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das magazin der ippnw nr122 juni10 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung
- Piratenakt auf hoher See: Matthias Jochheim auf der Mavi Marmara - Gefährlicher Staub: Neue Forschungsergebnisse zu Uranmunition
Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags: Ergebnisse, Aktionen, Überlegungen - und was geschieht auf dem ehemaligen Testgelände Semipalatinsk?
I PPNW IPPNW steht für “International Physicians for the Prevention of Nuclear War”. Wir engagieren uns für eine Welt ohne atomare Bedrohung und Krieg, wurden 1985 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet und sind in über 60 Ländern aktiv.
In der IPPNW engagieren sich Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie Medizinstudierende für eine menschenwürdige Welt frei von atomarer Bedrohung. Frieden ist unser zentrales Anliegen. Daraus entwickeln wir unser vielfältiges Engagement. Wir setzen uns ein für die Ächtung jeglicher Kriege, für gewaltfreie, zivile Formen der Konfliktbearbeitung, für den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen und die gerechte Verteilung der Ressourcen sowie für ein soziales und humanes Gesundheitswesen. Dabei leiten uns unser ärztliches Berufsethos und unser Verständnis von Medizin als einer sozialen Wissenschaft. Für eine Welt frei von atomarer Bedrohung Für eine Welt frei von Krieg Für eine Medizin in sozialer Verantwortung
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EdItOrIAl
Xanthe hall ist Fachreferentin für Atomwaffen und Koordinatorin der politisch-strategischen Arbeit der IPPNW
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uf der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag in New York wurde Israel endlich namentlich aufgefordert, seine Atomwaffen aufzugeben. Kaum war die Konferenz vorbei, kehrte die israelische Regierung der Welt den Rücken zu.
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ie Erklärung ignoriere „die Realitäten im Nahen Osten und die wirklichen Bedrohungen, denen die Region und die ganze Welt ausgesetzt“ seien, argumentierte Israel und kündigte den Boykott einer Konferenz zur Errichtung einer atomwaffenfreien Zone in Mittleren Osten an. Weniger als eine Woche später griff Israel die Gaza-hilfsflotille an, mit mindestens neun Toten und etlichen Verletzten. Matthias Jochheim, stellvertretender Vorsitzender der deutschen IPPNW, war an Bord der Mavi Marmara und erzählt in diesem heft von seinen Erlebnissen. Gleichzeitig meldete sich der Bundespräsident zur Wort. Der Einsatz militärischer Gewalt zur Verfolgung wirtschaftlicher Interessen sei in bestimmten Fällen grundsätzlich notwendig und zulässig, sagte er. Nach einer Welle der Kritik – auch von IPPNWMitgliedern – trat er zurück. Doch sein Rücktritt wird die Debatte um den Afghanistankrieg nicht beenden.
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iese Ausgabe des IPPNW-Forums hat den Schwerpunkt Atomwaffen. Manchmal werde ich gefragt, warum ich mich mit diesem Thema beschäftige. Es wäre zwar schön, wenn Deutschland atomwaffenfrei wäre, aber es gäbe doch andere Themen, die wichtiger seien. Ich jedoch halte es für sehr wichtig. Es ist ein Schlüsselthema. Die Debatte um das Thema Abrüstung führt zu allen anderen Themen, die wichtig sind: Frieden, Sicherheit, Energie, Umwelt, Menschenrechte, Gerechtigkeit, Weltordnung. Die Beseitigung der Waffen selbst ist nur einer von vielen Wegen zu einem gemeinsamen Ziel: einer anderen, friedlicheren und atomwaffenfreien Welt. Viel Spaß bei der Weglektüre Xanthe hall
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inhalt Die Gaza-Flotille Piratenakt auf hoher See
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Themen Piratenakt auf hoher See.........................................................................................8 Gefährlicher Staub.................................................................................................... 10 Überwindung einer Geißel. ................................................................................. 12 Mit und ohne Bart..................................................................................................... 14 Ärztetag beschließt: E-Card einstellen! .................................................. 15 Ärzte gegen Krieg - ein Rückblick, Teil 2 ............................................. 30
Schwerpunkt Peace Rally 2010: Fotos von Morgan Freeman................................ 16
Mit und ohne Bart Die Menschenkette im April
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Beginn der Realität. ................................................................................................. 18 Frickeln am gordischen Knoten. .................................................................... 20 Blütenpracht.................................................................................................................. 22 Verbale und nukleare Sprengsätze............................................................... 23 Das Monster lebt. ....................................................................................................... 24 Die dritte Säule. .......................................................................................................... 26
Welt Next Stop: Basel
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Rubriken Schwerpunkt: NPT 2010 Beginn der Realität?
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Editorial. ................................................................................................................................3 Meinung.................................................................................................................................5 Nachrichten........................................................................................................................6 Aktion. ...................................................................................................................... 28, 29 Gelesen, Gesehen...................................................................................................... 32 Geplant, Termine........................................................................................................ 33 Gefragt................................................................................................................................ 34 Impressum/Bildnachweis..................................................................................... 33
M einung
Angelika Claußen Vorsitzende der IPPNW Deutschland
Der blutige Angriff der israelischen Soldaten auf die Gaza-Freiheitsflotte hat die völkerrrechtswidrige Blockade des Gazastreifens inklusive der Seeblockade wieder ins Zentrum der Weltpolitik gerückt.
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srael und Ägypten verhängten die Blockade 2007 gemeinsam, nachdem die Hamas-Bewegung, die 2006 die Parlamentswahlen gewonnen hatte, auch militärisch die Macht in Gaza übernommen hatte. Die Abriegelung des Gazastreifens zu Land, Luft und zu See, gegen die sich die Aktion der Freiheitsflotte richtete, stranguliert jegliches zivile Leben in Gaza. Nach Angaben der Vereinten Nationen kommt seit der Machtübernahme der Hamas höchstens ein Viertel der Warenmenge von 2005 in den Gazastreifen. Baumaterialien wie Metallstreben, Zement, Holz oder auch Dünger unterliegen strengsten Auflagen, weil sie nach israelischen Angaben militärisch genutzt werden könnten. Diese Argumentation erinnert auf fatale Weise an die Begründung des Irak-Embargos durch die Sanktionsmächte USA und Großbritannien. Sie verboten damals die Einfuhr von vielen lebenswichtigen Gütern in den Irak.
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ie der Sprecher des israelischen Außenministeriums Jigal Palmor kürzlich betonte, sieht Israel Gaza wegen der Hamas als Kriegsgebiet an und verteidigt die Seeblockade. Doch inzwischen wächst auch in Israel die Kritik. Avi Primor, ehemaliger Botschafter Israels, sagte in einem Radio-Interview: “Für Israel ist die Belagerung verheerend, weil sie uns in Schwierigkeiten mit der ganzen Welt bringt, weil sie den Friedensprozess verhindert und vor allem weil sie ihr Ziel nicht erreicht. Wenn das Ziel der Belagerung wäre, die Hamas-Regierung zu untergraben, so wissen wir nach vier Jahren Belagerung dass das nicht der Fall ist, im Gegenteil, es stärkt die Hamas-Regierung”. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon stuft die Gaza-Blockade als völkerrechtswidrig ein, weil sie unschuldige BürgerInnen straft. Etwa 80 Prozent der 1,5 Millionen Bewohner des Gazastreifens sind mittlerweile von Lebensmittellieferungen der Vereinten Nationen abhängig. Die Frage ist nun, wie die längst von der UN, der USA, der EU und zahlreichen Friedensorgansiationen vertretene Forderung nach Aufhebung der GazaBlockade endlich in die Tat umgesetzt werden kann.
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ie deutsche Bundesregierung ebenso wie andere EU-Staaten können mit einer sofortigen Suspendierung der Waffenlieferungen an Israel ihrer Forderung durchaus wirksam Druck verleihen. Auch die USA könnte ihre für 2010 zugesagte Waffenhilfe sowie die Kreditzusage für den Staat Israel blockieren. Denn an Konfliktparteien dürfen keine Waffen geliefert werden. Die ägyptische Regierung muss ihre Beteiligung an der Blockade beenden, indem sie den Übergangspunkt Rafah dauerhaft öffnet und die israelisch-ägyptischen Grenzvereinbarungen aufkündigt, die Israel das Recht geben, mitzuentscheiden, wer die ägyptisch-palästinensische Grenze in Rafah passiert.
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ls Friedensorganisation verurteilen wir Gewalt auf beiden Seiten – sowohl die Raketen der Hamas auf Israel als auch die militärischen Angriffe Israels. Wir setzen auf Dialog und Aussöhnung. Dafür braucht Israel wirksamen Druck von den mit ihm befreundeten Staaten. Die konsequente Umsetzung des Völkerrechts und der Menschenrechte weisen den Weg dazu. 5
N achrichten
Vergiftete Wunden: Testet Israel neue Waffen in Gaza?
P.E.N. fordert raschen Abzug aus Afghanistan
Ilisu-Staudamm: Neue Skandale
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ei der Biopsie von 13 Menschen, die in militärischen Konflikten mit Israel zwischen 2006 und 2009 ums Leben gekommen waren, haben Wissenschaftler des „new weapons research committees“ Spuren von insgesamt 32 verschiedenen, zum Teil hochgiftigen und krebserregenden Elementen, gefunden. Das gab die Organisation am 11. Mai bekannt. Die Sprecherin der Gruppe, Prof. Paola Manduca, erklärte, dass sich die toxischen Metalle auch in der Umwelt in unbekanntem Ausmaß ausgebreitet hätten und nun von den Bewohnern der ehemaligen Kampfgebiete eingeatmet würden, so dass auch ein Vergiftungsrisiko für Überlebende und Unbeteiligte bestehe. In drei Laboren an Universitäten in Rom, Kalmar (Schweden) und Beirut haben Wissenschaftler Untersuchungen von Schusswaffenverletzungen durchgeführt, die von experimentellen, israelischen Waffen stammen, deren Munition keine Fragmente hinterlässt. In der Studie des Komitees heißt es, die Waffen gälten gemeinhin als vergleichsweise unbedenklich, weil sie nur „wenige Kollateralschäden“ verursachten. Auf die ungeklärten medizinischen Risiken, so die Pressemitteilung zur Veröffentlichung der Studie, hätten Ärzte in Gaza wiederholt hingewiesen.
ie Jahresversammlung der Schriftstellervereinigung P.E.N. forderte in der Friedensstadt Osnabrück einstimmig „von der Bundesregierung ein rasches Ende des militärischen Einsatzes deutscher Truppen, einen überzeugenden Plan für den Aufbau einer afghanischen Gesellschaft, eine Verständigung über die Werte und Moralvorstellungen, die bei Gesprächen mit den Taliban und bei ihrer zu fordernden Beteiligung am gesellschaftlichen Prozess unabdingbar sind.“ Weiter heißt es in der Resolution, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen sei und ein Vietnam am Hindukusch drohe. Denn „der jetzt geführte Krieg erzeugt nichts anderes als Krieg.“ Die Errichtung einer Zivilgesellschaft kann aber nur im Frieden gelingen. „Dieser asymmetrische Krieg der NATO gegen die Taliban und gegen viele nur vermutete Gegner zerstört die Mittel, ihn zu beenden. Er ruiniert die Vorstellung von Zielen, die nicht militärischen und ökonomischen Interessen folgen.“ „Wir bereiten uns selbst eine Niederlage, wenn wir uns weiterhin an diesem Krieg beteiligen; angegriffen werden damit unsere demokratischen Errungenschaften und die Notwendigkeit zur nicht militärischen Konfliktregelung.“
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aut einem Artikel der Hürriyet Daily News vom 24.5. sollen Hasankeyfs antike Brücke und die antike El Rizk Moschee nun doch in den Fluten des Ilisu-Staudamms versinken. Bisher hatten die türkischen Behörden versichert, die wichtigsten zwölf Monumente von Hasankeyf würden abgetragen und im Original wieder aufgebaut werden. Im Artikel ist nur noch von „Nachbildungen“ die Rede. Die Umsiedlungen für das umstrittende Staudamm-Projekt sollen nach Informationen der Initiative zur Rettung von Hasankeyf im August 2010 beginnen. Für den Verlust ihrer Wohnstätten erhalten die Bewohner des Dorfes Ilisu vom Staat maximal 20.000 Türkische Lira, die neu errichteten Häuser werden etwa 70.000 Lira kosten. Für viele wird die Umsiedlung damit existenzbedrohend. Hinzu kommt, dass entgegen früheren Versprechungen für die Bauarbeiten hauptsächlich Arbeiter aus anderen Teilen der Türkei herangezogen werden. Wie erst vor wenigen Wochen offiziell bekannt wurde, verbleibt die österreichische Andritz AG als einziges europäisches Unternehmen im Ilisu-Projekt. Alle anderen europäischen Partner sind den Empfehlungen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz gefolgt, die sich im Juli 2009 wegen der mangelhaften Einhaltung von Projektauflagen seitens der Türkei aus dem Projekt zurückgezogen hatten.
NAchrIchtEN
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Zwischen störfall und unfall liegt oft nur der Zufall
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„Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer trifft sie der Zufall.“ Friedrich Dürrenmatt
Konstruktionsfehler, Planungs- und Bedienungsfehler, fahrlässigkeit, Materialverschleiß und viele weitere gefährdungen technischer Prozesse sind beherrschbar, wenn sie nicht zufällig gleichzeitig auftreten und urplötzlich zusammenwirken. eine solche „Verkettung unglücklicher umstände“ führte vor 24 Jahren zum super-gau in tschernobyl. auch das war zuerst nur einer der „störfälle“, wie sie auch in deutschen atomkraftwerken längst die regel sind. • trotZ der permanenten gefahr für leben und gesundheit der Menschen durch laufende atomkraftwerke und „absaufende endlager“ mit unvorstellbar lang strahlenden abfällen, • trotZ des in wahrheit viel zu teuren atomstroms, der ohne subventionen 2 € pro Kilowattstunde kosten müsste, • trotZ der atemberaubenden aufholjagd der erneuerbaren energien, die mit einem Marktanteil von etwa 18 Prozent dem atomstrom schon bald den rang ablaufen werden und in absehbarer Zeit 100 Prozent des strombedarfs decken können, • trotZ dieser eindeutigen sachlage blockieren die schwarzgelbe Bundesregierung und die unionsgeführten Bundesländer den weiteren ausbau der dezentralen „energieversorgung in Bürgerhand“ und wollen auch noch die laufzeiten der abgeschriebenen atommeiler verlängern.
* iPPnw – »international Physicians for the Prevention of nuclear war« ist die organisation von zehntausenden Ärztinnen und Ärzten sowie Medizinstudierenden in über sechzig ländern. 1985 erhielt die organisation den friedensnobelpreis. unterstützen sie den aufruf unter www.ippnw.de. informationen zur atomenergie unter www.ippnw.de/atomenergie
wie ist es möglich, dass wenige großkonzerne die regierung unseres landes vor sich hertreiben können, nur um weiterhin maßlose Profite zu realisieren? wie ist es möglich, dass dafür ständig steigende strompreise bezahlt werden müssen? Mit empörung und in sorge um leben und gesundheit der Menschen warnen wir Ärzte, Ärztinnen und förderer der deutschen sektion der iPPnw* vor laufzeitverlängerungen für atomkraftwerke. der atomstrom „verstopft“ schon heute die stromnetze und steht dem vollständigen umstieg auf erneuerbare energien im weg. deshalb:
atomparteien abwählen, erneuerbare energien durchsetzen nächste gelegenheit: nrw-landtagswahl am 9. Mai diese anzeige tragen 2.657 Ärztinnen und Ärzte sowie förderer der iPPnw.
V.i.s.d.P.: dr. Jörg schmid, deutsche sektion der internationalen Ärzte für die Verhütung des atomkrieges (iPPnw), Körtestraße 10, d-10967 Berlin, spendenkonto: iPPnw e.V., Konto 22 22 210 Bank für sozialwirtschaft, BlZ 100 205 00, stichwort „tschernobyl-tag 2010“
Gefährdungsatlas und Tschernobylanzeige
Aus für Vermonter PannenAtomreaktor
Deutsche Bank hält keine Beteiligung an Elbit
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ine Arbeitsgruppe der Umweltstiftung hat die Bevölkerungszahlen in den Gefährdungsregionen der aktuell in Betrieb befindlichen deutschen Kernkraftwerke ermittelt. Berücksichtigt wurde dabei die Wohnbevölkerung in einem Umkreis von jeweils 150 km, erstmals auch unter Einbeziehung der grenznahen AKW in Belgien, Frankreich, Tschechien und der Schweiz.
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Gefährdet sind 247 von 301 Landkreisen. Das sind ca. 82,06 % der Landkreise in Deutschland, sowie 103 kreisfreie Städte. Dabei ergaben sich laut Umweltstiftung gefährdete Bevölkerungszahlen zwischen 5,4 Millionen (Gundremmingen) und bis zu 11,8 Millionen (Neckarwestheim). Besonders gefährdet sind die Menschen um Bremen, die im unmittelbaren Einzugsbereich von bis zu 6 AKWs leben.
VY weist seit Beginn des Betriebs 1973 eine Serie von Störfällen auf, im Jahr 2007 stürzte ein Kühlturm ein. Im Januar dieses Jahres war bekannt geworden, dass offenbar seit langer Zeit große Mengen von Tritium und anderen Radionukliden in die Umgebung gelangt waren.
Im Mai 2010 ist der Gefährdungsatlas als DIN A1-Deutschlandkarte erschienen.
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m Mai veröffentlichte die IPPNW zum Tschernobyl-Jahrestag zwei Anzeigen mit dem Titel „Zwischen Störfall und Unfall liegt oft nur der Zufall“. Die Anzeigen wurden in der Süddeutschen Zeitung und vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) veröffentlicht. Unterzeichnet hatten etwa 3.000 IPPNW-Ärzte und -Freunde. Den vollständigen Text finden Sie auf: www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Anzeigen/SZ_24Tscherno2010.pdf
m 24. Februar 2010 stimmte der Vermonter Senat gegen eine Verlängerung der Laufzeit des Atomreaktors Vermont Yankee Nuclear Power Plant (VY). Der Betreiber Entergy hatte eine Verlängerung der Betriebslizenz für 20 weitere Jahre beantragt. Die derzeit gültige Lizenz wird im März 2012 auslaufen. Der Antrag wurde mit 26 zu 4 Stimmen abgelehnt.
Vergangenes Jahr organisierte u.a. die Bürgerinitiative VYDA (Allianz zur Stilllegung von Vermont Yankee) Vorträge und Diskussionen. Auch IPPNW-Kinderarzt Winfrid Eisenberg war eingeladen worden, um über die deutsche KiKK-Studie zu informieren. Die intensive Überzeugungsarbeit vieler Umwelt-, Antiatom-, Friedens-, Universitäts- und kirchlicher Gruppen hat offenbar zu einem Stimmungsumschwung in der Bevölkerung und im Senat geführt. Üblicherweise entscheidet in den USA die NRC (Nuclear Regulatory Commission) über alle Atomangelegenheiten. Das kleine Vermont ist der einzige Bundesstaat, der sich für derartige Fragen ein Mitentscheidungsrecht in die Verfassung geschrieben hat. Betreiber Entergy hat unterdessen angekündigt, alles in Bewegung zusetzen, um doch eine Lizenz zu erhalten. 7
ie Deutsche Bank habe keine Beteiligung an Elbit Systems, erklärte der Vorstandsvorsitzende Josef Ackermann auf der hauptversammlung der Deutschen Bank am 27. Mai. Zuvor hatten pax christi und die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) gemeinsam mit den Kritischen Aktionären die Nichtentlastung des Deutsche Bank-Vorstands beantragt. Nach Recherchen von pax christi und IPPNW besaß die Deutsche Bank am 31. März 2010 noch über 50.788 Aktien von Elbit Systems und war damit unter den größten Anteilseignern. Elbit Systems hat Sicherheitstechnologie für die Mauer im von Israel besetzten Westjordanland geliefert. Laut einem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs in Den haag verstößt die Mauer gegen internationales Recht. Die Deutsche Bank hat sich ausdrücklich zu den Prinzipien des Global Compact Netzwerks bekannt „den Schutz der internationalen Menschenrechte innerhalb ihres Einflussbereiches (zu) unterstützen und (zu) achten“ und sicherzustellen, „dass sie sich nicht an Menschenrechtsverletzungen mitschuldig“ macht. Pax Christi und IPPNW werden die Geschäftspolitik der Deutschen Bank in Bezug auf Elbit Systems weiterhin kritisch verfolgen, sagte Sabine Farrouh.
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Piratenakt auf hoher See Matthias Jochheim war auf der Mavi Marmara
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iese Erinnerungen, Bilder und Geräusche werden mich sicher noch oft einholen: eng gefesselte, meist in eine kniende Position gezwungene Menschen, zu hunderten auf einem Schiffsdeck festgehalten, und von vermummten, mit Maschinenpistolen bewaffneten Soldaten in Schach gehalten.
o erlebten wir unsere Reise durch das östliche Mittelmeer, nachdem die israelische Armee handstreichartig, vor Beginn des Morgengrauens, die türkische Passagierfähre „Mavi Marmara“ überfallen und unter ihre Kontrolle gebracht hatte - in internationalen Gewässern vor der Küste von Gaza, dem Ziel unserer Reise. Dorthin wollten wir als Zeichen der Unterstützung medizinische Instrumente, Medikamente, Baumaterialien und Fertighäuser sowie andere Bedarfsgüter des täglichen Lebens bringen, die die israelische Besatzungsmacht schon seit langem nicht mehr in das Gebiet lässt. Das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins wurde verstärkt durch das infernalische Knattern und die Vibrationen, die von einem direkt über unserem Deck postierten Hubschrauber ausgingen. Etwa 40 Minuten wurden wir ohne erkennbaren Transportzweck diesem heftigen Lärm ausgesetzt, offenbar mit der Absicht, uns unsere wehrlose Lage als nachhaltige Erfahrung einzuprägen. Sadismus als Machtdemonstration, so erlebte ich dieses Vorgehen der Uniformierten. Schlimmeres hatte ich nur indirekt erlebt: früh um etwa 4.30 Uhr an diesem 31. Mai hatte sich die israelische Spezialtruppe über dem Deck der Mavi Marmara von Hubschraubern abseilen lassen, und dabei sehr rasch ihre Schusswaffen benutzt, um jede noch so symbolische Verteidigung des Schiffs gewaltsam zu durchbrechen. Eine Gegenwehr mit tödlich wirkenden Waffen war für die Soldaten nicht zu befürchten, denn die etwa 600 Passagiere des Schiffs waren bei Betreten auf Waffenbesitz durchsucht worden, um die Gewaltfreiheit unserer Aktion zu garantieren. Zwar habe auch ich später einige Holzlatten bei Aktiven unseres Schiffes gesehen, aber dies ändert nichts an dem - grundsätzlich auf menschenverletzende Gewalt verzichtenden Charakter unseres Handelns, auf den wir uns als internationales Bündnis aus über 30 Ländern und auf insgesamt sechs Booten und Schiffen geeinigt hatten. Diese Schiffe nun wurden auf dem
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Menschen in Gaza wenig Chancen, etwas zu produzieren. Sie wurden zu Almosenempfängern der Hilfsorganisationen degradiert, ohne Recht auf Ausreise. Sogar der Besuch der palästinensischen Westbank ist ihnen in aller Regel verwehrt.
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egen diese Situation richtete sich unsere internationale Aktion. Auf Handgreiflichkeiten, vielleicht auch auf Festnahme waren wir vorbereitet, nicht aber auf das, was wir dann erlebten: konfrontiert zu sein mit tödlicher Gewalt. Es hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt, wie erregt schreiende Helfer blutüberströmte Opfer des israelischen Überfalls die Treppe zu unserem Zwischendeck herunterschleppen. Ich sehe vier getötete Aktive, die in diesem Aufgang liegen, später höre ich von insgesamt neun Todesopfern der israelischen Aktion. Auch die Angst der zwei israelischen Soldaten kommt in mein Gedächtnis, die dort vorübergehend festgehalten werden, nachdem sie offenbar als erster Vor-Trupp isoliert und von den Wächtern auf dem Deck arretiert wurden.
©freegaza/flickr
Weg nach Gaza gewaltsam angehalten, besetzt und mit Kurs auf den israelischen Hafen Ashdod entführt. Es war nichts anderes als ein Hijacking auf hoher See. Denn wenn es darum gegangen wäre, einen Waffentransport nach Gaza zu verhindern, wäre eine Durchsuchung des Schiffs und anschließende Weiterfahrt ein mögliches und nach internationalem Recht bei begründetem Verdacht auch legitimes Mittel gewesen.
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etzt, einige Tage nach diesen Erlebnissen, scheint eine Flut von Meldungen aus allen Kanälen diese unmittelbaren Eindrücke zu überlagern; man hört, es sei der Wunsch der Getöteten gewesen, ihr Leben bei diesem Anlass hinzugeben – als habe es sich bei unserer Protest- und Solidaritätsfahrt um ein Suizidprojekt gehandelt. Die Infamie von Kriegs- und Gewaltrechtfertigung ist wirklich grenzenlos, und das Zusammenwirken von Menschen aus über 30 Nationen, aus Orient und Okzident auf der Mavi Marmara wohl ein besonderer Anreiz, hier mit Erfindungen jeder Art wenigstens im Nachhinein Verwirrung und Zwietracht zu säen.
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s geht aber tatsächlich, aus welchem Kalkül auch immer, um die weitere Strangulation des zivilen Lebens in dieser Enklave zwischen Mittelmeer, ägyptischem Sinai und israelischer Negev-Wüste. Die Fläche Gazas entspricht in etwa dem Stadtstaat Bremen, bei einer Bevölkerungszahl von heute etwa 1,5 Millionen Menschen und einer starken Geburtenrate. Mehr als die Hälfte der Bewohner ist arbeitslos, ebenfalls mehr als 50 Prozent leben in provisorischen Siedlungen, ohne reguläre Erwerbsquelle. Seit der „Nakba“, der Katastrophe der Vertreibung aus ihren ursprünglichen palästinensischen Städten und Dörfern 1948 – sind sie abhängig von der Unterstützung durch internationale Organisationen wie der UNRWA, der UN-Flüchtlingsorganisation in Palästina. Mangelernährung besonders von Kindern ist unter diesen Bedingungen alltäglich in Gaza. Ständige Angriffe der israelischen Armee, insbesondere durch Kampfflugzeuge, und wiederholte Invasionen von Bodentruppen haben – zuletzt in großem Maßstab zum Jahreswechsel 2008/2009, als etwa 1.400 Bewohner ihr Leben verloren – zu einer beinahe flächendeckenden psychischen Traumatisierung geführt.
Es war wohl kein Zufall, dass gerade die Mavi Marmara auf diese Weise attackiert wurde: bei einer Nacht- und Nebel-Aktion, die für die Tarnung und Rechtfertigung völlig unverhältnismäßiger Gewalt vergleichsweise günstige Bedingungen lieferte.
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ls IPPNW hätten wir sicher nicht an einer Aktion teilgenommen, die Todesopfer hätte erwarten lassen. Verzicht auf Menschen gravierend verletzende und erst recht auf tödliche Gewalt, dieses Prinzip der internationalen FreeGaza-Koalition wurde von Seiten unserer Mitreisenden nach allen meinen Beobachtungen auf der Mavi Marmara eingehalten. Wir trauern um die neun Opfer militärischer Gewalt, und hoffen, dass ihr Einsatz nicht umsonst bleibt, sondern einen Mosaikstein auf dem Weg zur Durchsetzung eines gerechten und dauerhaften Friedens zwischen Israel und Palästina beitragen kann. Dies ist nicht nur für die betroffenen Menschen in der Region von essenzieller Bedeutung, sondern darüber hinaus auch für Europa und, man kann wohl ohne Übertreibung sagen: den Fortschritt für den Frieden weltweit.
Der internationale Status von Gaza ist in seiner Rechtlosigkeit wohl ziemlich einmalig in der Welt: die von der islamisch geprägten Hamas-Partei getragene lokale Regierung hat bei international unterstützten Wahlen 2006 in den besetzten palästinensischen Gebieten zwar die Mehrheit errungen. Dies nahmen dann aber Israel wie auch die westlichen Geberländer zum Anlass, Steuergelder widerrechtlich einzubehalten bzw. ihre Zahlungen einzustellen, und sich an der hermetischen Abriegelung der Menschen von Gaza zu beteiligen. Es scheint, dass die Palästinenser für ihre „falsche“ Wahlentscheidung bestraft werden sollten, fürwahr ein beeindruckendes Beispiel westlichen Demokratie-Verständnisses. Die Abriegelung hat eine weitgehende Paralyse des ökonomischen Lebens mit sich gebracht, denn ohne Rohmaterialien, die importiert werden müssen, gibt es auch für die erfinderischen
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©allaboutgeorge/flickr
Frieden
Gefährlicher Staub Neue Erkenntnisse über Depleted Uranium
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epleted Uranium (DU) ist die englische Bezeichnung für abgereichertes Uran - ein Abfallprodukt, das bei der Anreicherung von Kernbrennstoff für Atomkraftwerke und von waffenfähigem Uran für Atombomben entsteht. Es wird von der Rüstungsindustrie zur Herstellung von panzer- und bunkerbrechender Munition verwendet. Uran-Geschosse entfalten aufgrund ihrer extrem hohen Dichte eine größere Durchschlagskraft als konventionelle Munition. Außerdem entzündet sich das nach einem Treffer zu Staub gewordene und extrem erhitzte Metall im Inneren des Panzers oder Gebäudes selbst, das getroffene Ziel verbrennt. Dabei entsteht ein Uranoxid-Aerosol, das sich mit dem Wind weiträumig verteilt und mit Staub immer wieder aufgewirbelt wird.
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ber die Atemluft, das Wasser und langfristig auch über die Nahrungskette gelangt DU in den menschlichen Körper. Es wird „inkorporiert“ und in fast alle Organe eingebaut. Über die Placenta erreicht DU auch das ungeborene Kind und kann es schwer schädigen. Mögliche Langzeitschäden sind genetische Defekte bei Säuglingen, Kinderleukämien, Krebserkrankungen, Nierenschädigungen. Die USA, Großbritannien, Russland, die Türkei, Pakistan, Saudi-Arabien, Thai-
land, Israel und Frankreich besitzen Uran-Waffen. Obwohl der Einsatz von Depleted Uranium nicht im Einklang mit dem „Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten“ und den Zusatz-Protokollen von 1977 steht, die den Einsatz giftiger Stoffe im Krieg untersagen, gibt es bisher keine Konvention zum Verbot von Uranwaffen. Die IPPNW Deutschland ist Teil der Internationalen Koalition zur Ächtung von Uranwaffen ICBUW (International Coalition to Ban Uranium Weapons) und setzt sich für eine Uranwaffen-Konvention ein, einen internationalen Vertrag, der Produktion, Besitz und Anwendung von Uranwaffen verbietet.
Einsatz im Krieg und Gesundheitsgefährdung Depleted Uranium wurde zuerst von den USA und Großbritannien im Golfkrieg 1991 eingesetzt, später in Bosnien und Serbien 1995, im Kosovo 1999 sowie im Irak-Krieg 2003. Durchgesickerte Dokumente weisen auf einen möglichen Einsatz auch in Afghanistan hin, was jedoch bisher von den USA und Großbritannien dementiert wird.
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eim Einsatz von DU als Munition entstehen Uranpartikel und Uranoxide, die als Schwebeteilchen und Stäube die Umgebungsluft belasten. Der toxische Feinstaub gelangt durch Inhalation, Was10
ser, Nahrungsaufnahme oder über die Haut in den Körper. Als Uranoxid ist es mit Partikelgrößen im Mikro- und Nanobereich lungengängig und kann für mehrere Jahre im Lungengewebe verbleiben. Die biologische Halbwertszeit des Uranoxids in der Lunge beträgt ein Jahr, die des Aerosols zwei Jahre. Es kann bis zu acht Jahre dauern, bis das inkorporierte DU wieder ausgeschieden ist. DU entfaltet sowohl chemotoxische als auch radiotoxische Wirkungen. Die Chemotoxizität führt vorwiegend zu Funktionsstörungen von Nieren und Leber. Langfristig droht eine Niereninsuffizienz. Die Radiotoxizität - DU ist ein Alphastrahler wirkt sich u. a. an den Chromosomen und Genen aus, es ruft z.B. ChromosomenBrüche, dizentrische Chromosomen und andere Veränderungen hervor. Für radioaktive Strahlung gibt es keinen Grenzwert, jedes Teilchen kann Zellschädigungen auslösen. Nicht nur von DU-Alphateilchen direkt getroffene Zellen werden geschädigt, sondern auch das genetische Material in den Nachbarzellen („BystanderEffekt). Durch medizinisch-experimentelle Studien an kleinen Säugetieren und Zellkulturen wurden schädigende Effekte auf den Fötus und den Schwangerschaftsverlauf nachgewiesen sowie eine krebsauslösende Wirkung. Alle diese neueren
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s ist wissenschaftlich unbestritten, dass abgereichertes Uran beim Verbrennen von Temperaturen bis zu 5.000 Grad Celsius einen unsichtbaren gefährlichen Metallrauch erzeugt. Dies allein stellt eine Verletzung des Genfer Protokolls für das Verbot des Gebrauchs von Gas im Krieg dar, denn Metallrauch entspricht einem Gas,“ erklärte die weltweit anerkannte Strahlenbiologin Rosalie Bertell.
lichen Missbildungen und der Kinderleukämien berichtet, die jedoch von den Sanktionsmächten USA und Großbritannien als unwissenschaftlich oder sogar als Propaganda abqualifiziert wurden. Die medizinischen Untersuchungsergebnisse an den irakischen Soldaten wurden international ignoriert. Im Rahmen der Universitätspartnerschaft arbeiten irakische, deutsche und japanische Ärzte nun seit 2004 daran, ein Krebsregister für die Region Basrah zu erstellen. Dies ist inzwischen gelungen, der erste Bericht der Studiengruppe liegt vor. Der Bericht weist auf einen deutlichen Anstieg von Lungen- und Brustkrebs hin, Erkrankungen des Lymphsystems und Leukämie treten ebenfalls gehäuft auf.
Uranwaffen ächten
Studienergebnisse machen deutlich, dass die International Commission on Radiological Protection ihr Dosis-Wirkungs-Berechnungsmodell revidieren muss, denn es berücksichtigt vorwiegend die Wirkung externer Strahlung und vernachlässigt die kontinuierliche interne Strahlung durch inkorporierte Nuklide.
sammlungen zu dem Thema „Uranmunition und gesundheitliche Folgen“, die alle beweisen, dass gerade die beiden Komponenten hohe Giftigkeit und Radioaktivität dieser Waffe sich gegenseitig kulminierend unterstützen und so die hoch aggressiven Krebserkrankungen hervorrufen. 16 Studien, die nicht veröffentlicht wurden.
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Ergebnisse von Forschungsberichten aus dem Irak
ie ICBUW hat der WHO im November letzten Jahres die Kurzfassungen von 68 aktuellen wissenschaftlichen Arbeiten geschickt, in denen DU-Wirkungen auf Zellkulturen, Tiere, Menschen und Umwelt untersucht wurden. Diese Forschungsarbeiten lassen auf verhängnisvolle Folgen der Uranmunition für die menschliche Gesundheit schließen, sowohl aufgrund der Strahlung als auch der Chemotoxizität und schließlich auch durch synergetische Effekte. Die Ergebnisse zeigen eindeutig, dass inkorporiertes DU eine Vielzahl von Gesundheitsschäden verursacht: Krebserkrankungen, chronische Nierenschädigungen und genetische Defekte treten in der Regel mit einer Latenzzeit von wenigen Jahren (Säuglinge, Kinder) bis einigen Jahrzehnten (Erwachsene) auf. Betroffen sind Soldaten sowie die jeweilige Wohnbevölkerung des Kriegsgebietes. Nach Aussage des früheren WHOWissenschaftlers Dr. Keith Baverstock liegen im „Giftschrank“ der Weltgesundheitsorganisation 16 Studien bzw. Fakten-
Bisher sind keine systematisch-epidemiologischen Studien zu den möglichen gesundheitlichen Folgen an den betroffenen Bevölkerungsgruppen der Kriegsgebiete durchgeführt worden. Die größte Bevölkerungsgruppe, die von Uran-FeinstaubKontaminierung aus Uranwaffen betroffen ist, lebt in der Region Basrah. Der IPPNW Deutschland gelang es infolge ihrer langjährigen Kontakte zu irakischen Ärzten eine Universitätspartnerschaft zwischen der Universität Basrah und der Universität Greifswald ins Leben zu rufen. Schon nach dem ersten Golfkrieg hatten irakische Ärzte über den Anstieg der kind-
Angelika Claußen ist Vorsitzende der IPPNW Deutschland. Winfrid Eisenberg ist Kinderarzt und hat u.a. die StrahlenschutzPetition initiiert. Zusammen haben sie ein IPPNW-factsheet zu Depleted Uranium verfasst, das in der Geschäftsstelle bestellt werden kann. 11
Der Einsatz von Depleted Uranium muss geächtet werden, um die Zivilbevölkerung und auch die Soldaten vor langfristigen schwerwiegenden Gesundheitsschäden zu schützen. Die IPPNW setzt sich für eine Uranwaffen-Konvention ein, einen internationalen Vertrag, der Produktion, Besitz und Anwendung von Uranwaffen verbietet. Schon 1979 schrieb der amerikanische Wissenschaftler und Arzt John W. Gofman, der als Physiker an der Entwicklung der Hiroshimabombe mitgearbeitet hat: „Ich denke, dass mindestens 100 Wissenschaftler, die sich mit den biomedizinischen Aspekten der Niedrigstrahlung beschäftigt haben - mich, Gofman, eingeschlossen - Kandidaten für ein Nürnberg ähnliches Gericht sind, da sie mit ihrer großen Nachlässigkeit und Verantwortungslosigkeit Verbrechen gegen die Menschheit begangen haben. Denn jetzt, wo die Gefahren niedriger Alpha-Strahlung bekannt sind, ist dies nicht mehr nur ein Experiment, das wir gemacht haben, sondern Mord.“
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Überwindung einer Geißel Wie die Ungleichbehandlung des Iran die Sicherheit aller gefährdet
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Die Folgen westlicher militärischer „Lösungs“-Versuche wären völlig unabsehbar. Schon das Friedensgutachten 2006 von fünf führenden deutschen Friedensforschungseinrichtungen urteilte: „Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde ein Krieg gegen Iran das Irak-Debakel an politischer Sprengkraft noch in den Schatten stellen... Da es zur Fortsetzung der Lösungssuche durch Verständigung und Interessensausgleich keine vertretbare Alternative gibt, muss sich die EU klar und deutlich gegen ein gewaltsames Vorgehen aussprechen.“
ie Präsident Bush bereits 2001 erklärte, ist der Iran ein Land mit enormen natürlichen Ressourcen und einer strategisch zentralen Lage am persischen Golf - ein Hauptziel des von den USA angeführten westlichen Eroberungsfeldzugs in der Region. Trotz des inzwischen erfolgten Wechsels der US-Administration und des deutlichen Zugewinns an Intelligenz und Charme, der mit Barak Obama im Weißen Haus Einzug gehalten hat, scheinen die Grundlinien der US-Militärpolitik in der Region fortzuwirken. Wie im Fall des Iraks, soll nun auch der Iran ökonomisch isoliert und stranguliert werden. Gleichzeitig werden alle Vorbereitungen für einen militärischen Angriff getroffen. Noam Chomsky, ein in aller Regel sehr gut informierter US-amerikanischer Beobachter, berichtet über die Stationierung von amerikanischen Atomwaffen auf dem Stützpunkt Diego Garcia im Indischen Ozean.
Dies aber geschieht aus unserer IPPNW-Sicht bisher völlig unzureichend. Offenbar bedürfen die Regierenden noch wesentlich energischerer Anstöße aus gut informierten Sektoren der Zivilgesellschaft. Wir wollen versuchen, dazu beizutragen. Verständigung und Interessensausgleich, auch darauf weisen die Wissenschaftler aus gegebenem Grund hin, kann nicht gelingen, wenn nicht auf das Anlegen unterschiedlicher Maßstäbe an die verschiedenen Akteure verzichtet wird. Doppelte Standards sind mit Friedenspolitik nicht vereinbar. Die Anwendung geltender Verträge und völkerrechtlicher Bestimmungen ist unentbehrlich, wenn es nicht nur um die Durchsetzung eigener Machtansprüche, sondern um tragfähige Lösungen für ein sicheres und konstruktives Zusammenleben der Nationen geht.
Iran wird verdächtigt, nach Atomwaffen zu streben, und damit nicht nur die Vernichtung Israels, sondern eine tödliche Bedrohung des ganzen Westens vorzubereiten. Um dieser behaupteten ungeheuren Gefahr zu begegnen, scheinen aus dieser Sicht alle Mittel gerechtfertigt, inklusive eines Präventivkrieges. Sogar der Einsatz nuklearer Waffen wird in Erwägung gezogen. Die von Deutschland an Israel gelieferten Dolphin-U-Boote können atomar bestückte Cruise Missiles abfeuern. Die Boote dieses Typs haben bereits den Suezkanal in Richtung auf den indischen Ozean passiert.
Iran im Widerspruch zum Atomwaffensperrvertrag? Im Licht der Vertragsbestimmungen betrachtet, hat der Iran bisher die aus dem NPT-Vertrag erwachsenen Verpflichtungen höchstens marginal verletzt. Die Urananreicherung in der umstrittenen Anlage von Natanz genügt mit 3 % lediglich den Anforderungen für Brennstäbe von Kernkraftwerken, in keiner Weise aber den 85-90 %, die für militärische Zwecke erforderlich wären. Auch für die jetzt vorgesehene Anreicherung auf 20 % für medizinische Zwecke trifft dies zu. Intensive Inspektionen der IAEO in den letzten Jahren und der Austausch von Informationen mit den iranischen Betreibern konnten einige Verdachts-
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abei verfügt der Iran, im Unterschied zu Israel, nicht über Nuklearwaffen, und es existieren trotz Kontrollen im Rahmen des Atomwaffensperrvertrags auch keine belastbaren Belege, dass das Land an der Entwicklung von Atombomben arbeitet. Von der Möglichkeit zur 85 %-igen Urananreicherung, wie sie zur Herstellung von Atomwaffen erforderlich ist, ist die Nuklearindustrie dort offensichtlich weit entfernt, und bisher können die Aussagen der politischen Führung, Nuklearbewaffnung auch nicht anzustreben, nicht falsifiziert werden. 12
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m Licht der Vertragsbestimmungen betrachtet, hat der Iran bisher die aus dem NPT-Vertrag erwachsenen Verpflichtungen höchstens marginal verletzt.
©Malte Andre
spannung, verdrängt wird, dass Sicherheit nur gemeinsam erreicht werden kann, für alle Seiten in einer Konfliktregion.
momente ausräumen, die IAEO fand keinerlei Beweise für ein iranisches Atomwaffenprogramm. Selbst die US-Geheimdienste erklärten in einem vielbeachteten gemeinsamen Statement Ende 2007, noch einmal bestätigt 2009, zumindest seit 2003 gäbe es kein iranisches Atomwaffenprogramm mehr.
Die westlichen Mächte und explizit auch die Bundesregierung verhindern durch die Ungleichbehandlung der verschiedenen Konfliktparteien, gerade auch in der Frage der nuklearen Bewaffnung, Möglichkeiten zu einer dringend gebotenen politischen Lösung der tiefgreifenden Widersprüche. Sie gefährden gerade damit nicht zuletzt die langfristige Sicherheit der israelischen Bevölkerung. Kritikern dieser einseitigen Unterstützung der aktuellen israelischen Militärpolitik wird in Deutschland häufig zumindest latenter Antisemitismus vorgeworfen.
US-Präsident Bush, den man in Anbetracht von hunderttausenden Opfern seines völkerrechtswidrigen Irakkriegs mit Fug und Recht als einen Kriegsverbrecher bezeichnen kann, setzte Iran auf seine Liste von „Schurkenstaaten“, der sogenannten „Achse des Bösen“. Iran ist ein wesentliches Ziel, wenn es um die Konsolidierung US-amerikanischer Vorherrschaft in der MiddleEast-Region geht. Dies macht das Land zum Objekt politischökonomischer Destabilisierung wie auch massiver militärischer Drohung, die selbstverständlich mit der UN-Charta gänzlich unvereinbar ist. Dort ist nämlich nicht nur militärische Aggression, sondern auch die Drohung mit solcher Gewalt untersagt.
Unsere Aufgabe: Delegitimierung der Kriegspropaganda Die Wahrheit stirbt im Krieg zuerst - diese empirische Beobachtung ist essenziell. „Sie sprachen von Jesus, und meinten Kattun“, auch das ist ohne Einschränkung auf die Jetztzeit zu übertragen. Nach dem 2.Weltkrieg fand die leidenschaftliche Aufforderung Eingang in die bis heute gültige Charta der Vereinten Nationen, den Krieg als „eine Geißel der Menschheit“ endgültig zu überwinden. Diese für jeden wirklichen Fortschritt des menschlichen Zusammenlebens essenzielle Aufgabe ist heute wieder aktueller denn je, auch und gerade im Nahen und Mittleren Osten. Im Lichte dieser Erkenntnis ist es nur als absurd zu bezeichnen, wenn Kritikern der aktuellen israelischen Militärpolitik, wie häufig geschehen, der Vorwurf des Antisemitismus gemacht wird.
Israel: die (un-)heimliche Atomwaffenmacht im Nahen Osten Es wird davon ausgegangen, dass Israel über ein Arsenal von 200 bis zu 500 nuklearen Sprengsätzen verfügt, mit einer totalen Sprengkraft von rund 50 Megatonnen TNT (Sprengkraft der Hiroshima-Bombe: 13,5 Kilotonnen TNT). Israel hat den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet, und unterwirft sich keinerlei internationalen Kontrollen. Es verfügt über modernste Trägerwaffen aus eigener, US-amerikanischer und in Gestalt der Dolphin-U-Boote auch aus deutscher Produktion. Israel lehnt die in UN-Resolutionen geforderte atomwaffenfreie Zone in Nahost ab.
Gekürzte Version. Vollständiger Artikel auf
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chlussfolgerungen: Die Nahost-Politik der Bundesregierung beruht wesentlich auf der Anwendung doppelter Standards gegenüber den Akteuren dieser Region. Die Sicherheit Israels steht vorgeblich im Zentrum der Entscheidungen, womit die alte Erkenntnis von Egon Bahr, eines Vordenkers der West-Ost-Ent-
www.ippnw.de/frieden/konfliktregionen
Matthias Jochheim ist stellvertretender Vorsitzender der IPPNW Deutschland 13
atomenergie
Selbst der Postbote in Hamburg steigt vom Fahrrad ab und stellt sich in die Menschenkette: „So viel Zeit muss sein.“
©Josh Feitelson / PubliXviewinG
Mit und ohne Bart Am 24. April 2010 kamen Zigtausende zu einer KETTENreAKTION
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die Anti-Atom-Sonne weht über den Köpfen der Menschen und prangt auf Transparenten. Dass so ein altbackenes Symbol plötzlich aktuell ist - es hat vielleicht damit zu tun, dass die Politik der schwarz-gelben Bundesregierung so altbacken und rückwärtsgewandt ist. In den 80iger Jahren strichen die mit den Wollpullovern Heizkörper schwarz an, um Sonnenwärme für Solarduschen einzufangen. Heute wird aus Sonnenlicht Strom und Warmwasser sehr viel effizienter produziert. Und welches Todesrisiko in jedem Atomreaktor lauert, weiß heute jeder.
s ist 14 Uhr. Und manche sind schon enttäuscht. Auf 120 Kilometern Länge zwischen den Atomkraftwerken Brunsbüttel und Krümmel stehen AtomkraftgegnerInnen. Gelbe Fahnen mit der Anti-Atom-Sonne wehen. Doch eine geschlossene Kette ist das nicht. Die Lücken sind fünf Meter und breiter. Obwohl schon so viele Leute da sind. Um 14.30 Uhr soll die Kette geschlossen sein.
Das ist die Zeit, zu der Nachbarn aus ihren Vorgärten aufstehen, aus ihren Wohnungen kommen und vom Fahrrad absteigen - wie der Postbote in Hamburg, der sich in die Menschenkette stellt und sagt: „So viel Zeit muss sein.“ Um 15 Uhr jubeln 120.000 Menschen zwischen den AKW Brunsbüttel und Krümmel, in Hamburg und auf dem Deich: Die Aktions- und Menschenkette ist geschlossen. In Hamburgs Innenstadt stehen sie in Fünferreihen, woanders muss auch mal ein Pullover oder ein Seil herhalten, um den Kontakt zum Nachbarn zu halten. Der Postbote jubelt mit, schwingt sich dann aufs Fahrrad und sagt: „Ich muss dann mal weiter.“
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as so ist wie früher: Engagement. In Streckenkonferenzen organisierten auch neu zur Anti-AKW-Bewegung gestoßene Menschen die Kette vor Ort. Was neu ist: Die Informationen fließen blitzschnell per SMS und Internet. Schülerinnen und Schüler, aber auch Grauhaarige nutzen Plattformen wie Facebook und StudiVZ, um mehr Interessierte zu erreichen. 150.000 Menschen haben der Regierung so viel Angst gemacht, dass sie ihre Maske fallen lässt. Bisher behauptete die schwarzgelbe Bundesregierung, längere AKW-Laufzeiten würden im Herbst mit einem Energiekonzept geprüft. Doch plötzlich soll schon im Juli entschieden werden, dass Atomkraftwerke länger laufen dürfen - auch die Uralt-Meiler. Ganz ohne Konzept. Und der AKW-Betreiber RWE drängelt mit: Wenn jetzt nicht entschieden werde, sei das der Ausstieg aus der Atomenergie. Gute Idee.
120.000 Menschen sind am 24. April nach Norddeutschland gekommen, um „ein spektakuläres Signal an Bundesregierung und Stromkonzerne zu richten: Auf Atomkraft setzen? Nicht mit uns!“ So steht es im Aufruf mehrerer Organisationen zur Aktionsund Menschenkette, die eine Kettenreaktion sein soll. Die kritische Masse dafür kommt mit drei Sonderzügen und hunderten Bussen nach Norddeutschland oder aus der Nachbarschaft. Die Kettenreaktion zündet auch im Süden und im Westen: Das AKW Biblis wird von 20.000 Menschen umzingelt, im Städtchen Ahaus in Nordrhein-Westfalen demonstrieren 7.000 Menschen gegen das Atommülllager dort und für „Atomausstieg jetzt“.
Für diesen echten Ausstieg, um Atom-Lobbyisten zu enttarnen und um Druck auf alle weiteren Entscheidungen auszuüben, ist weiterer Protest nötig. Dafür wird es im Sommer und Herbst neue Aktionsideen geben - für den Frühherbst ist eine Großaktion in Süddeutschland geplant. Vielleicht wieder eine Menschenkette.
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n diesem Samstag wundern sich die Journalisten wieder – wie ein halbes Jahr zuvor, als 50.000 Menschen in Berlin fürs Abschalten demonstrierten: Das sind nicht nur Männer mit grau gewordenen Bärten. Die tragen gar nicht alle Wollpullover. Da sind junge Leute. Familien. Geschäftsleute. Und ja, auch die, die schon vor 30 Jahren gegen Atomkraftwerke demonstrierten. Manche mit Bart, andere ohne. Die Frauen hatten schon damals keine Bärte. Trotzdem ist manches wie in den 80er Jahren. Denn
Stefan Diefenbach-Trommer ist Journalist und arbeitet als Campaigner bei der bundesweiten Anti-Atom-Organisation .ausgestrahlt 14
©Susanne Mies
soziale verantwortung
Ärztetag beschließt: E-Card einstellen! Silke Lüder über den Erfolg und kommende Herausforderungen
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Speicherung der sensiblen Stammdaten, wie zum Beispiel Teilnahme am „Chronikerprogramm“ Diabetes oder Brustkrebs in einer zentralen Serverstruktur widerspricht dem Recht der Versicherten auf informationelle Selbstbestimmung durch die mögliche Erstellung von Bewegungsprofilen. Das Recht der Ärztinnen und Ärzte auf geschützte und praktikable Durchführung ihrer ärztlichen Aufgaben wird missachtet. Es ist zu befürchten, dass vor allem zu Quartalsbeginn in allen Regionen ohne schnellen DSL-Anschluss die Arbeit in den Arztpraxen auf diesem Wege lahmgelegt wird. Moderne Möglichkeiten der Datenübertragung können auch ohne die staatlich aufgezwungene „Telematikinfrastruktur“ für die ärztliche Versorgung genutzt werden. Für den elektronischen Arztbrief ist eine Totalvernetzung nach staatlichen Vorgaben überflüssig. Auch der Notfalldatensatz ist in allen Tests bisher gescheitert und wäre besser auf einem ohne Online-Infrastruktur auslesbaren Ausweis aufgehoben. Das E-Card-Projekt war von Anbeginn ein Teil der Umgestaltung unseres Gesundheitswesens im Sinne einer Managed-Care Medizin. Wir lehnen eine renditeorientierte Massenabfertigung unserer Patienten ab. Patienten sind keine Kunden, Ärzte keine Dienstleister und das E-Card-Projekt untergräbt die Schweigepflicht, widerspricht der europäischen Berufsordnung und gefährdet das vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis“ Beschlossen auf dem 113. Deutschen Ärztetag am 14. Mai 2010
er diesjährige Ärztetag in Dresden hat einen konsequenten Beschluss gefasst. Er ist der Aufforderung des IPPNW Jahrestreffens gefolgt und hat dem Antrag der E-Card Kritiker unter den Delegierten des Ärzteparlaments zugestimmt. Wie in den vergangenen Jahren ging dem Beschluss eine lebhafte Diskussion voran. Der „Telematikbeauftragte“ der Bundesärztekammer hatte in seinem Referat mit beschwörenden Worten versucht, die Delegierten von der Zustimmung zu unserem Antrag abzuhalten. Es half nichts. Ich hatte noch am Morgen vor dem Eingang des neuen Kongresszentrums an der Elbe unseren IPPNW-Beschluss verteilt und erlebte viel Zustimmung durch die Delegierten, die am frühen Morgen in den Sitzungssaal eilten. So lautete das Ergebnis:
„Der Deutsche Ärztetag 2010 fordert von der Bundesregierung, das verfehlte Projekt elektronische Gesundheitskarte (eGK) in der weiter verfolgten Zielsetzung endgültig aufzugeben. Damit können bis zu 14 Milliarden Euro Versichertengelder eingespart werden. Insbesondere wenden wir uns entschieden gegen die Verwandlung der Arztpraxen in Außenstellen der Krankenkassen durch die Verlagerung des Versichertendatenmanagements in die Praxen. In Zeiten drohenden Ärztemangels vor allem in ländlichen Regionen ist dieses Vorhaben kontraproduktiv. Vier Jahre nach dem ursprünglichen Einführungsjahr der E-Card 2006 ist die neue Versichertenkarte noch immer nicht praxisreif, aber 700 Millionen Euro an Beitragsgeldern wurden allein 2009 für die 1. Phase des sogenannten „Roll-Out“ im Gesundheitsfonds eingeplant. Die bisherigen Test-Ergebnisse waren negativ, und die Tests wurden schon 2008 weitgehend eingestellt. Eine kostspielige Neuauflage in Nordrhein wäre unverantwortlich. Das neue Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Thema Vorratsdatenspeicherung bei Telefondaten widerspricht einem Beharren auf dem „ weltgrößten IT Projekt“ mit geplanter Vorratsdatenspeicherung aller Kontakte zwischen Ärzten und Patienten und insbesondere auch allen weitergehenden Anwendungen im Rahmen einer „Telematikinfrastruktur“, wie der Erstellung von E-Rezepten oder “Elektronischen Patientenakten“, die derzeit nur verschoben, nicht aber ad acta gelegt worden sind. Die jetzt vorgesehene „Online-Stammdatenaktualisierung“ der Versichertendaten an der Anmeldung der Arztpraxen mit der
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ichtig ist diese konsequente Stellungnahme des Ärztetages auch deshalb, weil die Bundesregierung plant, noch vor der Sommerpause die verpflichtende E-Card-Einführung und Onlineanbindung aller Arztpraxen zu erlassen - versteckt in einem anderen Gesetz, genannt „GKV- Änderungsgesetz“. Unsere Bürgerinitiative „Stoppt die E-Card“ hat in einer Pressemitteilung Minister Rösler aufgefordert, die Milliarden für diesen „digitalen Transrapid“ lieber in der medizinischen Versorgung zu lassen. Dr. med. Silke Lüder ist Allgemeinärztin und Sprecherin der Aktion „Stoppt die E-Card“
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npt 2010
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n den schwarz-gelben Schirmen mit der Aufschrift „Close the nuclear umbrella“ erkannte man die IPPNW-Delegation auf der Friedensdemo vor Beginn der Überprüfungskonferenz in New York. Menschen aus aller Welt demonstrierten, jeder auf seine Weise äußerst kreativ, gegen Atomwaffen.
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Morgan Freeman, Fotos von der New York Peace Rally auf: www.flickr.com/photos/ bluecrash/sets/72157624005385691
Peace Rally 2010 Bunt, vielfältig, friedlich
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in bunter Zug von Menschen schlängelte sich durch die Straßenschluchten von Manhattan. Etwa 15.000 Menschen nahmen an der Anti-Atomwaffen-Demonstration vom Times Square zum UN-Gebäude teil. Besonders präsent waren die japanischen TeilnehmerInnen, die bunte Papierkraniche verteilten. Zum Teil trugen sie traditionelle Kleidung, aber es gab auch viele junge DemonstrantInnen, die mit bunten Fächern mit dem Aufdruck „No Nukes“ ausgestattet waren. Sie hatten Papierfische dabei und Drachenköpfe. Mönche aus Myanmar demonstrierten neben Häuptlingen mit Federschmuck vom Bikini-Atoll und Mohawks aus Kanada. Überall wurde getrommelt, gesungen, Gitarre gespielt. Der New Yorker Fotograf Morgan Freeman hat für uns fotografiert. Einige seiner Bilder zeigen wir auf dieser Doppelseite und den folgenden Seiten.
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Beginn der Realität Zu den Ergebnissen der NPT-Überprüfungskonferenz
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s sollte klar sein, dass die unbegrenzte Verlängerung des NPT nicht den unbegrenzten Besitz von Atomwaffen durch die Atomwaffenstaaten impliziert“, befand der indonesische Außenminister als Vertreter der blockfreien Staaten gleich zu Beginn der Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (Non Proliferation Treaty NPT). „Die Diskussion über eine Nuklearwaffenkonvention, die, wie in Artikel VI des Vertrages vorgesehen, zum Verbot aller Atomwaffen führt, sollte beginnen und sie sollte integraler Bestandteil eines Aktionsplanes für nukleare Abrüstung sein, der von dieser Konferenz zu verabschieden ist.“ Damit hing die Messlatte für das Konferenzergebnis hoch – ebenso hoch wie die Erwartungen mancher DiplomatInnen und vieler TeilnehmerInnen aus der Zivilgesellschaft. Auf der Schlusssitzung kündigte der österreichische Botschafter dann an: „Österreich wird den [heute verabschiedeten] Aktionsplan im nächsten Überprüfungszyklus als Bewertungsmaßstab für die Messung von Fortschritt nutzen.“ Lässt sich daraus schließen, dass sich die mehr als 170 in New York versammelten Vertragsstaaten (von insgesamt 189) auf substantielle Schritte zur Abrüstung geeinigt haben? Geeinigt schon, aber lediglich auf einen Minimalkonsens. Geschuldet ist dies nicht zuletzt der Blockade durch die offiziellen Atomwaffenstaaten, die keine konkrete Festlegung auf weitere Schritte in die atomwaffenfreie Welt zulassen wollten. Mit Mühe wurden die Verpflichtungen aus den Jahren 1995 und 2000 in juristisch nicht bindenden Worten bestätigt und vereinbart, dass die Atomwaffenstaaten 2014 über ihre bis dahin ergriffenen Abrüstungsmaßnahmen Rechenschaft ablegen sollen.
Regina Hagen ist Mitglied der Kampagne „unsere zukunft – atomwaffenfrei“ und hat zusammen mit anderen aus New York gebloggt: http://atomwaffenfrei.wordpress.com 18
© Morgan Freeman
© Morgan Freeman
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enn Du alleine träumst, ist es lediglich ein Traum; wenn aber viele den selben Traum haben, dann ist es der Beginn der Realität.
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er einzige wirklich greifbare Beschluss – die Durchführung einer Konferenz im Jahr 2012 zur Diskussion eines Nahen Osten ohne Atom- und andere Massenvernichtungswaffen unter Beteiligung aller Staaten der Region – scheint durch die Reaktion Israels nach dem 28. Mai schon wieder hinfällig zu sein. „Da Israel den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hat, ist Israel auch nicht an die Entscheidungen der UN-Überprüfungskonferenz gebunden“, teilte die israelische Regierung unmissverständlich mit.
anz untergebügelt wurde auch der Abzug der taktischen USAtomwaffen aus Deutschland und anderen europäischen Ländern. Die Beendigung der nuklearen Teilhabe in der NATO aus dem ersten Dokumententwurf musste der kaum noch entschlüsselbaren Formulierung weichen, die Atomwaffenstaaten sollten „die Frage aller Kernwaffen unabhängig von ihrem Typ oder ihrem [Stationierungs-] Ort adressieren“. Vager geht es eigentlich nicht.
Das schockiert auch deshalb, weil auf der Überprüfungskonferenz durchgesickert war, dass in Washington erfolgreich separate Gespräche mit dem nicht anerkannten Atomwaffenstaat Israel stattgefunden hatten und das State Department erst dann sein OK für den Nahostbeschluss gab.
Sind wir jetzt entmutigt? Frustriert schon, entmutigt nicht. Um mit dem Abschluss-Statement des österreichischen Diplomaten zu sprechen, der den brasilianischen Bischof Hélder Cåmara zitiert: „Wenn Du alleine träumst, ist es lediglich ein Traum; wenn aber viele den selben Traum haben, dann ist es der Beginn der Realität.“
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leichermaßen irritierend ist der beispiellose Fokus, den das Abschlussdokument auf die „friedliche Nutzung von Kernenergie“ legt. Kernenergie soll „Energiebedarf decken, Gesundheit verbessern, Armut bekämpfen, Umwelt schützen, Landwirtschaft entwickeln, die Nutzung von Wasserressourcen managen sowie Industrieprozesse optimieren und so dabei helfen, die Millenium-Entwicklungsziele zu erreichen“ und wird zu „einem fundamentalen Ziel des Vertrags“ erklärt.
mmerhin haben wir auf der Konferenz mit Norwegen, Österreich, der Schweiz und anderen Staaten weitere Unterstützer für eine Nuklearwaffenkonvention gewonnen, die bei einer Überprüfungskonferenz zum ersten Mal auch von staatlicher Seite offen als Lösungsmöglichkeit benannt wurde. Die Eidgenossen haben ein weiteres Thema eingeführt, das die Abrüstung auf Null zwingend macht: die Unverträglichkeit eines Atomwaffeneinsatzes mit dem humanitären Völkerrecht. „Wir können nicht ruhen bis wir eine Welt vollständig ohne Atomwaffen erreicht haben.“ Diesem Schlusssatz des kubanischen Botschafters schließe ich mich gerne an.
Der Zusammenhang zwischen Weiterverbreitung von Atomenergie und von Atomwaffen ist am Beispiel Iran momentan zwar in Echtzeit zu verfolgen, wird im Kontext des NPT aber vollständig ignoriert. Die Gefahren durch Atomkraft werden gar nicht erst erwähnt.
Hintergründe zum NPT und zur Überprüfungskonferenz auch im Dossier 2/2010 der Zeitschrift Wissenschaft und Frieden. 19
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Frickeln am gordischen Knoten Xanthe Hall fragt: Warum gibt es Atomwaffen?
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offen – nun, vielleicht nicht gerade in Nordkorea, Frankreich oder Israel. Aber es werden auf einmal Fragen gestellt: Wie ist das zu schaffen? Was sind die Vorbedingungen? Welche sind die ersten Schritte? Wie hoch ist der zu erklimmende Berg? Und: Können wir bereits den Gipfel sehen?
tomwaffen verbreiten sich wie ein Karzinom, begleitet von Schmerz und Leiden und niemand will darüber reden, weil sie uns hilflos machen. Dennoch wird jetzt zum ersten Mal wirklich über Atomwaffen geredet. Es ist nicht mehr zu leugnen: Das ist der Anfang des heilungsprozesses.
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eutschland ist ein gutes Beispiel. Wer hätte gedacht, dass es so schwierig wird, 20 Atomwaffen los zu werden? Die Debatte über die Rolle der Atomwaffen beschwört alte Geister der NATO hervor. Plötzlich merken wir, dass – obwohl die Welt sich völlig verändert hat – unseren Einstellungen die Denke des Kalten Kriegs anhaftet. Man redet wieder über Raketenabwehr und gemeinsame Sicherheit – Positionen, die Reagan und Gorbatschow 1986 zum isländischen Verhandlungstisch mitbrachten. Das „alte Europa“ ist mit den Ängsten und dem Misstrauen der neuen NATO-Mitglieder konfrontiert und damit gelähmt.
Atomwaffen haben aber einen Zweck. Der wahre Zweck von Atomwaffen liegt in ihrer Zerstörungskraft, in der absoluten Macht, alles zu vernichten. Die ultimative Waffe gegen die Menschheit. Die Fähigkeit zur Zerstörung, anschaulich durch zwei Weltkriege und das Morden von Millionen demonstriert, hat uns an den Abgrund geführt. Da stehen wir nun wippend seit 65 Jahren. Wir haben noch keinen einzigen Schritt zurück getan. Alles hat jedoch zwei Seiten: positiv und negativ. Uns beschäftigt schon lange der negative Aspekt von Atomwaffen. Andere beteuern, den positiven Aspekt zu wissen. Unsere Antwort darauf bleibt: Nein, sie verhindern keinen Krieg. Nein, sie schützen uns nicht vor grausamen Diktatoren, und so weiter. Das einzig Positive an Atomwaffen ist, das sie uns daran erinnern, wo wir stehen und was unsere Aufgabe ist: Frieden schaffen. Das heißt nicht, dass wir Atomwaffen brauchen, um Frieden zu schaffen. Ganz im Gegenteil: um Frieden zu schaffen, müssen wir darüber reden, warum wir Atomwaffen überhaupt besitzen und wie man sie abschafft. Diese Diskussion hat nun meines Erachtens endlich angefangen.
Warum schlägt die US-Außenministerin vor, diese alten Relikte abzuschaffen, unter der Bedingung, dass die Russen ihre taktischen Atomwaffen auch vernichten? Weil sie weiß, dass sie das nicht tun werden. Russland ist genauso unfähig, sich von der alten Denkweise zu befreien. Sie sehen die US-Pläne zu einem „Prompt Global Strike“ und klammern sich verzweifelt an ihr veraltetes atomares Arsenal, als ob es die einzige Antwort wäre. Der neue START-Vertrag und die neue Atomwaffendoktrin der USA haben uns gezeigt, wie festgefahren die Situation ist. Und auch die Konferenz in New York beweist es. Diese Unfähigkeit, mehr zu erreichen als Zahlenspiele und kluge Semantik - das ist keine Abrüstung!
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eltweit finden die Befürworter der Abschaffung von Atomwaffen die Türen zu den Führungsetagen plötzlich
© Ernesto Ruge
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Xanthe hall ist Abrüstungsreferentin der IPPNW
Um uns von dieser Geißel zu befreien, reicht es jedoch nicht, am gordischen Knoten herumzufrickeln. Er muss durchschlagen werden. Gebraucht wird ein einseitiger, kühner Streich. Ein Streich für den Frieden. Der Abzug der zweihundert Atomwaffen in Europa wäre ein solcher kühner Streich. Er wäre ein Zeichen des guten Willens, um echte Verhandlungen einzuleiten. Wie können wir Freundschaft schließen, wenn wir Angst vor einem Zeichen der Schwäche (in Wahrheit doch ein Zeichen der Stärke) haben?
Verschwendung unserer finanziellen Ressourcen, der Vergiftung unserer Bevölkerung und Verseuchung unserer Umwelt ganz zu schweigen. Atomwaffen könnten uns dazu bringen, die Bedeutung von gemeinsamer Sicherheit und wie wir sie erreichen verstehen zu lernen. Wir sollten uns in unsere Feinde hineinversetzen und ihre Probleme verstehen lernen. Der Verhandlungsprozess zur Abschaffung aller Atomwaffen bringt einen Austausch über Bedürfnisse und Wünsche mit sich. Er verfolgt deren Erfüllung, um Sicherheit zu schaffen. Eine Nuklearwaffenkonvention ist demnach nicht nur die Reduzierung und Beseitigung von Waffen. Sie ist auch ein Lernprozess, in dem Vertrauen geschaffen wird und ein Kontrollsystem entwickelt wird - durch Führung (Governance) und gesellschaftliche Kontrolle (societal control) –, das das Vertrauen untermauert. Eine Konvention bedeutet, sich öffnen und transparent werden, um Ängste zu verringern und um Beziehungen auf der Grundlage der Realität aufzubauen, und nicht auf Annahmen. Sie bedeutet: die Geschichte und die Konfliktursachen verarbeiten sowie Lösungen suchen. Sie führt – in der Tat – zu einer ganz anderen Welt.
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ls ich die neue US-Atomwaffendoktrin zum ersten Mal las, war mir klar, warum wir so lange auf dieses Dokument warten mussten. Sie ist die Arbeit einer sich tief im Konflikt befindenden Administration. Es gibt große Visionen und daneben Kleinkrämerei. Man kann die arrogante Angst des Sich-an-die-Macht-Klammerns fast riechen, während Milliarden von Dollar in den nuklearen Ausguss geschüttet werden. Gleichzeitig hört man eine schwache Stimme, fast flüsternd: „Aber zukünftig…“. Ja, was ist denn mit der Zukunft? Dieses Dokument ist nicht zukunftsweisend. Es fordert von anderen Ländern, ihre kleinen Machtspuren aufzugeben, während die USA ihre Waffen modernisieren, ihre militärische Stärke weiter ausbauen und in jeder Ecke dieser Welt durchgreifen.
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ieser Prozess hätte in New York beginnen können, indem Verhandlungen für eine Nuklearwaffenkonvention zumindest vorbereitet worden wären. Dies ist nicht geschehen. Wir bleiben also wippend am Rande des Abgrunds, misstrauisch und ängstlich. Manche schauen hinein und schreien entsetzt nach Veränderung. Andere haben dem Abgrund den Rücken zugekehrt und täuschen sich vor, alles sei in Ordnung. Abgrund? Welcher Abgrund?
Wäre ich der erklärte oder potenzielle Feind der Vereinigten Staaten, könnte ich nach Lesen dieses Dokuments bestimmt nicht meine Waffen niederlegen, außer ich wäre ein Mahatma Gandhi. Konfrontiert mit solcher absoluter hegemonie, würde ich glauben, nur eine Wahl zu haben: nukleare Abschreckung. Auch wenn es Selbstmord wäre, sollte es doch zu einem Einsatz kommen. Von der
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© John Loretz
©Misha Byrne
© Katharina Bergmann
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Blütenpracht Ein New York-Tagebuch von Katharina Bergmann und Inga Kravchic
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2. Mai Die Peace-Demonstration durch New York vereint die internationalen Aktivisten für eine friedliche und gerechte Welt. Die Anzahl und die Vielfalt der Menschenmenge bilden eine unvergessliche Atmosphäre - ein Zug für eine globale gerechtere Welt.
ereits 6 Monate vor der NPT-Überprüfungskonferenz treffen wir uns auf der Konferenz zu nuklearer Abrüstung in Stockholm mit Jugendlichen von „Ban All Nukes generation“ und der Friedenswerkstatt Mutlangen. Wir besprechen unsere Ideen für Aktionen vor und während der Konferenz in New York. 450 Schüler und Studierende werden dabei sein. Am Ende steht fest: Unser Leitspruch lautet „Global Zero Now“, wir werden im Vorfeld eine Postkartenkampagne organisieren und am Ende der ersten Woche eine große Straßenaktion mit dem Titel „Critical Mass“ durchführen.
3. Mai Es regnet und wir verlagern unsere Mahnwache mit anschließendem Frühstück unter das Dach der türkischen Botschaft. Da wir dafür keine Genehmigung haben, erscheint bald die Polizei und wir müssen wieder in den Regen. Anschließend warten wir stundenlang auf unseren UN-Pass und kommen gerade noch rechtzeitig, um Hillary Clinton und die ersten Reden der Außenminister zu sehen.
November 2009 bis April 2010 Wir entwerfen und drucken die Postkarten, organisieren Genehmigungen für New York und arbeiten an der Straßenaktion. Für die große Installation einer Sonnenblume, die wir erblühen lassen wollen, müssen wir uns eine stabile Konstruktion überlegen. Wir gestalten Flyer und Infomaterialien und koordinieren die Teilnahme der Jugendlichen. Eine Unterkunft brauchen wir auch und die Akkreditierung bei der UN dürfen wir auf keinen Fall vergessen. Dann haben wir auch noch verschiedene Workshops, einen Stand auf der großen Friedensdemonstration am 2. Mai, eine Mahnwache sowie Reden und Präsentationen, die wir vorbereiten. Vieles geschieht in Zusammenarbeit mit Jugendorganisationen aus aller Welt.
4. Mai Treffen der japanischen Jugendorganisationen, auf der auch Katharina eine Rede hält. Zu Beginn der Konferenz spricht eine Hibakusha, eine Zeitzeugin aus Nagasaki. Ihre Schilderung macht uns betroffen, wir sind tief beeindruckt von ihrem lebenslangen Einsatz für den Frieden. 5. Mai Am Morgen sind wir in die Deutsche Botschaft geladen. Abends schneiden und nähen wir den Stoff für die Sonnenblume im Keller einer Kirche. Die offizielle Polizeigenehmigung bekommen wir dann in letzter Minute per Fax.
27.April Unser Flug wird wegen der Aschewolke abgesagt. Wir können aber glücklicherweise einen Tag später fliegen.
7. Mai Um 14:00 Uhr beginnen wir mit dem Aufbau unserer Sonnenblume und hängen die Postkarten auf, die wir im Vorfeld gesammelt haben. Um 18:30 Uhr geht es los. Zusammen mit anderen NGOs sowie begeisterten New Yorker Passanten ziehen wir an den Fäden der Blütenblätter, die Sonnenblume erblüht als Symbol für Abrüstung und die Nuklearwaffenkonvention. Zum Vorschein kommt ein großer Erdball. Alles funktioniert so wie es soll - und wir atmen erleichtert auf.
29. April Bei der Genehmigung für unser Festival sowie für eine geplante Mahnwache gab es Missverständnisse. Uns fehlt also die Polizeigenehmigung, die wir jetzt noch organisieren müssen. 30. April Im Dschungel der Wolkenkratzer beginnt unsere Suche nach gelbem Stoff für die Sonnenblume. Aber in New York gibt es eben alles, so dass diese Suche erfolgreich endet. 1. Mai Um 10:00 Uhr beginnt unser Workshop über Dialogtechniken auf der „International Conference for a nuclear free, peaceful, just and sustainable world“. Vorher sprechen wir uns noch ein letztes Mal mit den amerikanischen Studenten ab, mit denen wir zusammenarbeiten. Außer unserem gibt es noch viele andere Workshops, z.B. „Peace as a Human Right“.
Katharina Bergmann und Inga Kravchik waren für das Nuclear Weapons Inheritance Project in New York 22
NPT 2010
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in israelischer Politiker plaudert ein israelisches Atomwaffenprogramm aus, die Arabische Liga kündigt den Austritt aus dem NPT an . . . © Lucas Wirl
Verbale und nukleare Sprengsätze Eine Simulation zur Verhandlung der Model Nuclear Weapons Convention
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bzug aller in Europa stationierten US-Atomwaffen! Im Zuge der Verhandlungen über eine Nuklearwaffenkonvention kündigte die amerikanische Regierung gestern an, ... – So hätten Medien vielleicht berichtet, wäre dieser diplomatische Schritt nicht „nur“ im Rahmen einer studentischen Simulation internationaler Abrüstungsverhandlungen angeboten worden.
den 12 Stunden teils explosiver und hochinteressanter Debatten stand nichts mehr im Wege. Wenige inhaltliche Wiederholungen, effiziente Entscheidungsfindung und allseitige Kompromissbereitschaft im Sinne der gemeinsamen Zielsetzung – so manchem Verantwortlichen realer Abrüstungsverhandlungen hätte ein Besuch dieses „Side Events“ möglicherweise hilfreiche Anregungen geben können.
Während der NPT-Review Conference 2010 machten 30 Studierende unterschiedlicher Fachrichtungen aus aller Welt vor, was realpolitisch vermutlich noch einige Zeit auf sich warten lassen wird: Konstruktive Verhandlungen über eine Nuklearwaffenkonvention.
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eben aller Ergebnisorientiertheit brachten aber auch verklausulierte Rhetorik und diplomatisches Taktieren immer wieder die gegebene Realitätsnähe in die Diskussion zurück. Es war unschwer zu erkennen, wie viel Zeit ein Großteil der Teilnehmer zuvor mit der Observation von Verhandlungen und Rahmenveranstaltungen im UN-Hauptquartier verbracht hatte. Am Ende konnten auch abschließende Blockade-Tendenzen, insbesondere von russischer und französischer Seite, ein umkämpftes Abschlussdokument als Ergebnis nicht verhindern. Vertreter der erwähnten Staaten fürchteten letztendlich doch um die nationale Souveränität und mussten, während wiederholter Kaffee- und Essenspausen, von den folgenden Tatsachen überzeugt werden. Plutonium birgt entschieden größere Gefahren als es jemals durch die Aufbereitung für zivile Nutzung aufwiegen könnte und zur vollständigen Nachvollziehbarkeit des Abrüstungsprozesses muss eben auch die russische Nukleargeschichte vorbehaltlos aufgearbeitet werden.
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usgangspunkt der Simulation war das folgende Szenario: Einem hochrangigen israelischen Politiker passiert bei einem Fernsehinterview der Fauxpas, ein fiktives israelisches Atomwaffenprogramm auszuplaudern. Die Arabische Liga kündigt ohne zu zögern ihren Austritt aus dem NPT an und nur eine umfassende Konvention über Nuklearwaffen kann die globale atomare Abrüstung noch am Leben erhalten. Um einen Teil dieses rettenden Vertragswerks zu verhandeln, schlüpften die Teilnehmer des Kurses „Perspektiven für eine internationale Nuklearwaffenkonvention“ der Universitäten Frankfurt und Darmstadt für ein Kooperationsprojekt mit INESAP und NWIP unter der Leitung von Regina Hagen in verschiedene Länderrollen.
Das bearbeitete Vertragswerk pocht besonders auf neue Hindernisse für die Nutzung potentiell waffenfähiger Nuklearmaterialien zu zivilen Zwecken und wird für viele Verfechter der atomaren Technologien nicht einfach zu schlucken sein. Die Artikel IX und X der Model Nuclear Weapons Convention wurden somit im Sinne des dauerhaften Schutzes vor Atomwaffen neu verabschiedet und genießen, zumindest im Planspiel, internationalen Konsens. Bleibt zu hoffen, dass die Medien irgendwann derartige Ergebnisse auch ganz real in ihre Berichterstattung aufnehmen können.
Die Identifikation mit der darzustellenden Nationalität fiel niemandem wirklich schwer und Gespräche mit realen UNDelegationsteilnehmern gaben nicht nur interessante Einblicke, sondern machten aufzugreifende Positionen für viele noch plastischer. Darüber hinaus konnten inhaltliche Fragen im Zuge eines vorbereitenden Seminarwochenendes in der Arbeitsidylle der Princeton University von teils hochkarätigen Experten (u. A. Frank von Hippel; Professor und Co-Direktor des „Program on Science and Global Security“) frühzeitig geklärt werden. Auf dieser Grundlage können die zwei im Vorlauf zu den Plenarsitzungen für Koalitionsbildung und Strategieausarbeitungen zur Verfügung stehenden Tage nur als produktiv bezeichnet werden. Als endlich der Startschuss für die formellen Verhandlungen fiel, hatte jeder bereits das fiktiv-weltpolitische Abrüstungsklima sondiert und
Svea Kleiner ist Studierendensprecherin der IPPNW 23
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Das Monster lebt Zum Abschluss der NPT ein Blick auf Semipalatinsk, Kasachstan
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uri Scharow steht in einer Landschaft, die in ihrer Trostlosigkeit kaum zu übertreffen ist. Kein Baum, kein Strauch ist im Umkreis von Kilometern zu sehen, geschweige denn eine menschliche Ansiedlung. Nur endlose Weite bis zum Horizont, bewachsen mit kniehohem, dürrem Steppengras. Ab und zu ragen ein paar merkwürdige Ruinen in die Höhe, die wie die Kulisse für einen Film von Andrej Tarkowski wirken. Scharow hält ein Dosimeter in der Hand, ein Messgerät für radioaktive Strahlung. Das Instrument zeigt die Ziffernfolge 0016. „Als Maßeinheit für die Strahlendosis hat man früher Röntgen benutzt, das ist nicht mehr üblich“, sagt der Mitarbeiter des kasachischen Nuklearzentrums. Jetzt messe man in Gray oder Sievert. Das müsse der Laie nicht bis ins Detail verstehen. Dieser müsse lediglich wissen, dass der gemessene Wert von 0016 nur unwesentlich über der natürlichen Radioaktivität liege. Praktisch, so erklärt es Scharow, strahle es also nicht besonders, hier im Osten Kasachstans unweit der chinesischen Grenze - mitten auf dem ehemaligen sowjetischen Testgelände für atomare Waffen. Deshalb gebe es auch keinerlei Bedenken, den größten Teil des Areals in diesem Jahr wieder für die wirtschaftliche Nutzung freizugeben. So hat es die kasachische Regierung entschieden. [...]
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er Blick auf Scharows Dosimeter ist nicht sehr vertrauensbildend. [...] Die Halbwertzeit des Isotops Plutonium 244, das bei den Versuchen massenhaft
frei wurde, liegt bei mehreren Millionen Jahren. Aber die Landschaft kann sich angeblich schon nach einem halben Jahrhundert nicht mehr an ihre Geschichte erinnern? Über hundert Atomtests fanden unter freiem Himmel statt, mehr als 450 waren es insgesamt. Nicht nur ein Tschernobyl, sondern Hunderte. [...] Nursultan Nasarbajew, der heutige Präsident Kasachstans, ließ das Polygon, wie das Testgelände im Fachjargon heißt, 1991 schließen. Die erste Detonation erfolgte in anderthalb Kilometern Entfernung von jenem Ort, an dem Scharow jetzt steht und der angeblich frei von gefährlicher Strahlung sein soll. Am 29. August 1949, knapp vier Jahre nach dem Abwurf der ersten amerikanischen Atombombe in Hiroshima, wurde auf einem 38 Meter hohen Turm ein Sprengsatz gezündet, der in den Geheimdokumenten des KGB euphemistisch als „Physik-Paket“ deklariert war. Vor der Explosion hatte man Attrappen von Häusern, Brücken, Panzern, und Flugzeugen aufgestellt, sowie 1.538 Tiere angepflockt, um die Zerstörungen zu messen. Spuren sind noch heute weithin sichtbar. Am Ground Zero, dem Epizentrum, erhebt sich ein Erdhügel, in gleichmäßigen Abständen erkennt man die Ruinen von Betontürmen, in denen damals die Messgeräte installiert waren. Eine große Stille liegt über der Ebene. Es ist so verdächtig still, dass man sich fragt, ob die geschundene Landschaft tatsächlich zur Ruhe gekommen ist oder ob sie 24
nur auf den Augenblick ihrer Rache wartet. Doch für Kajrat Kadyrschanow, den Direktor des Atomzentrums von Kasachstan, ist die Welt in Ordnung. „Das Testgelände ist ein Monster“, räumt er ein, um gleich darauf zu versichern: „Aber wir haben gelernt, mit ihm umzugehen.“
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adyrschanow - oder richtiger: die kasachische Führung - hat in dieser Gegend Großes vor. „Auf absehbare Zeit ist die Nutzung der Atomenergie ein alternativloser Weg für die Menschheit“, sagt der Atomexperte. Er ahnt zumindest, welches Befremden seine Ansichten bei Westeuropäern auslösen müssen, die an ständige Fortschrittskritik gewöhnt sind und sich fortwährend um das ökologische Gleichgewicht sorgen. Deshalb verweist er umgehend auf die vielen Länder, die neue Atomkraftwerke bauen wollen: Frankreich, Finnland, China, die USA, Polen. Und auch Kasachstan. Der Ort für das erste kasachische Atomkraftwerk könnte Kurtschatow sein. Eine Stadt mit rund 10.000 Einwohnern, die bis vor zwanzig Jahren so geheim war, dass sie nicht einmal einen Namen hatte, sondern nur ein Postfach. Semipalatinsk-20. [...] Einem UN-Report zufolge, der allerdings einige Jahre alt ist, sind über 100.000 Menschen in Kasachstan strahlengeschädigt. Die meisten haben Gendefekte an ihre Kinder und Enkel vererbt. Immer wieder werden bei Menschen in der Region Erkrankungen festgestellt, die denen von Überlebenden und deren Nachkommen in Hiroshima und Nagasaki gleichen, sagt Kuljasch Dschakalykowa, die Chefin der
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o einst die Sowjetunion ihre Atombomben testete, könnte das erste kasachische Kernkraftwerk entstehen - und vielleicht auch ein Themenpark für Touristen.
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Pädiatrie in der Medizinischen Universität von Semei. Im Onkologischen Zentrum von Semei, wie die Gebietsstadt Semipalatinsk heute heißt, werden jährlich 4.000 Krebspatienten behandelt - bei einem Einzugsgebiet von weit weniger als einer Millionen Menschen. Selbst schwierigste Behandlungen sind für die Strahlenopfer kostenlos. Überlebende erhalten vom kasachischen Staat eine Rente. So wie die 82-jährige Nina Kalesnikowa. „Manchmal“, so sagt sie, „weiß ich nicht, ob es Fluch oder Segen ist, dass ich noch lebe.“ Die Greisin klagt über Schmerzen, mit denen sich die meisten Menschen in ihrem Alter plagen: die Beine, der Blutdruck, das Schwindelgefühl. Nur hat sie die Symptome bereits seit fast sechzig Jahren.
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lles begann an einem Sonntagmittag 1954. Es war das einzige Mal in all den Jahren, dass die Bevölkerung mit einer Radiodurchsage vor einem Atomtest gewarnt wurde. „Danach mussten sie das auch nicht mehr tun“, sagt Nina Kalesnikowa. „Getestet haben sie regelmäßig am Sonntagmittag. Wir wussten Bescheid, wenn die Erde bebte.“ An jenem Tag, da sie ihre Gesundheit verlor, befolgte sie brav die guten Ratschläge aus dem Radio. Sie verklebte die Fensterscheiben mit Papier, damit sie nicht splitterten. Sie verschloss die Ofentüre fest, kein Aschestaub sollte herausdringen. Dann war sie doch zu neugierig und ging auf die Straße. Kurz nachdem die gewaltige Explosion die Erde erschütterte, fegte
eine Sturmwelle über die Frau hinweg. Seitdem verbrachte sie keinen Tag mehr ohne schlimme Schmerzen. Dabei hatte sie noch Glück, wenn dieses Wort in einem solchen Zusammenhang überhaupt einen Sinn ergibt. Alexander Sekerbajew weiß von ganz anderen Schicksalen. Der 55-jährige Mediziner wurde 1991, unmittelbar nach dem Abzug der Moskauer Spezialisten, einer der Leiter des Instituts für Onkologie und Radiologie in Semipalatinsk. Er wurde in der Nähe des Testgeländes geboren. Schon seine Eltern waren Ärzte. Sie erzählten ihm, wie es war, als nach den Explosionen Menschen mit merkwürdigen Verletzungen in ihr Krankenhaus eingeliefert wurden, mit inneren Blutungen, die sich kaum stillen ließen. „Es waren unglaubliche viele Krankheitsbilder, mit denen ein gewöhnlicher Landarzt kaum jemals konfrontiert ist“, sagt Sekerbajew. Wenn sich solcherart erkrankte Menschen vorstellten, musste das sofort gemeldet werden. Sie wurden dann auch rasch abgeholt, während man sonst in den abgelegenen Gebieten Tage auf einen Krankenwagen aus der Gebietsstadt wartete.
„die praktisch eine maximale Strahlendosis erhielten. Manche sind krank geworden, viele starben jung. Sie alle waren Teil der Versuchsanordnung.“ In regelmäßigen Abständen wurden die Probanden ausführlich untersucht, nicht um sie vor Schäden zu bewahren, sondern um die Folgen der Strahlung zu erforschen. „Offiziell sollte das Institut aber die Bevölkerung beruhigen: Seht, wir kümmern uns, wir haben alles im Griff. Lebt ruhig weiter“, beschreibt Sekerbajew das zynische Kalkül. [...] Der Arzt hält gar nichts von den Plänen, das Atomgelände freizugeben. [...] Im Umweltministerium in Astana hat man noch eine weitere Idee für die Zukunft des Testgeländes. Natürlich dürfe das schreckliche Kapitel der Atomtests nicht in Vergessenheit geraten, heißt es dort. Die Ministerialbeamten denken darüber nach, an dem apokalyptischen Ort in der Steppe einen musealen Themenpark für Touristen aus aller Welt einzurichten. [...] Sekerbajew graust es bei dieser Vorstellung. „Man muss nicht mit allem Geld verdienen wollen“, sagt er. Möge die Steppe endlich zur Ruhe kommen.
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bwohl er das alles wusste, verschlug es Sekerbajew die Sprache, als er zum ersten Mal Einblick in die Geheimakten des Instituts nehmen konnte, die von Beginn an akribisch geführt worden waren. „Über all die Jahre wurde eine Gruppe von Menschen, die am Rande des Testgeländes lebte, permanent beobachtet“, sagt Sekerbajew. Es seien insgesamt rund 10.000 Personen gewesen, 25
Frank Herold ist Politik-Redakteur der Berliner Zeitung. Den vollständigen Artikel, erschienen am 19. Mai 2010, finden Sie auf www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/. bin/dump.fcgi/2010/0519/index.html Mit freundlicher Genehmigung der Berliner Zeitung.
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© Morgan Freeman
Die dritte Säule Die Falle mit der zivilen Atomkraftnutzung
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ren, verhindern ein wirkliches Verstehen und schränken durchdachtere Handlungen ein. Der dritte Pfeiler, die Atomkraft, wirft immer wieder die anderen beiden, Nichtverbreitung und Abrüstung, um. Könnte es sein, dass das System, das für die Verhinderung der Verbreitung von Atomwaffen gedacht war, tatsächlich genau diese Verbreitung provoziert?
er Artikel IV des Atomwaffensperrvertrages beschreibt das „unveräußerliche Recht“ auf die „friedliche Nutzung“ der Atomkraft - es ist, gemeinsam mit Nichtverbreitung und Abrüstung, die „dritte Säule“ des Atomwaffensperrvertrages. Der Atomwaffensperrvertrag weist der internationalen Atomenergiebehörde IAEA, die Atomkraft fördert und reguliert, dabei eine wichtige Rolle zu.
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ieht man sich die überwältigenden Nachteile der Atomkraft und die Vorteile einer erneuerbaren und nachhaltigen Energieform an, sollten wir doch darüber nachdenken, uns diese toxische Giftenergie abzugewöhnen. Länder, die keine atomare Infrastruktur besitzen, können diese Etappe toxischer Energieformen direkt überspringen und sich besser auf saubere, sichere und erneuerbare Energie verlassen, die mehr Arbeitsplätze schafft und ihre Sicherheit stärkt. Die Nationen, die durch eine atomare Infrastruktur belastet sind, können schrittweise mit der Hilfe von IRENA, der internationalen Vereinigung für Erneuerbare Energien, der bereits 144 Länder angehören, eine Versorgung mit Erneuerbarer Energie aufbauen. IRENA kann die IAEA ersetzen, wenn wir uns langsam von unseren atomaren Strukturen lösen.
Seit 40 Jahren gibt es eine nicht hinterfragte Akzeptanz der Atomkraft, die sich in den mechanisch wiederholten Mantren vom „unveräußerlichen Recht“ zur „friedlichen Nutzung“ der Atomenergie in allen möglichen Reden zeigt. Der Glaube an die Atomkraft ist so tiefgreifend und verbreitet, dass es geradezu frevelhaft erscheint, ihn anzuzweifeln. Zwar sind die Delegierten in Sachen Diplomatie und dem Erreichen von Konsens durchaus erfahren und kompetent, Naturwissenschaftler sind sie aber nicht. Ihre Meinung zur Atomenergie basiert weitgehend auf den Informationen der IAEA mit ihrer widersprüchlichen Rolle, in der sie gleichzeitig Atomkraft fördert und reguliert. Ebenfalls stark ist der Einfluss verschiedener Gruppen mit eigenen Interessen wie dem französischen, multinationalen Atomkraftkonzern Areva, und anderen, die ein Vermögen für irreführende Propaganda ausgeben.
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as immer wir jetzt tun, wird in jedem Fall das Leben aller zukünftiger Generationen jeder einzelnen Spezies auf diesem Planeten beeinflussen. Es wäre skrupellos, sie zu verdammen, nur weil wir in der Falle der zivilen Nutzung der Atomenergie sitzen. Der erste Schritt, um uns davon zu befreien, ist Erkenntnis. Die Strukturen, die uns gefangen halten, sind überaus mächtig. Der Einsatz könnte nicht höher sein. Können wir uns von der Geißel des Krieges und der Vergiftung der Erde befreien? Es wäre wie ein Wunder, wenn ...[man] die Grenzen des Möglichen einmal ausloten würde.
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ie Blase des Atomwaffensperrvertrages ist ein perfektes Umfeld für ein Phänomen namens „Gruppendenken“, das der Psychologe Irving Janis von der Universität Yale wie folgt definiert: „Eine Denkweise, die Menschen dann anwenden, wenn sie sich in einer geschlossenen Gruppe befinden, deren Mitglieder ein weit höheres Interesse daran haben, einen Konsens zu finden, als alternative Handlungsmöglichkeiten in Erwägung zu ziehen.“ Trotz Uneinigkeit in den Bereichen Abrüstung und Nichtverbreitung sind die Gespräche stets von einer faktisch nicht kritisierten Unterstützung für die Atomenergie beherrscht. Nur sehr wenige wehren sich dagegen.Die Atomenergie ist ein integraler Bestandteil es Atomwaffensperrvertrages und ist gleichzeitig ein TRAP - ein „Toxic RadioActive Proliferator“. Das Gruppendenken des Atomwaffensperrvertrages ist noch immer von archaischen Denkweisen, Glaubensvorstellungen, Interessen, Begriffen, Symbolen und Bildern gesteuert. Sie sind im Bewusstsein eingefro-
Übersetzung: Benjamin Paaßen Der vollständige Artikel auf www.nuclearfreeplanet.org
Dr. Diane Perlman ist Psychologin und Mitglied der Psychologists for Social Responsibility 26
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Next Stop: Basel Lars Pohlmeier fragt Andi Nidecker
Andi Nidecker Lars: Andi, der IPPNW-Weltkongress ist die erste große Friedenskonferenz nach dem Ende der Verhandlungen zum Atomwaffensperrvertrag. Welche Impulse soll der IPPNW-Kongress für unsere Arbeit zu den Atomwaffen setzen? Erwartest Du eine Aufbruchstimmung in der IPPNW? Andi: Das leider nicht ganz so positive Ergebnis der NPT-Review Konferenz weist uns den Weg: wir müssen uns mit lauter Stimme weiterhin für die nukleare Abrüstung einsetzen. Eine Modifizierung der NATO-Doktrin und ein Rückzug von Atomwaffen aus den europäischen Teilhabe-Staaten bleibt ein Arbeitsfeld in Europa, insbesondere auch die Propagierung einer europäischen atomwaffenfreien Zone (AWFZ). Dass im Schlussdokument der NPT Konferenz vehement eine AWFZ im Mittleren Osten gefordert wird, wird hoffentlich auch dort neue Impulse ermöglichen, vielleicht sogar mit Beteiligung der IPPNW. Dass aber daneben auch humanitäre Anliegen wie die Linderung der Leiden der Bevölkerung in Gaza oder die von Kleinwaffen ausgehende Gewalt zu unserer Aktivitäten gehören, ist klar.
einem Workshop auch zum Thema “Human Factor and risk of nuclear war” diskutieren. Und nicht zuletzt freuen wir uns natürlich außerordentlich, dass der Mit-Begründer der IPPNW, Evgeni Chazov, bei uns sein wird. Bernard Lown, der aus gesundheitlichen Gründen nicht reisen kann, wird uns via skype begrüßen. Und Martin Vosseler, der Gründer der PSR / IPPNW Schweiz, wird im Schlussplenum zu uns sprechen. Lars: Ein paar Themenblöcke hast Du schon angesprochen - Was sind denn weitere Höhepunkte im Programm? Andi: Sicher ist die Ankunft der BAN-Fahrradtour unserer Medizinstudenten ein erster Höhepunkt. Außerdem haben wir versucht, ein Maximum an Plenarsitzungen unterzubringen, die direkt oder indirekt dem Thema “Nuclear Abolition” gewidmet sind. Bei einigen IPPNW-Sektionen ist der Fokus dabei eng auf die eigentliche Atomwaffen Abrüstung beschränkt. Andere Sektionen suchen tiefer auch nach den Gründen für gewisse Fehlentwicklungen, die zu Gewalt in der Welt und letztlich auch zur Meinung führen, dass nur Atomwaffen Sicherheit bieten könnten. Und am Sonntag gibt es eine interreligiöse Feier.
Lars: Auf welche spannenden Referenten dürfen sich die Kongressteilnehmer freuen? Andi: Nicht alle unseren Referenten haben große Namen – spannend sind sie dennoch. Fangen wir mal an: Die UNO wird vom hohen Vertreter für Nonproliferation, Sergio Duarte, vertreten. Botschafter Henrik Salander wird die Middle Powers Initiative, und Botschafter Yayantha Dhanapala Pugwash International vertreten. Für die Organisation ”Mayors for Peace” kommt mit großer Wahrscheinlichkeit der Bürgermeister von Hiroshima, Tadatoshi Akiba. Zugesagt haben auch der frühere General der indischen Armee, Vinod Saighal, und Dr. Rebecca Johnson vom Acronym Institut in London. Eingeladen sind weiter die US-Atomunterhändlerin Ellen Tauscher und der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Jakob Kellenberger. Für die Schweiz wird Bundesrätin Micheline Calmy Rey reden. Das Thema „Atomwaffen und Klima“ wird von Ira Helfand und Prof. Fischlin der ETH Zürich, Mitglied des ICPP, besprochen. Die Professoren Hoffmann, Goncharova und Behar werden über „Neue Erkenntnisse bei Effekten der radioaktiven Strahlung“ reden. Lloyd Dumas aus Texas wird Im Plenum VI über die „Zusammenhänge von Ökonomie, Macht und Atomwaffen“ sprechen, und in
Lars: Sinn des persönlichen Zusammentreffens auf einem Kongress ist immer auch der Austausch im Rahmenprogramm: Wann ist denn hier mit Highlights zu rechnen? Andi: Na, gleich zu Anfang natürlich! Wir beginnen unseren Kongress mit einem Begrüßungsabend im historischen Museum Basel und anschließend auf einem Schiff im Basler Rheinhafen. Und am Freitag gibt es das offizielle IPPNW-Diner in einem alten Zunfthaus. Am Samstag Abend hören wir dann ein Sinfoniekonzert der bekannten “basel sinfonietta“ im Stadtkasino Basel. Lars: Wie viele Teilnehmer erwartet ihr denn? Andi: Bis Ende Mai haben sich circa 300 Teilnehmer angemeldet, aus der ganzen Welt: aus Japan, wie von der Elfenbeinküste, aus Kanada wie der Ukraine, und vielen Ländern mehr. Wir erwarten aber die doppelte Anzahl Studenten und Mitglieder und werden, bei großem Interesse für den Basler Kongress, sogar bis zu 800 Freundinnen und Freunde hier empfangen können. Es dauert ja noch einige Wochen bis zum Weltkongress... Ich hoffe: auf baldiges Wiedersehen in Basel! 27
© Herbert Richter-Peill
A ktion
Bitte einreihen Aktionen im April und Mai
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m 24. April reihten sich beinahe 150.000 Menschen ein, in die Menschenkette im Norden Deutschlands, bei der Umzingelungskette im Süden oder bei der Demo in Ahaus (siehe Seite 14). Auch IPPNW-ÄrztInnen waren mit dabei, wie z.B. in Hamburg. (Oben)
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leichzeitig zur Kettenreaktion fand in Herford das IPPNWJahrestreffen/Mitgliederversammlung statt, das wir mit einer Kundgebung auf dem Marktplatz und einer Anti-Atom-Demo durch die Stadt lautstark begannen. Mehr zur Mitgliederversammlung im internen Heft. (Unten)
© Anke Stratmann-Horn
© Angelika Wilmen
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napp 16.000 Atomwaffengegner haben den Appell für eine Welt ohne Atomwaffen unterschrieben. Am 4. Mai 2010 übergab Reiner Braun, Geschäftsführer von IALANA, die gesammelten Unterschriften an den Präsidenten der Überprüfungs-Konferenz zum Atomwaffensperrvertrag Libran N. Cabactulan. In dem Appell fordert ein breites Bündnis den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland, den Stop aller Modernisierungspläne für Atomwaffen und ihrer Trägermittel, ein Nein zu Atomwaffen in der neuen NATO-Strategie sowie den Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen. (Mitte)
© Stefan Röhl
A ktion
Projekte der Hoffung Einladung zum IPPNW-Benefizkonzert
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fitierte mit über 32.000 Euro. 2006 folgte unser zweites Konzert für den RLA mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin – unter maßgeblicher logistischer Unterstützung der Berliner Festspiele und der Stiftung Berliner Philharmoniker. Wiederholte Begegnungen mit Jakob von Uexküll und seinem Neffen Ole, der inzwischen die Hauptverantwortung für die Auswahl der Preisträger as verbindet uns mit dem Alternativen Nobelpreis? Die Ge- und ihrer Projekte trägt, haben uns und den RLA immer enger verbunden. So war es selbstverständlich, schichte beginnt Anfang 2004. dass auch das zweite „Baby“ von Jakob Die IPPNW bereitete damals den Konmusikfest berlin 2010 von Uexküll, der „World-Future-Council“, gress „Atomwaffen & Atomenergie in mit einem Benefizkonzert im Rahmen des einer instabilen Welt“ vor. Auf der Sumusikfest berlin 2008 gefördert wurde. che nach geeigneten Referenten kam Auch hier waren die Stiftung Berliner Philuns Jakob von Uexküll, der Gründer harmoniker und die Berliner Festspiele des Alternativen Nobelpreises (Right wieder hilfreiche Kooperationspartner. Livelihood Award, RLA) in den Sinn. Ich Sonntag, 12. September, 11 Uhr nahm Kontakt zu ihm auf und er sagte Kammermusiksaal der Philharmonie Berlin Philharmonia Quartett Berlin spontan zu, allerdings unter der Bedineit 1980 zeichnet der Alternagung, dass die IPPNW eine vierstellige Igor Strawinsky: tive Nobelpreis Menschen aus, Drei Stücke für Streichquartett Summe als „Honorar“ zugunsten des die das scheinbar Unmögliche denW. A. Mozart: Streichquartett B-Dur KV 458 RLA spenden würde. Er bat um Verken und sich dafür einsetzen, es Wirk„Jagdquartett“ Ansprache Jakob von Uexküll: ständnis dafür, denn der Alternative lichkeit werden zu lassen. Dabei sind „30 Jahre Alternativer Nobelpreis“ Nobelpreis sei dringend auf Spenden die Themen so vielfältig wie bei kaum Claude Debussy: Streichquartett G-Moll op. 10 angewiesen und alle Honorare seiner einem anderen Preis: Frieden, Menöffentlichen Auftritten würden deshalb schenrechte, Wirtschaft, Bildung, Landseiner Stiftung zugute kommen. So machte uns seine Zusa- wirtschaft, bis hin zu Spiritualität, Kunst, Wissenschaft und ge einerseits glücklich, und andererseits bekümmerte uns die Technologie. 137 „Visionäre“ aus 58 Ländern mit ihren Hoff„Honorarforderung“ – auch wenn sie einem so guten Zweck nung schenkenden Projekten und praktikablen Lösungen zu diente. Problemen unserer Zeit sind bisher ausgezeichnet worden. er Alternative Nobelpreis wird 30 Jahre alt. Dieses Jubiläum feiern die Berliner Philharmoniker, die Berliner Festspiele und IPPNW-Concerts am Sonntag, den 12. September 2010, in der Berliner Philharmonie mit einem Benefizkonzert.
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Benefizkonzert zum 30. Geburtstag des Alternativen Nobelpreises
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Jakob von Uexküll, antwortete einmal auf die Frage, warum er so optimistisch sei: „Ich bin kein Optimist – ich bin ein Possibilist“. Bitte kommen Sie am 12. September um 11 Uhr in die Berliner Philharmonie und fragen Sie ihn nach dem Konzert beim Empfang wie er das meint!
er Erfolg eines Kongresses und das öffentliche Interesse dafür hängen im Wesentlichen von der Prominenz der teilnehmenden Referenten ab. Jakob von Uexküll würde zweifelsfrei ein Publikumsmagnet sein. Was aber tun bei einem knappen Budget? Da kam aus den Reihen der Vorbereitungsgruppe die rettende Idee: „Peter, mach doch ein Benefizkonzert für den RLA, da kommt wahrscheinlich noch mehr raus. Dann kriegen wir ihn!“ Ich traf Jakob von Uexküll, unterbreitete ihm die Idee und er stimmte diesem Vorschlag zu. Die Einlösung meines Versprechens geschah dann vier Monate nach dem erfolgreichen Kongress: Thomas Quasthoff und die Berlin Philharmonic Jazz Group gaben in der restlos ausverkauften Berliner Philharmonie ein viel umjubeltes Jazzkonzert. Der Live-Mitschnitt (IPPNW-ConcertsCD 49) wurde zum Bestseller und der Alternative Nobelpreis pro-
Karten: www.ippnw-concerts.de oder www.berlinerfestspiele.de, Kartentelefon: +49 30 254 89 100
Ingrid und Peter Hauber, die Organisatoren der IPPNW-Benefizkonzerte 29
Geschichte
Ärzte gegen den Krieg Ein Blick in die Geschichte von Christian Jenssen, Teil II
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m 1900 kam es weltweit zu einem Aufschwung der Friedensbewegung, die sich international beispielsweise mit dem Internationalen Friedensbüro in Bern (1892) und der Interparlamentarischen Union (1889) stärker zu organisieren begann. 1901 wurde auf dem X. Internationalen Friedenskongress ein gemeinsames Programm des Pazifismus verabschiedet. Die sich auf ethische, religiöse und pädagogische Argumente gründende traditionelle Ideologie der „Friedensfreunde“ des 19. Jahrhunderts erhielt eine theoretische Basis.
zu mildern, heißt ihn ermöglichen und seinen Ausbruch erleichtern“. Und der österreichische Jurist Moritz Adler schlüpfte mangels realer Stimmen aus der Ärzteschaft fiktiv in die Rolle eines Arztes, um den Bemühungen Theodor von Billroths und anderer „Anticipationssamaritaner“ zur Reorganisation des deutschen Militärsanitätsdienstes 1892 entgegenzutreten. Er forderte: Statt einen Beitrag zu einem medizinischen Rüstungswettlauf zu leisten, sollten Ärzte eine aus der prophylaktischen Verpflichtung des Arztberufes gespeiste Antikriegsmanifestation organisieren.
Beispiele für den neuen „wissenschaftlichen Pazifismus“ sind das sechsbändige Werk „Der Krieg“ von Johann von Bloch (1898), die Kritik sozialdarwinistischer Kriegslegitimation des Soziologen Jakob Novikov oder das „Handbuch der Friedensbewegung“ des Publizisten Alfred Hermann Fried (1911/1913). Diese Analysen formulierten schon früh die Erkenntnis, dass es in zukünftigen Kriegen keine Sieger, sondern nur Besiegte geben werde.
Ärzte in der pazifistischen Bewegung um 1900
Überraschenderweise wurden die zahlreichen Bemühungen der „Humanisierung des Krieges“ nur von kritischen Stimmen außerhalb der Ärzteschaft in Frage gestellt. Fried kommentierte einen Kongress des Roten Kreuzes in Wien mit den Worten: „Den Krieg in seinen Folgen
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Wenige bekannte Ärzte engagierten sich im organisierten Pazifismus. Genannt seien hier nur Nils August Nilsson (Schweden), Sir William Collins und Henry Hodgkin (beide Großbritannien), Fritz Brupbacher (Schweiz), Josef Polak (Polen), Pieter Hendrik Eijkman (Niederlande) und der Schweizer Auguste Forel, der 1914 vehement die Idee der „Vereinigten Staaten der Erde“ vertrat. n Frankreich wurde der Physiologe und Nobelpreisträger für Physiologie und Medizin (1913) Charles Richet als Präsident der Societé Francaise pour l’Arbitrage entre Nations (1888), als Herausgeber der Zeitschrift „La paix par le droit“ und mit seinen Büchern „Les guerres et la paix“ 30
(1899) und „Le passé de la guerre et l’ avenir de la paix“ (1907) zu einer der bekanntesten Figuren des internationalen Pazifismus.
Association Médicale Internationale contre la Guerre Im März 1905, auf dem Höhepunkt des russisch-japanischen Krieges, forderte der Pariser Radiologe Joseph Alexandre Rivière seine ärztlichen Kollegen auf, an einem internationalen Kongress teilzunehmen, auf dem sie im Namen ihrer humanitären Aufgabe gegen bewaffnete Konflikte protestieren und die Idee einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit unterstützten sollten. Ein halbes Jahr später, am 21. September 1905, gründete Rivière zusammen mit 23 Kollegen die Association Médicale Internationale contre la Guerre. Ihre Grundprinzipien waren die Abschaffung des Krieges und die Achtung vor dem menschlichen Leben. Rivière gründete sein pazifistisches Konzept auf die Theorie, dass das „philosophische Prinzip“ der Unterordnung der Elemente des menschlichen Organismus unter die Hierarchie des Nervensystems auch im sozialen und politischen Leben wiederzuerkennen sei. So wie das zentrale Nervensystem den menschlichen Organismus steuere, müsse eine internationale Zentralautorität die internationalen Angelegenheiten regeln. Weltparlament, internationale Gerichtsbarkeit und in-
„Wir Menschen aber haben im Gegensatz zu allen anderen Wesen in unserer freiwollenden Vernunft ein Mittel, den Gang des Weltgeschehens zu beeinflussen. .... Um dies aber tun zu können, müssen wir nicht nur reden, sondern auch handeln.“
ternationale Polizei wurden als zentrale Elemente der Reorganisation der internationalen Beziehungen vorgeschlagen. Weitere programmatische Forderungen waren z.B. die Abschaffung bestimmter Waffensysteme, eine internationale Kontrolle der Waffenproduktion sowie die Friedenserziehung. 1910 hatte die Gesellschaft über 1.089 Mitglieder in Europa, den Amerikas und Kanada. Diese erste internationalen Ärztegesellschaft gegen den Krieg versäumte es jedoch, einen spezifischen professionellen Beitrag zu den theoretischen Konzepten des Pazifismus zu leisten oder die Rolle der Ärzte in Krieg und Kriegsvorbereitung zu thematisieren und zerfiel bei Ausbruch des I. Weltkriegs.
Georg Friedrich Nicolai und die „Biologie des Krieges“ Dem Dozenten für Physiologie und Innere Medizin an der Berliner Charité Georg Friedrich Nicolai erschien der Weltkrieg als Anachronismus. Während sich die deutsche Intelligenz in ihrer übergroßen Mehrheit im chauvinistischen „Aufruf an die Kulturwelt“ an die Seite der deutschen Regierung stellte, forderte Nicolai zusammen mit Albert Einstein und Friedrich Wilhelm Förster in einem „Appell an die Europäer“ eine Allianz der europäischen Wissenschaftler für die Beendigung des Krieges und die Begründung eines friedlichen Europa.
Georg Friedrich Nicolai
Als freiwilliger Zivilarzt im deutschen Sanitätsdienst geriet er in Folge dieses Appells und eines Kollegs „Der Krieg als biologischer Faktor in der Geschichte der Menschheit“ in schwerwiegende Konflikte mit seinen militärischen Vorgesetzten und der Berliner Universität, die mit der Aberkennung der Lehrbefugnis, der Degradierung zum Militärkrankenwärter und schließlich 1918 mit einer spektakulären Flucht in einer Militärmaschine nach Kopenhagen endete.
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on Skandinavien aus versuchte Nicolai in engem Kontakt u.a. mit Rolland, Fried, Nansen, Gorki und Wells eine europäische Friedensvereinigung freier Geister zu gründen und gab die Zeitschrift „Das werdende Europa“ heraus. Bereits 1917 war sein monumentales Werk „Die Biologie des Krieges“ erschienen, das später zum Standardwerk des bürgerlichen Pazifismus wurde. Es ist der Versuch einer umfassenden Analyse der biologischen Auswirkungen des Krieges, seiner Wurzeln und der Wege zu seiner Überwindung auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Die Ansätze Frieds, Blochs und Novikovs aufgreifend, wollte Nicolai dem Pazifismus eine solidere Basis geben, „die nicht wie die bisher rein moralisch-religiöse Begründung beim ersten Sturmzeichen des nahenden Weltkrieges widerstandslos zusammenbricht“. Seine Vorstellungen von der Überwindung 31
des Krieges gründeten sich auf die Konzeption der Menschheit als einem einheitlichen Organismus und das evolutionäre Interesse des „genus humanum“.
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rotz Nicolais Befangenheit in biologistischen Denkmustern war sein Versuch der wissenschaftlichen Untermauerung pazifistischer Ideale zukunftsträchtig und lebt in der modernen Friedensforschung weiter. Zeitlos ist auch seine gelebte Überzeugung: „Wir Menschen aber haben im Gegensatz zu allen anderen Wesen in unserer freiwollenden Vernunft ein Mittel, den Gang des Weltgeschehens zu beeinflussen. .... Um dies aber tun zu können, müssen wir nicht nur reden, sondern auch handeln.“
Christian Jenssen ist Chefarzt am Krankenhaus Märkisch Oderland, c.jenssen@khmol.de
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ie Stärke des Buches liegt in der Kürze und Klarheit.
ür Liebhaber totaler Abrüstung und des totalen Friedens eher eine Enttäuschung.
Mythen der Atomkraft
Herunter bis Null
Dieses kleine Büchlein mit 109 Seiten im A6-Format trägt die Hauptthese bereits im Titel.
Während der NPT-Überprüfungskonferenz in New York wurde ein neuer Film zum Thema Atomwaffen vorgestellt: Countdown to Zero.
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erd Rosenkranz, Journalist und Kenner der Materie weist darauf hin, dass wir es bei der Diskussion um die Nutzung der Atomkraft lange nicht mehr nur mit Argumenten zu tun haben. Vielmehr ist es der Atomlobby gelungen, Schlagwörter zu prägen, die in der öffentlichen Diskussion auf ihren Inhalt und Wahrheitsgehalt nicht mehr überprüft werden. Diese Mythenbildung ermöglicht erst die offene Parteinahme vieler Politiker für die Verlängerung der Laufzeiten für alte AKWs, deren Argumente sich regelmäßig auf peinlich niedrigen Niveau bewegen.
ls Lawrence Bender und Bruce Blair, die Produzenten des letzten Al Gore-Films am Abend seiner Friedensnobelpreisverleihung durch die vereisten Straßen Oslos gingen, wurde die Idee zu ihrem neuen Film geboren. Es gibt ja schließlich noch ein paar unbequeme Wahrheiten abzuarbeiten. Zum Beispiel die Atomwaffen. Der neue Film zählt also herunter bis null, „Countdown to Zero“, bis die letzte Atomwaffe abgerüstet ist. In Cannes gezeigt aber leer ausgegangen, stehen die Vorzeichen eher in Richtung, doch kein grosser Wurf zu sein.
Vieles basiert auf vergessen und verdrängen. Der Hinweis, wir hätten die Diskussion der Atomenergienutzung in Europa nicht mehr, wenn wir in Forsmark - einen sicheren Reaktor im industriell entwickelten Schweden - nicht knapp an einen Supergau vorbeigeschrammt wären, macht deutlich, dass die Aussage „Die Atomkraft ist sicher“ durch nichts belegt werden kann, aber bereits zum 1. Mythos erhoben wurde. Rosenkranz bleibt aber nicht bei dieser Feststellung, sondern trägt trotzdem bekannte und manchmal nicht so bekannte Argumente gegen sieben ausgemachte Mythen zusammen. Diese gehen von der Aussage: „Die Gefahren durch Missbrauch und Terror lassen sich beherrschen“ über „Atomkraft dient dem Klimaschutz“, bis zu „Wir brauchen längere Laufzeiten“. Werden diese Mythen hinterfragt, bleibt wenig für die Begeisterung der Atomenergienutzung übrig. Schließlich wird widerlegt, dass es ohne Atomenergie nicht geht, dass wir uns vielmehr für eine Zukunft in der Energiepolitik entscheiden müssen. Es wird deutlich, dass der Begriff der Brückentechnologie der Atomenergie hin zu den alternativen Energien in die Irre führt, da es sich hier nicht um eine ergänzende, sondern um eine konkurrierende Technik handelt.
Sieht man sich die Bildstrecken und die Methoden an, mit denen der Film arbeitet, scheint diese Befürchtung berechtigt: zunächst geht es nur um das amerikanische Thema ´Terrorismus´. Wir sehen Szenen von Überwachungskameras aus U-Bahnen, werden an Bombenanschläge in London und Madrid erinnert, sehen die rosige Skyline New Yorks während des Sonnenuntergangs und bekommen den Gedanken präsentiert: „Was, wenn ein Terrorist nun doch eine Atomwaffe hätte und sie in New York zündete?“ Dieses beliebte Argument der Amerikaner und ihrer Bündnispartner, ihre eigenen Atomwaffen zu behalten, ist das zentrale Motiv des Films. Dementsprechend ist der Film also für Liebhaber totaler Abrüstung und des totalen Friedens eher eine Enttäuschung. Die positiven Aspekte der Dokumentation sind die unverblümte Nennung aller Unaufmerksamkeiten des US-Militärs, wegen der es schon in so mancher Situation zu zufälligen Atomwaffeneinsätzen hätte kommen können.
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er Film kann nützlich sein, eine grössere Menge von bisher unbekümmerten Menschen aufzurütteln, auch wenn er zunächst nicht die ganze unbequeme Wahrheit enthält. Diese muss dann in Kampagnen und Randveranstaltungen ergänzt werden. Der Schauspieler Michael Douglas, in letzter Zeit zur Ikone der Abrüstungsbewegung avanciert, sagte bei einer Aufführung in New York in Anwesenheit des UN-Generalsekretärs Ban Ki Moon, der Film könne zur Wiederherstellung der wirklichen Funktion von Öffentlichkeit und Presse, der Kontrolle und Veränderung der Politik, eine immense Leistung bewirken. Wir hoffen, dass er Recht behält. Malte Andre
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uch wenn die Stärke dieses Buches in der Kürze und Klarheit liegt und sicher nicht alle Mythen und Argumente abschließend behandelt werden, wird durch das Literaturverzeichnis deutlich, dass Gerd Rosenkranz seine Aussagen belegen kann. Zu kritisieren bleibt die kleine Schrifttype, auch die weißen Überschriften auf gelben Hintergrund sind verbesserungswürdig. Ewald Feige Gerd Rosenkranz: Mythen der Atomkraft; Oekom Verlag; 8,95 EUR 32
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Termine
Das nächste Heft erscheint Mitte September. Im Schwerpunkt geht es um ein Thema, das uns auch schon während des Vorkongresses in Basel beschäftigen wird:
Uran
Mit Beiträgen der Referenten z.B. aus Kanada, Indien, Niger und Russland. Außerdem gibt es natürlich eine Nachlese zum IPPNW-Weltkongress 2010. Das Forum lebt von Ihren Beiträgen, Vorschlägen und Ideen. Schreiben Sie uns! tritschler@ippnw.de
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17.07. Pacemaker-Regio-Radtour Fahrradtour für die Abschaffung aller Atomwaffen; 9.30 Uhr Auftakt am Rathaus in Kirchheim Teck
August 6.8. Hiroshima Gedenk- und Mahnveranstaltung 15.50 Uhr, Volkspark Friedrichshain, Berlin Nacht der 100.000 Kerzen 20.30 Uhr, Kirchplatz Gießen 6.-9.8. United Nations Brandenburger Tor, Berlin
Festival
9.8. Nagasaki-Gedenktag
MEZIS ist eine Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte. Sie setzt sich für ein unabhängiges Verordnungsverhalten ein und durchleuchtet kritisch die vielfältigen Beeinflussungsversuche der Pharmaindustrie auf Ärztinnen und Ärzte, auf Studien und deren Veröffentlichungen. Die im Jahr 2007 gegründete Initiative ist inzwischen auf über 200 Mitglieder angewachsen und stößt auf wachsende Resonanz in den Medien und der Ärzteschaft.
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Redaktion: Sabine Farrouh (V.i.S.d.P.), Angelika
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14.-24.8. IPPNW-Fahrradtour gegen Atomwaffen (BAN Biking against Nuclear Weapons) von Düsseldorf nach Basel zum IPPNW-Weltkongress 26.8. Sacred Land – Poisoned Peoples Uranabbau, Gesundheit und indigene Völker; 9-18 Uhr, Universität von Basel, Schweiz 26.8. Posttraumatische Belastungsstörung (PSD) Gesundheitliche Folgen von ziviler und kriegerischer Traumatisierung. (Un)-Möglichkeiten der Behandlung; 9-18 Uhr, Universität von Basel, Schweiz 27.-29.8. 19. IPPNW-Weltkongress For a nuclear weapon free world For a future“ Universität von Basel, Schweiz; www.ippnw2010.org
september 12.9. IPPNW-Benefizkonzert zugunsten des Alternativen Nobelpreises 11 Uhr, Kammermusiksaal der Philharmonie Berlin 16.-18.9. Konferenz „...global, gerecht, gesund?“ Berlin
Weitere Informationen und Kontaktdaten unter www.ippnw.de/termine
g efragt
6 Fragen an... Prof. Joseph E. Stiglitz Professor der Wirtschaftswissenschaften und Autor mehrerer Bücher, u. a. „Die Schatten der Globalisierung“ und „Die wahren Kosten des Krieges“
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Der Sieg der Finanzmärkte über Amerika war total. In ihren Frankensteinschen Labors an der wall Street schufen sie Monster, die sie nicht mehr kontrollieren konnten. Und die Rechtfertigung der Finanzindustrie ist jetzt ganz einfach: Die Krise war wie ein Tsunami, eine Naturkatastrophe. So was passiert eben mal.
Was die Banken betrifft: Man sollte ihnen verbieten, Anreizsysteme einzuführen, die übertriebene Risikobereitschaft fördern. Man sollte sie weiterhin zu mehr Transparenz zwingen, vor allem im Bereich der gefährlichen Kreditversicherungen. Auch eine Aufsichtsbehörde für Finanzprodukte würde helfen. Insgesamt aber brauchen wir eine neue Marktwirtschaft, einen neuen Kapitalismus.
Als Lehre aus der Krise versprachen Regierungen, die Banken stärker zu kontrollieren. Die Banken wiederum gelobten Besserung. Haben wir etwas gelernt?
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Warum ist Präsident Obama bislang nicht härter vorgegangen?
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Weil er und seine Regierung unter den Einfluss der Wall Street geraten sind. Obama hat die Stühle auf der „Titanic“ nur geringfügig umgestellt. Vielleicht spielten auch die Wahlkampfspenden eine Rolle, wer weiß. Die Wall Street bekam jedenfalls das, was sie wollte: ein Team, das die Banken in der Krise unterstützen würde.
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Was sollten Wirtschaft und Politik also tun?
Ach so, weiter nichts?
Nur so können wir das moralische Defizit überwinden. Wenn wir keine grundlegenden Veränderungen vornehmen, wird sich der Vertrauensverlust auf Dauer nicht reparieren lassen.
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Hört sich an, als wären Sie sehr enttäuscht von Ihrem Präsidenten.
In Ihrem Buch fordern Sie einen stärkeren Staat. Nicht gerade populär in Ihrem Land.
Mag sein. Aber der notwendige wirtschaftliche Strukturwandel wird nicht von selbst geschehen. Wenn es uns gelingen soll, Amerika zu erneuern, wird die Regierung eine zentrale, konstruktive Rolle spielen müssen. Und zwar nicht nur bei der Rettung von Konzernen, sondern auch für die soziale Sicherheit der Bürger. Die Liste der zu lösenden Probleme ist bekannt: Energieversorgung zum Beispiel, Klimawandel, Bildung. Dies alles aber erfordert langfristiges Denken, eine Zukunftsvision.
Obama wollte die Menschen nicht gegen die Wall Street und die Banken aufbringen. Er ist dabei allerdings einer Reihe von Fehleinschätzungen erlegen. Zum einen erkannte er nicht, wie tief die Krise wirklich geht. Vor allem aber konnte er sich nicht vorstellen, wie mies sich die Banken verhalten würden. Er glaubte wohl wirklich, was ihm die Banker versprachen: dass sich ihr Eigeninteresse mit dem nationalen Interesse decke. Ein unentschuldbarer Fehler.
Auszug aus einem Interview von Katja Gloger im Stern 16 / 2010. Als Trostpflaster für alle, die sich darauf gefreut haben, Prof. Stiglitz beim IPPNW-Weltkongress zu hören - er ist leider verhindert.
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26. AUGUST 2010, UNIVERSITÄT BASEL Uranabbau – Gesundheit – indigene Völker
SACRED LAND, POISONED PEOPLES
Eine Weltreise von 9:00 bis 18:00 Uhr u.a. mit Michael Beleites aus Deutschland, Robert del Tredici aus Kanada, Charmaine White Face aus South Dakota, Rebecca Wingfield-Bear aus Australien, Punit Raj Kishor Minz aus Indien, Hilma Shindondola-Mote aus Namibia, Many Camara aus Mali und Oleg Bodrov aus Russland.
Vorkonferenz anlässlich des IPPNW-Weltkongresses
NUCLEAR ABOLITION: FOR A FUTURE www.uranrisiko.de www.ippnw2010.org