ippnw forum
das magazin der ippnw nr123 sept10 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung
- Atomwaffen: Auf der Couch - Keine Power: Die KuK-Studie - 6 Fragen an Marianne Fritzen
Das gelbe Monster: Für Atomenergie zahlen indigene Völker auf der ganzen Welt mit ihrem Land und ihrem Leben
I PPNW IPPNW steht für “International Physicians for the Prevention of Nuclear War”. Wir engagieren uns für eine Welt ohne atomare Bedrohung und Krieg, wurden 1985 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet und sind in über 60 Ländern aktiv.
In der IPPNW engagieren sich Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie Medizinstudierende für eine menschenwürdige Welt frei von atomarer Bedrohung. Frieden ist unser zentrales Anliegen. Daraus entwickeln wir unser vielfältiges Engagement. Wir setzen uns ein für die Ächtung jeglicher Kriege, für gewaltfreie, zivile Formen der Konfliktbearbeitung, für den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen und die gerechte Verteilung der Ressourcen sowie für ein soziales und humanes Gesundheitswesen. Dabei leiten uns unser ärztliches Berufsethos und unser Verständnis von Medizin als einer sozialen Wissenschaft. Für eine Welt frei von atomarer Bedrohung Für eine Welt frei von Krieg Für eine Medizin in sozialer Verantwortung
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EDItOrIAl Frank Uhe ist GeschäftstellenLeiter der IPPNW
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itten im Herzen der USA findet ein Genozid statt. Mein Volk stirbt an Krebs, weil unser Wasser und unsere Luft radioaktiv verseucht sind“, sagte Chairmain White Face aus South Dakota auf der von der IPPNW initiierten Basler Konferenz „Sacred Land, Poisoned Peoples“ über Uranabbau, Gesundheit und indigene Völker. Sie fasst mit ihrem Statement eindrücklich zusammen, worüber indigene VertreterInnen aus Australien, Niger, Mali, Namibia, Indien, Russland, Kanada und den USA berichteten. Die Förderung des Stoffes, der Grundlage für den Betrieb von Reaktoren und die Bereitstellung von Atomwaffen ist, hat einen hohen Preis: das Sterben indigener Völker, die Vernichtung ihrer Lebensgrundlagen.
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abei wissen wir auch aus eigener Erfahrung: Uranabbau tötet. Die SDAG Wismut förderte 1946 bis 1990 231 000 Tonnen Uran für sowjetische Atomwaffen und Reaktoren. Auch die Brennelemente in Tschernobyl waren mit Uran aus Deutschland bestückt. Durch den Abbau wurden ganze Landstriche in Thüringen und Sachsen in einem kaum vorstellbaren Ausmaß verwüstet. Zehntausende Bergleute sind elend gestorben. Und noch heute, 20 Jahre nach Einstellung des Uranbergbaus, sterben jährlich bis zu 300 Bergleute an strahlenbedingtem Lungenkrebs. Die Uranförderung bildet den Anfang der nuklearen Kette. hier ist der Ursprung der nuklearen Epidemie. Bereits hier zeigt sich beispielhaft der inhumane, unverantwortliche Charakter einer Industrie, die uns alle bedroht.
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ie Urankonferenz war der Auftakt des 19. Weltkongresses der IPPNW in Basel, auf dem das International Council der IPPNW dazu aufgerufen hat, den Uranabbau weltweit zu ächten. Uranabbau ist auch der Schwerpunkt dieses heftes. Es ist ein wichtiges Thema, das leider bei den derzeitigen Diskussionen über Laufzeitverlängerung viel zu oft vergessen wird. Aber lesen Sie selbst. Frank Uhe
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inhalt Auf der Couch Abrüstungsdialoge aus psychologischer Perspektive
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Themen Das Recht von Mutter Erde....................................................................................8 Land unter: Pakistan braucht Hilfe. ...............................................................9 Auf der Couch - Atomwaffendialoge........................................................... 10 Keine Power - die KuK-Studie. ....................................................................... 12 Wem gehört die Wissenschaft? . .................................................................... 13 Ärzte gegen Krieg - ein Rückblick, Teil 3 ............................................. 30
Schwerpunkt Im Staub: Fotos von Philip Reynaers........................................................ 14
Das gelbe Monster Wie der Uranabbau Land und Leben indigener Völker bedroht
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Das gelbe Monster ................................................................................................... 16 Karte der Ausbeutung. ........................................................................................... 20 Tödliches Gift................................................................................................................ 22 So etwas hatten die Dene früher nicht. ................................................... 23
Welt In our lifetime: IPPNW-Weltkongress 2010......................................... 24 Visite in der Innenstadt. ....................................................................................... 25 Atomkrieg und Globalisierung: ein Interview...................................... 26
Rubriken Atomkrieg und Globalisierung Ein Interview auf dem Weltkongress
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Editorial. ................................................................................................................................3 Meinung.................................................................................................................................5 Nachrichten........................................................................................................................6 Aktion. ................................................................................................................................. 28 Kampagne........................................................................................................................ 29 Gesagt, Geschrieben................................................................................................ 32 Gesehen, Geplant, Termine. .............................................................................. 33 Gefragt................................................................................................................................ 34 Impressum/Bildnachweis..................................................................................... 33
Meinung
Henrik Paulitz, Referent für Atomenergie der IPPNW
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Das Vorhaben, technisch veraltete Atomkraftwerke mit Hilfe von “StrommengenTricksereien“ noch 20, 30 oder sogar 40 Jahre lang zu betreiben, ist verantwortungslos.
um einen gibt es keinerlei Lösung für den anfallenden Atommüll. Zum anderen sind in den Atomkraftwerken gefährliche Alterungsprozesse zu beobachten. Opposition, Medien und Wirtschaft müssen nun ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden. Entscheidend ist, dass die Zustimmungspflicht des Bundesrates in den Medien nicht einfach wegdiskutiert wird. Es ist völlig unakzeptabel, wenn das im Auftrag der Bundesregierung erstellte Rechtsgutachten von Hans-Jürgen Papier praktisch totgeschwiegen wird, wonach der Bundesrat Laufzeitverlängerungen zustimmen muss. Wäre der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident zum gegenteiligen Ergebnis gekommen, dann würde dieses Rechtsgutachten vermutlich regelmäßig zitiert. Seit Wochen liest man aber fast nur noch von den Gutachten des Bundesinnen- und Justizministeriums, in denen die Zustimmungspflicht des Bundesrates in Frage gestellt wird.
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ine maßgebliche Verantwortung trägt auch die Opposition. Sie hat weitaus mehr Möglichkeiten des Widerstands gegen Laufzeitverlängerungen. Die Regierungsparteien haben keine Mehrheit mehr im Bundesrat. Wer sagt eigentlich, dass der Bundesrat konstruktiv mit der Bundesregierung weiter zusammenarbeiten muss, wenn er in einer zentralen Frage seiner Zuständigkeit übergangen werden soll? Im Übrigen müssen SPD, Grüne und Linke im Vorfeld der Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachen deutlich machen, ob sie mit dem Atomthema nur Wahlen gewinnen oder ob sie anschließend auch ihre Atomkraftwerke stilllegen wollen.
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n der Pflicht steht insbesondere auch die Erneuerbare-Energien-Branche. Den Ankündigungen der Bundesregierung zufolge soll diese Branche zugunsten der vier Atomkonzerne einem skandalösen Schrumpfungsprozess unterzogen werden. Die 300 000 betroffenen Menschen können Millionen von Sympathisanten in der Bevölkerung aktivieren, um die geplanten Laufzeitverlängerungen und die drohende Zerschlagung zahlloser Betriebe dieser Branche zu verhindern.
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N achrichten
Ärzte sehen Forschungsfreiheit an der Uni Köln gefährdet
UN-Menschenrechtsausschuss untersucht Kaperung der „Mavi Marmara“
Einsatz von chemischen Waffen in der Türkei
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n einem offenen Brief hat die IPPNW Mitte August an den Rektor der Universität Köln appelliert, das Rahmenabkommen über eine privilegierte Forschungspartnerschaft zwischen der Universitätsklinik Köln und der Bayer Health Care AG offen zu legen. Eine Geheimhaltung der Vertragsbedingungen gefährde die Freiheit der Forschung. Damit schließt sich die IPPNW der Forderung eines Bündnisses zivilgesellschaftlicher Organisationen an. Die Universität Köln begründet die Geheimhaltung mit der Wissenschaftsfreiheit, die höher einzuschätzen sei als die Informationsfreiheit.
PPNW-Vorstandsmitglied Matthias Jochheim sagte im August in Genf als Zeuge über die israelische Militäraktion aus. Ende Mai waren sechs Schiffe der „Freedom Flotilla“ mit Hilfsgütern auf dem Weg nach Gaza abgefangen worden. Bei der Aktion töteten die Soldaten neun Teilnehmer auf der „Mavi Marmara“ durch Schusswaffengebrauch. Parallel zu der von UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon initiierten Untersuchung, die wesentlich von der türkischen und israelischen Regierung bestimmt werden wird, befragen unabhängige Experten im Auftrag des UN-Menschenrechtsausschusses die Betroffenen, in Genf, London und Istanbul.
Für Dr. Dieter Lehmkuhl, Vorstandsmitglied der IPPNW, ist die Haltung der Universität unverständlich. „Der Einfluss der pharmazeutischen Industrie auf die Medizin und die medizinische Forschung ist inzwischen enorm,“ heißt es in dem Offenen Brief. Es bestehe jedoch ein grundsätzlicher Interessenkonflikt zwischen einer Universität, die dem Gemeinwohl verpflichtet und weitgehend öffentlich finanziert ist, und der Industrie, für die der Gewinn wesentlich ist.
Eine weitere Befragung findet in Jordanien statt, da sie in Israel nicht zugelassen wurde. Der Bericht über die Untersuchung soll noch im September vorliegen, und dann der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Matthias Jochheim wurde im UN-„Palace Wilson“ von Experten aus Trinidad und Malaysia befragt.
Zivile Opfer im Afghanistan-Krieg
der Interventionstruppen nur sehr ungenügend dokumentiert. Nach einer Zusammenstellung wird geschätzt, dass seit 2001 zwischen 14 643 und bis zu 34 240 Zivilisten durch direkte und indirekte Kriegseinwirkungen ihr Leben verloren ha-
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ivile Opfer des Krieges in Afghanistan werden im Gegensatz zu den Soldaten
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enschenrechtler erheben schwere Vorwürfe gegen die türkische Regierung: Die Armee soll im Kampf gegen kurdische Rebellen Chemiewaffen eingesetzt haben. Die Aktivisten übergaben im März Fotos von verbrannten, verstümmelten und verätzten Körperteilen einer deutschen Menschenrechtsdelegation aus Türkei-Experten, Journalisten und Politikern der Linkspartei. Laut türkisch-kurdischen Menschenrechtlern soll es sich bei den Toten um acht Angehörige der kurdischen Untergrundbewegung PKK handeln, die im September 2009 getötet worden sind. Inzwischen hat der Bildfälschungsexperte Hans Baumann die Authentizität der Fotos verifiziert. Ein rechtsmedizinisches Gutachten des Hamburger Universitätsklinikums bestätigt den Verdacht: Die acht Kurden starben mit hoher Wahrscheinlichkeit „durch den Einsatz chemischer Substanzen“. Gisela Penteker, TürkeiBeauftragte der IPPNW, weist darauf hin, dass der Verdacht, die Türkei setze Chemiewaffen ein, seit vielen Jahren bestehe. „Die Menschen vor Ort sagen das immer wieder.“ Ein Nachweis sei allerdings schwierig, denn die Leichen würden oft erst spät freigegeben, so sei eine gründliche Obduktion kaum mehr möglich.
ben. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) versucht, zivile Opfer verlässlich zu dokumentieren. Die Grafik zeigt die Steigerung überprüfter ziviler Opfer im jeweils ersten Halbjahr (Quelle: Wikipedia, UNAMA).
N achrichten
Menschenrechtspreis für Gabriele del Grande
Israelis riskieren Gefängnis
Gefahr radioaktiver Strahlung drastisch unterschätzt
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er italienische Journalist Gabriele del Grande hat den Menschenrechtspreis der Stiftung Pro Asyl erhalten. Er hat wie kaum ein anderer die brutalen Folgen der schamlosen Abschottungspolitik recherchiert. Dazu gehört die Kooperation Italiens mit dem Diktator Gaddafi. Die italienische Küstenwache hat seit Mitte Mai 2009 über 1 400 Bootsflüchtlinge nach Libyen zurückverfrachtet. Hier werden Schutzsuchende inhaftiert, misshandelt, gefoltert und Flüchtlingsfrauen vergewaltigt. Dennoch strebt die Europäische Union mit diesem Regime eine umfassende Kooperation im Bereich der Fluchtverhinderung an. In seiner Dankesrede beschrieb del Grande eindringlich, wie Asylsuchende in Libyen in glühend heißen Containern zusammengepfercht und deportiert werden. Er schilderte Schicksale von ertrinkenden Flüchtlingen, denen nicht geholfen wurde. „Diese Toten sprechen zu niemandem mehr“, so del Grande. Del Grande dokumentiert seit Jahren Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen Europas. Sein Blog „Fortress Europe“ ist zu einer der wichtigsten Dokumentationsstellen gegen die europäische Abschottung geworden.
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ast 600 Israelis haben eine Kampagne des zivilen Ungehorsams unterzeichnet. Sie legten ein Gelöbnis ab, Gefängnisstrafe zu riskieren, um palästinensische Frauen und Kinder nach Israel zu schmuggeln, damit diese einen kurzen Blick auf das Leben außerhalb der besetzten Westbank werfen können. Die Israelis sagen, sie seien von dem Beispiel von Ilana Hammerman inspiriert worden. Sie ist Schriftstellerin, die nun von einer strafrechtlichen Verfolgung bedroht ist, nachdem sie einen Artikel veröffentlich hat, in dem sie zugegeben hat, das Gesetz gebrochen zu haben, als sie drei junge Palästinenserinnen für einen Tag nach Israel gebracht hatte. Hammerman sagte, sie wolle den jungen Frauen, die niemals die Westbank verlassen hatten, eine Freude machen und ihnen die Chance geben, zum ersten Mal das Mittelmeer zu sehen. Ihre Geschichte hat viele Israelis geschockt und zu einer polizeilichen Untersuchung geführt, nachdem Gruppen vom rechten Lager dazu aufgerufen haben, sie aus Sicherheitsgründen zu verurteilen. Es ist illegal, Palästinenser ohne Passierschein durch die Kontrollpunkte zu transportieren.
urch Fehler in der statistischen Auswertung der Daten von Hiroshima und Nagasaki wurde die Gefahr radioaktiver Strahlung über viele Jahre drastisch unterschätzt. Zu diesem Schluss kommt die IPPNW in einem Überblickspapier zu den gesundheitlichen Spätfolgen der Atombombenabwürfe. Die Verlässlichkeit der Aussagen des japanischen Forschungsinstituts für Strahlenfolgen (RERF) über die Zahl der Krebserkrankungen infolge der Atombombenabwürfe sei in Frage zu stellen. Die Zahl müsse weit höher liegen, weil die so genannte Kontrollgruppe, die als „gesunder“ Vergleich gelte, ebenfalls der Strahlung ausgesetzt gewesen war. Darüber hinaus war die Gruppe der Menschen, die untersucht wurde, sehr robust – denn schwächere Menschen (vor allem Kinder und alte Menschen) waren zum Zeitpunkt der Untersuchung bereits gestorben. Diese Überlebenden als Referenzgruppe zu nehmen, verfälsche aber das Ergebnis. „Auf der Grundlage solcher falscher, aber wissenschaftlich legitimierter Daten wurden Strahlenwirkungskurven erstellt. Diese wiederum dienten viele Jahre dazu, Niedrigstrahlung zu verharmlosen und Menschen einer gefährlichen Strahlenbelastung auszusetzen, z.B. beim Arbeitsschutz“, heißt es im Papier der IPPNW.
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S oziale Verantwortung
Das Recht von Mutter Erde Die Klimakonferenz der Völker der Welt
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„Tribunals für Klima- und Umweltgerechtigkeit“, vor dem sowohl Unternehmen als auch Regierungen verklagt werden können. Außerdem wurde auf eine finanzielle Verpflichtung derjenigen Staaten gedrängt, die für die Zerstörung das Weltklimas hauptverantwortlich sind: Diese Länder sollen 6 % ihres Haushalts, zusätzlich zur offiziellen Entwicklungshilfe leisten, um den Folgen des Klimawandels in den Entwicklungsländern entgegentreten zu können. Ein weltweites Referendum soll darüber hinaus die Verteidigungsausgaben für den Klimaschutz umwidmen. Evo Morales äußerte dazu den Gedanken : „Ich habe kein Verständnis dafür, dass so viel Geld für den Tod, Kriege ausgegeben wird, anstatt es für das Leben, für den Frieden und zum Schutz des Klimas zu verwenden.“
ach dem Scheitern des Klimagipfels in Kopenhagen hatte der Präsident Boliviens, Evo Morales, zu einer Klimakonferenz der Völker der Welt nach Cochabamba eingeladen. Weit über 35 000 Personen aus 140 Ländern aller Kontinente waren im April nach Bolivien gefahren. Neben NGOs und Einzelpersonen waren auch Delegationen von 56 Regierungen und Vertreter/innen aus christlichen Organisationen anwesend. Es waren jedoch vor allem die Betroffenen, die hier ein Forum bekamen, sei es der besorgte Vertreter eines Inselstaats im Pazifik, dessen Heimat in wenigen Jahren vermutlich im Meer versinkt. Oder die Aymara-Frau aus dem Hochland Boliviens, die ihre Familie früher vom Fischfang ernähren konnte, aber am Ufer eines Flusses lebt, dessen Wasser nun kontaminiert ist.
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ür Bevölkerungsgruppen, die marginalisiert, rechtlos und häufig von den Klimaveränderungen am stärksten betroffen sind, wie z.B. Migranten und die indigene Bevölkerung, wurde voller Schutz und die Anerkennung ihrer Rechte und ihrer Kultur gefordert. Ein spezieller Arbeitskreis zu diesem Thema forderte die Öffnung aller Grenzen für Migranten und die Abschaffung aller restriktiven Gesetze, welche Migration behindern. Weitere Diskussionen drehten sich z.B. um Maßnahmen für einen Technologietransfer, um die Anerkennung von Nahrung als Menschenrecht und die Erhaltung der Wälder. In November findet die Weltklimakonferenz in Cancun, Mexico, statt. Dort sollen die Forderungen und Ergebnisse der Konferenz von Cochabamba vorgelegt werden.
Die Atmosphäre der Konferenz war geprägt von dem Ziel, einen Konsens zu erreichen. In den 17 verschiedenen Arbeitsgruppen wurde partnerschaftlich diskutiert, in einer nicht technokratischen, sondern für alle verständlichen Sprache. Von den vielen Themen und Ergebnissen seien hier nur einige beispielhaft genannt.
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o kam der Arbeitskreis 1 zu dem Ergebnis, dass in der globalisierten Welt das Streben nach immer mehr Wachstum und Konsum und die damit einhergehende steigende Müllproduktion und Kontamination sowie der Kampf um Ressourcen als Hauptursachen des Klimawandels angesehen werden müssen. Da diese Faktoren zum Wesen des Kapitalismus gehören, wurde der Konsens erzielt, dieses System grundsätzlich in Frage zu stellen. Während der gesamten Konferenz wurde über eine Alternative zum Kapitalismus diskutiert. Man nutzte als Beispiel die Kultur der Anden, in der bis heute das Prinzip der Harmonie zwischen den Menschen und der Natur in der Gemeinschaft praktiziert wird. Nach diesem Prinzip des El Sumak Kawsay, des „guten Lebens“, sollen alle gleich gut leben. Dies ist allerdings nur möglich, wenn alle Menschen gleichermaßen gut in einer gesunden Natur leben können. Der Kapitalismus mit dem Prinzip des „besser leben“ steht dem mit seinem unaufhörlichem Wachstum und konstantem Konsum entgegen. Sich daran anschließend wurde das „Super-Planetarische Demokratie“-Konzept von Leonardo Boff als ein neues Demokratieverständnis diskutiert, das eine globale Solidarität erfordert, da wir alle - ohne Ausnahme - von unserem Planeten abhängig sind.
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ie Medien haben die Konferenz von Cochabamba weitestgehend ignoriert. Die allgemeinen politischen Gremien sowie europäische Regierungen haben kaum Notiz von dem Treffen genommen. Ich empfinde dies als eine unglaubliche Arroganz. Mit meinen Eindrücken möchte ich die meines Erachtens wenig kommunizierten und weitestgehend unbekannten Ergebnisse dieser alternativen Konferenz weitergeben, in der Hoffnung, eine solidarische Bewegung - auch in Europa - zu stärken. Der komplette Bericht und weitere Informationen unter www.vereinigung-deutschauslaendische-solidaritaet.de
Dr. José Ramírez Voltaire nahm als Vertreter des AK Süd Nord der IPPNW und der „Vereinigung deutsch-ausländische Solidarität (VDAS)“ teil. vorajo@yahoo.com
Ein weiteres Ergebnis war die Verabschiedung eines Entwurfs der „Allgemeinen Erklärung der Rechte der Mutter Erde“. Damit verbunden wurde die Forderung nach der Einrichtung eines 8
© Abdul Mayeed Goraya/IRIN
Land unter Pakistan braucht dringend weitere Hilfe
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er Bericht des Zahnarztes Mohammad Rauf aus den überfluteten Regionen Pakistans in der Umgebung der Stadt Multan macht deutlich, wie dringend die von den Wassermassen in ihrer Existenz bedrohten Menschen weiterhin Hilfe benötigen.
trom ist in den eilig errichteten und von andauerndem Mangel gekennzeichneten medizinischen Camps nur über Generatoren verfügbar. Zudem fehlt es, wie mein Team und ich bei Ankunft in den Katastrophengebieten feststellen mussten, an der einfachsten Versorgung mit sauberem Trinkwasser, Kleidung, ausreichenden Mahlzeiten und den Umständen angepassten Unterkünften. Diejenigen, die sich nach dem Verlust ihrer Familienmitglieder und der Zerstörung ihrer Häuser und Grundstücke in sicherere Städte wie Multan, Khanawal, Mian Chanu etc. retten konnten, sehen sich dort in provisorischen Unterkünften untergebracht. Ihnen fehlt es an ausreichender Nahrung und Medikamenten.
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it meinem Team von Freiwilligen bin ich von früh bis spät in den betroffenen Gebieten im Einsatz. Wir versuchen, die Camps und Gebiete in der Umgebung mit Medikamenten, Dieselgeneratoren, Erste-Hilfe-Koffern, Trinkwasser und Lebensmitteln auszustatten. Hierbei gelingt es uns, täglich um die 500 Menschen zu versorgen, doch immer bleiben Tausende, denen wir schon allein wegen eines Mangels an Material nicht helfen können, ohne eine elementare Grundversorgung zurück.
FAIR TEILEN
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ach Angaben der WHO sind über 17.2 Millionen Pakistanis von den Folgen der Fluten betroffen - unter ihnen ist circa eine Million Menschen obdachlos und, wie die zahlreichen Verwundeten, auf schnelle Hilfe in dem überschwemmten Gebiet in der Ausdehnung von 160 000 Quadratkilometern dringend angewiesen.
Höchste Zeit, den Reichtum der Welt mit allen Menschen zu teilen. Unsere Bank engagiert sich für einen fairen Ausgleich zwischen Nord und Süd, arm und reich. Deshalb unterstützen wir die Kampagne Steuer gegen Armut. Entscheiden auch Sie sich für faires Wirtschaften. Kommen Sie mit uns in Fairbindung: 036691- 86 23 45
Um Mohammad Raufs Arbeit zu unterstützen, bittet die IPPNW um Spenden: Bank für Sozialwirtschaft, Konto 22 22 210, BLZ 100 205 00, Stichwort: Pakistan
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Mohammad Rauf ist IPPNWMitglied und hat an der BANFahrradtour sowie am Baseler Weltkongress teilgenommen.
EthikBank.de Faires Geld
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SEHSTERN
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Für eine erfolgreiche Arbeit brauchen wir kleine Wasserfilteranlagen und gegen das Wasser sicher versiegelte Nahrungs- und Medikamentenpakete. Angesichts sinkender Temperaturen und mangelnder hygienischer Umstände sind Menschen jeden Alters auf neue warme Kleidung angewiesen. Um weitere und größere medizinische Notstationen einrichten und die wachsende Zahl der obdachlosen Menschen unterbringen zu können, werden dringend Gemeinschaftszelte benötigt.“
© BANg
Atomwaffen
Auf der Couch Dialoge über nukleare Abrüstung aus psychologischer Perspektive
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ergleicht man Dialoge mit Entscheidungsträgern mit Gesprächen zwischen Studierenden fällt eines auf: Während Studierende meist rasch erkennen, dass eine Haltung des gegenseitigen Misstrauens zu einem Teufelskreis aus Proliferation und Aufrüstung führt, können oder wollen PolitikerInnen und DiplomatInnen häufig keinen Zusammenhang zwischen den eigenen Nuklearwaffen und der Gefahr der Weiterverbreitung erkennen. Auf der Suche nach Methoden, die helfen könnten in diesen Gesprächen argumentativ weiterzukommen, hat die IPPNWÄrztin Inga Blum 2008 im Rahmen einer Studie am Hamburger Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung (ZNF) Dialoge evaluiert und sich mit der nichtkonfrontativen Dialogmethode der Oxford Research Group beschäftigt. Sie stellte fest, dass die Grundvorausetzung für einen überzeugenden Dialog eine sorgfältige Vorbereitung ist. Und sie vermutete, dass die Gründe für die Stagnation der Abrüstungsbemühungen oft irrational sind und auch psychologische Faktoren eine wichtige Rolle spielen.
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och wie sehen Dialoge über nukleare Abrüstung aus einer psychologischen Perspektive eigentlich aus? Dieser Frage ging nun Sarah Koch im Rahmen ihrer Diplomarbeit im Fachbereich Psychologie nach. Dazu führte sie Gespräche mit Abgeordneten des deutschen Bundestages und Regierungsvertretern. Ein Ziel
der Diplomarbeit war, Assoziationen und Argumente von politischen Akteuren zum Thema Nuklearwaffen zu kategorisieren und ein „Argumentationssystem“ zu entwerfen. Ein weiteres Ziel war, Erkenntnisse aus der psychologischen Forschung auf die Debatte über nukleare Abrüstung und Nichtverbreitung zu übertragen und für eine konstruktive Dialogführung zu nutzen. Ihre Ergebnisse sollen hier kurz umrissen werden.
Das Argumentationssystem Vier Ebenen von Argumentationslinien bestimmen die Gespräche: Auf einer inhaltlich-thematischen Ebene können verschiedene Positionen für und gegen Nuklearwaffen unterschieden werden. Hier lässt sich eine kognitiv-funktionale Argumentation, z.B. „Nuklearwaffen können in einer multipolaren Welt weder sinnvoll eingesetzt werden noch wirksam abschrecken“, von einer ethisch-moralischen Argumentation unterscheiden, welche auf übergeordnete Werte wie Legalität, Frieden und Gerechtigkeit verweist. Die kontextuelle Ebene berücksichtigt Strukturen des politischen Systems wie z.B. vertragliche Verpflichtungen und institutionelle Regeln. Auch die Zugehörigkeit zu einer Regierungspartei kann dazu führen, dass aufgrund von Koalitionsvereinbarungen Anträge der Oppositionsparteien trotz inhaltlicher Zustimmung faktisch abgelehnt werden. Eine persönliche Ebene beschreibt den individuellen Bezug von Entscheidungs10
trägerInnen zum Thema und verweist auf persönliche Erinnerungen, politische Ideale oder Gefühle und Ängste, die mit dem Thema in Verbindung gebracht werden. Schließlich werden auf einer vierten Ebene Phänomene der sozialen Kognition und der Informationsverarbeitung angesiedelt, so z.B. die Wahrnehmung von anderen, die Bereitschaft zu Selbstreflexion und Perspektivenübernahme oder der Umgang mit der Komplexität des Themas. Dieses Argumentationssystem kann helfen, sich in der Vorbereitung eines Dialogs verschiedene Argumente vor Augen zu führen.
Fragen und Zuhören Der Begründer der Friedensforschung, Johan Galtung, unterscheidet „direkte Gewalt“ (Konfliktgeschehen) von „struktureller Gewalt“ (Konfliktformation). Und er beschreibt, dass Journalisten und Politiker oft das „Konfliktgeschehen“, z.B. direkt beobachtbare Gewalt oder Vertragsverletzungen, mit der „Konfliktformation“, z.B. unterschwelligen, ungelösten Konflikten und Polarisierungen, verwechseln. Vergleichbar stehen in Gesprächen über Atomwaffen und nukleare Abrüstung vor allem die offensichtlicheren Gefahren im Zentrum, während strukturelle Faktoren vernachlässigt werden, obwohl sie eine ebenso wichtige Rolle spielen. Sprich, es wird über nuklearen Terrorismus und das iranische Atomprogramm diskutiert, aber nicht über das Ungleichgewicht des Nichtverbreitungsregimes oder die Doppelmoral der Nuklearwaffenstaaten.
Wir können erst dann vollständig abrüsten, wenn ihr schon lange abgerüstet habt so lautet vereinfacht ein altbekanntes Argument auf Konferenzen zur Abrüstung. Und es sticht anscheinend alle Argumente gegen Atomwaffen aus.
In den Interviews hat sich gezeigt, dass nicht in erster Linie dem Individuum, sonFragen nach „guten Gründen für Nukle- dern dem Fehlfunktionieren des ganzen arwaffen“ und nach dem „Warum“ helfen Systems zugeschrieben (z.B. der Familie können, diese weniger offensichtlichen oder der Firma). In diesem Sinne veranFaktoren ans Licht zu rücken: „Warum schaulicht das „Teufelskreisschema“ von braucht ein Land Atomwaffen? Warum ist Schulz von Thun aus der KommunikatiSystems zugeschrieben (z.B. der Familie oder der Firma). In diesem Sinne es wichtig, dass wir noch Nuklearwaffen in onspsychologie das Dilemma des Abrüveranschaulicht das „Teufelskreisschema“ von Schulz von Thun aus der stungsprozesses. Deutschland lagern?“ sind offen gestellte Kommunikationspsychologie das Dilemma des Abrüstungsprozesses: Fragen, die hilfreiche DenkanstöKeine Abrüstung ße geben und einen fruchtbaren NuklearwaffenDialog ermöglichen. staaten vertrauen auf nukleare Sicherheitsstrategien;
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erneuern ihre uch das aufmerksame Zuhö…andere Staaten …vor dem Hinternuklearen Arsenale… fühlen sich bedroht; grund (möglicher) ren stellt ein wichtiges EleNuklearwaffen werden als Proliferation vertrauen Sicherheitsgarant Nuklearwaffenstaaten ment des nicht-konfrontativen und Symbol nationaler weiterhin auf nukleare Stärke Abschreckung… Dialoges dar. Die wirkungsvolle wahrgenommen… Proliferation Funktion des empathischen ZuStaaten streben nach hörens ist im Bereich psycholoNuklearwaffen, versprechen sich gischer Beratung und Therapie Sicherheit und Macht … bekannt und kann im Dialog mit EntscheidungsträgerInnen genutzt werden, um eine vertrauensvolle Dieser meta-perspektivische Blick kann Dieser meta-perspektivische Blick kann helfen, ein lineares Denken in vereinfachten Atmosphäre zu schaffen – die im Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen besten helfen, ein lineares Denken in vereinfachzu überwinden. Mit einem Verständnis für die strukturelle Dynamik Gesamtsystems könnte verhindert werden, dass ständig Falle auch im Gegenüber den Wunsch tendes Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen nach einem Hauptschuldigen gesucht wird, und die beteiligten Parteien könnten sich nach Verständnis fördert. zu überwinden. Mit einem Verständnis stattdessen auf ihre eigene Verantwortung besinnen. für die strukturelle Dynamik des GesamtIn der IPPNW Broschüre „Dialogues with Decision-makers“, die am 19. IPPNW könnte verhindert werden, dass Verzerrte Wahrnehmung Weltkongress in systems Basel vorgestellt wurde, sind die Ergebnisse und weiterführende Empfehlungen der Diplomarbeit von Sarah Koch Hauptschuldigen ausführlich dargestellt. Weiter ständig nach einem gehinterfragen beinhaltet die Broschüre Erfahrungsberichte, Reflexionen und konkrete sucht wird, und die beteiligten Parteien Empfehlungen für Dialoge mit Entscheidungsträgern/innen von Inga Blum sowie ein könnten sich stattdessen auf ihre eigene Aus der sozialpsychologischen Forschung Vorwort von Xanthe Hall. Die Broschüre kann in der IPPNW Geschäftstelle für einen besinnen. ist bekannt, dass Menschen das Unkostenbeitrag Verhal- Verantwortung bestellt werden. ten anderer eher dem Charakter und der Persönlichkeit zuschreiben („er ist agn der IPPNW Broschüre „Dialogue with 4 gressiv“), das eigene Verhalten dagegen Decision-makers“, die auf dem 19. mit dem Verweis auf kontextuelle Zwän- IPPNW-Weltkongress in Basel vorgestellt ge erklären („ich musste mich verteidi- wurde, sind die Ergebnisse und weitergen“). Im Bereich der internationalen führende Empfehlungen der Diplomarbeit Beziehungen wird dieses Phänomen als von Sarah Koch ausführlich dargestellt. „Perspektivische Attributionstendenz“ be- Weiter beinhaltet die Broschüre Erfahzeichnet und beschreibt, wie eigenes und rungsberichte, Reflexionen und konkrete gegnerisches Verhalten unterschiedlich Empfehlungen für Dialoge mit Entscheiinterpretiert werden. In diesem Sinne er- dungsträgern/innen von Inga Blum sowie klärte mir ein Interviewpartner, dass es ver- ein Vorwort von Xanthe Hall. Die Broschününftig sei, eigene Nuklearwaffen zu besit- re kann in der IPPNW-Geschäftstelle für zen oder durch einen nuklearen Schirm einen Kostenbeitrag bestellt werden. geschützt zu sein, solange Nuklearwaffen existieren. Etwas später nannte der gleiche Gesprächspartner dann die Bestrebungen mancher Nationen nach Atomwaffen ein Zeichen von Machtgelüsten und Geltungsdrang. Im Dialog mit EntscheidungsträgerInnen könnte diese Wahrnehmungsverzerrung explizit angesprochen werden. Inga Blum ist Ärztin in Hamburg, ihre Evaluation
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Der Teufelskreis der Abrüstung und Nichtverbreitung In der systemischen Psychotherapie werden Ursachen von psychischen Störungen 11
von Dialogen der IPPNW und Studierenden kann unter www.znf.uni-hamburg.de/OP_No6.pdf herunter geladen werden.
Sarah Koch studierte in Bern und Hamburg Psychologie. Ihre Diplomarbeit findet sich unter www.znf.uni-hamburg.de/diplomKoch.pdf Kontakt: Sarah.maria.koch@gmail.com
© Malte Schmidt/flickr
atomenergie
Keine Power Die KuK-Studie kränkelt an ausreichender Nachweisstärke
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aben Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft in der Nähe von Atomkraftwerken gewohnt haben, häufiger Fehlbildungen? Wenn man den Ergebnissen der prospektiven epidemiologischen Untersuchung „Kinder und Kernkraft“ (KuK-Studie) unkritisch glauben mag, besteht kein Risiko. Zumindest erwecken die Mainzer Wissenschaftler des Kinderkrebsregisters (KKR) in einer Pressemitteilung vom 15. Juli 2010 mit dem Titel „Neue Studie veröffentlicht“ den Eindruck, dies sei jetzt mit ihrer KuK-Studie wissenschaftlich nachgewiesen und alle Familien in der Nähe von Atomkraftwerken könnten beruhigt leben.
ie Mainzer Wissenschaftler des KKR kommen in der KuKStudie zum Schluss, dass kein signifikanter Abstandstrend bestünde. Körblein merkt dazu an, dass sich trotz der dünnen Datenlage der KuK-Studie eine deutliche Zunahme des Risikos mit der Nähe zum Atomkraftwerk zeigt, wenn die Auswertung der Studiendaten auf den Entfernungsbereich größer 3 km beschränkt wird. Eine Ausweitung der Untersuchungsregion auf einen Radius von mindesten 15 km und des Untersuchungszeitraums auf 2 Jahre hätte laut Körblein vermutlich schon genügt, um einen Entfernungstrend in ähnlicher Höhe wie bei der KiKK-Studie statistisch signifikant nachzuweisen. Ein ähnlicher Mangel an statistischer Aussagekraft ist übrigens auch bei der 2011 zur Veröffentlichung anstehenden Schweizer Studie zum Kinderkrebs um Atomkraftwerke (CANUPIS) zu erwarten.
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edoch: Die Mainzer Studie hat aufgrund geringer Fallzahlen eine zu geringe statistische Nachweisstärke (power), um einen Effekt in ähnlicher Größenordnung, wie in der vorangegangenen Studie zu Kinderkrebs um Atomkraftwerke (KiKK) aus dem Jahr 2007 nachzuweisen. Das zeigt eine kritische Analyse der bereits im März veröffentlichten Studie des Physikers Dr. Alfred Körblein. In einer Auswertung im Strahlentelex vom 06.05.10 bemängelt er, dass die KuK-Studie lediglich an zwei Standorten und dort im Umkreis von nur 10 km durchgeführt wurde und darüber hinaus der Studienzeitraum lediglich etwas mehr als 15 Monate umfasste. Körblein führt dazu aus, dass sinnvolle Aussagen zur Power nur zusammen mit Angaben zum relativen Risiko gemacht werden können. Die KuK-Originalarbeit sagt aus, dass ein relatives Risiko von 1,32 mit einer Power von 80% nachweisbar ist. Damit ist die KuK-Studie nicht geeignet, ein relatives Risiko von 1,17, wie bei der KiKK-Studie im 5 km Bereich für Krebs beobachtet, mit ausreichender Power nachzuweisen.
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AZIT: Power, Umfang und Aussagekraft der KuK-Studie sind nicht annähernd mit der KiKK-Studie zu vergleichen. Die KuK-Studie kann wegen statistischer Mängel und ungenügender Power maximal als explorative Studie gewertet werden. Im Gegensatz zur Hauptaussage der Autoren zeigt die KuK-Studie im Entfernungsbereich über 3 km einen Abstandstrend zum AKW, der auch in der KiKK-Studie für Krebs und Leukämien nachgewiesen worden ist. Deshalb ist jetzt eine Untersuchung von Missbildungen in AKW-Nähe mit deutlich größerer Datenlage und genügender statistischer Power sinnvoll und zu fordern. Die Epidemiologische Studie zu angeborenen Fehlbildungen in der Umgebung deutscher Leistungsreaktoren (2010) von Queisser-Luft A., Wiesel A., Kaiser M., Stolz G., Mergenthaler A., Spix C. ist zu finden unter www.bfs.de/de/bfs/druck/Ufoplan/Fehlbildungen_in_der_Umgebung_deutscher_Leistungsreaktoren Die Kritik von Alfred Körblein „Fehlbildungen um deutsche Kernkraftwerke“ aus dem Strahlentelex 560-561, 6. Mai 2010, S.6-10 ist nachzulesen unter www.strahlentelex.de/Stx_10_560_S06-10.pdf
Im Vergleich dazu: Die KiKK-Studie 2007 hatte die Frage des Abstandtrends an allen 16 Standorten unter Ausnutzung der größtmöglichen Datenlage von 1980 bis 2003 geprüft. Die Untersuchungsgebiete, orientiert an Landkreisgrenzen, reichten darüber hinaus bis in den 50-km-Bereich. Damit konnte mit ausreichender power statistisch die Aussage signifikant getroffen werden: „Je näher ein Kleinkind an einem Atomkraftwerk wohnt, desto größer ist sein Risiko, an Krebs, besonders an Leukämie, zu erkranken“.
Reinhold Thiel, AK Atomenergie und Vorstandsmitglied der IPPNW 12
soziale verantwortung
Wem gehört die Wissenschaft ? Die Charité stellt sich gegen Big Pharma © Charité-Universitätsmedizin Berlin
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deren Aktivitäten und bereits 25 Universitäten haben ähnliche Beschlüsse gefasst u.a. auch Oxford und Berkeley in Kalifornien. Die Charité geht für Deutschland mit gutem Beispiel voran. Auch wenn sich die Bedingungen nur langsam ändern lassen und die politische Behörde noch zustimmen muss, was als sicher gilt – die Signalwirkung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Inzwischen hat auch die Leitung der Universität Freiburg erklärt, sich dem Prinzip des open access in der Wissenschaft zu verpflichten.
m 5. Juli 2010 wurde in Berlin ein weitreichender Beschluss gefasst. Die Charité als größte Uniklinik und Forschungseinrichtung Europas hatte in ihrem Fakultätsrat einstimmig beschlossen, dass „Forschungsergebnisse auch aus dem Drittmittelbereich später für bedürftige Menschen zugänglich sein müssen.“ Im Klartext bedeutet das nicht weniger, als dass das Großklinikum erstmalig anerkennt, dass Forschungsergebnisse an staatlichen Einrichtungen an Bedingungen geknüpft werden sollen. Bislang war es so, dass die medizinische Grundlagenforschung an Unikliniken mit ihren Ergebnissen oft schon als Unipatente an Industrieagenturen verkauft wurden. Die Weiterentwicklung neuer Substanzen bis zur Marktreife erfolgte durch die pharmazeutische Industrie. Auf deren oft völlig überhöhte Preisgestaltung mit Patentschutz auf 20 Jahre gab es bislang keinen öffentlichen Einfluss.
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ünschenswert wäre, wenn uns auch in Deutschland ein Durchbruch gelänge, analog zu den engagierten medizinischen Einrichtungen in angelsächsischen Ländern. Die Zeit dafür ist reif, die Öffentlichkeit inzwischen recht offen. Staatliche Unikliniken oder andere öffentliche Forschungseinrichtungen sollten dem guten Beispiel folgen und ebenso eine Sozialklausel für ihre Forschungsergebnisse mit aufnehmen.
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Unser IPPNW-Name enthält auch den Zusatz „Ärzte in sozialer Verantwortung“. Neben unserem weltweiten Einsatz für die Abschaffung der Atomwaffen stünde es uns also gut an, primäre Patienteninteressen hier und weltweit ins Visier zu nehmen: Wir sollten uns ermutigen, als ÄrztInnen im universitären Bereich oder als StudentInnen solche Initiativen an unseren Unikliniken und Forschungseinrichtungen aufzugreifen und Veränderungen selbst in die Hand zu nehmen.
as soll sich ändern: In Zukunft sollen Forschungsergebnisse an staatlichen Einrichtungen wie der Charité den pharmazeutischen Unternehmen nicht mehr bedingungslos zur Verfügung gestellt werden. Vielmehr soll sichergestellt werden, dass arme und bedürftige Menschen durch Vergabe von günstigen Lizenzen an Hersteller in Ländern der 3. Welt ebenfalls Zugang zu solchen Mitteln bekommen. Am Beispiel von AIDS lässt sich leicht aufzeigen, wie durch Verweigerung von Zugang zu modernen retroviralen Medikamenten Millionen Patienten sterben müssen. Andere Erkrankungen, für die dasselbe gilt und für die sich Big Pharma aus plausiblen Gründen nicht interessiert, sind Schlafkrankheit, Malaria, Dengue Fieber und Tuberkulose (TBC). Krankheiten, die wie TBC im Milliardenbereich auftreten und für die in den vergangenen Jahren laut WHO lächerliche 14 Medikamente weltweit entwickelt wurden. Spätestens hier wird deutlich, dass für weite Teile der Welt unser patentgestütztes Modell versagt und neue Wege beschritten werden müssen.
Das Manchester Manifesto von 2009, eine Erklärung zur Wissenschaft als öffentlichem Gut, zur Bioethik und Sozialmedizin ist hierfür ein guter theoretischer Unterbau. Es führt auf wenigen Seiten anschaulich vor, woran sowohl Wissenschaft als auch unser global vernetztes Gesundheitssystem kranken und wo Unterstützung benötigt wird. Weitere Informationen: www.uaem-germany.de www.manchester.ac.uk/isei www.med4all.org
Initiiert wurde der Berliner Beschluss von Julia Rappenecker, einer 24-jährigen Medizinstudentin, die vor dem Fakultätsrat eine beeindruckende Rede hielt. Sie ist Mitglied in der international aktiven Studierendengruppe „Universities Allied for Essential Medicines (UAEM) – Berlin. Zehn Nobelpreisträger unterstützen
Dr. Joachim Both, IPPNW Berlin, jboth@arcor.de 13
© Philip Reynaers
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iger ist eines der ärmsten Länder der Welt, aber ihr größter Uranliferant. Der französische Konzern AREVA fördert dort etwa die Hälfte seines Urans. Zurück bleiben radioaktiv verseuchte Landstriche. Philip Reynaers hat ein Greenpeace-Team in den Niger begleitet ... 14
Im Mai veröffentlichte Greenpeace einen schockierenden Bericht über die Zustände in Niger.
Im Staub AREVAs radioaktive Hinterlassenschaften in den Wüstenstädten Nigers
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hilip Reynaers ist ein Nachrichtenfotograf, der immer wieder mit Greenpeace zusammen arbeitet. So war er auch auf der Erkundungstour in den Niger dabei. Über seine Reise nach Niger sagt er: „Das Land bietet einen enormen Reichtum an Bildern und Themen, und dazu ein fantastisches Licht, warmherzige Menschen, interessante Situationen und die verblüffendsten Gesichter. Ich bin sehr dankbar dafür, weil ich glaube, dass nicht der Fotograf ein Bild „macht“, sondern dass es ihm geschenkt wird. Auch wenn man versucht hat, uns bei unseren Nachforschungen zu behindern – wir haben unseren Weg in die Slums gefunden.“ Feststellen konnte Greenpeace vor allem einen schockierend hohen Grad an radioaktiver Kontamination in den Gebieten um die Uranminen von AREVA. Die Analyse zeigte, dass vier von fünf Wasserproben die international geltenden Grenzwerte der Weltgesundheitsorganisation (WHO) überschreiten. Wasser, das dort Trikwasser ist.
© Philip Reynaers
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Der im Mai erschienene Bericht von Greenpeace kann als pdf heruntergeladen werden: www.greenpeace.de/fileadmin/gpd/user_upload/themen/atomkraft/AREVA_Niger_report.pdf
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Das gelbe Monster Der Uranabbau und das Leid indigener Völker - eine Einführung
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nde der 90er Jahre flog eine ungewöhnliche Reisegruppe aus dem hohen Norden Kanadas nach Japan. Es waren indianische Frauen vom Stamm der Dene auf dem Weg nach Hiroshima und Nagasaki. Ihre Männer hatten jahrzehntelang in der Uranmine an der Echo Bay am Great Bear Lake gearbeitet, die meisten von ihnen starben später an Krebs. Dennoch waren sie auch – unbewusst – daran beteiligt gewesen, großes Leid über die beiden japanischen Städte zu bringen: Sie hatten als Minenarbeiter geholfen, das Erz zu fördern, aus dem das Uran für die ersten Atombomben stammte. Und gemäß den Prinzipien ihrer indianischen Kultur, nach denen Versöhnung und Heilung nur möglich sind, wenn verhängnisvolle Irrwege wieder zu einem Kreis geschlossen werden, unternahmen nun die Frauen die weite Reise, um die Überlebenden des nuklearen Angriffs um Vergebung zu bitten.
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eute wird Uran vor allem für die so genannte friedliche Nutzung der Atomenergie gewonnen. In Zeiten akuter Klimaproblematik preist die Atomindustrie ihre Energie als umweltfreundliche Alternative. Jedoch: Während die 440 scheinbar sauberen Reaktoren weltweit vor allem Energie für Industrie und urbane Zentren liefern, findet der Abbau meist in dünn besiedelten Gegenden statt, in denen Minderheiten leben, deren Rechte mit Füßen getreten werden. Denn Uranabbau ist ein schmutziges Geschäft und die Kraftwerke verlangen ununterbrochen Nachschub an Brennstoff: „Yellow Cake“, gelber Kuchen, heißt das Stoffgemisch, das vor allem aus Uranoxiden besteht und aus dem die Brennelemente für die Kraftwerke hergestellt werden. Wo genau kommt der gelbe Kuchen her?
Claus Biegert ist Journalist, hat 1992 das World Uranium Hearing in Salzburg initiiert und den Nuclear Free Future Award gegründet 16
Saskatchewan, Kanada. Die Dene können davon erzählen. Die meisten Männer am Great Bear Lake arbeiteten ohne jeden Schutz in den Minen. Mit Hacke und Schaufel bauten sie das Gestein ab, von Hand schoben sie die Loren mit dem Erz, in Segeltuchsäcken trugen sie es auf den Schultern – und starben an Krebs. „Villages of Widows“, Witwendörfer, heißen viele Gemeinden bei den Einheimischen. Hier, im subarktischen Norden der Provinz Saskatchewan, begegnen sich die traditionellen Jagdgründe der Cree und der Dene. Jagd ist in dieser von Flüssen und Seen durchsetzten Waldlandschaft, die nach Norden hin zu Tundra wird, nach wie vor Bestandteil der indigenen Kultur. Die Jäger sehen sich als Teil des Ökosystems; sie sagen „ernten“, wenn sie fischen oder Elche und Karibus jagen, sie folgen dem Wild über weite Strecken und sind wochenlang unterwegs. Weite Strecken legen aber auch die radioaktiven Isotope zurück, die beim Abbau des Urans frei werden und sich über die Wasserwege Hunderte von Kilometern in die Wildnis verteilen. Die Verseuchung der Gewässer macht die Jagdgründe zur Gefahrenzone. Jahrzehntelang waren die Jäger ahnungslos. Erst seit einigen Jahren realisieren sie das Ausmaß der Gefährdung. Doch Staatsdokumente enthüllten jüngst, dass die Verantwortlichen schon 1931 wussten, wie riskant der Umgang mit Uran ist.
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anada ist nach wie vor der führende Uranproduzent der Welt. Uranabbau verbraucht Land, seine Auswirkung beschränkt sich nicht auf die Minen. Bei der Aufbereitung wird das Uran aus dem zermahlenen Gestein gelöst; die Trennung erfolgt mit dem Einsatz von Schwefel- oder anderen Säuren. Bei einem
Urangehalt von einem Prozent (manche Minen haben sogar nur 0,1 Prozent oder weniger) verbleiben 99 Prozent des abgebauten Gesteins vor Ort, in riesigen Halden oder großen Becken. Dieser Abraum, die „tailings“, enthält nicht nur giftige Schwermetalle, sondern weiterhin auch radioaktives Material, das nicht extrahiert werden konnte und nun durch Wind und Regen in der Umgebung verteilt wird. Eine besondere Gefahr stellen die flüssigen Abraumschlämme dar, weil es immer wieder zu Dammbrüchen kommt. 1964 rauschte nach einem Rohrbruch bei der Wismut tagelang radioaktiver Schlamm durch das sächsische Dorf Oberrothenbach. 1979 in Churchrock im US-Bundesstaat New Mexico flossen 370 000 Liter verseuchtes Wasser und 1 000 Tonnen Sedimente ins Umland; 1994 versickerten bei Olympic Dam in Australien ganze fünf Millionen Liter radioaktiver Brühe im Boden. Im Umfeld einer solchen Mine zu leben ist lebensgefährlich. Doch die, die hier leben, haben keine Wahl. Colorado-Plateau, USA. Nicht viel anders als den Dene geht es den Diné, die auch als Navajo bekannt sind. Sie sind auf dem Colorado-Plateau zu Hause, einem wüstenähnlichen Hochland im Südwesten des nordamerikanischen Kontinents. Die Diné leben als Schafzüchter, die Pueblo-Völker in ihrer Nachbarschaft sind Maisfarmer. Für sie alle sind seit der Entdeckung des Urans nahe der Kleinstadt Grants in den 40er Jahren die Erfahrungen nicht anders als in der Subarktis: ungeschützte Schwerstarbeit in den Minen, verseuchtes Trinkwasser, verseuchte Erde, strahlendes Vieh, strahlende Ernten. Phil Harrison kennt alle betroffenen Familien. Er hat das „Komitee für die Opfer der Uranstrahlung“ gegründet; er sorgt dafür, 17
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tomkraft wird uns zunehmend als saubere Energieform verkauft. Kein Wort davon, dass Indigene Völker mit ihrem Land und mit ihrem Leben dafür bezahlen.
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rlit ist eine wuchernde, 90 000 Einwohner zählende Bergbausiedlung, die je nach Windrichtung von radioaktivem Staub überzogen wird und in der Areva sämtliche Bereiche kontrolliert.
Arlit, Niger. Das Territorium der Tuareg erstreckt sich von der algerischen Sahara aus nach Süden. Französische Atomtests haben den Lebensraum der Nomaden schon vor Jahrzehnten verseucht. Als dann in der Wüste von Niger Uran entdeckt wurde, ließ die Areva-Vorgängerin Cogema eine Stadt bauen: Arlit. Wie viele Boomstädte hatte Arlit anfangs eine Betriebsamkeit, die ein Hauch von Metropolenflair umgab; die Verseuchung war kein Thema.
dass die Wiedergutmachungen aus Washington, die in zähen Gerichtsverfahren erkämpft wurden, auch zu den Betroffenen gelangen. Seit Jahren sieht er sich Kranken gegenüber, die von Leukämie, Haut- und Lungenkrebs gezeichnet sind; in vielen Familien wurden geistig Behinderte geboren. In allen Wohnungen stehen die Fotos der Verstorbenen und erinnern an die ahnungslose Zeit, als alle den Uran-Boom willkommen hießen. Doch seither heißt das Uranoxid in der Sprache der Diné „Leetso“ – das gelbe Monster.
Heute erlebt der Besucher das wahre Gesicht Arlits: eine wuchernde, 90 000 Einwohner zählende Bergbausiedlung, die je nach Windrichtung von radioaktivem Staub überzogen wird und in der Areva sämtliche Bereiche kontrolliert. Das Krankenhaus gehört dem Konzern und ist nur für Bergleute zugänglich. Wie die französische Menschenrechtsorganisation „Association Sherpa“ herausfand, diagnostizieren die Ärzte bei Krebskranken fast durchweg AIDS; ist der Lungenkrebs gar nicht mehr zu leugnen, wird Rauchen als Ursache angegeben, um nur ja keine Verbindung zum Uranbergbau herzustellen. Nur Haut- und Gehörschäden werden als berufsbedingte Krankheiten anerkannt.
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uf dem Stammesgebiet der Diné ist Leetso vorerst gebannt. Im April 2005 erließ die Regierung der Diné-Nation ein Gesetz, das den Abbau von Uranerz und die Herstellung von Yellow Cake verbietet – freilich reicht das Gesetz der Diné nur bis an ihre Reservatsgrenzen, die Minen dahinter verseuchen das Land weiter ungehindert. Der Schritt von Diné-Präsident Joe Shirley Jr. wurde von vielen Stämmen als Orientierung gesehen. Doch die Uranindustrie hört nicht auf, die indianischen Stammesregierungen zu umwerben. Seit die Atomkraft als Klimaretter propagiert wird, gilt derjenige, der gegen den Uranabbau kämpft, auch noch als Zerstörer des Weltklimas. „Die Nuklearindustrie scheut keine Lügen“, sagt Manuel Pino, Professor für Soziologe in Scottsdale, Arizona. Der athletische Mann stammt aus dem Acoma Pueblo, in dessen Nähe die größte Uranmine der USA lag; sie wird inzwischen renaturiert. „Es gibt kaum eine Familie, die keine Strahlentoten zu beklagen hat“, resümiert Pino, der seit den 80er Jahren Öffentlichkeit schafft für die Opfer. Dazu gehört auch die Aufklärung über international operierende Energiekonzerne. Einer von ihnen ist die französische Areva. Ihre Spur führt uns nach Afrika.
2003 reiste der französische Nuklearwissenschaftler Bruno Chareyron vom Strahlenforschungslabor CRIIRAD mit einem Team in den Niger, um die radioaktive Belastung zu messen, der die Bevölkerung ausgesetzt ist. Fast alle Unterkünfte in den Slums ließen den Geigerzähler laut werden, beim Trinkwasser maßen die Aktivisten Belastungen bis zum 110-fachen des von der Weltgesundheitsorganisation WHO festgesetzten Grenzwerts. Das Team fand heraus, dass die Firma jahrelang verstrahltes Altmetall abgegeben hatte, das dann auf den Märkten angeboten und 18
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das gelbe monster
für den Bau von Hütten verwendet wurde. Über die gesundheitlichen Gefahren waren die Arbeiter nie informiert worden.
Hand gehört Yvonne Margarula vom Stamm der Mirrar. Jabiluka gehört zum Kakadu-Nationalpark – der wiederum ist so wertvoll, dass er teilweise zum Welt-Naturerbe zählt. Hier ist das angestammte Land von Yvonne Margarulas Klan. Margarula konnte, gestärkt durch weltweiten Widerstand und die Hilfe der UNESCO, den geplanten Abbau von Jabiluka verhindern. Doch ein Stück weiter südlich, ebenfalls innerhalb der Grenzen des Nationalparks, schreitet die Zerstörung fort. Denn hier reißt seit einem Vierteljahrhundert die Staatsfirma Energy Resources of Australia (ERA) die Landschaft auf. Ranger Mine heißt der Tagebau, den ERA gemeinsam mit dem Branchenriesen Rio Tinto betreibt; es ist die zweitgrößte Uranmine der Welt, sie liefert alleine mehr als zehn Prozent der Weltproduktion. Mindestens bis 2021 soll Ranger noch in Betrieb sein.
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ie Republik Niger, eines der ärmsten Länder der Welt, ist fatalerweise vom Uran abhängig: Der Export macht 30 Prozent des Staatshaushalts aus. Erst im März vergangenen Jahres besuchte Frankreichs Präsident Sarkozy, dessen Staat 85 Prozent von Areva besitzt, mit der Areva-Vorstandsvorsitzenden Anne Lauvergeon den Niger, um eine verstärkte Uranförderung zu beschließen: Die neue Mine Imouraren soll eine Jahresproduktion von 5 000 Tonnen Yellow Cake für Frankreichs 58 Reaktoren garantieren. Damit wäre sie die zweitgrößte Uranmine der Welt. Außerdem hat Niger nicht weniger als 140 Schürfrecht-Titel an andere internationale Firmen vergeben – für die Tuareg ein Todesurteil: Die kargen Wasserressourcen werden für den Bergbau verwendet und gleichzeitig kontaminiert.
„Sie stehlen unsere Zukunft“, sagt Yvonne Margarula und hat damit nicht nur den Uranbergbau im Visier. Auf dem traditionellen Land der Arrernte und Luritja will die Regierung des Bundesstaates Northern Territory bis 2011 auch noch ein Lager für Strahlenmüll aus Frankreich und England anlegen – „in the middle of nowhere“, wie Australiens damaliger Wissenschaftsminister Brendan Nelson die Entscheidung rechtfertigte.
Northern Territory, Australien. Der fünfte Kontinent hat kein einziges Atomkraftwerk. Trotzdem ist er auf weite Strecken verstrahlt. Zum einen, weil die Briten in der Maralingawüste, in Emu und auf den Monte-Bello-Inseln über Jahrzehnte ihre Testbomben zündeten; zum anderen, weil Uran seit einem halben Jahrhundert einer der Hauptexportartikel Australiens ist.
Für die „Mitte von Nirgendwo“ sind wir alle verantwortlich.
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Nachdruck des gekürzten Textes mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift natur+kosmos, www.natur.de
n den Northern Territories streckt sich Besuchern eine Hand mit gespreizten Fingern entgegen. Bei Demonstrationen in der Stadt Darwin und auf dem Weg zum Kakadu-Nationalpark auch. Ebenso auf Fahnen, auf Ansteckern, Autoaufklebern und Postern. Die Hand sagt: Nein zum Uranabbau in Jabiluka. Die 19
Karte der Ausbeutung: Das Uran muss in der Erde bleiben
Kanada: In Quebec haben die Bewohner der Gemeinde Sept-Îles die Ansiedlung einer Uranmine erfolgreich verhindert. 23 Ärzte hatten für den Fall, dass die Mine gebaut wird, mit ihrem sofortigen Wegzug gedroht. Die Ärzte argumentierten, dass es keine Studien gäbe, die belegten, dass die Mine keine Gefahr für Gesundheit und Umwelt darstelle. Die Québec Mineral Exploration Association ließ verlauten, Kanada sei der größte und sicherste Produzent von Uran in der Welt. Eine Gefahr für Mensch und Umwelt sei nicht gegeben.
USA: „Mitten im herzen der USA findet ein Genozid statt. Mein Volk stirbt an Krebs, weil unser Wasser und unsere Luft radioaktiv verseucht sind. Unser Way of life ist fast zerstört“, erklärt Chairmain White Face, Gründerin der Defenders of the Black hills, eine Umwelt-Organisation aus South Dakota, USA.
Die Uran-Produzenten 2009 förderte ... ...Kasachstan 13820 Tonnen Natururan (27,36% der Weltproduktion) ...Kanada 10173 Tonnen Natururan (20,14%) ...Afrika (vor allem Niger, Tanzania, Namibia) 8536 Tonnen Natururan ...Australien 7928 Tonnen Natururan (15,69%) ...Russland 3564 Tonnen Natururan (7,05%) ...Usbekistan 2429 Tonnen Natururan (4,81%) ...USA 1453 Tonnen Natururan (2,88%) (Quelle: Euratom Supply Agency 2009)
Mali: Soziologie-Professor Many Camara berichtet, dass in der Gemeinde Faléa an der Grenze zu Senegal eine Uranmine avisiert sei, die 5 000 Tonnen Natururan fördern soll. Das Gebiet von Faléa ist 400 Quadratkilometer groß; 150 davon wird die neue Mine einnehmen. In Faléa leben etwa 17 000 Menschen. Laut Professor Camara hat die Regierung Malis für den Westen des Landes über 100 Explorations-Konzessionen an ausländische Bergbau-Unternehmen vergeben.
Die fünf größten Uran-Verbraucher USA, Frankreich, Japan, Russland, Deutschland
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DAS gElBE MONStEr
Deutschland: Zwischen 1946 und 1990 wurden aus den Uranminen in Sachsen und Thüringen 231 000 Tonnen Natururan in die Sowjetunion geliefert. 100 Millionen Tonnen radioaktive Abfälle blieben in Deutschland zurück. Fast 400 000 Menschen waren im Laufe der Jahre im Uranbergbau beschäftigt; noch in den 90er Jahren starben 300 ehemalige Mitarbeiter jährlich an Bronchialkarzinom. Für die Sanierung und Renaturierung der Bergwerke und halden wurden nach der Wiedervereinigung 7,5 Milliarden Euro bereitgestellt.
Schweiz: In Basel fordern 2010 die Vertreterinnen und Vertreter von Tuareg, Uraon, Aborigines, Sioux und Navajo sowie weitere Aktivisten aus Russland, Deutschland, Schweiz, Kanada, Namibia, USA und Mali: Das Uran muss in der Erde bleiben! Sie plädieren für den Ausstieg aus der Nuklearwirtschaft. Die 600 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 19. Weltkongresses der IPPNW schließen sich ihrem Appell an und fordern die weltweite Ächtung des Uranabbaus.
Niger: In den nigrischen Uranminen rund um Arlit sind in den 40 Jahren seit ihrer Inbetriebnahme 270 Milliarden Liter Wasser für die Förderung verbraucht und kontaminiert worden. Arlit liegt in der Ténéré-Wüste; der Grundwasserspiegel ist in der Folge des Uranabbaus gesunken. Den nomadischen Tuareg wird dadurch die Lebensgrundlage entzogen. Aghali Mahiya, Tuareg: „Der Uranabbau hat Witwen geschaffen, er hat Krankheiten geschaffen.“
Australien: Eine der größten Uranminen der Welt liegt im Kakadu-Nationalpark. Die Ranger-Mine wurde 1981 eröffnet und gehört dem Uran-Multi Rio Tinto. Derzeit betreibt Rio Tinto den Ausbau der Ranger-Mine. Im Osten der bestehenden Mine soll ein neues Fördergebiet entstehen: Ranger Three Deep. Das neue Bergwerk soll unter dem Magela Creek entstehen. Rio Tinto sieht keine Gefahren für Menschen und Umwelt. Fakt ist, dass die Dämme der Abraumbecken nicht dicht halten und der Nationalpark stetig vergiftet wird. Rio Tinto plant auch die Aufnahme der Förderung in der nahe gelegenen Jabiluka-Mine. Bisher konnten die Mirarr, die Traditional Landowners, mit nationaler und internationaler hilfe die Inbetriebnahme der Jabiluka-Mine verhindern.
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Tödliches Gestein Wie Uran die Menschen krank macht
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lichste ist neben den Uranstäuben das Zerfallsprodukt Radon, ein radioaktives Edelgas. Inhaliert oder mit der Nahrung aufgenommen können Uran und Radon diverse Krebserkrankungen hervorrufen. Bereits in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde in Deutschland belegt, dass Bronchial- und Lungenkrebs bei Grubenarbeitern auf die Kontamination mit Radon zurückgeht. Aufgrund der Häufigkeit der Erkrankungen im Erzgebirge wurde dem Leiden der Bergarbeiter der Name „Schneeberger Krankheit“ gegeben. Doch ist Radon nicht das einzige Zerfallsprodukt von Uran: Auch giftige Stoffe wie Thorium, Proactinium, Radium, Radon, Polonium, Bismut entstehen – und werden bei Förderung, Verarbeitung und Lagerung der „Abfälle“ freigesetzt.
ebecca Bear Wingfield, eine Ureinwohnerin Australiens, berührt mit ihrer Rede die Menschen im Saal 101 der Baseler Universität beim Kongress „Sacred Lands, Poisened Peoples“ tief. Eigentlich wollte sie sechs Kinder haben, sagt sie. Doch sie könne kein Kind gebären. Erst hätten die englischen Atombombenversuche in den 50er Jahren ihre Heimatregion verstrahlt, dann hätten die Uranminen-Betreiber ihre radioaktive Erblast auf die Oberfläche des Kontinents gebracht.
Uran macht die Menschen krank: Lungenkrebs, Leukämie, Krebserkrankung des Knochenmarks, Magen- und Leberkrebs, Darmkrebs, Krebs der Gallenblase, Nieren- und Hautkrebs, Geburtsfehler, Totgeburten, Erkrankungen des Immunsystems, psychische Störungen und die Veränderungen der DNA sind die durch Studien verbrieften Folgen des Uranhungers für Atomwaffen und Atomkraftwerke. Auch kulturell und spirituell mache der Uranabbau die Aborigines krank, betont Rebecca Bear Wingfield, heilige Orte würden durch die Tagebaue entwürdigt und zerstört.
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esentliche Gesundheitsgefahren gehen auch von den Abraumhalden, Tailings und Verdunstungsbecken aus. Das Abfallgestein selbst ist radioaktiv, die Spülschlämme und Chemikalien aus der Herstellung des „Yellow Cake“ sind hochgiftig. Eine Gefahr, die aus den Tailings resultiert, ist die Verseuchung des Grundwassers durch eine undichte Trennschicht, Erosion und versickerndes Regenwasser. Eine weitere Gefahr stellt die mangelnde Abdeckung der Tailings dar – Winderosion trägt radioaktive Feinstäube und Radon kilometerweit von den Halden weg. Neben den direkten gesundheitlichen Folgen aus der Verseuchung des Wassers, schädigt der große Wasserverbrauch die Abbauregionen auch ökologisch und wirtschaftlich – und damit die Menschen gesundheitlich. Denn die Entnahme des Wassers führt zur Absenkung des Grundwasserspiegels, zur Verwüstung, und zum Sterben von Pflanzen und Tieren.
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ran – die einen wie die deutsche Bundesregierung erküren es zum sauberen Brennstoff, zur Klimarettung unabdingbar. Die anderen wie die Dene in Kanada, die Navaho und die Sioux in den USA, die Adivasi in Indien, die Mirarr in Australien und die Tuareg im Niger sterben daran. Michael Beleites, Mitbegründer der DDR-Umweltbewegung und heute Landesbeauftragter für die Unterlagen der DDR-Staatssicherheit in Sachsen, sagt: „1990 wurde der Uranbergbau in Deutschland eingestellt – aber nicht etwa deswegen, weil das Uran zu Ende ging, sondern weil die Urangewinnung in diesem Umfang unter demokratisch-rechtsstaatlichen Verhältnissen in einer so dicht besiedelten Gegend Mitteleuropas nicht mehr durchsetzbar war.“ In der Folge wird das Uran für die deutschen Atomkraftwerke dort abgebaut, wo nur wenige Menschen wohnen. Wo keine Öffentlichkeit die Folgen des Abbaus kritisiert. Schätzungen gehen davon aus, dass Uranabbau zu siebzig Prozent auf dem Land indigener Völker stattfindet.
Uran ist ein tückisches Material, dessen gesundheitsgefährdende Kraft von der Uranindustrie trotz aller Beteuerungen bei weitem nicht kontrolliert werden kann. Schlimmer noch: Viele Beispiele belegen, dass die Atomwirtschaft auch wenig Interesse daran hat, alles zu tun, um die Bevölkerung vor der Kontaminierung zu schützen.
Wenn man es im Boden lässt, ist Uran ungefährlich. Fördert man es jedoch ans Tageslicht und trennt man es von dem umgebenden Gestein, spielt man mit dem Feuer. Schon bei der Förderung des Natururans werden toxische Substanzen freigesetzt. Die gefähr-
Boris Buchholz ist freier Journalist und war für die IPPNW bei der Urankonfrenz in Basel dabei 22
Das gelbe monster
So etwas hatten die Dene früher nicht Interview mit Dr. Dale Dewar und Dr. Michael Dowrkind forum: Dr. Dewar, Dr. Dworkind, zu Ihnen kommen Patienten, die in den Uranminen Saskatchewans arbeiten und in deren unmittelbaren Umgebung leben. Welche Krankheiten haben diese Menschen?
Rheuma hatten die Dene früher nicht. Obwohl in Tierversuchen direkte Zusammenhänge zwischen Autoimmunkrankheiten und Strahlung festgestellt wurden, ist das für die Schulmedizin noch zweifelhaft.
Dr. Dewar: Meine Patienten sind hauptsächlich Dene, Ureinwohner des Nordens von Kanada. Die Krankheiten, über die sie am meisten sprechen, sind Krebs, Autoimmunerkrankungen und Diabetes, und sie führen ihre Krankheiten auf ihre Arbeit zurück. Man muss im Kopf behalten: Uran ist ein Schwermetall. Ausspülungen aus den Abraum- und Schlackenhalden der Minen findet man in den Flüssen und Seen. Die Menschen schwimmen in diesen Gewässern, sie trinken das Wasser. Und sie essen den Fisch und das Karibu. Sie finden auch missgebildete Fische, etwas, das sie nie zuvor gesehen haben. Sie sind wütend darüber, dass ihre Umwelt verseucht wird. Wir reden über ein Gebiet, das so groß wie Deutschland ist, aber es wohnen dort nur 80 000 Menschen. Die Menschen sind isoliert, sie sind weit weg von allem. Dr. Dworkind: ...was der Grund dafür ist, dass gerade dort Uran gefördert wird.
forum: Treten Totgeburten häufiger auf? Dr. Dewar: Ja, aber auch hier fällt der Beweis schwer, dass das Uran und die Strahlung die Ursachen dafür sind. Ich habe mit drei alten Dene-Damen zusammengesessen und habe sie befragt, ob es früher Fehlgeburten gab. Sie konnten sich an kein einziges Mal erinnern – in ihrem ganzen Freundes- und Bekanntenkreis. Heute haben wir jeden Monat schätzungsweise eine Fehlgeburt bei einer Bevölkerungsanzahl von weniger als 4 000 Menschen.
forum: Warum sollten Ärzte gerade beim Thema Uranminen aktiv werden? Dr. Dewar: Ärzte sollten auf das ganze Bild einer Krankheit, ihren Entstehungsprozess schauen. Wenn ich nicht weiß, woher die Krankheit kommt, kann ich sie auch nicht angemessen behandeln. Wenn man einer Krankheit vorbeugen will, wenn man Prävention betreiben möchte, muss man die Quelle der Krankheit finden. Diese Untersuchungen finden jedoch kaum statt.
forum: Belege für die Ursachen der Krankheiten zu finden, scheint ein großes Problem zu sein. Dr. Dewar: Untersuchungen zu Uranabbau und seinen Effekt auf die Gesundheit glänzen durch Abwesenheit. Die paar Studien, die es gibt, sind methodisch in Frage zu stellen. Sie sind zu grob, sie erfassen die falschen Dinge. Wir haben es mit einer politischen Denkblockade zu tun. Dr. Dworkind: Obwohl es schon in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts Studien in Deutschland gegeben hat, die belegen, dass Radioaktivität – sprich: Radon – Lungenkrebs hervorruft, ist diese Kausalität in Kanada nicht anerkannt.
forum: Was können Ärzte und Ärztinnen konkret tun? Dr. Dewar: Wir sollten Fragen stellen. Wir sollten verlangen, dass die Industrie Geld für unabhängige Langzeitstudien bereitstellt, deren Ergebnisse wir in 15 bis 20 Jahren nutzen können. Außerdem sollten wir Referenzstudien einfordern, die den gesundheitlichen Status Quo der Bevölkerung feststellen. Besonders in den nördlichen, isolierten Gemeinden wären diese Referenzstudien von großer Bedeutung.
forum: Wie ist die Ausbildung der Ärzte in Kanada? Spielt Strahlung eine Rolle? forum: Was glauben Sie persönlich, warum sind die Leute krank? Dr. Dewar: Mein persönlicher Eindruck nach 34 Jahren Praxis vor Ort ist, dass es heute mehr Autoimmunkrankheiten gibt als früher. Das umfasst auch Diabetes und rheumatische Arthritis. So etwas wie
Dr. Dworkind: In meiner medizinischen Ausbildung wurde Radioaktivität nur beim Thema Röntgen erwähnt. Ansonsten war Strahlung kein Thema; Uranabbau war nicht auf unserem Radar. Ich glaube nicht, dass sich in der Ausbildung der Ärzte viel daran geändert hat – obwohl Kanada einer der größten Uran-Produzenten ist. 23
Dr. Dale Dewar ist Landärztin aus Saskatchewan, Kanada. Sie ist Geschäftsführerin der Physicians for Global Survival. Dr. Michael Dworkin gründete in Quebec die Organisation „Professionel de la santé pour la survie mondiale“. Das Gespräch führte Boris Buchholz. Es fand anlässlich der Uran-Konferenz „Sacred Lands, Poisoned Peoples“ in Basel statt.
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© Anne Tritschler/IPPNW
ie alte Dame IPPNW ist sehr lebendig - das muss sie auch sein, denn wir brauchen Kraft und Mut für Aufgaben, die mehr als gewaltig sind.
In our lifetime Der IPPNW-Weltkongress in Basel
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von Obama, neue Dynamik in die atomare Abrüstung zu bringen, bleibt stecken, wenn wir als Zivilgesellschaft jetzt nicht entschieden nachsetzen. Schwerpunkte in dieser Arbeit setzen, darum wird es gehen müssen, wenn die IPPNW erfolgreich sein will.
in starkes politisches Ausrufezeichen der internationalen IPPNW – das war der 19. Weltkongress in Basel. Nicht nur die mehr als 800 TeilnehmerInnen aus aller Herren Länder ließen die Veranstaltung zu einem Erfolg werden, auch thematisch ist die IPPNW stark aufgestellt.
Ex-IPPNW Präsident Gunnar Westberg las der US-Botschafterin Kennedy die Leviten mit den Worten: „You did not speak of Zero - Sie sprechen nicht von einer Null-Lösung.“ Das Risiko für einen Atomkrieg abzusenken, ist aber eben nicht genug. Die atomare Gefahr muss ein Relikt der Geschichte werden. Obamas Formulierung „Nuclear weapon-free world, but probably not in my lifetime“, wurde umformuliert zum Running Gag: „Obama: I want to quit smoking, but probably not in my lifetime.“
Besonders bewegend war auf dem Uran-Vorkongress der Auftritt von Chairman White Face, einer Sioux-Vertreterin aus SouthDakota und Gründerin der Defenders of the Black Hills. Indigene Völker sind überdurchschnittlich betroffen von Uranabbau, Atomwaffen und der Atomindustrie. Die nukleare Produktionskette führt zu einer radioaktiven Verseuchung der Menschen, des Landes, der Luft und des Wassers. Deshalb beschloss die IPPNW, die Folgen des Uranabbaus zukünftig stärker in den Fokus zu rücken und ein Ende des Uranabbaus zu fordern. Das Thema erinnerte uns an den wesentlichen Kern unserer Arbeit in der IPPNW. Eine klare und fokussierte medizinische Botschaft, um Politik zu verändern - dabei stehen wir an der Seite der Opfer und Schwachen.
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it dem Iran ist ein weiteres wichtiges Land nun Vollmitglied der internationalen IPPNW, und auch in Europa gibt es Anzeichen für ein Wiedererstarken einer Reihe von IPPNW-Sektionen. Das macht Mut. „Viele Ergraute in den Reihen“ schrieb die Baseler Zeitung in großen Lettern. Stimmt und ist gut so, denn die Erfahrung der Älteren macht uns eben auch stark - wie der Internet-Live-Vortrag von Bernard Lown eindrucksvoll zeigte. Aber wir sind zugleich jung: Mehr als 120 Studierende waren mit dabei und mitten drin - einige davon hatten über 11 Tage eine Demo-Fahrradtour hinter sich gebracht.
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uch hinter den Kulissen war der Baseler Kongress besonders. Sehr sachlich und mit Schärfe, aber im Ton freundschaftlich wurde um die große Linie gerungen. Das kann in einer so dezentral organisierten Organisation gar nicht ganz einfach sein. Zu sehr differieren Bedingungen und die Historie der einzelnen IPPNW-Sektionen. Auch für die deutsche IPPNW-Sektion, die ein sehr breitgefächertes Themenfeld bearbeitet, gilt: Es ist klüger, den Konsens zu suchen statt sich an Kontroversen zu erschöpfen. Besonderes Augenmerk lag erneut auch auf den Fragen wirtschaftlicher Ungerechtigkeit als Quelle von Konflikten. Wird hier international eine gemeinsame Sprache gefunden, kann die aus der deutschen IPPNW heraus mitinitiierte Debatte die IPPNW weltweit voranbringen. Neben der Anti-Kleinwaffenkampagne bleibt das Thema Abschaffung der Atomwaffen im Zentrum. Dies bleibt die Stärke der IPPNW weltweit und der natürliche Fokus unserer Arbeit, weil hier die inhaltliche Klammer für alle Beteiligten gesetzt bleibt. Auch das ist in Basel erneut deutlich geworden. Mit der ICAN-Kampagne ist längst eine starke, jugendliche und pfiffige Kampagne entstanden, die noch stärker ins Zentrum der Arbeit gehört. Der vorsichtige Versuch
Bravo an alle, die zu diesem wichtigen Erfolg beigetragen haben und sehr viel Lust auf mehr Engagement machen. Die alte Dame IPPNW ist sehr lebendig. Das muss sie auch sein, denn wir brauchen Kraft und viel Mut - den wir uns häufiger auch gegenseitig machen müssen - für die Aufgaben, die nichts weniger als gewaltig sind.
Dr. Lars Pohlmeier ist frisch gewählter IPPNW-Vize-Präsident für Europa 24
© BAN
WElt
Visite in der Innenstadt Ein Tag auf der Biking Against Nuclear Weapons Tour 2010
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Lust, sich mit uns zu treffen. Vielleicht liegt es auch daran, dass Koblenz vor allem eine Bundeswehrstadt ist. So finden wir uns auch in hitzigen Debatten mit Passanten wieder – viele von ihnen Soldaten. Insgesamt ist die Aktion ein Erfolg, auch wenn man nicht jeden überzeugen kann. Vielleicht ist es uns zumindest gelungen, ein wenig Zweifel zu säen und zum Nachdenken anzuregen.
oood morning Koblenz!!!“ Um 6:30 Uhr beginnt so der Tag. Die meisten dösen noch in ihren Schlafsäcken, während heute zwei Nepalis bereits den Frühstückstisch decken. Koblenz ist die vierte Station auf unserer elftägigen Tour und wir müssen pünktlich los, denn um 10 Uhr haben wir einen Termin in der Innenstadt. Also ran an die belegten Brote, Müslis und den obligatorischen Fairtrade-Kaffee und rein in die Radlerhosen... ein weiterer Radtag ruft!
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ir schwingen uns auf unsere Räder und machen uns schnell auf den Weg, denn unser Tagesziel ist der Atomwaffenstützpunkt in Büchel. Die 50 km entlang der Mosel vergehen wie im Flug, vorbei an Weinbergen und durch schnuckelige Fachwerkdörfer. In Cochem schlagen wir unsere Zelte direkt am Fluss auf und rüsten uns für die Demo vor den Toren der Airbase. In Büchel angekommen, lassen uns die aufziehenden Jeep-Patrouillen erahnen, dass wir nicht sonderlich willkommen sind. Zur Zeit sind Truppenübungen in Büchel. Dies bedeutet auch, dass Luftwaffenpiloten den Abwurf von B61-Atombomben trainieren – ein klarer Bruch des Atomwaffensperrvertrags, der jedoch im Rahmen der NATO-Abkommen gerne übersehen wird. Das Problem der europäischen Atomwaffen wird nicht allein in Büchel gelöst. Ein Abzug aus Deutschland hätte dennoch symbolische Wirkung und wäre ein ernstzunehmendes Zeichen für ein atomwaffenfreies Europa.
Warum es über den Spaßfaktor hinaus Sinn macht, mit 33 jungen Medizinern eine Radtour durch drei Länder und über knapp 750 km zu unternehmen, kann man heute auf dem Koblenzer Marktplatz sehen. Dort haben wir ein großes rotes Zielkreuz ausgerollt, um zu demonstrieren, dass jede Stadt ein potentielles Ziel sein kann, so lange es Atomwaffen in Europa gibt. Aber Städte sollten keine Zielscheiben sein – dies wollen wir klar machen. Wir alle sind durch unsere weißen Kittel klar als Mediziner erkennbar und rufen so die Aufmerksamkeit der Passanten hervor. „Ein Kardiologe aus Nigeria, ein indischer Chirurg, ein Zahnarzt aus Pakistan... was wollen uns diese Ärzte erzählen ?“ Viele sind verwundert, dass wir nicht für bessere Arbeitsbedingungen streiken oder Werbung für Darmkrebsvorsorge machen, sondern mit ihnen über ein anderes Problem sprechen möchten. Eines, das die meisten vermutlich noch mehr verdrängen als den nächsten Zahnarzttermin: die Stationierung von US-Atombomben im Fliegerhorst Büchel, nur etwa 50 km von Koblenz entfernt. Um das Ganze etwas zu veranschaulichen, haben die beiden Ägypter unsere selbstgebastelte, zwei Meter hohe Attrappe einer B61Bombe aufgestellt.
Als es dunkel wird, machen wir uns wieder auf zum Zeltplatz. Ein Lagerfeuer mit deftigem georgischen Fleischeintopf wartet auf uns, ein Bad in der Mosel und ein paar Stunden Schlaf, bevor es morgen dann quer über den hunsrück zurück zum Rhein geht – eine Etappe weiter auf unserer Fahrt zum IPPNW-Weltkongress in Basel...
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eeindruckend ist es schon, wenn Mediziner aus den USA und Russland in der Koblenzer Fußgängerzone gemeinsam über die gesundheitlichen Gefahren von Atomwaffen aufklären. Unsere Argumente überzeugen viele. Wir erklären, dass wir aus medizinischer Sicht für eine atomwaffenfreie Zone Europa kämpfen und eine öffentliche Debatte über dieses Thema anstoßen wollen. Wir sammeln Unterschriften für unseren Appell an den Verteidigungsminister und merken, dass es in der Bevölkerung offensichtlich ein großes Informationsdefizit bezüglich Atomwaffen gibt. Der Bürgermeister von Koblenz hatte keine Zeit oder
www.ippnw-students.org/BAN
Dr. Alex Rosen ist Kinderarzt und Mitorganisator der BAN-Tour 25
welt
Krieg, Atomkrieg und Globalisierung Das Thema „Globalisierung und Krieg“ muss auf die internationale Agenda der IPPNW
forum: Herr Dr. Flassbeck, Sie vergleichen die aktuelle Krise mit der Weltwirtschaftskrise zu Anfang des letzten Jahrhunderts, die dem Zweiten Weltkrieg vorausging. Ist das nicht ein wenig übertrieben?
gewiesen. Sind nicht angesichts von „bad governance“ und resultierenden humanitären Krisen in immer mehr Dritte-WeltLändern Militärinterventionen manchmal einfach notwendig?
Heiner Flassbeck: Nein, im Gegenteil. Die gegenwärtige Krise ist sogar noch schlimmer als die von 1929. Nur ist die Darstellung in den Medien völlig verzerrt. Wenn die Kreditwürdigkeit ganzer Staaten von privaten Rating-Agenturen auf „Junk Status“ (junk = Müll) gesetzt wird – was eine existenzielle Bedrohung bedeutet – wird das ihren Regierungen angelastet. Wie aber gerieten sie in eine derartige Verschuldung? Island z.B. musste seine gesamten Großbanken verstaatlichen, weil sie im völlig deregulierten Wirtschaftssystem Islands insgesamt über 100 Milliarden US-$ verspekuliert hatten. Was die Übernahme eines Schuldenberges von einem Mehrfachen des isländischen Bruttosozialprodukts bedeutete. Ursache ist das dem weltweit etablierten Neoliberalismus zugrunde liegende „Gesetz des Stärkeren“ – das letztlich das Gesetz des Dschungels ist und nicht dem Nutzen für die Gesellschaft dient. Wenn wir so weitermachen, steuern wir auf eine globale Destabilisierung zu, die uns sehr schnell wieder in eine Situation wie Ende der 1930er-Jahre bringen kann.
Achin Vanaik: Die moralische Begründung für Krieg ist oftmals der Begriff des „failed state“ (gescheiterter Staat). Doch wer definiert, was ein gescheiterter Staat ist? Diese Frage zu beantworten, ist nicht einfach. Ist Kolumbien ein gescheiterter Staat? Das Land ist gleichzeitig auch Alliierter der USA. Oft werden Militärinterventionen gerechtfertigt mit der Verletzung von Menschenrechten. Oder mit Genozid. Doch die UN-Definition von Genozid ist so schwach, dass darunter vieles subsummiert werden kann. Missbrauch liegt also nahe. Ein anderes Beispiel ist der „regime change“ im Irak – hier hat sich die Begründung der USA als unwahr herausgestellt. Oder Pol Pot: Er wurde damals von China und den USA unterstützt. Er hat mehr Menschen getötet als Hitler. Das ist aus meiner Sicht ein Beispiel, wo die Weltgemeinschaft hätte intervenieren müssen. Die Frage ist nur: Wie kann man intervenieren, wenn die größte Militärmacht der Welt der Täter ist – oder Komplize?
forum: Herr Prof. Vanaik, vor diesem Hintergrund: Im Plenum zu Globalisierung und Krieg haben Sie auf die zunehmende Zahl sogenannter „Versager-Staaten“ hin-
forum: Herr Dr. Jarquín, mit Interventionen von außen haben Sie als Nicaraguaner eigene Erfahrungen. In den 1990er-Jahren haben Sie eine Studie zu den Folgen der „Low Intensity Warfare“ der USA gegen Ihr Land veröffentlicht. Warum haben Sie sich seither von der IPPNW-Arbeit ziem26
lich zurückgezogen und eine eigene Organisation gegründet? Antonio Jarquín: Wir haben lange versucht, das Problem der Globalisierung als Ursprung von Destabilisierung und Krieg in unsere Ärzteorganisation IPPNW zu tragen. Grund dafür ist unsere Analyse, dass wir uns zur Zeit in einer tiefen ökonomischen Krise befinden. Da stimme ich Herrn Prof. Flassbeck zu. Und es ist nicht nur eine ökonomische Krise: Viele Krisen ereignen sich simultan. Da sind die Klimaveränderung, Hungersnöte, wir befinden uns in einer Kulturkrise, einer politischen Krise und einer Ressourcenkrise. Insgesamt resultiert daraus eine Krise des Kapitalismus, die schlimmer ist als die vor dem zweiten Weltkrieg. Eine Gruppe von Wissenschaftlern aus Europa und Lateinamerika hat deshalb die Organisation „International Observatory of the Crisis“ gegründet (www.observatoriodelacrisis.org). Dabei verfolgen wir einen multi-disziplinären Ansatz, dessen Ziel Prävention ist. forum: Welche Rolle spielen hierbei Atomwaffen? Jarquín: Massenvernichtungswaffen wie Atombomben sind zunächst ein politisches Druckmittel. Ihre Produktion ist aber auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Daher fördern viele Staaten in Krisenzeiten die Militarisierung. Die Produktion von Waffen ist aber totes Kapital: Rettung aus der globalen Krise, die wir heute haben, kann sie nicht bringen. Mit dem Pro-
FLASSBECK
gramm „Globalisierung und Krieg“, das wir in der IPPNW auf internationaler Ebene etablieren möchten, wollen wir diese Zusammenhänge thematisieren: nicht nur die Produktion der Waffen, sondern die Ursachen für Konflikte und Krisen, und damit die Voraussetzung für effektive Prävention schaffen. In Asien gibt es z.B. bereits einige Konflikte und Kriege, die sehr gefährlich sind, weil sie nuklear eskalieren können (Stichwörter sind Afghanistan, Pakistan und Iran). Dies zu verhindern fordert von uns nicht nur, uns für die Abschaffung der Atomwaffen einzusetzen. Sondern auch, nach den Ursachen dieser Konflikte zu fragen und sie zu entschärfen. forum: Wie könnte diese Arbeit aussehen?
VANAIK
Jarquín: Unsere Studie zu den wirtschaftlichen und humanitären Folgen des „Low Intensity Conflict“ zwischen Nicaragua und den USA in den 1980er-Jahren haben Sie schon erwähnt. Sie wurde von der IPPNW und den Vereinten Nationen verwendet, um weltweit Ähnlichem entgegenzuwirken. Zur Zeit versuchen die USA, die Kontrolle über lateinamerikanische Ressourcen zu erlangen, um weitere mögliche Kriege im euro-asiatischen Raum abzusichern. Sie entsenden Flotten in die Gewässer rund um Lateinamerika und bauen weitere Militärbasen auf. Dies sollte Thema für die IPPNW sein. Die europäischen und amerikanischen Sektionen der IPPNW sollten eng zusammenarbeiten, denn wir glauben, dass die Europäer innerhalb der NATO entscheidend sind, um einen neuen Krieg zu vermeiden. forum: Sie glauben, Europa kommt dabei eine Schlüsselposition zu?
JARQUÍN
KRÄMER
Jarquín: Ja, viele Teile der Welt schauen auf Europa und hoffen, dass es gegenüber den USA eine friedensstiftende Position einnimmt. Ich selbst bin da zwar eher pessimistisch, aber viele Menschen in Lateinamerika haben diese Erwartung an Europa. Vanaik: Ich sehe das ebenfalls zwiespältig. Einige europäische Regierungen haben sich gegen den Irakkrieg gewandt, aber Sie haben das Nuklearabkommen zwischen den USA und Indien unterstützt. Das war extrem unglücklich. Unter anderen haben sich Österreich, Irland, die Niederlande, Norwegen und die Schweiz gewehrt, doch der Druck war zu groß. 27
Dieses Abkommen schadet der nuklearen Abrüstung und untergräbt die Bedeutung des Atomwaffen-Sperrvertrages. forum: Christoph Krämer, Sie gehören zu den OrganisatorInnen der Plenarsitzungen mit Dr. Flassbeck („Wirtschaft, Macht und Atomwaffen“) und Prof. Vanaik („Globalisierung, Krieg und Abschaffung der Atomwaffen“). Was nehmen Sie aus diesen Plena und aus den resultierenden Diskussionen mit nach Hause? Christoph Krämer: Dies hier in Basel war der erste IPPNW-Weltkongress, bei dem es zwei Plenarsitzungen zur Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren für Atomkriegsgefahr und Abschaffung der Atomwaffen gab. In Zeiten einer wirklich bedrohlichen Welt-Krise des Neoliberalismus sehe ich das als wichtigen Fortschritt – ebenso wie viele KollegInnen aus Lateinamerika und Asien (v.a. Indien und Nepal), aber auch aus Russland und Afrika. Wobei es noch kurz vor dem Kongress eine regelrechte diplomatische Krise darum gab, ob wir das Wort „neoliberal“ hier überhaupt öffentlich verwenden dürfen! Das liegt am Stand IPPNW-interner Bewusstseinsprozesse, die gerade in reichen Ländern oft unterentwickelt sind. Wenn man das Problem nicht einmal beim Namen nennen darf, lässt einen Dr. Flassbecks Verweis auf 1929 erschaudern ... Wir werden daher für 2011 eine IPPNW-interne internationale Konferenz zum Thema „Globalisierung und Krieg“ vorschlagen, die die Herstellung eines Konsens zu seiner Bedeutung zum Ziel hat sowie die Etablierung eines entsprechenden internationalen Aktionsprogramms. Erörtern möchten wir das auf dem nächsten Treffen des Arbeitskreises Süd-Nord im Oktober in Kassel. Prof. Achin Vanaik ist Politikwissenschaftler an der Universität Delhi und Gründungsmitglied der indischen Anti-Atomwaffen-Bewegung. Dr. Heiner Flassbeck ist ehemaliger FinanzStaatssekretär der Bundesregierung und heute Chef-Volkswirt der UNCTAD (UN-Konferenz für Handel und Entwicklung). Dr. Antonio Jarquín ist Arzt und Soziologe, war Botschafter Nicaraguas in den USA für die Sandinisten, ist Gründer und Präsident der Physicians for Peace Nicaragua (MEDIPAZ) und seit Basel wieder IPPNW-Vizepräsident Lateinamerika. Christoph Krämer ist Chirurg, Mitglied des Vorstandes der deutschen IPPNWSektion und ihres AK Süd-Nord. Das Interview führte Angelika Wilmen.
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Frisch von der Demo Der weiße Block
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nter dem Motto „Atomkraft: Schluss jetzt“ haben etwa 100 000 Atomgegner am 18. September gegen die Laufzeitverlängerung demonstriert und das Regierungsviertel umzingelt. Beim Atom-Alarm am Nachmittag wurde es dann laut: Pfeifen, Vuvuzelas und „Atomkraft - Nein danke!“-Rufe schallten durch alle Straßen, von der Bundespressekonferenz bis zum Kanzleramt. Mitten drin war der „weiße Block“ der IPPNW-Ärzte, die zum einen einen Stopp des Uranabbaus forderten und zum anderen auf die Verbindung zwischen Atomkraft und Atomwaffen hinwiesen - die pinken Flyer kamen bei den Demo-Teilnehmern und Zaungästen ausgesprochen gut an. Weitere Fotos auf www.flickr.de/photos/ippnw
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aktion
Atomwaffen a.D. „unsere zukunft – atomwaffenfrei“ geht weiter
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richt vom 17. Mai fest, dass jegliche Entscheidung über eine Der nukleare „Schirm“ bietet keinen Änderung der NATO-Atomwaffenpolitik, „einschließlich die geo- Schutz grafische Verteilung der stationierten in Europa, vom Zeit für den Abzug der Waffen US-Atomwaffen aus Bündnis als Ganzes getroffen werden sollte“. Also: die Atomwaffen sollen in Europa bleiben, nur die Stationierungsorte dürfen im Konsens verändert werden.
nser Ziel war, dass die deutsche Regierung bei der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag (NPT RevCon) im Mai 2010 erklärt, Deutschland werde atomwaffenfrei. Zum Teil hatten wir Erfolg: Sowohl der Koalitionsvertrag, als auch ein Beschluss des Bundestages schreiben fest, dass die Regierung sich für einen Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland bei der NATO einsetzen soll. Dennoch blieb die erhoffte Verkündung auf der RevCon aus.
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un entwirft Rasmussen ein neues strategisches Konzept, das er den NATO-Mitgliedern voraussichtlich am 14. Oktober vorlegen will. Daher hat der Kampagnenrat „unsere zukunft – atomwaffenfrei“ auf seiner Sitzung im Juni beschlossen, die Kampagne bis zum NATO-Treffen am 21./22. November in Lissabon zu erweitern und zu versuchen, Einfluss auf das Dokument zu nehmen. Mit Hilfe einer Postkarte soll Verteidigungsminister von und zu Guttenberg daran erinnert werden, dass nicht nur Regierung und Bundestag beschlossen haben, dieses Ziel zu verfolgen, sondern dass es auch von einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland gewollt ist.
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in gemeinsamer Brief von Außenminister Westerwelle mit seinen Amtskollegen aus Belgien, den Niederlanden, Luxemburg und Norwegen sorgte allerdings dafür, dass das Thema auf die Tagesordnung des NATO-Außenministertreffen in Tallinn, Estland, am 22. und 23. April kam. Dort jedoch versuchten NATOGeneralsekretär Anders Fogh Rasmussen und US-Außenministerin Clinton erfolgreich, die Debatte zu deckeln. Die taktischen Atomwaffen „gehören zu einer glaubwürdigen Abschreckung dazu“, sagte Rasmussen. Und Clinton machte in ihrer Rede bei einem gemeinsamen Abendessen deutlich, dass die NATO ein nukleares Bündnis bleibt, solange Atomwaffen existieren – und dass ihre Stationierung in den NATO-Ländern essentiell ist. Zudem seien alle künftigen Reduzierungen davon abhängig, ob Russland in Sachen Transparenz, Abrüstung und Abzug seiner Waffen mitziehe.
Die Zeit drängt: Macht mit bei dieser Aktion, bestellt Postkarten und verteilt sie unter FreundInnen und KollegInnen! Postkarten sind in der IPPNW-Geschäftsstelle abrufbar. Zudem entwickelt die IPPNW zusammen mit Otfried Nassauer vom Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS) ein Argumentationspapier in einer langen und einer kurzen Fassung, um den Argumenten der NATO zu begegnen. Das Papier setzen wir mit unseren Netzwerkpartnern in unserer Dialogarbeit mit Entscheidungsträgern, Beamten und Beratern ein. Darüber hinaus wollen wir im Vorfeld des Oktobertreffens der NATO die Medien informieren, warum die vermeintlichen Gründe gegen den Abzug nicht greifen. Das Thema ist noch längst nicht vom Tisch.
Staatsminister Werner Hoyer (FDP) wollte danach in einer relativ schwachen Rede am 5. Mai vor der NPT RevCon trotzdem am Ziel eines atomwaffenfreien Deutschlands festhalten. Er sagte: „In diesem Zusammenhang [die Vertrauensbildung mit Russland] steht auch die Absicht der Bundesregierung, die noch in Deutschland lagernden taktischen Kernwaffen im Einvernehmen mit unseren Verbündeten abzuziehen. Auch setzen wir uns dafür ein, dass im Strategischen Konzept der NATO die Rolle von Kernwaffen weiter reduziert wird. Ich begrüße, dass die USA sich dies in ihrer nationalen Nuklearstrategie bereits zu eigen gemacht haben“. Die so genannte Expertengruppe, geleitet von der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright, wies diesen Wunsch nach einem Abzug noch einmal zurück und stellte in ihrem Be-
Xanthe Hall ist Referentin für Atomwaffen der IPPNW 29
Geschichte
ALBERT SCHWEITZER
Ärzte gegen den Krieg Ein Blick in die Geschichte von Christian Jenssen, Teil 3
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m Ersten Weltkrieg erreichte die Einbeziehung von Ärzten und medizinischem Personal in die Kriegsführung eine neue Qualität. Etwa 38 000 Ärzte, Apotheker und Zahnärzte unterstützten auf deutscher Seite den Militärsanitätsdienst, 1 325 von ihnen starben auf den Schlachtfeldern. Die Sterblichkeit der deutschen Verwundeten wurde auf etwa 3 % reduziert (1866: 8,6 %; 1870/71: 4,5 %), viele konnten erneut in den Fronteinsatz geschickt werden. Die Bewertung dieser neuen Rolle der Ärzte für die Kriegsführung war kontrovers. Wilhelm His sprach stolz von einer „zweiten Front“ der Ärzte, die nicht zerstöre, sondern Leben bewahre, Sigmund Freud dagegen polemisch von „Maschinengewehren hinter der Front“, Karl Kassowitz neutral von einer „dualistischen Rolle“ der Ärzte, die ein „wichtiger Teil der Kriegsmaschinerie“ geworden seien.
Zwischen den Weltkriegen Als in den 30er Jahren die Kriegsgefahr zunahm, thematisierten in Europa verschiedene Initiativen erstmals spezifische Beiträge der Ärzteschaft zur Kriegsprävention. In den Niederlanden wurde ein
Komitee für Kriegsprophylaxe gegründet. In internationaler Zusammenarbeit wollte man psychologische Ursachen und medizinische Folgen moderner Kriege wissenschaftlich untersuchen, die breite Öffentlichkeit und die Regierungen darüber informieren und andere Berufsgruppen zur kritischen Reflexion ermutigen. 1935 warnte das Komitee in einem „Brief an die Staatsmänner“ vor einer kollektiven „Kriegs-Psychose“, der von Psychiatern aus 39 Nationen unterzeichnet und in 21 medizinischen Journalen kommentiert wurde. 1932 appellierte der Berliner Internist Felix Boenheim an die Ärzte der Welt, die Initiative für einen internationalen Antikriegskongress zu unterstützen. Hunderte Ärzte aus 29 Ländern unterzeichneten diesen Appell und diskutierten auf dem Amsterdamer Weltkongress gegen Krieg und Faschismus im gleichen Jahr die Folgen des Einsatzes chemischer Waffen, die Möglichkeiten ärztlicher Verweigerung der Teilnahme an Kriegsvorbereitungen und den Ressourcentransfer aus der Rüstung in die Gesundheitsfürsorge. Auf diesem Kongress wurde die Internationale Gesellschaft der Ärzte gegen den Krieg gegründet, die in 45 Ländern 268 Mitglieder hatte. Ihre Berliner Zentrale zerschlugen 30
die Nationalsozialisten aber bereits unmittelbar nach der Machtergreifung.
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in zweiter internationaler Friedenskongress fand 1936 in Brüssel statt und hatte im Vergleich zum kommunistisch dominierten Amsterdamer Kongress eine breitere politische Basis. Verschiedene Berufsgruppen wurden im Vorfeld vom Initiator und Präsidenten der International Peace Campaign, Lord R. Cecil, aufgefordert, sich mit spezifischen Beiträgen einzubringen. Nachdem Initiativen innerhalb der British Medical Association gescheitert waren, gründete eine Gruppe britischer Ärzte schließlich im August 1936 die Medical Peace Campaign (MPC). Auf dem Brüsseler Kongress organisierte sie zusammen mit dem niederländischen Komitee eine Ärztekonferenz, deren inhaltliche Schwerpunkte psychologische Kriegsursachen und medizinische Kriegsfolgen waren. Erneut wurde eine International Medical Association for the Prevention of War gegründet, die in einem Memorandum die Bewahrung des Friedens als „prophylaktische Aufgabe ersten Ranges“ bezeichnete. Stimuliert durch den Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud „Warum
Zur Zeit haben wir die Wahl zwischen zwei Risiken. Das eine besteht in der Fortsetzung des unsinnigen Wettrüstens in Atomwaffen, das andere in dem Verzicht auf Atomwaffen und in dem Hoffen, dass (...) die Völker es fertigbringen werden, in Frieden nebeneinander zu leben. Das erste enthält keine Möglichkeit einer gedeihlichen Zukunft. Das zweite tut es. Wir müssen das zweite wagen. Albert Schweitzer, 1958
Krieg?“ (1933) entstand das Buch „Medical Opinions on War“ (1939), in dem 15 vorwiegend britische und niederländische Autoren die Möglichkeiten der Kriegsprävention diskutierten. Einen inhaltlich wesentlich breiteren Ansatz hatte dagegen das von der britischen MPC initiierte Buch „The Doctors View of War“ (1938), das medizinische Kriegsfolgen darstellt, sozialdarwinistische Versuche der Kriegslegitimation analysiert, die dualistische Rolle der Ärzteschaft in Kriegsvorbereitung und Krieg thematisiert und um die Unterstützung der internationalen Ärztegemeinschaft für ein System der kollektiven Sicherheit wirbt. Im Vorwort wird die Vision skizziert, dass Ärzte in einer international abgestimmten Initiative Kriege undurchführbar machen könnten, indem sie ihre Teilnahme verweigerten.
Die Ärzte und die Bombe Als 1950 der Ausbruch des Koreakriegs die Gefahr eines dritten, mit Atomwaffen geführten Weltkrieges heraufbeschwor, griffen ehemalige Mitglieder der MPC in einem Brief an The Lancet die Initiative der 30er Jahre wieder auf und appellierten an ihre Berufskollegen, sich öffentlich der Vorbereitung eines neuen Krieges in den Weg zu stellen. Im März 1951 entstand die Medical Association for the Prevention of War (MAPW), der ähnliche Gründungen in Dänemark, der DDR und weiteren europäischen Ländern folgten.
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ie Verstrahlung japanischer Fischer und der Einwohner der MarshallInseln durch den Fallout des Wasserstoffbombentests auf dem Bikini-Atoll 1954 alarmierte weltweit zunächst Naturwissenschaftler und Ärzte, und führte schließlich zu einer Wende in der öffentlichen Wahrnehmung. Die MAPW, die deutsche Ärztegesellschaft zur Ächtung des Atomkriegs und andere Ärztegruppen publizierten Broschüren und Flugblätter über die medizinischen Risiken der atmosphärischen Nukleartests, mit Konferenzen und Leserbriefen ging man an die Öffentlichkeit und informierte über die von Atomwaffen ausgehende Gefahr. In Deutschland druckten die Zeitschriften Medizinische Klinik und Medizinische Welt Artikel über die Atombombe, biologische Strahlenfolgen und Strahlenschutz. 1957 rief der Deutsche Ärztetag eine wissenschaftliche Kommission zur Untersuchung der Folgen der Strahlenbelastung der Umwelt 31
ins Leben, und schon ein Jahr später verurteilte er den Missbrauch der Atomenergie, forderte das Verbot aller Massenvernichtungswaffen und einen weltweiten nuklearen Teststopp. Starken Einfluss auf die öffentliche Diskussion hatten das bekannte Manifest der Göttinger 18, der weltweit von 9 235 Wissenschaftlern unterzeichnete Teststopp-Appell von Linus Pauling und nicht zuletzt die Stimme Albert Schweitzers, der sich erstmals am 23. April 1957 über Radio Oslo mit seinem „Appell an die Menschheit“ und ein Jahr später mit drei Rundfunkappellen „Friede oder Atomkrieg“ für einen sofortigen atomaren Teststopp aussprach. Dies inspirierte Ärzte weltweit zu einem spezifischen Beitrag zu der sich wie eine Kettenreaktion entwickelnden öffentlichen Meinung gegen Atomtests und Atomwaffen. In der Bundesrepublik Deutschland gründete 1956 der Gynäkologe Bodo Manstein den Kampfbund gegen Atomschäden, dem sich mehr als 2 000 Mediziner anschlossen, und 1958 Fritz Katz die Ärztegesellschaft zur Ächtung des Atomkrieges.
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n den USA gründeten schließlich Ende 1961 der Kardiologe Bernard Lown, der Sozialmediziner Vic Sidel und andere namhafte Ärzte der Harvard Medical School Physicians for Social Responsibility (PSR), die im Mai 1962 eine aufsehenerregende Artikelserie über die medizinischen Folgen eines thermonuklearen Angriffs auf Boston, Massachusetts, und den Stellenwert von Schutzprogrammen und ärztlicher Hilfe im New England Journal of Medicine publizierten. Im darauf folgenden Jahr präsentierte PSR vor Kongress- und Senatsausschüssen für Auswärtige Angelegenheiten diese Studien und eine wissenschaftliche Analyse der medizinischen Folgen des nuklearen Fallout. Es ist gut belegt, dass die Botschaften und persönlichen Appelle Schweitzers an J.F. Kennedy ebenso wie die Aktivitäten der PSR entscheidenden Einfluss darauf hatten, dass am 5. August 1963 in Moskau der Partial Test Ban Treaty ausgehandelt und schon wenige Monate später in Kraft treten konnte.
Christian Jenssen c.jenssen@khmol.de
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as Magazin „New Statesman“ bezeichnet dieses Buch als eines der zehn wichtigsten der Dekade. Zu Recht.
Gleichheit ist Glück
Mühsam erreichter Beschluss
Richard Wilkinson und Kate Picket, renommierter englische Epidemiologe, haben viele Jahre zu sozialen Determinanten von Gesundheit geforscht
Deutscher Ärztetag fordert ethisch vertretbare Geldanlagen
ie suchten anhand offizieller Statistiken von Weltbank, UN und der USA nach Korrelationen zwischen Mustern der Einkommensverteilung und dem Ausmaß sozialer und gesundheitlicher Probleme in den entwickelten Industrieländern. Ihre Ergebnisse weisen nach, dass einkommensgleichere Gesellschaften wie die skandinavischen Länder, Kanada und Japan deutlich besser abschneiden als Länder mit stark ungleicher Einkommensverteilung, wie die USA, Portugal und Großbritannien. Dies betrifft körperliche und seelische Gesundheit genauso wie Schulbildung, Kindeswohl, das Maß an Vertrauen in der Gesellschaft, soziale Integration und soziale Mobilität. Stress, Unsicherheit, Zukunftsverlust und Resignation, Konkurrenz, Konsumismus und sozialer Zusammenhalt – dies alles sind Faktoren, die ungleichere Länder weitaus stärker negativ bestimmen. Auswirkungen der Ungleichheit ließen sich demnach durch Umverteilung und Anhebung der Durchschnittseinkommen beseitigen und würden die hohen Kosten der durch Armut erzeugten sozialen und gesundheitlichen Probleme vermeiden.
1998 schrieb ich an „meine“ Rentenversicherung, die Tübinger Versorgungsanstalt. Ich fragte nach den Kriterien, unter welchen dort die Gelder angelegt sind. In der Antwort wurde auf die Richtlinien der Vertreterversammlung verwiesen.
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anach sei „das Vermögen der Versorgungsanstalt so anzulegen, dass möglichst große Sicherheit und Rentabilität […] erreicht wird. […] Berücksichtigung ethischer und ökologischer Gesichtspunkte findet nicht statt […].“ Die entsprechende Anfrage im Leistungsgremium führte dazu, dass sich der Verwaltungsrat damit befasste. Ergebnis: „[...] Weltanschauliche Gesichtspunkte bei der Vermögensanlage […] keine Rolle spielen dürfen.“ (Zitat aus: 56. Versorgungsbrief, Juni 2007). Über Freunde gelang es dann, diese Frage in die Ärztekammer Hamburg zu bringen. Dort wurde beschlossen: „[...] bei Kapitalanlagen [sind] ethische Gesichtspunkte zu beachten.“ Inzwischen gelang es, insbesondere mit Hilfe von Frau Dr. Helga Schulenberg und Herrn Prof. Dr. Winfried Kahlke, die Angelegenheit vor dem Deutschen Ärztetag zu erörtern.
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igentlich sind diese Ergebnisse für Sozialmediziner nicht neu. Neu ist jedoch die breite empirische Evidenz auf der Basis einer umfassenden Analyse umfangreicher, vorher nicht zugänglicher Daten. Ungleichheit zersetzt die Gesellschaft und deren soziale Matrix, so lässt sich die zentrale Aussage des Buches zusammenfassen. Jede seriöse Debatte über den Weg zu einer sozial und gesundheitlich bekömmlicheren Gesellschaft wird diese Ergebnisse berücksichtigen müssen.
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rgebnis: „Der 113. Deutsche Ärztetag fordert die Versorgungsanstalten für Ärzte in den jeweiligen Ländern auf, Investitionen zur Absicherung des Deckungsstockes unter ethischen Gesichtspunkten vorzunehmen.“ (DÄ vom 21.05.2010, S. A882) Sehr hoffe ich, dass diese Forderung dazu führt, auch im privaten Umgang mit Geld mehr auf ethische Belange zu achten.
Das Buch liest sich gut und spannend. Für den, der ein vertieftes Interesse an dem Thema hat, vor allem an den kausal vermittelnden Variablen wie erhöhtem Stress, Statuskonkurrenz etc., ist es ein Muss. Wem eine Übersicht der Ergebnisse ausreicht, sei die Webseite www.equalitytrust.org.uk empfohlen. Dieter Lehmkuhl
Richard Wilkinson und Kate Picket: „The Spirit Level, Why Equality is Better for Everyone“ (2009), Deutsche Ausgabe: „Gleichheit ist Glück, Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind“, Zweitausendundeins Verlag, 19.90 EUR
Wieland Walther ist Allgemeinarzt im Ruhestand. Er war drei Jahre als Tropenarzt in Tansania und ist Mitglied im Internationalen Versöhnungsbund. 32
Termine
Gesehen
oktober Wer in Kürze etwas über Uran lernen möchte, dem sei der Dokumentar-Film „Uranium - is it a country?“ empfohlen. Das Team von „Strahlendes Klima“ hat uns auch in Basel auf der Uran-Konferenz begleitet und dort Vertreter indigener Völker interviewt. Den Dokumentarfilm sowie den Interview-Kurzfilm kann man auf der Webseite der Initiative sehen - und auch bestellen: die Dokumentarfilmer begrüßen es ausdrücklich, wenn ihr Film für Aktionen und Themenabende verwendet wird. www.strahlendesklima.de
Geplant
14.-17.10. Internationale Aktionskonferenz zur Vorbereitung des NATO-Gegengipfels in Lissabon, www.no-to-nato.org 23.10. Bundesweite dezentrale Protestaktionen an den Atomtransportstrecken
november 6.11. Demonstration und Protestaktionen gegen den Castortransport nach Gorleben 19.-21.11 NATO Gegen-Gipfel, Lissabon
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Das nächste Heft erscheint im Dezember. Darin wollen wir einen Fokus auf
Global Health legen. Dabei soll es nicht nur um neue Ansätze einer globalen Gesundheitsversorgung gehen, sondern auch um Flüchtlinge in Deutschland und das IPPNW-Projekt Medical Peace Work. Das Forum lebt von Ihren Beiträgen, Vorschlägen und Ideen. Schreiben Sie uns! tritschler@ippnw.de
11.-13.3.2011 IPPNW-Jahrestreffen und Mitgliederversammlung, Frankfurt a.M.
april 5.-7.4.2011 Wissenschaftssymposium „25 Jahre Tschernobyl“, Charité Berlin 8.-10.4.2011 IPPNW-Kongress „25 Jahre Tschernobyl – Zeitbombe Atomenergie“ 26.4.2011 Tschernobyl-Jahrestag, IPPNW-Benefizkonzert, Berliner Philharmonie Informationen und Kontaktdaten: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine
Impressum und Bildnachweis Herausgeber: Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW) Sektion Deutschland Redaktion: Sabine Farrouh (V.i.S.d.P.), Angelika Wilmen, Anne Tritschler Freie Mitarbeit: Ulla Gorges, Xanthe Hall, Ewald Feige, Jens-Peter Steffen, Frank Uhe, Henrik Paulitz, Pia Heuer, AnnaLena Punken Anschrift der Redaktion: IPPNWforum, Körtestraße 10, 10967 Berlin, Telefon: 030 / 69 80 74 0 Fax 030 / 693 81 66 E-mail: ippnw@ippnw.de, www.ippnw.de Bankverbindung: Bank für Sozialwirtschaft, Konto 22 22 210, BLZ 100 205 00
Erscheint 4 mal im Jahr. Der Bezugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Sämtliche namentlich gezeichneten Artikel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke bedürfen der schriftlichen Genehmigung. Redaktionsschluss für das nächste Heft: 14. November 2010 Gestaltungskonzept: Thomas Bock Layout: Anne Tritschler Druck: H&P Druck Berlin Papier: PlanoArt,Recyclingpapier, FSC Titelfoto:Philip Reynaers/greenpeace S2 BAN-Tour S3 F. Uhe, Anne Tritschler S5 H.Paulitz, Anke Stratmann-Horn S6 33
Bayerlogo, Bayer; Schiff, Free Gaza Movement; Leiche, forum.ayva.net S7 delGrande, Pro Asyl; Checkpoint, Heidi Niggemeier/IPPNW; Hibakusha, IPPNW S11 Schema, Sarah Koch S20,21 Karte, Boris Buchholz S23 Dr. Dewar, Dr. Dworkind, Boris Buchholz S27 alle, Anne Tritschler/ IPPNW S29 Kampagnenbild, IPPNW S30 A.Schweitzer, Albert Schweitzer-Zentrum S32 Buchcover, Zweitausendseins Verlag; Briefschreiber, a.drian/flickr S33 Filmplakat, Stahlendes Klima; Geplant, unter Verwendung von Bilder der Nasa und Henrik G.Vogel/pixelio S34 M.Fritzen, Andreas Conradt/PubliXviewinG; Alle Autoren/Portraitbilder: privat oder IPPNW
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6 Fragen an ... Marianne Fritzen
Atomkraftgegnerin erster Stunde und bestimmt eine der ältesten DemonstrantInnen Deutschlands
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Liebe Frau Fritzen, die Anti-Atombewegung erlebt eine Renaissance, die Erneuerbaren Energien boomen und dennoch verlängert Schwarz-Gelb die AKW-Laufzeiten. Was tun?
Frei nach Kant: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“.
Weiterhin bewusst mit den verfügbaren Ressourcen umgehen und unser von den Grundrechten garantiertes „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ einfordern.
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Gerade wurden Sie für Ihr Engagement ausgezeichnet, als „Mutter der Bewegung“ sind Sie für viele eine Leitfigur. Wer oder was ist denn Ihr Vorbild?
Wenn Sie Frau Merkel und Herrn Westerwelle treffen würden, was würden Sie ihnen sagen?
Mein Gewissen und die ethischen Grundsätze, zusammengefasst in der „goldenen Regel“: Was du unternimmst – und auch was du unterlässt – wirkt in Ewigkeit“.
Frau Merkel: Ihre Landsleute haben Ihnen durch ihren politischen Widerstand und ihren Ruf „Wir sind das Volk!“ das höchste Amt im Staat ermöglicht. Herrn Westerwelle würde ich nichts sagen. Besser ist es, ihn zu übersehen.
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Ein „Heißer Herbst“ ist angekündigt: Welchen Tipp geben Sie den „neuen“ Aktiven auf den Weg?
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Vor 10 Jahren haben Sie die Grünen aus Protest gegen den Atomkonsens verlassen. Bewerten Sie den Konsens und Ihr Austreten im Lichte der neuesten politischen Entwicklung anders?
Finden Sie den heutigen Widerstandsnachwuchs im Vergleich zur ersten Generation der Bewegung angepasster?
Manchmal muss man Zeichen setzen, auch wenn es wehtut. Ich bin dankbar für die 10 Jahre Moratorium, die bei vielen zum Umdenken geführt haben.
Die Jugend ist sehr selbstbewusst und längst nicht mehr so „obrigkeitsgläubig“ wie wir Alten.
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ANzEIgEN
Live dabei:
Die neuen IPPNW-Concerts-CDs Neuerscheinungen 2010 und Mitschnitte aus der Berliner Philharmonie zum 25. Geburtstag von
CD 67 CD 68
Streichquartette von JANÁČEK · HAYDN - Pellegrini-Quartett SCHOSTAKOWITSCH / Cellosonate · SCHUBERT-Trio mit Viviane Hagner, Steven Osborne und Alban Gerhardt
CD 69
Streichquartette von WEBERN · SCHÖNBERG - Breuninger Quartett und Anna Prohaska Klavierquintette und Sextette von BORODIN · GLINKA · SCHOSTAKOWITSCH - Breuninger Quartett, Christine Felsch und Vladimir Stoupel
CD 70/71 CD 72
Symphonien von HAYDN · DORÁTI „Querela Pacis“ - Berner Symphonieorchester unter Andrey Boreyko
Preis pro CD: € 13,00 + Porto +Verpackung
Bestellung: www.ippnw-concerts.de oder per Fax +49-30-8027627
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65 Jahre Hiroshima und Nagasaki: Es ist Zeit.