffen beruht also auf dem wenig überzeugenden Verweis auf verschworene informelle Zirkel.
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u guter Letzt bleibt noch das Argument, die Atomwaffen würden im Falle des Endes der technischen nuklearen Teilhabe Deutschlands einfach in einem anderen Land stationiert, beispielsweise in Polen. Dieses Argument ist faktisch falsch und zeugt von einem paternalistischen Verständnis der Rolle Deutschlands. Zum einen spricht die NATO-Russland-Akte von 1997 gegen dauerhafte Kampftruppen sowie Atomwaffen in Osteuropa. Die NATO hält bisher daran fest und es gibt keinerlei Anzeichen, dass sich das ändern sollte. An einem verschärften Konflikt mit Russland hat sicherlich niemand Interesse, schon gar nicht die Staaten in Osteuropa. Eine konsensuale Entscheidung, technisch und militärisch nutzlose Atombomben nach Osten zu verlagern, trifft die NATO daher nicht leichtfertig. Zum anderen sollten wir uns die Sonderrolle der nuklearen Teilhabe bewusst ma17
chen. Was in der NATO als legitim gilt, würde die Bundesregierung verurteilen, wenn es in anderen Teilen der Erde geschähe. Russland könnte ja (wie früher die Sowjetunion) ein ähnliches Modell aufbauen, und Atomwaffen rund um das Schwarze Meer stationieren, in Aserbaidschan an der Grenze zum Iran möglicherweise. So ein Verhalten wäre politisch inakzeptabel.
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olitische Blockbildung ist seit Ende des Kalten Krieges nicht mehr so eindeutig und starr, die Verhältnisse ändern sich laufend. Das gilt auch für das das transatlantische Verhältnis. Die Bedürfnisse der NATO-Alliierten ändern sich und werden sich weiterhin ändern. Neue Bedürfnisse erfordern neue Strukturen und neue politische Zusicherungen. Atomwaffen sind dabei sogar aus militärischer und politischer Perspektive hinderlich, denn sie sind unflexible, höchstgefährliche und für den tatsächlichen Zweck der Abschreckung unbrauchbare Waffen. Wenn diese technisch und militärisch keinen Nutzen haben, wird es Zeit, sich auch politisch von der Sonderrolle der nuklearen Teilhabe zu verabschieden. Mehr Infos: atombomber-nein-danke.de
Florian Eblenkamp ist Vorstandsmitglied von ICAN Deutschland.
ATOMENERGIE
Der Letzte macht das Licht aus Atomenergie in Zeiten der Coronavirus-Pandemie
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er weltweite Ausbruch von SARSCoV-2 betrifft alle Teile unserer Gesellschaftsordnung – auch die Produktion von Energie. Insbesondere die zahlenmäßig zwar geringfügige aber gleichzeitig hoch riskante Atomenergie bedarf einer besonderen Betrachtung.
Konkrete Auswirkungen der Pandemie auf den Betrieb von AKWs Das Personal eines AKW ist zum Teil hochspezialisiert, benötigt besondere Fachkenntnisse, offizielle Genehmigungen und Hintergrundüberprüfungen und kann im Fall von größeren krankheitsbedingten Ausfällen oder zu Zwecken des Infektionsschutzes nicht einfach kurzfristig ersetzt werden. Die International Nuclear Risk Assessment Group INRAG sorgt sich in einer Publikation vom April 2020, „dass sich die in vielen Ländern als Reaktion auf die Pandemie vorgenommene Verringerung des Personalbestands, Inspektionen, Ausfälle und notwendige Wartungsarbeiten negativ auf die Sicherheitsmargen der atomtechnischen Anlagen auswirken und möglicherweise zu einem schweren Unfall führen werden.“ Regelmäßige Wartung, Nachrüstungen und der Ersatz defekter Bauteile sind unerlässlich, um den sicheren und zuverlässigen Betrieb von Atomreaktoren aufrechtzuerhalten. Die derzeitige Coronavirus-Pandemie hat jedoch nicht nur Auswirkungen auf das Personal in den Kraftwerken, sondern auch auf die Versorgungsketten mit Ersatzteilen. Die für das Frühjahr dieses Jahres geplanten Transporte hochradioaktiver Abfälle aus der Wiederaufbereitungsanlage Sellafield (UK) wurden ebenfalls verschoben, da der erforderliche entsprechende Polizeieinsatz nicht durchführbar war Im Falle eines schweren Unfalls könnten Notfallmaßnahmen wie die Evakuierung der lokalen Bevölkerung notwendig werden. Solche Maßnahmen sind selbst unter nor-
malen Bedingungen äußerst anspruchsvoll, können aber in einer Pandemiesituation, in der Notfalldienste, Krankenhäuser und das gesamte medizinische System bereits unter hohem Druck arbeiten, noch kritischer werden. Im Gegenzug könnte die Bewegung großer Bevölkerungsgruppen inmitten einer Pandemie zu weiteren Ausbrüchen führen. Eine soziale Distanzierung z.B. in Evakuierungszentren wäre nicht möglich. So kann ein schwerer Atomunfall während einer Pandemie zu noch viel schwerwiegenderen Folgen führen.
3% – vorausgesetzt, dass die Pandemie noch in diesem Jahr ihren Höhepunkt erreicht. Sollte sie sich bis ins nächste Jahr fortsetzen, wovon auszugehen ist, könnte die Weltwirtschaft 2021 um weitere 8% einbrechen. Die Weltfinanzkrise von 2007 verursachte lediglich einen Einbruch von 0,1%. In einer solchen Situation stellt sich die Frage, ob man Atomkraftwerke wirklich laufen lassen muss, oder ob eine frühzeitige Abschaltung sinnvoll wäre.
Erlaubt die Situation auf dem Strommarkt eine frühzeitige Abschaltung?
In Deutschland sind seit der Stilllegung von Philippsburg 2 Ende letzten Jahres nur noch sechs Atomreaktoren am Netz. Drei davon werden Ende 2021 vom Netz gehen, drei weitere dann Ende 2022.
Wegen der Stilllegung zahlreicher Industriezweige ist der allgemeine Stromverbrauch in Deutschland stark gesunken. Weil ganze Fabriken aktuell abgeschaltet wurden und Großfirmen ihre Stromnachfrage um bis zu 90% reduziert haben, kommt es zur Tagesmitte, wenn die Solarstromproduktion ihren Höhepunkt erreicht, an manchen Tagen bereits zu negativen Strompreisen. Insgesamt ist der Stromverbrauch nach Angaben des Energiewirtschaftsverbands BDEW in Deutschland im Schnitt um 9% eingebrochen – für den ansonsten relativ konjunkturunabhängigen Strommarkt ein außergewöhnlicher starker Abfall. Laut Handelsblatt liegen daher im Deutschen Stromnetz regelmäßig rund 4.000 Megawatt an Leistung zu viel vor. Dies entspreche der Leistung von vier großen AKWs.
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chon jetzt laufen Kohlekraftwerke mit geringer Auslastung, Deutschland hat seine Stromexporte noch einmal deutlich gesteigert, mitunter müssen Abnehmer sogar finanziell abgefunden werden, damit sie den deutschen Überschussstrom überhaupt in ihre Netze einspeisen. Die mittelfristige Prognose lässt wenig Hoffnung auf baldige Erholung zu: Der IWF rechnet mit einem Einbruch der Weltwirtschaft um 18
Die Situation in Deutschland
Das AKW Grohnde befindet sich derzeit in Revision. Es ist abgeschaltet, Brennelemente werden gewechselt. Normalerweise wächst in dieser Zeit die Belegschaft von rund 500 auf 1.500. Doch diesem Plan erteilte die Landesregierung Niedersachsen aufgrund des Infektionsrisikos eine Absage. Statt 1.000 zusätzlichen Mitarbeiter*innen sollen nun maximal 250 kommen, die Revision dafür aber statt zwei jetzt sechs Wochen dauern. Ein klassischer politischer Kompromiss. Ob die Sicherheit und der Infektionsschutz damit eingehalten werden können, steht auf einem anderen Blatt. Das Bundesumweltministerium stellte schon provisorisch fest: „Kann eine Anlage die Mindestbesetzung für den sicheren Betrieb nicht sicherstellen, so ist sie abzufahren.“ Im Mai steht die Revision im AKW Emsland an, bei denen ebenfalls hunderte externer Fachkräfte aus Deutschland und dem Ausland über Wochen auf engem Raum neben der üblichen Belegschaft arbeiten müssten. Erste Stimmen werden bereits laut, dass diese Revision aufgrund der Coronakrise ausfallen müsste. „Es kann doch nicht angehen, dass im öffentlichen
Bereich der Kontakt von mehr als zwei Personen miteinander unter Androhung von Strafe verboten wird und gleichzeitig eine mehrwöchige Großveranstaltung mit über 1.000 Teilnehmern in Lingen durchgezogen werden soll,“ so Gerd Otten vom Elternverein Restrisiko Emsland. Dabei verbietet sich eine Verschiebung von Revisionen bei alten, störanfälligen Reaktoren wie dem AKW Emsland eigentlich. Aktuell müssten beispielsweise dringend die vorhandenen Risse in Rohren im Dampferzeugersystem überprüft werden. Die Alternative wäre, das AKW im Mai ganz vom Netz zu nehmen, statt wie geplant erst Ende 2022. Ähnliche Kritik an den geplanten Revisionen wird auch in Bayern laut, wo im Juni eine Revision im Atomkraftwerk Gundremmingen C ansteht, wobei das Kraftwerk aktuell aufgrund defekter Brennelemente ohnehin vom Netz ist.
Der Blick ins Ausland In anderen Staaten haben Atomaufsichtsbehörden die Anforderungen in sicherheitsrelevanten Bereichen bereits lockern müssen, um den neuen Anforderungen der Coronavirus-Pandemie gerecht zu werden. So werden Personaluntergrenzen unterschritten, Wartungsarbeiten verzögert und Reaktoren unzulässig lang im Betrieb gehalten. In der Schweiz hatte man kürzlich Revisionen trotz Bedenken um Ansteckungsrisiken gestattet. Im Pannenreaktor Beznau müssen daher während der aktuellen Revision statt 460 regulärer Mitarbeiter*innen einen Monat lang 860 Mitarbeiter*innen auf engem Raum zusammenarbeiten. Die 400 Externen kommen aus Deutschland, Österreich und Italien. Im nahegelegenen AKW Leibstadt verdreifacht sich während der anstehenden Revision die Zahl der Mitarbeiter*innen sogar – von 500 auf 1500 Mitarbeiter*innen. Die Schweizer NGO Ärzt*innen für Umweltschutz hält es für „kaum möglich“, dass die vom Bundes-
rat erlassenen Corona-Vorschriften bei den meist knappen Platzverhältnissen in AKWs einhaltbar seien. Sie fordert daher: „AKWs bei allenfalls mangelndem Personal abschalten als ein erhöhtes Risiko zu eingehen – ausgerechnet während des Corona-Notstandes.“ Erste positive SARS-CoV-2Fälle gibt es in der Schweiz schon bei mindestens zehn Mitarbeiter*innen schweizerischer AKWs. Die zuständige Behörde in den USA hat bereits vorgeschlagen, kritische Techniker in den AKWs des Landes zu isolieren und sie zu bitten, vor Ort zu leben, um eine Exposition gegenüber dem Virus zu vermeiden. Auf der Grundlage von Pandemieplänen verfügen AKWs in den USA über Kinderbetten, Decken, chemische Toiletten und genügend persönliche Pflegeartikel um die Betriebsmannschaften einer Anlage samt Familien zu versorgen. Andere Betreiber geben der Sicherheit den Vorrang: die Wiederaufbereitungsanlage im englischen Sellafield wurde vor kurzem temporär stillgelegt, nachdem mehr als 1.000 der 11.500 Mitarbeiter*innen in die Selbstisolation gehen mussten, da sie Symptome von Atemwegsinfekten zeigten, zur Risikogruppe gehörten oder erkrankte Familienmitglieder haben. Ohne die Mitarbeiter*innen wäre ein sicherer Betrieb nicht möglich gewesen, weshalb man sich entschloss, die Anlage vorerst abzuschalten. Verbindliche internationale Regelungen, wie sich AKW-Betreiber auf den Fall einer Pandemie vorbereiten müssen, gibt es nicht.
Ausblick In jeder Krise steckt auch eine Chance. Bewegung kommt in festgefahrene Prozesse, Prioritäten ändern sich und feststehende Dogmen geraten ins Wanken. Anlässlich der Coronavirus-Pandemie und ihrer verheerenden wirtschaftlichen Auswirkungen bedarf es dringend innovativer Konzepte, 19
die jetzt in der Krise und weit darüber hinaus nachhaltige Lösungen für den Arbeitsmarkt, die Wirtschaft und die Energieversorgung präsentieren können.
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ie Weichen sind in Deutschland längst gestellt: Es gibt einen breiten gesellschaftlichen Konsens von Graswurzelaktivist*innen und Endverbraucher*innen über lokale Stadtwerke, Rathäuser und Mittelstandsunternehmen bis hoch in die Konzernzentralen und ins Kanzleramt, dass der Ausstieg aus der Atomenergie und fossilen Brennstoffen dringend vorangetrieben und die fünf Säulen der Energiewende konsequent umgesetzt werden müssen: Energiesparmaßnahmen, Energieeffizienz, Elektrifizierung, Erneuerbare Energieproduktion und Energiespeichertechnologien. Die Corona-Pandemie kann neue Bewegung in diesen Prozess bringen und den vorgegebenen Weg beschleunigen, z.B. durch ein frühzeitiges Abschalten der maroden deutschen Altmeiler. Dies würde den Bedarf an erneuerbarer Energieproduktion und damit den Innovationsdruck für Forschung und Entwicklung deutlich erhöhen. Die Welt wird „nach Corona“ nicht mehr dieselbe sein. Die richtigen politischen Entscheidungen von heute können dafür sorgen, dass die Gesellschaft und unsere Infrastruktur aus dieser Krise nicht schwächer, sondern robuster und nachhaltiger hervorgeht. Weitere Infos: C. Pistner et al.: „Nuclear Safety and Security during a Pandemic“. International Nuclear Risk Assessment Group (INRAG): ippnw.de/bit/inrag
Dr. Alex Rosen ist Co-Vorsitzender der deutschen IPPNW.
Foto von 2012: Ashley Coates / CC BY-SA 2.0
VORERST ABGESCHALTET: WIEDERAUFBEREITUNGSANLAGE IN SELLAFIELD (UK)
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eine faulen Eier! Mit einem „nuklearen Osternest“ protestieren ICAN und IPPNW vor dem Bundeskanzlerinnenamt gegen die geplante Neuanschaffung atomwaffenfähiger Kampfjets. 20
Die- Sendung „Virtueller Ostermarsch“ finden Sie auf Youtube: youtu.be/p1PpbqTb8dA
60 Jahre Ostermärsche IPPNW-Mitglieder demonstrierten auf kreative Weise von zuhause aus
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or 60 Jahren fand in Deutschland der erste Ostermarsch statt. Das Jubiläum wurde in diesem Jahr auf besondere Weise begangen, da die Ostermärsche während der Ausgangsbeschränkungen nicht wie gewohnt auf der Straße stattfinden konnten. Viele IPPNW-Mitglieder haben Fotos mit Abrüstungsbotschaften gemacht oder Friedensfahnen an ihre Häuser gehängt. Die Herforder IPPNW erstellte eine Bodenzeitung, die sie für Passant*innen auf dem Marktplatz auslegte. In Berlin war eine zwei-Personen-Aktion gegen Atombomber am Kanzleramt genehmigt worden. Friedensinitiativen hatte außerdem zu einem „Virtuellen Ostermarsch“ auf Youtube aufgerufen. In einem Livestream am Ostersamstag gab es Redebeiträge und Musik. Mit dabei waren unter anderem Konstantin Wecker, Netzaktivistin Katharina Nocum, Jürgen Grässlin, Sprecher der „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel“ und der Friedensbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland Renke Brahms. Zu hören waren unter anderem Musikbeiträge von Liedermacher Pablo Miró und der deutsch-französischen Hiphop-Combo Zweierpasch.
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CORONA-PANDEMIE
The Rich Man’s Disease
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ie Coronavirus-Pandemie richtet weltweit verheerende Schäden an. Es ist nicht überraschend, dass sich ein Virus mit pandemischen Fähigkeiten so schnell über den Globus ausbreitet. Was ich nicht erwartet hatte, sind die plötzlichen und direkten Auswirkungen Im Bereich der Wirtschaft und Sicherheit. Anfang April 2020 waren rund drei Milliarden Menschen in ihrer Mobilität eingeschränkt. Das Ausmaß der Maßnahmen ist beispiellos. Isolation, Rückverfolgung und Quarantäne sind jahrhunderte alte Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens, um die Übertragung von Infektionskrankheiten zu verhindern. Man kann nach der Angemessenheit, Verhältnismäßigkeit und Legitimität aller getroffenen Maßnahmen fragen. Der ausgerufene Ausnahmezustand und die „kriegsähnliche Situation“ können staatlich geführte Interventionen auf nationaler und internationaler Ebene rechtfertigen. Die Globalisierung ist kein neues Phänomen – genauso wenig wie die Epidemien, die sie begleiten. Schon im Mittelalter folgte dem ausgedehnten Handel mit Waren, wissenschaftlichen Erkenntnissen, Menschen und Sklaven auf den Seidenstraßen von Ostasien bis zum Mittelmeer die Übertragung der Beulenpest in die neu entstehenden europäischen Städte. Die rasche Urbanisierung und die schmutzigen und beengten Wohnverhältnisse sorgten für einen perfekten Seuchensturm, der um 1350 seinen Höhepunkt erreichte.
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twa 50 Prozent der europäischen Bevölkerung starben. In den Stadtstaaten Venedig und Dubrovnik wurden die aus der islamischen Welt gelernten Prinzipien der Isolation und Quarantäne umgesetzt, um zu verhindern, dass infizierte Menschen und Schiffe in die Städte kamen. Diese Maßnahmen trugen in hohem Maße zur Entstehung der italienischen Handelsstaaten und zur Renaissance im 15. Jahrhundert bei.
Globalisierungsparadoxon und Coronavirus Eine prominente Geschichte, die als Geburtsstunde der „modernen“ öffentlichen Gesundheit und Epidemiologie gilt, war 1854 zudem John Snows Entdeckung, dass sich die Einwohner*innen Londons über schmutziges Brunnenwasser mit Cholera infizierten. Die Stadt litt damals unter dem „Großen Gestank“. Die Themse war voller Exkremente, Schmutz und Cholerabakterien. Als die Elite sah, wie Armut und mangelnde Hygiene buchstäblich vor ihrer Haustür angespült wurden, beschloss sie, dass es so nicht weitergehen könne, und begann, massiv in den Bau einer städtischen (Ab-)Wasserversorgung zu investieren. Als „Armutskrankheiten“ gelten unter anderem HIV, Ebola, Zika und eine Reihe anderer Infektionskrankheiten – im globalen Gesundheitsjargon werden sie als „vernachlässigte Krankheiten“ bezeichnet. Ihnen ist gemeinsam, dass sie „andere“ betreffen und dass ihr Auftreten und ihre Auswirkungen aus den Medien ferngehalten werden. Covid-19 wiederum ist aus meiner Sicht eine Wohlstandskrankheit, die den Armen auf mittlere Sicht und durch die ergriffenen Maßnahmen schaden und die sozialen Ungleichheiten vertiefen kann. Diejenigen, die über die entsprechenden Fähigkeiten, das Kapital und die Mobilität verfügen, sind in der Lage, das Infektionsrisiko auf ein Minimum zu reduzieren. Die Menschen mit befristeten Arbeitsverhältnisse, beengten Lebensbedingungen und informellen wirtschaftlichen Aktivitäten haben viel weniger Möglichkeiten, sich vor einer Virusinfektion zu schützen. Es zeichnet sich der Trend ab, dass Covid-19 vor allem die Länder mit höherem Einkommen betrifft und über die mobilen, wohlhabenderen Mitglieder der Bevölkerung übertragen wird. So besteht beispielsweise ein positives Verhältnis zwischen der Gesamtzahl der bestätigten Fälle pro Million Menschen und dem Pro-Kopf-BIP. Die USA, Europa und Südostasien sind unver22
hältnismäßig stark betroffen. In West- und Zentralafrika beispielsweise ist die Epidemie (noch) nicht explodiert. Das Virus hat sich hauptsächlich über Reisende verbreitet, die ihn von anderen Kontinenten mitbrachten. In Nigeria ist Covid-19 unter dem Namen „The Rich Man‘s Disease“ bekannt, in Kinshasa (Kongo) als „VIP-Krankheit“. Natürlich erfordern die komplexen Übertragungsmuster nuancierte Betrachtungen und Kontextualisierung. Nach dem es anfänglich um „Superspreaders“ und „Hotspots“ ging, hat sich Covid-19 zwischen den Ländern in den Risikogruppen und unteren Schichten der Gesellschaft ausgebreitet. Diese tragen ein unverhältnismäßig hohes Risiko. Zum Beispiel tötet Covid-19 in New York Schwarze und Latinos doppelt so häufig wie Weiße. Diese Tatsache spiegelt die seit langem bestehenden, anhaltenden wirtschaftlichen Ungleichheiten und Unterschiede beim Zugang zur Gesundheitsversorgung wider.
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ie Sicherheitskrise gibt den Regierungen den politischen Impuls, ihre Legitimität und ihr Wohlwollen für die Gesellschaft als Ganzes geltend zu machen. Hier liegt der blinde Fleck vieler nationaler und internationaler Reaktionen. Den bestehenden sozioökonomischen Ungerechtigkeiten wird zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Auf mittlere Sicht werden die gesundheitspolitischen, sozialen und wirtschaftlichen Maßnahmen zu ernsthaften Kollateralschäden führen und viele Menschen weiter verarmen lassen. Das Welternährungsprogramm gibt an, dass 265 Millionen Menschen in akute Nahrungsmittelunsicherheit geraten könnten, was fast einer Verdoppelung der Zahl von 2019 gleichkäme. Beispiellos ist, dass mehr als 80 Länder den Internationalen Währungsfonds (IWF) um Hilfe gebeten haben, um die wirtschaftlichen Folgen aufzufangen. IWF und Weltbank sind bereit, die Schuldzinszahlungen auszusetzen. Der
ROHINGYA-FRAUEN NÄHEN MASKEN. Foto: Nadira Islam/UN Women, CC BY-NC-ND 2.0
Schuldenerlass ist zu einer realistischen politischen Option geworden und sollte von den europäischen Staats- und Regierungschefs in Betracht gezogen werden, da es auf dem afrikanischen Kontinent zu einer riesigen Schuldenkrise kommen wird. Das westlich geprägte Global-GovernanceRegime steht vor einem Wendepunkt. Staaten sind in Krisenzeiten in der Tat innovativ. Die Krise des öffentlichen Gesundheitswesens legitimiert weitreichende Überwachungseingriffe in den Alltag von Menschen auf der ganzen Welt. Die Frage ist, ob all diese Instrumente tatsächlich wirksam sind, um eine Pandemie einzudämmen. Es ist eine Frage der Verwaltung und des Eigentums an digitalen Daten, und ob diese letztendlich zur totalitären Überwachung oder zum Empowerment der Bürger*innen verwendet werden. Die Überwachung und Registrierung biometrischer und medizinischer Daten ist im Gesundheitswesen nichts Neues, sondern ein wesentliches Instrument, um politische Entscheidungen zu lenken und Gesundheitsförderungsprogramme zu gestalten. Doch die Überwachung der öffentlichen Gesundheit ist ein zweischneidiges Schwert: Immer wieder stellen wir fest, dass demokratische Kontrollmechanismen in Krisenzeiten umgangen werden. Die Forderung nach Sicherheitsmaßnahmen und dringenden Interventionen „legitimiert“ rasches Handeln und die Überwindung gesellschaftspolitischer Prozesse. Sie ermöglicht es den Staaten, eine Politik durchzusetzen, die sonst auf großen Widerstand stoßen würde. Solche Gesundheitskrisen sind nicht neu, wohl aber das gegenwärtige Ausmaß, die Geschwindigkeit und die digitalen Formen, die sie annehmen. Die Prinzipien von Auffinden, Testung, Isolierung, Behandlung und Rückverfolgung müssen kontextualisiert werden. Es muss eine politische Kontrolle stattfinden, damit staatliche und medizinische Befugnisse nicht missbraucht werden. Ein gutes Beispiel gibt es in Neuseeland, wo die Pre-
mierministerin die Bürger*innen aufgefordert hat, ein Tagebuch über ihre täglichen Bewegungen und die Personen, die sie getroffen haben, zu führen. Auch in Zeiten einer Gesundheitskrise ist es möglich, Würde und persönliche Autonomie zu wahren. Das Coronavirus wird bleiben. Es ist zu erwarten, dass in den kommenden Jahren Ausbrüche von Covid-19 auftreten werden, vielleicht weniger schwerwiegend und lokalisiert. Wir müssen lernen, mit diesem Virus zu leben und können nicht im Krisenmodus weitermachen. Es ist auch wahrscheinlich, dass in den kommenden Jahren weitere Ausbrüche von Infektionskrankheiten mit globaler Reichweite auftreten werden. Diese Ausbrüche werden durch die Klimakrise und die Umweltzerstörung noch verstärkt werden und werfen zusammen existentielle Fragen auf, wie Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig organisiert werden können. Diese Perspektive muss in die Politikgestaltung und die internationale Zusammenarbeit einbezogen werden. Die bevorstehende wirtschaftliche Instabilität und weitere Verarmung in mehreren Teilen der Welt kann zu weiteren Konflikten führen.
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ir kommen in eine Phase, in der ein koordinierter und gemeinsamer europäischer und multilateraler Ansatz entscheidend ist, um die Gesundheitssysteme und Wirtschaft in Ländern zu unterstützen, die von Covid-19 und seinen Auswirkungen schwer betroffen sind. Dies sollte sofortige humanitäre und medizinische Hilfe umfassen und mittel- bis langfristig die Grundlage für einen Mechanismus zur 23
Stärkung umfassender Gesundheitssysteme bilden. Die EU sollte ihre Werte in Bezug auf menschliche Sicherheit, nachhaltige Entwicklung, Menschenrechte und internationale Solidarität aufrechterhalten und gleichzeitig Institutionen wie die WHO, die UNO, regionale Organisationen wie die Afrikanische Union und den ASEAN unterstützen und mit ihnen zusammenarbeiten. Im Bereich der globalen finanziellen Nachhaltigkeit ist zu bedenken, dass die wirtschaftliche Stabilität Europas eng mit dem sozialen und wirtschaftlichen Wohlergehen in anderen Teilen der Welt verbunden ist. Es bedarf einer politischen Führung sowie angemessener demokratischer Debatte und Kontrolle, was die schwierigen, aber notwendigen sozioökonomischen Entscheidungen und die Zusammenarbeit in der EU betrifft. Dies ist keine „Krise“, die vorübergehen wird. Es handelt sich um einen neuen Dauerzustand, der es nötig macht, den europäischen Sozialvertrag neu zu definieren und gleichzeitig unsere Verbundenheit mit dem Rest der Welt anzuerkennen. Dieser Text ist ein Auszug aus dem Artikel Globalization paradox and the coronavirus: www.clingendael.org/research-program/ coronavirus
Remco van de Pas forscht über globale Gesundheit und ist Dozent an der Universität Maastricht.
Im Zeichen der Ermächtigung Kosten oder Chancen der Corona-Krise?
„Eine Gesellschaft, die im ständigen Ausnahmezustand lebt, kann keine freie Gesellschaft sein“ schrieb der italienische Philosoph Giorgio Agamben am 18. März dieses Jahres. Ob im strengen oder gelockerten Modus – wir leben auch zwei Monate danach noch in einem Ausnahmezustand. Wer könnte es leugnen?
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ir wachen morgens auf mit den neuesten Zahlen der Corona-Toten und dem aktuellen Reproduktionswert R, die uns den ganzen Tag wie das Jesus-Kreuz in den bayrischen Amtsstuben an unsere Sterblichkeit gemahnen und noch in den letzten Nachrichten mit der Drohung einer zweiten Corona-Welle ins Bett entlassen. Wen könnte die ständige Todesdrohung unbeeindruckt lassen? Die Lage wird dadurch nicht entspannter, dass wir mit einem Tsunami an Daten, Fakten, Informationen, Meinungen, Einschätzungen und Prognosen überschwemmt werden, die mit der Zeit immer kontroverser übereinander herfallen und selbst die Deutungshoheit der letzten Instanz der Regierung, das RKI, in Frage stellen. Die Unsicherheit und Desorientierung über das, was da abläuft und was uns noch erwartet, haben zugenommen. Und dennoch sollen immer noch über 85 Prozent der Bevölkerung den Kurs der Regierung angemessen finden und ihm zustimmen. Wie ist das zu erklären? Ist der Ausnahmezustand allmählich akzeptiert und zum Normalzustand geworden? Das Forsa-Institut hat Ende April mit einer Umfrage herausgefunden, dass nur 12 % sich daran stören, dass Demonstrationsverbote gelten, die Gewerbefreiheit limitiert ist und überall im Bundesgebiet die Bewegungsfreiheit
reduziert wurde. Der Chef des Instituts Prof. Manfred Günther erklärt das mit der Angst vor der Pandemie: „Diese Mischung aus Angst und Gehorsam führt dazu, dass man im Augenblick fast alles akzeptiert. Das ist vielleicht ein Gen der Deutschen.“ An der genetischen Disposition habe ich Zweifel, selbst wenn man in der deutschen Geschichte bestimmt einige Beispiele finden kann. Denn in den von der Pandemie betroffenen Nachbarstaaten finden wir ein ähnliches Maß an Gehorsam. Wer unter der ständigen Drohung in Unsicherheit und Orientierungslosigkeit lebt, bekommt Angst. Er kann sich zurückziehen und alles akzeptieren, was ihm Sicherheit verspricht, oder revoltieren und protestieren. Die Medien widmen sich derzeit mehr den abartigen Erscheinungen des Protestes, die immer wieder in Krisen auftauchen und sogar Bischöfe und Kardinäle zu seltsamen Weltregierungs-Verschwörungen treiben. Weniger beachten sie die legitimen Gründe des Protests, die sich gegen wirklich massive Einschränkungen unserer Grundrechte richten. Am 25. März, kurz nach der Warnung Agambens, beschloss der Deutsche Bundestag mit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes einen besonderen Ausnahmezustand – die sogenannte „epidemische Lage von nationaler Tragweite“. Sie 24
übertrug dem Bundesgesundheitsminister nicht nur Entscheidungskompetenzen der Länder, sondern erteilte ihm auch bis dahin nicht bekannte Vollmachten. In dem Gesetz wird der Bundesgesundheitsminister „ermächtigt“ (Art. 5 Abs. 2), mit seinen Rechtsverordnungen von gesetzlichen Regelungen anderer Gesetze des Gesundheitswesens, z.B. des Arzneimittelgesetzes, des Apothekengesetzes oder des Betäubungsmittelgesetzes, abzuweichen. Ein echtes Notverordnungsrecht, wie es das Grundgesetz (Art. 80) auf Grund der verheerenden Erfahrungen mit dem Notverordnungsrecht der letzten Reichskanzler 1933 in dieser Form nicht zulässt. Der Bundestag hat sich mit diesem Gesetz praktisch aus der Regelung der Pandemie verabschiedet, sein Gesetzgebungsrecht auf das Bundesgesundheitsministerium übertragen und die Kontrolle der Exekutive aufgegeben. Bis März 2021 soll dieser Ausnahmezustand dauern, der schon bisher die Grundrechte wie mit einem Rasenmäher beschnitten hat. Dass sich dies alles gegen Geist und Substanz des Grundgesetzes richtet, wird allmählich auch von den Gerichten erkannt. Die Proteste gegen die Auswirkungen dieser Missachtung der Verfassung sollten daher ernst genommen werden. Doch es gibt weitere Fragen, die offen sind. Warum hat diese Epidemie eine der-
Foto: US Air Force, gemeinfrei
CORONA-PANDEMIE
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artige Gewalt exekutiver Eingriffe in das gesamte politische, ökonomische und kulturelle Leben der Gesellschaft gebracht? Man braucht nicht weit in die Geschichte der Epidemien zurückzugehen, um noch ratloser zu werden. Die Asiatische Grippe 1957-58 tötete weltweit über eine Million Menschen, in der Bundesrepublik an die 30 000. In der Presse galt sie als „harmlos“, als „saisonbedingte Erscheinung“. Es gab zwar etliche Engpässe in der Gesundheitsversorgung, aber das Bundesinnenministerium gab die Parole aus, die Epidemie sei „teilweise in der Öffentlichkeit dramatisiert worden“. Zehn Jahre später folgte die Honkong-Grippe 1968-69 mit weltweit an die zwei Millionen Toten und etwa 40.000 in der Bundesrepublik. Die Auswirkungen waren sehr viel gravierender, aber sie wurden von Politik und Medien heruntergespielt, die Studentenbewegung beherrschte die Medien. Und schließlich die Grippewelle 2017-18. Sie war heftig, geschätzte 25.000 Menschen starben in Deutschland. Aber Grundrechte und Verfassung blieben unangetastet, um die Grippe zu überwinden. Waren vielleicht diese horrenden Todeszahlen der Grund dafür, nun alles herunterzufahren und stillzulegen, um Menschenleben zu retten? Das scheint zu gelingen, aber um welchen Preis? Was zählt das Schicksal von prognostizierten drei Millionen Arbeitslosen, über zehn Millionen in Kurzarbeit, die noch ungezählten Pleiten, das Leid zerbrochener Existenzen und die Sterberate auf Grund verschobener Operationen und mangelhafter Pflege? In den Supermärkten werden Telefonnummern
„Mit dem neuen Notverordnungsrecht hat sich der Bundestag praktisch aus der Regelung der Pandemie verabschiedet, sein Gesetzgebungsrecht auf das Bundesgesundheitsministerium übertragen und die Kontrolle der Exekutive aufgegeben.“ ausgehängt für Kinder zum Schutz gegen häusliche Gewalt. Gab es keine Alternative, wie etwa doch in Schweden, von dem man hier nicht viel wissen will?
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enn es darum geht, die zerbrochenen Produktionsketten wieder aufzubauen, „systemrelevante“ Unternehmen aus dem totalen Bankerott zu ziehen und die Opfer des Shutdown vor dem sozialen Elend zu retten, werden gigantische Finanzmittel benötigt. Und es wird sich die Frage stellen, wer diesen wochenlangen Stillstand zu bezahlen hat, wenn jetzt schon klar ist, dass die Steuereinnahmen auf ein Rekordtief fallen werden. Die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe werden sehr viel härter werden als zuvor, und die vielgepriesene Solidarität im Kleinen wird sich in eine gnadenlose Konkurrenz um die verbliebenen Mittel verwandeln. Wird Hand angelegt an den Sozialhaushalt und die beschlossene Grundrente verschoben, oder gibt es eine Vermögens- und Reichensteuer? Wird endlich Abstand genommen von dem unsinnigen Zwei-Prozent-Ziel für den Rüstungshaushalt und eine Umverteilung zu den chronisch unterversorgten Haushalten des Bildungs- und Gesundheitssystems eingeleitet? Es wird viel von den positiven Chancen aus der Krise geredet. 25
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s geht nicht um den an sich fälligen Abschied vom Kapitalismus, sondern zum Beispiel um den Umbau und die Herauslösung der Krankenhäuser aus den Fesseln des Renditesystems. Sie haben sich der Krise nicht gewachsen gezeigt. Obwohl dem Bundestag 2013 eine Risikoanalyse für eine Pandemie wie eine Blaupause zur jetzigen vorlag, wurde nichts unternommen. Stattdessen wurden die harten Restriktionen mit dem Schutz vor der Überforderung der Kliniken begründet. Schutzmasken und Atemgeräte sind die kleineren Probleme. Die Verstärkung des Personals, statt Helden-Boni anständige Gehälter und Arbeitsbedingungen, darum geht es. Bildung und Gesundheit gehören als Daseinsvorsorge in die öffentliche Hand. Wäre nur das zu erreichen, könnte man von Chancen der Krise reden.
Norman Paech ist Professor (em.) für Politikwissenschaft und Öffentliches Recht. Er ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der IPPNW.
Foto: Tim Lüddemann / CC BY-NC-SA 2.0
TROTZ CORONA – PROTESTE FÜR SOZIALE RECHTE UND MENSCHENWÜRDIGE UNTERBRINGUNG – BERLIN-KREUZBERG, 28. MÄRZ 2020
An der Grenze der Verfassung – und darüber hinaus Bundeswehr mobilisiert 15.000 Soldat*innen für Corona-Einsatz im Inland
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m März 2020 liefen die Vorbereitungen für einen großen Inlandseinsatz der Bundeswehr in kleinen Schritten. Am 14. März forderte Bayerns Ministerpräsident Söder einen flächendeckenden Inlandseinsatz der Bundeswehr. Wenige Tage später präsentierte Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer in der Bundespressekonferenz die Strategie der Bundeswehr für ihren Einsatz gegen die Corona-Pandemie. Dabei brachte sie auch den Einsatz von Soldat*innen für den Objektschutz von Kritischer Infrastruktur ins Gespräch. Durch einen Bericht der Stuttgarter Zeitung am 26. März wurde bekannt, dass das Innenministerium von Baden-Württemberg mit der Bundeswehr im Gespräch war, ob nicht Soldat*innen die wegen hohen Krankenstands geschwächte Polizei unterstützen könnten. Am 27. März berichtete dann der Spiegel: Die Bundeswehr macht mobil. Auf welcher Rechtsgrundlage die geplanten Einsätze stehen sollen, ist bisher unklar. Zu dieser elementaren Frage findet sich auch in Statements aus Verteidigungsministerium und Bundesregierung nichts. Die zentrale Frage, was die auch für „Absicherung“, „Schutz“, „Ordnungs-“ und „Verkehrsdienst“ in Bereitschaft stehenden Soldat*innen, mit welchen Rechten gegenüber der Bevölkerung allerdings tun sollen, wurde nicht gestellt. Laut Spiegel sollten bis zum 3. April – über die Strukturen des Sanitätsdiensts der Bundeswehr hinaus – 15.000 Soldat*innen für den Einsatz im Inland bereitstehen – für die nicht weiter definierte „Unterstützung der Bevölkerung“, für „Lagerung, Transport, Umschlag“ und für Desinfektionsaufgaben. Darüber hinaus sollen allerdings auch über 6.000 Soldat*innen für „Absicherung/Schutz“ und „Ordnungs-/Verkehrsdienst“ einsatzbereit gemacht werden. Um diesen bisher nicht
gekannten Großeinsatz der Bundeswehr zu führen, werden dem Nationalen Territorialen Befehlshaber der Bundeswehr vier regionale Stäbe unterstellt. Dabei handelt es sich allerdings nicht um die bisher erprobten Strukturen der Zivil-MilitärischenZusammenarbeit. Stattdessen werden die Führungsstrukturen der Kampftruppen der Bundeswehr aktuell als regionale militärische Führungsstrukturen vorbereitet. Die Bereitschaft von knapp 9.000 Soldat*innen für „Unterstützung der Bevölkerung“, Logistik und ABC-Abwehr lässt sich mit dem Artikel 35 des Grundgesetzes (Amtsund Katastrophenhilfe) juristisch rechtfertigen. An die Grenzen des Grundgesetzes und darüber hinaus geht der geplante Einsatz von über 6.000 Soldat*innen und Feldjäger*innen für polizeiähnliche exekutive Aufgaben im Inland.
Mit welchem Recht? Seit den Notstandsgesetzen von 1968, die den Inlandseinsatz der Bundeswehr juristisch überhaupt erst ermöglichten, galt die gängige politische und juristische Interpretation, dass nur zwei Paragraphen im Grundgesetz den Einsatz von Soldat*innen für polizeiliche Aufgaben innerhalb Deutschlands ermöglichen würden. Es handelt sich dabei um den Artikel 87a, Abs. 4 GG, den sogenannten Inneren Notstand. Dieser greift ausschließlich, wenn der Bund, ein Land oder die Verfassungsordnung als solche, durch militärisch organisierte und bewaffnete Aufstände bedroht wären. Erst wenn in einem solchen Fall die Polizeikräfte nicht ausreichen würden, dürfte die Bundeswehr „beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer“ eingesetzt werden. 26
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ie zweite Option wäre der Spannungsund Verteidigungsfall nach Artikel 115a GG, also der Moment, in dem die Bundesregierung die Kriegsvorbereitung oder den Kriegseintritt Deutschlands erklärt. Erst dann wäre nach Art. 87a, Abs. 3 GG ein Einsatz der Bundeswehr möglich, um im Inland „zivile Objekte zu schützen und Aufgaben der Verkehrsregelung wahrzunehmen“, wenn diese dem Verteidigungsauftrag dienen. Darüber hinaus wäre es möglich, in Kooperation mit zivilen Behörden, „zivile Objekte [zu] schützen“, um damit polizeiliche Maßnahmen zu unterstützen. Beide Optionen sind damit für den aktuellen Fall einer Pandemie ausgeschlossen. Lange galt es als gesetzt, dass die im Grundgesetzartikel 35, Abs. 1 geregelte Option der Amtshilfe ausschließlich für technische und logistische Unterstützung gilt. In aktuellen Veröffentlichungen vertritt die Bundeswehr selbst diesen Standpunkt. Ähnliches galt nahezu uneingeschränkt bis 2012 auch für die Katastrophenhilfe (bzw. Katastrophennotstand) in Artikel 35, Abs. 2 und 3. Danach kann die Bundeswehr bei Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen in der Form Hilfe leisten, wie sie der zivile Katastrophenschutz leisten würde. Damit schien klar, dass polizeiliche Aufgaben für die Bundeswehr in diesem Rahmen inakzeptabel wären. Nimmt man den Text der Verfassung beim Wort, wird nicht ohne Grund der Schutz ziviler Objekte durch die Bundeswehr in Artikel 87a GG explizit erwähnt, in Artikel 35 GG allerdings nicht. Auf Grundlage dieser gängigen Auslegung des Grundgesetzes drängen einige Akteure in der CDU/ CSU seit 1993/94 auf eine Änderung des Grundgesetzes, um den Spielraum der Bundeswehr im Inneren zu erweitern. Neuen Aufwind bekam diese Debatte seit dem
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11. September 2001. Zuletzt scheiterte Verteidigungsministerin Von der Leyen an den Gegenstimmen der SPD, die Option auf eine Verfassungsänderung zur Erweiterung der Befugnisse der Bundeswehr im Inland im Weißbuch von 2016 zu platzieren. Weil sich in den letzten gut 25 Jahren keine parlamentarischen Mehrheiten für eine Änderung des Grundgesetzes gefunden haben, wurde die politische Frage über den Einsatz der Bundeswehr zunehmend in das Feld der juristischen Interpretationen verlagert. Im Fokus dieser Auseinandersetzungen steht der Grundgesetzartikel 35 (Amts- und Katastrophenhilfe). Seit der Aufstellung der Strukturen für Zivil-Militärische-Zusammenarbeit innerhalb der Bundeswehr 2006/07 stieg die Nutzung des Amtshilfeparagraphen für Aktivitäten der Bundeswehr im Inland massiv an. Neben der Bereitstellung von Zelten bis hin zu Schwimmbrücken bei zivilen Großveranstaltung oder der Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten sowie der Bearbeitung von Asylanträgen 2015, gehören seit Jahren auch Unterstützungsleistungen für die Polizei dazu. Dabei handelt es sich Bereitstellung von Überwachungstechnik und weiterem Material, samt Personal, für die Polizei im Rahmen von Gipfelereignissen – nicht aber um den Einsatz von Soldat*innen für polizeiliche Aufgaben.
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in elementarer Bruch in der Auslegung des Artikels 35 GG fand 2012 statt: Das Verfassungsgericht urteilte über das 2005 geänderte Luftsicherheitsgesetz. Darin war vorgesehen, von Terrorist*innen entführte zivile Flugzeuge abschießen zu dürfen. Zwar wurde der Abschuss von Flugzeugen als klar verfassungswidrig eingestuft, in der Urteilsbegründung aber eine Hintertür für bewaffnete Einsätze der Bundeswehr im Inland geöffnet. So entschieden die Richter*innen, dass bei Terroranschlägen „katastrophischen Ausmaßes“, unter weiteren Einschränkungen, auch militärisch bewaffnete Soldat*innen gegen Terrorist*innen – als Ursache der Katastrophe – eingesetzt werden dürften. Verfassungsrichter Reinhard Gaier lehnt dies ab. Er argumentiert, dass er diese Auslegung als Verfassungsänderung per Gerichtsbeschluss sehe, die dem Wortlaut und dem historisch begründeten Sinngehalt des Grundgesetzes widersprächen.
Nach Informationen des Journalisten Thomas Wiegold scheint sich die Bundeswehr diese Option auch für die aktuellen Ereignisse offenzuhalten, im Sinne des 2012er Urteils, in besonderen Ausnahmefällen und nach Freigabe der Verteidigungsministerin auch „spezifisch militärische Waffen“ einzusetzen. Noch einfacher als das Verfassungsgericht machte es sich der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages 2016 mit seiner Stellungnahme zur „Übernahme von hoheitlichen Aufgaben der Polizei durch die Bundeswehr im Rahmen der Amtshilfe“. Darin wird die einfache Gleichung aufgestellt, dass bei einer rechtlich zulässigen Amtshilfe der Bundeswehr für die Polizei auch die Armee als staatliche Behörde alle Mittel einsetzen dürfe, die der Polizei rechtlich zur Verfügung stehen. Militärische Mittel dürfe sie allerdings nicht einsetzen. (...) An diesem Beispiel wird deutlich, dass in den letzten zehn Jahren eine massive Auseinandersetzung um die Auslegung von Paragraph 35 GG stattfindet, in der immer wieder eine Uminterpretation zugunsten eines erweiterten Inlandseinsatzes der Bundeswehr vorgenommen wird.
Im „Notfall“ auch gegen die Verfassung Mit Blick auf die aktuellen Änderungen im Infektionsschutzgesetz warnen Prof. Klaus Ferdinand Gärditz und Prof. Florian Meinel vor grundlegenden Brüchen der Verfassungsordnung – so würde der Gesundheitsminister befähigt, per Rechtsverordnung Gesetze und Grundrechte außer Kraft zu setzen. Innenminister Seehofer geht längst einen Schritt weiter: Dass die Grenzen des Gesetzes für ihn in der Corona-Pandemie nicht von Bedeutung sind, machte er am 15. März 2020 deutlich. Auf die Frage nach der Rechtsgrundlage der Grenzschließungen antwortete er: „Da gibts den Artikel 28 des Schengener Grenzkodex. Aber jetzt muss ich Ihnen ganz ehrlich mal sagen; Es ist schön, wenn man so eine Grundlage hat, aber im Moment geht mir der Gesundheitsschutz der Bevölkerung über alles. Es gibt auch Notsituationen, wo ein Staat, selbst wenn so ein Artikel nicht vorhanden wäre, handeln müsste.“ Seehofer spielte mit der Rechtsfigur des „übergesetzlichen Notstands“ und damit mit der Option, die Verfassung angesichts der aktuellen Lage bewusst und offensiv zu brechen. 27
Mit der Corona-Pandemie scheint jetzt der Punkt gekommen, an dem eine Interpretation des Grundgesetzes durchgesetzt werden soll, nach der die Bundeswehr problemlos als Hilfspolizei im Inland eingesetzt werden könnte. Damit wird eine alte Gewissheit in der Bevölkerung, dass die Bundeswehr im Inland zwar als vermeintliche „Hilfsorganisation“ bei Naturkatastrophen, nicht aber als bewaffnetes Repressionsorgan mit exekutiven Polizeibefugnissen eingesetzt werden darf, massiv angegriffen. Gegen diese Angriffe müssen wir uns aus bürgerrechtlicher, antimilitaristischer, friedenspolitischer und antifaschistischer Perspektive deutlich zur Wehr setzen. Das Grundgesetz wurde 1949, vier Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur, geschrieben. Die damals auch unter Parlamentariern durchaus gängige Lehre aus der Geschichte „Nie wieder Krieg – Nie wieder Faschismus“, die einen Einsatz einer Armee als Machtfaktor im Inland undenkbar machte, wurde über die Wiederbewaffnung 1955 und die Notstandsgesetze 1968 schrittweise zurückgedrängt. Seit Deutschland im Laufe der 1990er wieder begonnen hat, Soldat*innen in Auslandseinsätze zu schicken und Kriege zu führen, wird auch der Einsatz der Bundeswehr im Inland in kleinen Schritten normalisiert. Dabei ist jetzt der Punkt gekommen, an dem die Option, Soldat*innen als Hilfspolizei einzusetzen, durchgesetzt werden soll. Die letzte elementare Begrenzung, die Bundeswehr als innenpolitisches Machtinstrument einzusetzen, soll gebrochen werden. Dafür wird sowohl der Wortlaut als auch der Sinngehalt der Verfassung bewusst übergangen. Ist dieser Geist einmal aus der Flasche, wird er dahin so schnell nicht zurückkehren. Damit ist auch der Punkt gekommen, wo sich Zivilgesellschaft, Friedens-, Bürgerrechts- und antifaschistische Bewegung aktiv gegen diese autoritäre Gefahr wehren müssen. Ausführliche Originalfassung vom 30.03. sowie weitere aktuelle Analysen unter: www.imi-online.de
Martin Kirsch ist Referent bei der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen.
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Hilfe statt Strafe! Sanktionen in Zeiten der Corona-Pandemie
UN-Sprecher*innen warnen vor den gravierenden Folgen einseitiger Santionen in Zeiten der Pandemie. Die faktische Blockade lebenswichtiger Medikamente und medizinischer Hilfsmittel stellt eine massive Gefährdung dar, vor allem für Staaten mit vulnerablen Gesundheitssystemen.
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N-Generalsekretär António Guterres hat neben einem weltweiten Waffenstillstand eine Aufhebung von Sanktionen gefordert. Eine Forderung, der sich Papst Franziskus in seiner Osterbotschaft anschloss. Auch die UNSonderbeauftragte für die negativen Folgen von Sanktionen Alena Douhan plädierte eindringlich für eine Aufhebung oder zumindest Aussetzung „einseitiger Zwangsmaßnahmen“. Sie rief dazu auf, die Gesundheitssysteme sanktionierter Staaten in die Lage zu versetzen, auf die Corona-Pandemie angemessen zu reagieren. Alle Regierungen, die Sanktionen als Mittel der Außenpolitik nutzen, sollten sofort alle Maßnahmen beenden, die den Handel und die Finanzierung von medizinischen Maßnahmen und Materialien, von Nahrung und lebensnotwendigen Gütern behindern.
Derzeit werden Länder wie Iran, Syrien, Venezuela und Kuba, aber auch Russland und China mit Sanktionen belastet. Allein die EU betreibt Sanktionsmaßnahmen gegen 33 Staaten und Entitäten. Die Sanktionen treffen direkt und indirekt auch lebensnotwendige Güter wie Medikamente, medizinische Geräte und Hilfsmittel und bedrohen damit die Gesundheit und das Leben von Millionen Menschen. Durch „sekundäre Sanktionsdrohungen“ gegen Drittstaatsangehörige, die mit dem sanktionierten Staat in Geschäftsbeziehung stehen, werden weitere Versorgungsmöglichkeiten behindert. Zudem führt die Rechtsunsicherheit zu einer sogenannten „Over-Compliance“ von Finanzinstituten und Firmen aufgrund der befürchteten Folgen. Das verschärft die negativen Folgen für den sanktionierten Staat weiter.
Die Covid-19-Pandemie hat sich inzwischen weltweit ausgebreitet. Wenn auch die Zahlen der Infektionen und Toten in den Ländern unterschiedlich sind, so steigen sie zum Teil drastisch an und bedrohen die Gesundheit der Menschen ebenso wie ihre ökonomischen und gesellschaftlichen Grundlagen. Besonders gefährlich sind die Auswirkungen der Infektionen, aber auch der politischen Maßnahmen zur Eindämmung wie Shutdown und Lockdown, für diejenigen Länder, deren medizinischen und finanziellen Ressourcen begrenzt sind. Ihre Bevölkerung leidet oft unter Kriegen, Armut, den Folgen des Klimawandels und der Ausbeutung durch ein zutiefst unfaires Wirtschaftssystem. Dies hat unter anderem dazu geführt, dass medizinische Fachkräfte und Gesundheitsarbeiter*innen in großen Zahlen die betroffenen Länder verlassen haben. Wenn einseitige Sanktionen hinzukommen, steigern sich die Leiden der Zivilbevölkerung spätestens durch eine Pandemie und die radikalen Eindämmungsmaßnahmen zu einer humanitären Katastrophe. Davon sind laut Alena Douhan besonders vulnerable Personen in den ärmsten Sektoren der Gesellschaft betroffen: Frauen, Ältere, Jugendliche und Kinder.
uch angesichts der Corona-Pandemie scheinen die USA und die Staaten der EU, die mit diesen einseitigen Sanktionen versuchen, ihre außenpolitischen Ziele zu verfolgen, vor den absehbaren Folgen für die Menschenrechte auf Gesundheit und Leben nicht zurückzuschrecken. Es gibt einzelne Hilfsangebote. Jedoch stellt die derzeitige faktische Blockade von lebenswichtigen Medikamenten und medizinischen Hilfsmitteln während der Pandemie nicht nur eine massive Gefährdung der betroffenen Bevölkerungen dar, sondern gefährdet auch die gesamte Menschheit, da die Ausbreitung des Virus nicht an Ländergrenzen Halt macht. Zudem behindern die sanktionierenden Staaten die Möglichkeiten und Chancen eines wissenschaftlichen Austauschs und eines abgestimmten Vorgehens gegen die Pandemie, die nach ihren eigenen Worten nur mit vereinten gesellschaftlichen Kräften besiegt werden kann.
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Nach wie vor setzen die USA ihre Sanktionen gegen den Iran fort und haben sie nach Ausbruch der Pandemie sogar noch verschärft. Sie missachten selbst eine Anordnung des Internationalen Gerichts28
Foto von 2012: Ashley Coates / CC BY-SA 2.0
CHAN YUNIS, GAZA: PALÄSTINENSER BETEN AM ZUCKEREST, NACHDEM DIE MOSCHEE UNTER HYGIENEAUFLAGEN WIEDER GEÖFFNET HAT, 24.05.2020 Foto: © imago images / ZUMA Wire
Ein weiteres Beispiel für die negativen Auswirkungen auf das Gesundheitssystem ist die jahrelange Blockade des Gaza-Streifens durch Israel, die von den USA und Ägypten unterstützt wird und der die EU nicht entschlossen genug entgegentritt. Die desolate Situation der Gesundheitsversorgung und das enge Zusammenleben können dort bei einem Corona-Ausbruch zu einer hochgefährlichen Lage führen. Daher warnen Expert*innen wie die Sprecherin des Hilfswerks der Vereinten Nationen (UNRWA) Tamara Alrifai oder die Völker- und Menschenrechtsanwältin Shannon Maree Torrens vor einer Katastrophe. Bei inzwischen festgestellten Covid-19 Fällen besteht trotz der Bemühungen der Verwaltung des Gazastreifens und der WHO Grund zu großer Besorgnis.
hofs vom Oktober 2018, die die USA ausdrücklich verpflichtete, die Sanktionen gegen die Ausfuhr von Medikamenten, medizinischen Geräten, Lebensmitteln und Agrarerzeugnissen aufzuheben. Die Staaten der EU haben es bisher nicht geschafft, die Folgen der US-Sanktionspolitik abzumildern. Über die von Deutschland, Frankreich und Großbritannien gegründete Gesellschaft Instex zur Aufrechterhaltung des Handels mit dem Iran wurde im März 2020 ein einziges Geschäft abgewickelt. Die Sanktionen gegen die Regierung des kriegszerstörten Syriens, die unter anderem die USA und die EU verhängt haben, erschweren nicht nur den Wiederaufbau, sondern auch die Eindämmung der Pandemie. Laut einer aktuellen Publikation der Stiftung „Wissenschaft und Politik“ tragen sie dazu bei, dass Geldüberweisungen aus dem Ausland und der Import von Nahrungs- und Lebensmitteln erschwert werden, Produktionskosten sich erhöhen und die Herstellung medizinischer Güter negativ beeinflusst wird. Das UNWelternährungsprogramm schätzt, dass 9,3 Millionen Syrer*innen nicht mehr genug zu essen haben. Die UNO geht davon aus, dass nur zwei Drittel der syrischen Krankenhäuser noch funktionieren. Zudem seien bis zu 70 Prozent der Syrer*innen, die im Gesundheitswesen gearbeitet hatten, inzwischen geflohen.
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ie Pandemie zeigt uns eindringlich, dass wir in einer vernetzten Welt leben. Wir sind alle voneinander abhängig und werden die Ausbreitung nur gemeinsam meistern können. Insofern müssen Sanktionen gegen Staaten mit vulnerablen Gesundheitssystemen aufgehoben werden. Der Einwand, dass viele der in der Pandemie hervorgetretenen Probleme von den Staaten selbst verschuldet sind, ist kein Argument gegen die Aufhebung und keine Entschuldigung für Untätigkeit.
Am 15. März 2020 erklärten die Regierungen Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands, die syrische Regierung allein trage die Schuld an der jetzigen Lage und den verheerenden humanitären Folgen. Bisher wird den von Assad kontrollierten Gebieten in Syrien jegliche EU-Hilfe mit Lebensmitteln und Medizingütern verweigert. Die Aufarbeitung von Verbrechen aller Konfliktbeteiligten ist eine legitime Forderung, kann aber in der derzeitigen Situation keine Begründung für die Verweigerung und Behinderung solcher Hilfsmaßnahmen sein.
Norman Paech ist Professor (em.) für Politikwissenschaft und Öffentliches Recht. Susanne Grabenhorst ist Co-Vorsitzende der deutschen IPPNW. 29
WELT
Alte und neue Herausforderungen Internationales, Weltkongress und europäische IPPNW-Videokonferenz: Wie geht es jetzt weiter? studierenden aufzubauen, gestaltet sich schwierig. Ursächlich ist dafür u.a. die Privatisierung des Gesundheitswesens.
ie durch das Virus ausgelöste Corona-Krise hat gezeigt, dass wir die Weise zu leben, zu produzieren, internationalen Warenaustausch zu betreiben, grundsätzlich in Frage stellen müssen. Die Auswirkungen sind nicht nur bei uns in Europa, sondern überall dramatisch, allen voran bei den Ärmsten der Armen in den Entwicklungs- und Schwellenländern. In dieser Zeit lässt das Papier aus dem Bundesentwicklungsministerium zur Corona-Krise aufhorchen, denn dort heißt es: „Wir besiegen die Pandemie nur weltweit oder wir bezwingen sie nicht. Wir müssen umdenken, weltweit solidarisch handeln.“ Gefordert wird vom BMZ u.a. die Bildung eines UN-Weltkrisenrats, ein Schuldenerlass für die 47 ärmsten Staaten und ein gemeinsames Energie- und Klimakonzept der EU und Afrika.
Bei der Vorbereitung waren auch deutsche IPPNW-Mitglieder und Geschäftsstellenmitarbeiter sehr stark involviert. In enger Zusammenarbeit mit der IPPNW-Sektion in Kenia haben wir dabei die Idee verfolgt, dass unser Kongress in die allgemeine politische Entwicklung bezüglich der Globalisierung, der Waffenexporte und des Klimawandels eingebettet sein muss. Diesen Prozess haben wir „Road to Mombasa“ genannt. Als Beispiel für die Entstehung von globalen Abhängigkeiten haben wir z.B. das Vordringen von Uranbergbau und die Projekte zum Bau von Atomkraftwerken in afrikanischen Ländern angeschaut. Dieser Prozess wird durch Staatskonzerne vorangetrieben: Rosatom (Russland) und CNNC (China National Corp) sowie Areva (Frankreich). Zusätzlich zu führenden Vertreter*innen der WHO aus Afrika waren neue Klima- und Umweltaktivisten aus verschiedenen afrikanischen Ländern eingeladen. Auch der Südafrikaner Andrew Feinstein, Experte zum Waffenhandel, sollte zum Weltkongress kommen.
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Um uns zu diesen Themen auszutauschen, gab es die erste europäische Videokonferenz am 22. Mai 2020. Wir können gezielt digitale Instrumente für unsere Zusammenarbeit und unseren politischen Zusammenhalt einsetzen. Wenn alles gut läuft, wollen wir das Instrument Videokonferenz weiter ausbauen, auch Fortbildung und Austausch zu unseren Themen.
Foto: IPPNW Kenia
KENIA: VORBEREITUNG DER IPPNW-BIKETOUR
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as könnten diese Vorschläge für uns in der IPPNW bedeuten und für unseren Weltkongress, der jetzt auf 2021, wahrscheinlich in den Herbst verschoben wurde? Eines unserer Ziele bei der Organisation des Weltkongresses in Afrika ist es, unsere afrikanischen Mitgliederorganisationen zu stärken, immerhin sind schon 26 afrikanische Staaten dem Atomwaffenverbotsvertrag (TPNW) beigetreten, einige habe ihn sogar schon ratifiziert. Führende afrikanische Vertreter*innen der zivilgesellschaftlichen Organisationen WHO, Rotes Kreutz und religiöse Führer waren deshalb zum Weltkongress eingeladen.
etzt, im Angesicht der Corona-Krise, müssen wir wahrscheinlich unsere Themen und unsere Formen, wie wir Kongresse und internationale Zusammenarbeit in der IPPNW gestalten, neu justieren. Dabei sollten die afrikanischen Sektionen eine herausragende Rolle spielen. Auch für die Zusammenarbeit unter den europäischen IPPNW-Sektionen gibt es alte und neue Herausforderungen. Außerhalb von Deutschland ist die Anzahl der Medizinstudierenden in den jeweiligen vorwiegend westeuropäischen Sektionen sehr klein, sie liegt zwischen null und fünf Mitgliedern. In den ost- und südeuropäischen Sektionen Gruppen von IPPNW-Medizin30
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eu ist, dass jetzt in der Corona-Krise die Möglichkeit aufscheint, die Stationierung der amerikanischen Atomwaffen und damit die nukleare Teilhabe in der NATO in Frage zu stellen. Dies ist ein erster Schritt zum Beitritt zum TPNW. Unsere diesbezüglichen Forderungen haben den politischen Mainstream erreicht. Nicht nur in Deutschland bei der SPD, sondern auch in Belgien und in den Niederlanden. In der Schweiz hat sich sogar eine Mehrheit im Parlament für den Beitritt zum TPNW ausgesprochen, allerdings hat sich der Schweizer Außenminister zwei Jahre Zeit für diesen Prozess erbeten. Auch in Schweden gibt es ähnliche Entwicklungen. Ich denke, dass wir durch eine gemeinsame Kampagne, die Divestment-Strategien und die parlamentarische Ebene einbezieht, einiges erreichen können.
Dr. Angelika Claußen ist IPPNW-CoPräsidentin für Europa.
AKTION
LÜBTHEEN
AACHEN
Tag der Befreiung Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg
Foto: Friko Berlin
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m 8. Mai 2020 jährten sich das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Befreiung vom Faschismus zum 75. Mal. In Berlin redete der IPPNW-Vorsitzende Dr. Alex Rosen bei der Demonstration und Kundgebung „75 Jahre – Tag der Befreiung“ am Brandenburger Tor. Die Berliner IPPNW-Regionalruppe legte am Sowjetischen Ehrendenkmal in der Schönholzer Heide einen Kranz nieder. Mitglieder der Regionalgrupppe Aachen erinnerten am Mahnmal mit roten Rosen an den ersten Aachener Oberbürgermeister Franz Oppenhof. Er war im März 1945 von den Nationalsozialisten ermordet worden. IPPNWMitglied Ernst-Ludwig Iskenius gedachte in Lübtheen mit weiteren Friedensaktivist*innen vor einem Haus mit Stolpersteinen der Opfer von Faschismus und Krieg. Offiziell habe es laut dem Rathaus in Lübtheen noch nie eine solche Veranstaltung gegeben.
BERLIN
BERLIN, EHRENMAL SCHÖNHOLZER HEIDE 31
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Nach dem Atomkrieg
Kampf um Gerechtigkeit
In seinem Roman „Der Weizen gedeiht im Süden“ lässt uns Erik D. Schulz ins Auge des Zyklons schauen – und schaudern.
Der lesenswerte Band von Fabian Scheidler und David Goeßmann versammelt Interviews zu drängenden Gegenwarts- und Zukunftsthemen.
in Atomkrieg hat Europa unbewohnbar gemacht. Der Schweizer Hochsicherheits-Bunker in den Alpen oberhalb von Davos, in den sich einige hunderte Menschen teuer einkauften und überleben, erweist sich als Falle. Die akribisch vorbereitete Flucht von zehn Menschen aus einem Bunker ist erst der Anfang von brutalen Kämpfen ums Überleben, um Wasser und Nahrung, und um Medikamente auf dem Weg nach Afrika.
elche Einsichten sind für einen gesellschaftlichen Umbau nötig? Dieses Buch mit Gesprächen, die die Autoren für den Sender „Kontext TV“ geführt haben, lässt namhafte Journalist*innen, Aktivist*innen und Wissenschaftler*innnen von sechs Kontinenten zu Wort kommen. In drei Abschnitten thematisiert das Buch den Erhalt unserer Lebensgrundlagen – den Kampf um eine gerechtere Wirtschaftsordnung – und die Beendigung von Kriegen und Ausbeutung. Das letzte Kapitel eröffnet Perspektiven für eine bessere Welt – und Möglichkeiten, wie wir für sie streiten können.
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Nicht die Freude über das „Davonkommen“, sondern Machtkämpfe in der Führungsclique, unmenschliche Regeln und eine gefährliche Lüge bestimmen das unterirdische Dasein. Das Trinkwasser ist radioaktiv verseucht. Der Wasserbeauftragte, der warnen will, bezahlt dafür mit seinem Leben. Dr. Oliver Bertram schließt sich zusammen mit seiner 14-jährigen Tochter Annabel trotz großer Zweifel Schweizer Elitesoldaten an, die die Flucht von zehn Menschen vorbereiten.
Dabei kommen Menschen aus den Ländern zu Wort, die von globalen Krisen und kolonialen Verhältnissen am stärksten betroffen sind. Vandana Shiva etwa berichtet über den Kampf der indischen Bevölkerung gegen die Ausbeutung von Ressourcen. Die kenianische Aktivistin Wangui Mbatia (gestorben 2017) hat die Ausplünderungspolitik der EU in Afrika angeprangert: Privatisierung, Landgrabbing und erpresserische Wirtschaftsabkommen. „Dieses Denken, dass Afrika ein Kontinent ist, in dem man sich einfach nimmt, was man braucht, besteht bereits seit Jahrhunderten. Diesem Denken müssen wir Einhalt gebieten.“ Die Akteur*innen machen Mut, für soziale Verantwortung und eine Welt in Frieden einzutreten: „Manche sagen, Widerstand ist zwecklos. Aber so sollten wir nicht denken. Widerstand ist fruchtbar.“ (Ugo Bardi)
Letztlich ist es der Überlebenswille der Einzelnen und die Liebe unter den Schicksalsgenossen, die die Protagonisten vor der Verzweifelung rettet. Allen äußeren Widerwärtigkeiten zum Trotz begleitet ein emotionaler und ehrlich geführter Dialog das Geschehen. Durch seine präzise Beschreibung der Flucht unter unvorstellbar schweren Bedingungen macht IPPNW-Mitglied Erik D. Schulz gnadenlos sichtbar, was uns nach einem Atomkrieg erwarten könnte. Das Buch ist überaus unterhaltsam und spannend.
Inspiriert wurde die Gründung von „Kontext TV“ durch die Graswurzel-Sendung „Democracy Now“ in den USA – übertragen durch mittlerweile über 1.000 Radio- und TV-Stationen und finanziert vor allem durch Zuschauer*innen. „Diejenigen, die gegen Krieg, gegen Folter sind, die wegen Armut und der Kontrollmacht der großen Unternehmen tief besorgt sind, stellen keine Randgruppe dar. Sie sind ... eine Mehrheit, die zum Schweigen gebracht wird. Sie wird mundtot gemacht von Medienunternehmen, und das müssen wir ändern,“ fordert Amy Goodman von „Democracy Now“.
Ich wünsche dem Autor, dass sein Roman von vielen gelesen wird – auch von denen, die sonst das Thema Atomkrieg ignorieren wollen. Der Roman hat aufrüttelnde Wirkung, unsere technologisierte Gesellschaft zu hinterfragen: Können wir den Einsatz der Atomwaffen und damit unsere eigene Vernichtung verhindern? Der Weigerung der Atommächte, den UN-Atomwaffenverbotsvertrag zu unterschreiben, muss wieder eine starke Friedensbewegung entgegenstehen.
Scheidler, Fabian / Goeßmann, David (Hg.): Der Kampf um globale Gerechtigkeit. Gespräche mit Noam Chomsky, Vandana Shiva, Immanuel Wallerstein, Yanis Varoufakis, Ulrike Herrmann, Harald Schumann, Amy Goodman, Jeremy Scahill, George Monbiot, Alyn Ware u.a. – Promedia Verlag, 240 S., 19,90 €, ISBN: 978-3-85371-458-4 Regine Ratke
Erik D. Schulz: Der Weizen gedeiht im Süden. Roman. Acabus Verlag, 416 S., 16,-€ ISBN: 978-3-86282-736-7 Sophie Sustal
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G EDRUCKT
TERMINE
Radioactive Olympics
JUNI 10.6. KLUG-Webinar „Transdisziplinäre Perspektiven“ und 17.6. KLUG-Webinar Kommunikation: planetary-health-academy.de
Die Olympischen Sommerspiele in Japan wurden auf 2021 verschoben, geplant sind auch weiterhin Wettkämpfe in radioaktiv kontaminierten Gebieten. Flyer und Unterschriftenlisten finden Sie im IPPNW-Shop.
JULI 3.–7.7. IPPNW/ICAN-Aktionstage in Büchel
Alle IPPNW-Materialien finden Sie zum Anschauen unter issuu.com/ippnw – Bestellung unter: shop.ippnw.de – kontakt@ippnw.de oder telefonisch: 030 6980 74-0
8.7. Flaggentag der Bürgermeister für den Frieden
Nuclear Disasters Atomkatastrophen sind eine Bedrohung für unseren Planeten. Von Russland nach Japan, von den USA bis nach Frankreich: Bei einem Super-GAU werden tausende Menschen um ihr Recht auf Gesundheit gebracht und über die Folgen im Unklaren gelassen. Das Buch ist die englische Übersetzung des IPPNW-Reports „30 Jahre Leben mit Tschernobyl – 5 Jahre Leben mit Fukushima“. Dr. Angelika Claußen und Dr. Alex Rosen: Nuclear Disasters – Fukushima & Chernobyl. Dixi Books, 160 S., 18,50 Euro, erhältlich im Buchhandel – ISBN-13: 978-6197458374
8.7.–28.8. Hiroshima-NagasakiAusstellung im Rathaus Herford
AUGUST 3.– 9.8. Hibakusha Weltweit, Aachen 6. und 9.8. Gedenken: 75 Jahre seit Hiroshima und Nagasaki
SEPTEMBER 25.–27.9. Ramstein-Protesttage in Berlin
OKTOBER 23.10. Vortrag GemeinwohlÖkonomie mit Winfried Knorr in Landsberg/Lech 23.10. IPPNW-Jubiläumskonzert in Landsberg/Lech mit „Hans Well und die Wellbappn“
G EPLANT Das nächste Heft erscheint im September 2020. Das Schwerpunktthema ist:
Drei Jahre Atomwaffenverbot Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 163 /Juni 2020 ist der 31. Juli 2020. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de
IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS Herausgeber: Internationale Ärzte für die
Das Forum erscheint viermal jährlich. Der Be-
Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer
zugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag
Verantwortung e. V. (IPPNW) Sektion Deutschland
enthalten. Sämtliche namentlich gezeichnete Arti-
Redaktion: Ute Watermann (V.i.S.d.P.), Angelika
kel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der
Wilmen, Regine Ratke
Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke
Freie Mitarbeit: Pablo Kibbel Calero
bedürfen der schriftlichen Genehmigung.
Anschrift der Redaktion: IPPNWforum,
Redaktionsschluss für das nächste Heft:
Körtestraße 10, 10967 Berlin,
31. Juli 2020
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Gestaltungskonzept: www.buerobock.de,
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23.–25.10. Menschenrechtstribunal in Berlin: ppt.transnationalmigrantplatform.net/berlin-in-2020
NOVEMBER 14.11. „40 Jahre IPPNW“ in Landsberg am Lech Weitere Informationen unter: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine
Vormerken! AUGUST 5.8.2020 – 20 Uhr (Geplant) IPPNW-Benefizkonzert in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Berlin. Werke von Johann Sebastian Bach und Ludwig van Beethoven. Mit: Quartet Berlin-Tokyo und Ulrich Eckhard (Orgel). Redner: Till Bastian
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6 Fragen an … Brid Brennan
Expertin für Transnationale Unternehmen und Menschenrechte sowie Beirätin der Transnational Migrant Platform Europe
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Was ist das Permanent People‘s Tribunal (PPT)? Das PPT ist ein Gericht für die öffentliche Meinung – formell gegründet 1979 in Bologna, Italien. Das PPT ist eine Fortsetzung der Russell-Tribunale zum US-Krieg in Vietnam (1966-67) und zu den Diktaturen in Lateinamerika (1973-76). Lelio Basso, ein italienischer Senator, der an beiden beteiligt war, plädierte dafür, diese Tribunale als ständige Institution einzurichten. Ihre Aufgabe bestünde darin, „den Völkern, die Verletzungen ihrer grundlegenden Menschenrechte erleben, Anerkennung, Sichtbarkeit und eine Stimme zu verleihen“. Das PPT bezieht sein Mandat aus der „Allgemeinen Erklärung der Rechte der Völker“, die 1976 in Algier verkündet wurde. Es geht um jene Völker, die vom Völkerrecht ausgeschlossen sind, deren Menschenrechte ungestraft verletzt werden und denen im Kontext der Globalisierung häufig der Zugang zu einer wirksamen Justiz verwehrt wird.
Was ist Ihre Vision für diese Sitzung? Sie hat sich zu einem lebendigen, partizipatorischen Raum entwickelt, der die Menschenrechte bekräftigt – und in dem Migrant*innen und Geflüchtete ihr Recht wahrnehmen können, gehört, respektiert und verteidigt zu werden – unabhängig von Rasse, Hautfarbe, Religion, Geschlecht – dokumentiert oder undokumentiert. Hier haben sie das Recht, den Ablauf festzulegen. Sie bestimmen das Narrativ über ihre Erfahrungen und werden als Protagonist*innen im Einsatz für ihre Rechte und eine Zukunft in Würde sichtbar.
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Was ist die Bedeutung des Brüsseler PPT? Das Brüsseler PPT, das im EU-Parlament abgehalten wurde, hat sein Urteil auf der Grundlage der vorangegangenen Anhörungen in Barcelona, Palermo, Paris und London vorgelegt. Es hat festgestellt, dass die Einwanderungs- und Asylpolitik, sowie die Asylpraxis der EU und der Mitgliedstaaten „eine totale Verweigerung der Grundrechte von Menschen und Migrant*innen und echte Verbrechen gegen die Menschlichkeit ... beinhalten, die als Systemverbrechen bezeichnet werden“. Demnach ist die EU dafür verantwortlich, jene bilateralen Abkommen und Praktiken zu beenden, die zu Verletzungen des Völkerrechts und der UN-Konventionen führen.
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Wie entstand die 45. PPT-Sitzung? Migrant*innen- und Geflüchteten-Organisationen, soziale Bewegungen und engagierte Solidaritätsnetzwerke haben 2016 eine Petition für eine formelle PPT-Sitzung initiiert. Die Vorbereitung und die Vernetzung zwischen den Konventionsleiter*innen und dem PPT-Sekretariat erfolgte 2016-17. Im Juli 2017 wurde schließlich die 45. Sitzung des PPT zu den ungestraft begangenen Verletzungen der Menschenrechte von Migrant*innen und Geflüchteten in Barcelona eingeleitet. Zusätzlich zu den früheren Anhörungen sind derzeit zwei weitere in Vorbereitung: Tunis und Berlin.
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Welches sind die Erfolge und Herausforderungen? Jede Anhörung des PPT hat Forschungsarbeiten, eine Dokumentation und ein Manifest hervorgebracht, das durch die Praxis von Migrant*innen und Geflüchteten bereichert wurde, die trotz ihrer Ausgrenzung an „rechtlosen Orten“ Alternativen konstruiert haben. Das Netzwerk der Co-Konventionsteilnehmer des PPT nimmt die Schlussfolgerungen des PPT als Grundlage für gemeinsame Aktionen und Kampagnen – um die Grundrechte von Migrant*innen und Geflüchteten in den Mittelpunkt der politischen Agenda in Europa zu stellen und eine neue Ära der transnationalen Solidarität einzuleiten: ppt.transnationalmigrantplatform.net/political-conclusion-co-convenors
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Was ist der Rahmen der 45. Sitzung? Diese Sitzung hat als Rahmen die Anhörung von Zeugenaussagen von Migrant*inn und Geflüchteten sowie von Expert*innen über Verletzungen der Grundrechte und den Ausschluss von grundlegenden menschlichen Diensten. Diese Zeugenaussagen erfolgen vor dem Hintergrund einer differenzierten Analyse der Grundursachen von Migration und Asyl, des Labyrinths diskriminierender, rassistischer und ausgrenzender Politiken auf europäischer und mitgliedstaatlicher Ebene, sowie der bilateralen Abkommen Europas zur Externalisierung und Militarisierung der Grenzen (Libyen, Marokko, Türkei) und des Verbots der Seenotrettung.
Die Anhörung vom 23.-25. Oktober 2020 in Berlin ist Teil der 45. Sitzung des PPT. Thema ist die Verletzung von Gesundheitsrechten: ppt.transnationalmigrantplatform.net/berlin-in-in-2020 34
Foto: © Liselotte Orgel-Köhne / Deutsches Historisches Museum
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ANZEIGEN
Vereidigung von Schwestern des Deutschen Roten Kreuzes – Berlin, ab 1933
Das Deutsche Rote Kreuz im Spannungsfeld zwischen humanitärem Anspruch und Realität 1914 – 1945
Vierzig Jahre IPPNW Kongress der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. In Memoriam Karl Bonhoeffer, Horst Eberhard Richter, Hans Peter Dürr
Thementagung „Medizin und Gewissen“ Samstag, 16. Januar 2021 | 9– 19:00 Uhr FAU, Findelgasse 7/9, Nürnberg
Samstag, 14. November 2020 11.00 – 20.30 Uhr Historischer Rathaussaal, 86899 Landsberg am Lech
Anlässlich des 100-jährigen Bestehens des
Deutschen Roten Kreuzes laden wir zu einer
medizinhistorischen Thementagung in Kooperation mit dem Institut für Geschichte und
Programminfo und Anmeldung bei Rolf Bader: Rolf_Bader@web.de
Ethik der Medizin der Friedrich Alexander Universität Erlangen ein.
Kongressbeitrag: 25,- Euro Studierende beitragsfrei
Schirmherr:
Prof. Dr. phil. Dieter Riesenberger, Paderborn
Veranstalter: IPPNW – Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. – Regionalgruppe Landsberg am Lech
Organisation:
Prof. Dr. med. Karl-Heinz Leven, Institut für
Geschichte und Ethik der Medizin, FAU Erlangen
Dr. med. Horst Seithe, IPPNW Nürnberg-Erlangen-
Fürth
Wir gehen davon aus, dass die Tagung wie geplant stattfinden kann. Programm und Anmeldeinformationen finden Sie unter: Träger des UNESCO-Friedenspreises 1984 und des Friedensnobelpreises 1985
www.medizinundgewissen.de 35
45th Session on Human Rights of Migrant and Refugee Peoples Berlin Hearing | 23-25 Oct 2020
Vom 23.-25. Oktober 2020 findet im Refugio Berlin ein Menschenrechtstribunal mit dem Fokus Gesundheit statt. Wir klagen Menschenrechtsverletzungen gegenüber Geflüchteten und Migrant*innen in folgenden Bereichen an:
Die Veranstaltung ist Teil der 45. Sitzung des Permanent People‘s Tribunal. In diesem Rahmen haben bereits Tribunale in Palermo, Paris,
1. Zugang zur Gesundheitsversorgung 2. Auswirkungen der Lebensverhältnisse in Massenunterkünften auf die psychische und physische Gesundheit 3. Aufenthaltsstatus, Abschiebung und Gesundheit 4. Kriminalisierung von Solidarität 5. Deutschlands Verantwortung in der EU-Abschottungspolitik Rassismus sowie gender- und altersspezifische Aspekte ziehen sich als Querschnittsthemen durch die Anklage. Das Klima gegenüber Geflüchteten
Personen werden immer rigoroser
verschlechtert sich zunehmend:
abgeschoben. Viele Schutzsuchende
Die Verschärfungen der Asylgesetz-
erfahren wegen strenger Asylgeset-
gebung und die Abschottung Euro-
ze oder auch durch rassistisches Ver-
pas setzen sich fort. Während sich
halten u.a. von Gesundheitspersonal
die Friedensnobelpreisträgerin EU
nicht die Behandlung, die ihnen zu-
mit Standards wie der Einhaltung
steht. Diese mit dem Menschenrecht
von Menschenrechten rühmt,
auf Gesundheit unvereinbare Praxis
sterben regelmäßig Tausende von
setzt geflohene Menschen unzu-
Menschen an ihren Grenzen. Kran-
mutbaren Gefahren aus.
Barcelona, London und Brüssel zu unterschiedlichen Schwerpunktthemen stattgefunden.
Wie kann man uns unterstützen? • Unseren Aufruf mitzeichnen • Sich als Zeug*in zu den Anklagepunkten melden • Sammeln von Zeug*innenaussagen im Rahmen der Anklageschrift • Mitarbeit im Bündnis • Werbung für Veranstaltungen des Bündnisses und für das Tribunal im eigenen Netzwerk
Spenden: IPPNW e.V.
„Human Rights Tribunal“ IBAN DE39 1002 0500 0002 2222 10 BIC: BFSW DE33BER – BfS Berlin
ke, traumatisierte und schwangere
Weiterführende Informationen:
ppt.transnationalmigrantplatform.net/berlin-in-2020 Kontakt zum Bündnis: Susanne Dyhr, dyhr@ippnw.de
Facebook: @PPTberlin Twitter: @PPT_Berlin