IPPNW Forum 125/2011 – Die Zeitschrift der IPPNW

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ippnw forum

das magazin der ippnw nr125 märz11 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung

Friedensfilmpreis 2011 Stuxnet und Raketenabwehr 6 Fragen an Dave Sweeney

25 Jahre Tschernobyl: Die gesundheitlichen Folgen.


I PPNW  IPPNW steht für “International Physicians for the Prevention of Nuclear War”. Wir engagieren uns für eine Welt ohne atomare Bedrohung und Krieg, wurden 1985 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet und sind in über 60 Ländern aktiv.

In der IPPNW engagieren sich Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie Medizinstudierende für eine menschenwürdige Welt frei von atomarer Bedrohung. Frieden ist unser zentrales Anliegen. Daraus entwickeln wir unser vielfältiges Engagement. Wir setzen uns ein für die Ächtung jeglicher Kriege, für gewaltfreie, zivile Formen der Konfliktbearbeitung, für den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen und die gerechte Verteilung der Ressourcen sowie für ein soziales und humanes Gesundheitswesen. Dabei leiten uns unser ärztliches Berufsethos und unser Verständnis von Medizin als einer sozialen Wissenschaft. Für eine Welt frei von atomarer Bedrohung Für eine Welt frei von Krieg Für eine Medizin in sozialer Verantwortung

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EdItOrIAl Reinhold Thiel ist Mitglied im Vorstand der IPPNW und engagiert sich besonders im Bereich Strahlenschutz.

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as fällt Dir zu „25 Jahre Tschernobyl“ ein? – Antworten auf diese Frage bekam ich von vielen Menschen, die damals junge Kinder waren, aber auch von älteren Menschen, die damals erwachsen waren. Die Erinnerung an die Katastrophe war unterschiedlich – je nach Alter. Es gab die Erinnerung an h-Milch, Milchpulver und plötzlich fehlendes hanuta. Intensiv in der Erinnerung blieb der Schreck, den damals die Eltern ihren Kindern vermittelten. Eindrücklich geschildert wurde ein paradoxes Erlebnis im Isotopenlabor der Universität Ulm: „Ich bin damals durch den Fallout geradelt, anschließend war ich im Isotopenlabor der Universität Ulm und war so kontaminiert, dass ich eigentlich nicht mehr raus durfte, nur war die Kontamination draußen und drinnen im Isotopenlabor war es sauber.“ Gemeinsam für Jung und Alt bleiben die daraus resultierenden Fragen: „Was wissen wir davon wirklich? – Was haben wir daraus gelernt?“

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iesen Fragen möchten wir im vorliegenden heft zumindest zum Teil nachgehen und damit der Katastrophe gedenken, vor allem des Leids der betroffenen Menschen. Neben Fotos von Robert Knoth finden Sie die eindrücklichen Erlebnisse eines Liquidators, Berichte über die gesundheitlichen und psychologischen Folgen der Katastrophe und ein Interview mit Alexei Yablokov, der 2009 eine umfassende Materialsammlung über die Tschernobylfolgen publiziert hat. Sie erfahren zudem von einer unbürokratischen Tschernobyl-hilfe. Wir hoffen, dass es uns so gelingt, das Bewusstsein für die Katastrophe in Erinnerung zu halten.

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ir richten aber auch den Blick nach vorn. Mit diesem heft führen wir Sie hin zu unserem IPPNW-Kongress „25 Jahre Tschernobyl – Zeitbombe Atomenergie – Atomausstieg jetzt!“ vom 8.-10. April 2011 in Berlin. Dort betrachten wir kritisch alle Facetten der unverantwortlichen Nuklearkette. Dort wollen wir ermutigen und anregen, weiter für unser Ziel: Atomausstieg jetzt! einzutreten – mit Kraft und belebender Phantasie, vor allem aber gemeinsam und mit frischem Mut. Lassen Sie sich also nicht vom aktuellen Regierungskurs zu den Laufzeitverlängerungen entmutigen, melden Sie sich an bei www.tschernobylkongress.de Damit grüße ich Sie herzlich, Reinhold Thiel 3


inhalt Friedensfilmpreis 2011 Manchmal wird es heller

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Themen Friedensfilmpreis 2011............................................................................................8 20 Jahre türkische Menschenrechtsstiftung....................................... 10 Eine Villa im Dschungel? - Uri Avnery zu Ägypten ....................... 11 Cyberwar: Von Würmern und Firewalls..................................................... 12 Wie radioaktiv ist meine Bank ?. ................................................................... 13 Biblis: Die Behörde handelt rechtsfehlerhaft . .................................. 14

Schwerpunkt Fotos von Robert Knoth: Certificate No. 000358/......................... 16

25 Jahre Tschernobyl Erinnerungen eines Liquidators

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A.W. Gudow war Liquidator in Tschernobyl.......................................... 18 Interview mit Alexej Yablokov. ......................................................................... 20 Tödliches Erbe - gesundheitliche Folgen. .............................................. 23 Ein unsichtbares Hindernis - psychologische Folgen................... 26 Sichtbare Zeichen: Das Projekt Heim-statt Tschernobyl........... 27

Welt f & e in Palästina. ........................................................................................................ 28 IPPNW Europa-Treffen........................................................................................... 30

f&e in Palästina Zuhause noch längst nicht vorbei

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Rubriken Editorial. ................................................................................................................................3 Meinung.................................................................................................................................5 Nachrichten........................................................................................................................6 Aktion. ................................................................................................................................. 31 Gelesen, Gesehen...................................................................................................... 32 Gedruckt, Geplant, Termine.............................................................................. 33 Gefragt................................................................................................................................ 34 Impressum/Bildnachweis..................................................................................... 33


Meinung

Dr. Jens-Peter Steffen ist Referent für Friedenspolitik der IPPNW.

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Und wieder hat der Bundestag mit Mehrheit das Mandat deutscher Soldaten für den Krieg in Afghanistan um ein Jahr verlängert.

iesmal erklärt die Bundesregierung, dass sie „zuversichtlich“ ist, „die Präsenz der Bundeswehr ab Ende 2011 reduzieren zu können“. Wohl keiner glaubt, dass mit dieser Ankündigung der Frieden beginnt. Denn jeder Zeitplan stehe „selbstverständlich“ unter einem Vorbehalt, wie der Verteidigungsminister betont. Die „vollständige Übergabe der Sicherheitsverantwortung“ an die Afghanen bis 2014 bedeute, dass „keine Kampftruppen mehr nötig“ seien: Aber „auch nach 2014 muss Deutschland sich für die nachhaltige Sicherheit Afghanistans engagieren.“ Mit welchem Auftrag dann welche Kräfte für die Sicherheit eines Landes sorgen werden, das in direkter Linie zu unserer Sicherheit steht, wie Politik nimmer müde wird zu betonen, können wir nach zehn Jahren Krieg wohl erraten.

So wird sich also am 7. Oktober dieses Jahres die Entsendung deutscher Soldaten an den Hindukusch zum zehnten mal jähren. Und das, obwohl seit langem eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung erheblich an Sinn und Erfolg des Einsatzes in Afghanistan zweifelt. Aber bislang ist die Diskrepanz zwischen Volkes Stimme und politischen Entscheidern für die Politik leicht erträglich, zu wenige Menschen gehen gegen diesen Krieg auf die Straße. Woran mag es liegen, dass dieser Krieg dermaßen „geduldet“ wird? Ich glaube, dass viele, die den Waffenstillstand und den Abzug der Truppen aus Afghanistan fordern, zugleich verunsichert sind, was dann kommt. Ihre Bedenken ehren sie, aus ihrer sicheren Position heraus unverantwortliche Forderungen für die Menschen dort aufzustellen. Eine positive Zukunft Afghanistans zu denken, vorzuformulieren, was aus diesem von Jahrzehnten des Krieges zerrissenen Land werden kann oder soll, stößt uns zugleich auf unsere Mit-Verantwortlichkeit, wie nach dem Abzug des Militärs selbstbestimmter Aufbau und Entwicklung in Afghanistan erfolgen soll. Bei dieser Suche leistet uns die Politik keine Hilfestellung. Den deutschen militärischen Abzug anzukündigen für den Fall, dass die Lage es erlaubt, ist keine Zukunft für Afghanistan. 5


NAchrIchtEN

10. Weltsozialforum in Dakar

Elder Statesmen für andere Politik gegenüber Israel

Kostenlose Friedens-Kurse für Gesundheitspersonal online

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In der Erklärung fordern die ehemaligen Staatsoberhäupter, Minister und EUPolitiker die EU unter anderem auf, die Einfuhr von Produkten zu unterbinden, die aus den besetzten Gebieten stammen, aber als «israelisch» ausgewiesen werden. Darüber hinaus empfehlen sie Sanktionen gegen Israel wegen seiner Siedlungspolitik: «Die EU macht seit Jahrzehnten unmissverständlich klar, dass sie die Siedlungen in den besetzten Gebieten als illegal erachtet, doch Israel baut sie weiter. Wie jedes andere Land sollte Israel für seine handlungen zur Verantwortung gezogen werden. Die Glaubwürdigkeit der EU steht auf dem Spiel.»

Die Kurse wurden von 19 Friedens- und Gesundheitsinitiativen und der Europäischen Kommission entwickelt. Sie richten sich an Gesundheitspersonal und Studenten, die sich für humanitäre, Menschenrechts-, Friedens- oder Entwicklungsarbeit interessieren. Die Teilnehmer lernen nicht nur Wissenswertes über die Vorbeugung zwischenmenschlicher Gewalt, sondern auch über die Stärkung von Menschenrechten und gerechten Strukturen, bis hin zu ziviler Konfliktbearbeitung und der Prävention eines Atomkrieges. Die Bearbeitung eines Kurses dauert etwa 6-10 Stunden.

m Februar trafen sich Vertreter aus den Bewegungen und der Zivilgesellschaft zum zehnten Weltsozialforum in Dakar, Senegal. Die friedlichen Revolutionen in Ägypten und Tunesien sowie der afrikanische Kontext mit seinen eigenen Themen dominierten das Treffen. Dabei war es dem Organisationskomitee gelungen, eine große Bandbreite sozialer Bewegungen und Basisinitiativen Westafrikas zu mobilisieren. Die bestimmenden Themen des Weltsozialforums waren neue und alte Formen des Kolonialismus: Probleme wie Landraub, hunger und Schuldenerlass zogen sich durch viele Veranstaltungen. Die Teilnehmer forderten den Schutz lokalen Saatguts und lokaler Produktion vor Kontrolle der Multis und Agrarsubventionen. Sie kritisierten die Überfischung durch die industriellen Fischfangflotten auf Kosten der familiären Fischereibetriebe. Nicht zuletzt war die Festung Europa mit seinem menschenverachtenden „Grenzschutzregime“ Thema. Vor dem Büro der EUGrenzschutzagentur Frontex protestierten Migranten-Organisationen gegen die europäische Überwachung von Senegals Küsten. Zum Abschluss stellten afrikanische Nichtregierungsorganisationen einen „Konsens von Dakar“ vor. „Afrika besitzt einige der größten Reichtümer, die auf unserem Planeten noch existieren“, heißt es in der fünfseitigen Erklärung. Durch „globale Industrialisierung“ stünden die natürlichen Ressourcen Afrikas vor der Ausplünderung, gleichzeitig wachse die Armut weiter Teile der Bevölkerung.

n einer gemeinsamen Erklärung haben 26 Elder Statesmen aus Europa der EU eine andere Politik gegenüber Israel empfohlen. Unterzeichnet haben den Brief unter anderem der ehemalige deutsche Bundeskanzler helmut Schmidt, der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker und der ehemalige hohe Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU Javier Solana.

In ihrem 12 Punkte umfassenden Papier raten sie zudem, einen Zeitpunkt festzulegen, zu dem die „Angelegenheit dann an die internationale Gemeinschaft weitergeleitet“ werden müsse, wenn Israel seine Politik nicht ändere. Dafür schlagen sie die nächste Sitzung des Rats im April 2011 vor. Der ganze Text (Englisch) ist zu lesen auf http://toibillboard.info/EFLG.let.pdf

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eit Ende Januar kann man im Internet kostenlos sieben Online-Kurse zum Thema „Medical Peace Work“ besuchen. Sie informieren über die Folgen von Krieg und anderen Formen von Gewalt für die Gesundheit von Individuen und Bevölkerungsgruppen. Darüber hinaus wird aufgezeigt, wie Gesundheitspersonal einen eigenen Beitrag zu Friedensstiftung, Gewaltprävention und Konfliktbearbeitung leisten kann.

Projektleiter Dr. med. Klaus Melf vom Gesundheitsamt des Provinzgouverneurs in Troms, Norwegen, erklärt: „Es ist entscheidend, dass Ärzte und anderes Gesundheitspersonal verstehen, wie Menschen physisch und psychisch von Machtmissbrauch und Kriegen beeinträchtigt werden. Viele Gesundheitsberufler wollen mehr tun, als die Verwundeten zusammen zu flicken. Sie wollen ihren Beitrag leisten, um Gewalt zu verhindern und Frieden zu schaffen.“ www.medicalpeacework.org


N achrichten

START-Abkommen in Kraft getreten

Debatte um Trident geht weiter

Schweiz: Mehrheit für AKW Mühleberg

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it der Unterzeichnung durch den russischen Außenminister Sergei Lawrow und US-Außenministerin Hillary Clinton in München ist Anfang Februar das neue START-Abkommen in Kraft getreten. Der Vertrag regelt die Reduzierung der strategischen Waffen beider Länder. Demnach werden sie die Zahl ihrer stationierten strategischen Atomwaffen auf jeweils 1.550 reduzieren, und zusätzlich die Anzahl der stationierten und nichtstationierten Trägersysteme auf jeweils 800 verringern. Das Abkommen war im Dezember 2010 vom US-Senat und im Januar 2011 vom russischen Parlament ratifiziert worden. Mit einem Schreiben an die Präsidenten der USA und Russlands haben die Präsidenten der IPPNW die erfolgreiche Ratifizierung des neuen START-Vertrags gewürdigt. In ihrem Brief heißt es außerdem: „Selbst mit den Reduzierungen, die im Neuen START-Abkommen genannt sind, haben Russland und die USA weiterhin nukleare Arsenale stationiert, mit denen ganze Völker vernichtet werden können, das weltweite Klima zerstört werden kann (...). Es wird uns niemals gelingen, jeden willkürlichen Gewaltakt zu verhindern, aber es liegt ganz und gar in unserer Macht, eine globale nukleare Katastrophe zu verhüten, indem wir die entsprechenden Waffen abschaffen.(...) Wir bitten Sie dringend, (...) sich nun dem Ziel der Vernichtung der letzten Nuklearwaffen in dieser Welt zu widmen. Der sicherste Weg, dieses Ziel zu erreichen, ist (...) eine Nuklearwaffenkonvention.“

ie Modernisierung des britischen Atomwaffensystems „Trident“ wird nochmals überprüft. BASIC, ein britischamerikanischer Think Tank, rief die Idee einer unabhängigen Kommission ins Leben, um die Frage der britischen Atomwaffenpolitik inklusive Trident-Modernisierung kritisch unter die Lupe zu nehmen. Unter dem Vorsitz ehemaliger Außen- und Verteidigungsminister wie Des Browne, Malcolm Rifkind und Menzies Campbell wurde eine Reihe renommierter Experten zusammengerufen. Sie sollen erörtern, welche Atomwaffen- und Abrüstungspolitik Großbritannien betreiben soll, wie viel die Regierung dafür ausgeben will und welche Alternativen bestehen. Unter Gordon Browns Regierung war die Entscheidung für eine Modernisierung der U-Boote für das britische Atomwaffensystem „Trident“ bereits gefallen. Doch aufgrund der Finanzkrise im Vereinten Königreich wurden die Ausgaben in Höhe von 130 Milliarden britischen Pfund wieder in Frage gestellt. Die politische Führung von David Cameron und Nick Clegg konnte sich nicht einigen und verschob die Entscheidung bis 2015. Die Expertenkommission soll sich nun regelmäßig treffen und im Frühjahr 2012 erstmals berichten.

itte Februar wurde in der Schweiz über zwei atomrelevante Themen abgestimmt. Der Kanton Bern stimmte mit einer knappen Mehrheit von 51,2 % dem Bau des AKW Mühleberg zu. Der Kanton Nidwalden dagegen lehnte das Atommülllager Wellenberg klar ab. In der Schweiz sind derzeit sechs Standorte für ein Tiefenlager in der Diskussion. Der Bundesrat will in diesem Herbst entscheiden, welche im Auswahlverfahren bleiben. Mit beinahe 80 % der Stimmen haben die Nidwaldner nun gegen ein Lager für radioaktive Abfälle in ihrer Region gestimmt. Die Entscheidung wurde vom Bund nicht kommentiert.

Zum AKW Mühleberg haben sich die Gemeinden sehr unterschiedlich geäußert. Während die Gemeinde Mühleberg sich mit 61 % für den Bau aussprach, stimmten drei andere dagegen. Die Allianz „Nein zu neuen AKW“ sieht in der knappen Entscheidung einen Beleg dafür, dass in der Bevölkerung ein Umdenken stattfindet. „Der knappe Ausgang der Abstimmung ist ein klares Signal an die restliche Schweiz: Die Akzeptanz für die Atomkraft schmilzt. Politik und Stromwirtschaft müssen endlich ihre Haltung ändern und ihre Strategie auf erneuerbare Energie und Energieeffizienz ausrichten», fordert Jürg Buri, Präsident der Allianz. Die nächste „Atom-Abstimmung“ in der Schweiz findet im Kanton Waadt statt. Auch dabei geht es um eine konsultative Stellungnahme zu den geplanten neuen AKW.

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Manchmal wird es heller Der Friedensfilmpreis 2011

Morgen wird alles besser“ (Jutro bedzie lepiej) heißt der preisgekrönte Friedensfilm der Berlinale 2011. Ein Film über das Schicksal von drei russischen Straßenkindern, die sich auf den Weg nach Westen machen mit der Hoffnung auf ein besseres Morgen. Die polnische Regisseurin Dorota Kedzierzawska erzählt ihren Film nach einer wahren Begebenheit. „Dies ist eine Geschichte von zwei Brüdern, die Straßenkinder in Russland waren. Ich habe dazu eine Radiosendung in Polen gehört, wo Leute eingeladen wurden, anzurufen und sich zu der Geschichte zu äußern. Leider ist es geschehen, dass die Hälfte der Anrufer für die Abschiebung der Jungen waren, was mich sehr empört hat. In diesem Moment habe ich entschieden, über diese Geschichte einen Film zu machen.“

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traßenkinder – weltweit sind es wohl mehr als 30 Millionen. In Russland, woher die drei kleinen Helden des Films stammen, betrug ihre Zahl 2007 laut russischem Innenministerium rund 730.000, ein Fünftel davon Waisen, vier Fünftel Kinder, deren Eltern sich nicht um sie kümmern und sie sich selbst überlassen. Auch in Deutschland leben geschätzt 20.000 Kinder auf der Straße. Und erst im vergangenen Jahr wurde hierzulande die UN-Kinderrechtskonvention vollständig in deutsches Recht übernommen – ohne den bis dahin bestehenden Vorbehalt gegenüber Flüchtlingskindern. Und Pro Asyl mahnt die Umsetzung der Konvention in Rechtsund Verwaltungspraxis bis heute an.

In der Begründung der Jury für die Preisvergabe an „Morgen wird alles besser“ heißt es:

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rei Könige der Hoffnung. Drei russische Straßenkinder machen sich auf den Weg: Sie verlassen die Bahnhofsbänke unter denen sie schlafen – hungrig, ungewaschen und immer umdrängt von den alltäglichen, beißenden Bedrohungen. Aber sie halten einander fest. Zwei Brüder und der Ältere, irgendwo in einer anderen Welt leuchtet die Hoffnung, die auf sie wartet. Und sie werden zurückkehren: Als Könige. Mit eindringlichen und poetischen Bildern erzählt die polnische Regisseurin Dorota Kedzierzawska dieses so bittere Märchen unserer heutigen Realität. Mit den Augen der Kinder entlarvt sie die harte Welt der Erwachsenen und der von ihnen gezogenen Grenzen. Und Pedya, der Sechsjährige, durchleuchtet die Welt – direkt ins Herz. Die feierliche Preisverleihung und Vorführung des Friedenfilms fand am 20. Februar im überfüllten Berliner Kino Babylon statt. Jasmin Tabatabei, deutsch-iranische Schauspielerin und Autorin hielt die Laudatio auf einen Film, der zugleich mit dem schweren Schicksal der Straßenkinder auch deren Mut, Gewitzheit und unerschütterbare Hoffnung auf ein besseres Morgen zeigt. Auf einen Film, dessen ausgezeichnete künstlerische Qualität seine Bilder ebenso wie seine Botschaft noch länger in den Herzen und Gedanken der Zuschauer fortwirken lassen wird – weit über die zuende gegangene Berlinale hinaus. 8

Ein Puzzle, zusammengesetzt aus Menschen, ihren Träumen und Hoffnungen, ihren Geschichten und Erzählungen. Und natürlich aus ihren Bildern: Das waren die Internationalen Filmfestspiele Berlin im Februar 2011. Eines der Puzzle-Teile war wieder der Friedensfilmpreis, seit 26 Jahren Bestandteil der Berlinale und weltweit der einzige Friedenspreis auf einem A-Filmfestival.

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eniger Glanz, weniger Glamour, weniger Blitzlichter – der Friedensfilmpreis ist ein stiller Preis. Dennoch ist er seit 1986, als die Verantwortlichen des Festivals damals diesen neu ausgelobten Preis noch indigniert und naserümpfend zurückweisen wollten, zu einer weithin beachteten Auszeichnung geworden. Längst ist der Friedensfilmpreis für die preisbedachten Filmemacherinnen und Filmemacher zugleich Würdigung, Ehrung und Stimulans, weiterhin engagierte, politische Filme zu schaffen. Die siebenköpfige Jury begutachtete rund 40 Filme aus allen Berlinale-Sektionen, einschließlich Kinderfilm. Ihre wichtigsten Bewertungskriterien: Die Friedensbotschaft, das soziale Engagement, die ästhetische Umsetzung des Filmthemas. Es war für die Jurorinnen und Juroren ein wenig wie bei Jules Verne. Eine Reise um die Erde – aber in zehn Tagen. Mit Filmen, die Kopf und Herz erreichen, die Menschen bewegen. „Ich glaube an die Kraft von Filmen, ihre Wirksamkeit in der Gesellschaft. Filme werden keine Kriege verhindern können. Aber sie können als


© Berlinale

Seismographen für gesellschaftliche Zustände fungieren“, sagte der junge Regisseur Robert Thalheim 2009 als Laudator des Friedensfilmpreises.

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ngesichts der jüngsten aufregenden Ereignisse in Ägypten erscheint ein 2006 auf der Berlinale gezeigter Film wie ein solcher Seismograph für Zorn, Verzweiflung und überfällige Veränderung. Marawan Hamed drehte „The Yacoubian Building“ nach dem gleichnamigen Erfolgsroman des Kairoer Zahnarztes Ala al-Aswani. Am Beispiel der Bewohner eines Wohnhauses in der Kairoer Innenstadt werden viele jener sozialen und gesellschaftlichen Konflikte und brutalen Menschenrechtsverletzungen gezeigt, von denen hierzulande vor den jüngsten revolutionären Ereignisse nie die Rede gewesen war. Dieser Film hat die Augen über das Urlaubsland am Nil geöffnet.

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ie subversive Kraft und Wirkungsmacht von Filmen zeigt sich nicht zuletzt in der Angst der Machthaber vor diesem Medium, in ihrem erbarmungslosen Vorgehen gegen Filmschaffende. Beispiel dafür ist der iranische Filmemacher Jafar Panahi, dessen Stuhl in der Berlinale-Jury, wie auch schon im Sommer beim Filmfestival in Cannes, leer blieb. Panahis bisherige Filme sind genaue Beschreibungen vom Alltag der kleinen Leute, von der Situation von Frauen, von sozialen Problemen einzelner, in ihnen schwingt leise die Sehnsucht nach Glück und nach einem selbst bestimmten Leben. Im letzten Jahr wurde er, wie auch sein Kollege Mohammad Ra-

soulof, zu 6 Jahren Haft und 20 Jahren Arbeits- und Reiseverbot verurteilt - nicht etwa wegen eines fertig gestellten Films, dessen Inhalt sich offen gegen die im Iran Herrschenden gerichtet hätte. Die Furcht vor den Inhalten und den Wirkungen eines Filmes, der gerade erst als Idee existierte, hatte die Iranische Regierung zu diesem brutalen Schritt veranlasst. Panahis Botschaft an die Berlinale klingt wie die Skizze einer Kultur des Friedens, der die IPPNW sich verpflichtet fühlt: „In meinen Träumen schreie ich nach einer Zeit, in der wir uns gegenseitig tolerieren und unsere jeweiligen Meinungen respektieren, in der wir füreinander leben können.“ Die Friedensfilmpreis-Gruppe hat mit einer vielbeachteten Plakataktion „Wo bleibt Jafar Panahi?“ die klare und solidarische Haltung der Berlinale-Leitung verstärkt. Friedensfilme zeigen in großer inhaltlicher und künstlerischer Bandbreite die Probleme dieser Welt. Viele stellen uns Menschen vor, die in großen und kleinen Taten zur Lösung dieser Probleme beitragen. Soziale Spaltung, Hunger, sauberes Wasser, Verletzung der Menschenrechte, die Schrecken des Krieges und das Aufleuchten des Friedens: Unvermittelt sind dem Zuschauer scheinbar ferne Menschen und Welten ganz nah, er fühlt mit und sieht als Folge genauer auf die eigene Welt. Jeder der bislang ausgezeichneten Filme, auch der jetzt ausgezeichnete Film „Morgen wird alles besser“ ist ein erster Schritt aus dem bewegungslosen Schweigen, dem Vergessen und der Gleichgültigkeit. 9

Friedensfilme brauchen und verdienen ein zahlreiches Publikum. Bislang sind im Trägerkreis des Friedensfilmpreises die Friedensinitiative Zehlendorf, die IPPNW, die Heinrich-Böll-Stiftung und als Gast das Internationale Auschwitz Komitee versammelt – mehrere andere Organisationen haben ihr Interesse an Mitwirkung und Unterstützung angemeldet. So geht das bemerkenswerte Projekt Friedensfilmpreis in vielversprechende Verhandlungsrunden, produktive Veränderungen und viele weitere Berlinale-Tage.

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nd, auf ein Wort, liebe IPPNW-Mitglieder und -FreundInnen: Gehen Sie ins Kino, gerade auch in die Vorstadtund Programmkinos, die um ihre Existenz ringen. Hier gibt es vielleicht kein Popcorn, aber hier werden jene Filme gezeigt, die gute Unterhaltung mit hoher künstlerischer Qualität bieten. Das verspricht ein anregendes, nachdenkliches, mutmachendes Kinoerlebnis: Es ist dunkel, Geschichten werden erzählt, es wird hell – manchmal heller als vorher. Information unter www.friedensfilm.de

Ulla Gorges ist Projektkoordinatorin des Friedensfilmpreises für die IPPNW, Christoph Heubner ist Sprecher der Jury.


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Yavus Önen (3. v.l.) und Dr. Alp Ayan (l.) bei ihrem Besuch in Berlin

Das Verbot ist absolut

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20 Jahre türkische Menschenrechtsstiftung TIHV würden zu Tätern. Ihnen gehe das Mitfühlen und die Bedeutung des Unmoralischen ab. Auf diese Weise seien Folterstrukturen weltweit verbreitet.

ie türkische Menschenrechtsstiftung hat einen 20-jährigen und schwierigen Kampf gegen Folter und für die grundlegenden Menschenrechte in ihrem Land hinter sich. Diesen wichtigen Tag feierte sie gemeinsam mit Menschen, die sie über Jahre bei diesem Kampf unterstützt haben und ihre Solidarität bewiesen haben. Viele von ihnen haben seit 1991 an jährlichen Delegationsreisen in die Türkei, Prozessbeobachtungen, Fachtagungen und kollegialem Austausch teilgenommen.

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ls inakzeptabel und als inhumane, unmenschliche und erniedrigende Behandlung beschrieb Hammarberg auch die Interviews im Rahmen der Asylverfahren in Deutschland: die Unfähigkeit der Menschen zu sprechen, die ablehnenden Entscheidungen der Behörden, die langjährige Duldung, die Abschiebung von Asylbewerbern in ihre Herkunftsländer, die Angst dieser Menschen vor erneuter Verfolgung und Folter. Diese Missstände sieht er ebenso in anderen Ländern der EU und hofft auf eine positive Entwicklung durch die Rückführungsrichtlinie der EU von 2009. Auch die fehlende Gesundheitsversorgung bei Menschen ohne Papiere und der fehlende Zugang zu Bildung für ihre Kinder prangerte er an. Die Verantwortlichkeit hierfür liege bei den entsprechenden Ländern. Eindringlich rief er dazu auf, Folter und andere Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und den Verantwortlichen ein Gefühl zu vermitteln, was durch Gleichgültigkeit und Abstumpfung mit den betroffenen Menschen passiere – auch innerhalb der Gesellschaften.

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ns VertreterInnen der IPPNW verbindet eine nunmehr 14-jährige Freundschaft mit der türkischen Stiftung, besonders mit dem Zentrum in Izmir. Anfangs waren wir regelmäßig zu Prozessbeobachtungen dort, weil Kollegen wegen ihres Engagements in jahrelangen Gerichtsverhandlungen bedroht und zermürbt wurden. Highlights unserer gemeinsamen Arbeit waren sicher die Verleihung des Clara Immerwahr Preises an Osman Murat Ülke und der Besuch des Präsidenten Yavuz Önen und des Psychiaters Dr. Alp Ayan in Berlin, wo sie mit Bundestagsabgeordneten über die Gefahren der Retraumatisierung bei Abschiebung traumatisierter Flüchtlinge sprachen. Nicht zuletzt ist die Menschenrechtsstiftung auch für unsere StudentInnen im Rahmen des Austauschprogramms „famulieren & engagieren“ ein sehr wichtiger Partner.

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inig waren sich die TeilnehmerInnen, dass die Arbeit des TIHV auch nach 20 Jahren nicht beendet ist. In vielen Punkten ist die türkische Menschenrechtsstiftung dabei ein Vorbild für andere Menschenrechtsorganisationen. Insbesondere die Schulung von ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen, von PolizistInnen und JuristInnen zum Istanbul-Protokoll, zum Nachweis und den Folgen von Folter, sind beispielhaft und nachahmenswert und finden in der Türkei inzwischen mit Unterstützung des Gesundheitsministeriums und der Ärztekammer statt. Pünktlich zum Jubiläum konnte außerdem die englische Übersetzung des Folter-Atlasses fertig gestellt werden – eine Arbeit, die u.a. durch Spenden aufgrund einer Anzeige im Deutschen Ärzteblatt möglich wurde.

In ihrem Rückblick auf 20 Jahre erinnerte die Präsidentin des TIHV, Dr. Sebnem Korur Fincanci, an Anklagen, Folter, Inhaftierungen und Gerichtsverhandlungen gegen einzelne Mitglieder des TIHV, den Kampf gegen Folter und für Folteropfer, sowie die weitere Entwicklung bis zum heutigen Tag. In seiner sehr eindringlichen und menschlichen Art erinnerte Thomas Hammarberg, Kommissar für Menschenrechte beim Europarat, daran, dass Folter sowie grausame, inhumane und erniedrigende Behandlung oder Bestrafung nach internationalem Gesetz verboten sind: „Das Verbot ist absolut und keine Ausnahmen sind erlaubt, niemals.“ Seit den UN-Menschenrechtsverträgen und der Genfer Konvention sind Folter und Menschenrechtsverletzungen verboten. Sie sind nicht nur inakzept abel, sie müssen auch aufgeklärt werden. Mittlerweile sei jedoch festzustellen, so Hammarberg, dass das Bewusstsein für unmoralische Handlungen sinke. Vieles werde als „normal“ und nicht mehr als unmoralisch wahrgenommen. Staaten machten sich zu Komplizen und Befehlsempfänger

Links: www.tihv.org.tr www.tuerkeiforum.net

Dr. Waltraut Wirtgen und Dr. Gisela Penteker sind beide seit 1983 in der IPPNW aktiv. 10


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Eine Villa im Dschungel? Uri Avnery zur Lage in Ägypten

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Ein Diktator kann geduldet werden, wenn er die nationale Würde widerspiegelt. Aber ein Diktator, der nationale Schande symbolisiert, ist ein Baum ohne Wurzeln – jeder starke Wind kann ihn umstürzen. Für mich war die einzige Frage, wo in der arabischen Welt es zum Aufstand kommen wird. Nun findet also die große arabische Revolution in Ägypten statt. Wenn Tunesien ein kleines Wunder war, ist Ägypten ein großes Wunder.

in Erdbeben epochalen Ausmaßes verändert gerade die Landschaft unserer Region. Berge werden zu Tälern, Inseln tauchen aus dem Meer auf, Vulkane bedecken das Land mit Lava. Die Menschen haben Angst vor Veränderung. Wenn sich etwas verändert, neigen sie dazu, es zu leugnen, zu ignorieren, so zu tun, als ob nichts wirklich Wichtiges geschieht. Die Israelis sind hier keine Ausnahme. Während die weltbewegenden Ereignisse im Nachbarland Ägypten stattfanden, war Israel tief beschäftigt mit einem Skandal um den Generalstab der Armee. Das waren die Schlagzeilen. Aber was jetzt in Ägypten passiert, wird unser Leben verändern.

Die Ägypter, die man auf den Straßen, in den Häusern der intellektuellen Elite und in den Gassen der Ärmsten der Armen trifft, sind unglaublich geduldig. Sie sind mit einem unbezwingbaren Sinn für Humor gesegnet. Sie sind auch sehr stolz auf ihr Land und ihre achttausendjährige Geschichte. Für einen Israeli, der sich an seine aggressiven Landsleute gewöhnt hat, ist die fast völlig fehlende Aggressivität unter Ägyptern erstaunlich. (...)

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ie üblich sah niemand die Ereignisse voraus. Der Mossad war genauso überrascht wie die CIA und alle anderen berühmten Dienste dieser Art. Doch überraschend war der Ausbruch letztendlich nicht – mit Ausnahme der unglaublichen Kraft, die ihm innewohnt. In den letzten Jahren wurde immer wieder beschrieben, dass zahlreiche Jugendliche in der ganzen arabischen Welt mit einer tiefen Verachtung für ihre Regierungen aufwachsen und diese Tatsache früher oder später zu einem Aufstand führen werde. Das war keine Weissagung, sondern eine vernünftige Analyse der Wahrscheinlichkeiten.

Wenn sich in Ägypten etwas bewegt, folgt die ganze arabische Welt. Unabhängig davon, wie die unmittelbare Zukunft Ägyptens aussehen wird – Demokratie oder eine militärische Diktatur – es ist nur eine kurzfristige Frage, bevor die Diktatoren überall in der arabischen Welt umgestürzt werden und die Massen eine neue Realität aufbauen – eine ohne Generäle.

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Die Unruhen in Ägypten wurden durch wirtschaftliche Faktoren verursacht: steigende Lebenshaltungskosten, Armut, Arbeitslosigkeit und die Hoffnungslosigkeit der gebildeten Jugend. Aber lassen wir uns nicht täuschen – die grundlegenden Ursachen liegen weit tiefer. Man kann sie in einem Wort zusammenfassen: Palästina.

lles, was die israelische Regierung in den letzten 44 Jahren der Besatzung oder in den 63 Jahren seiner Existenz gemacht hat, ist überkommen. Wir stehen vor einer neuen Realität. Wir können sie ignorieren und behaupten, dass wir - laut des berühmten Ausdrucks von Ehud Barak – „eine Villa im Dschungel“ sind oder unseren eigenen Platz in der neuen Realität finden. Frieden mit den Palästinensern ist kein Luxus mehr. Es ist eine absolute Notwendigkeit.

Nichts wiegt in der arabischen Kultur schwerer als die Ehre. Die Menschen können Mangel leiden, aber sie werden keine Demütigung erdulden.

Wir brauchen Frieden jetzt – Frieden mit den Palästinensern, Frieden mit den demokratischen Massen in der arabischen Welt, Frieden mit den gemäßigten islamischen Kräften und Frieden mit denjenigen, die schon bald in Ägypten und überall eine Führungsrolle übernehmen werden.

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och was jeder junge Araber von Marokko bis Oman täglich sah, waren Regierungen, die sich selbst demütigen, indem sie ihre palästinensischen Brüder für Gunst und Geld aus Amerika im Stich ließen. Regierungen, die mit der israelischen Besatzung zusammenarbeiten und sich vor den neuen Kolonialisten krümmen. Dies war zutiefst demütigend für die jungen Menschen, die mit Stolz auf die Errungenschaften der arabischen Kultur und den Ruhm der ersten Kalifen erzogen worden waren. Nirgendwo war dieser Ehrverlust deutlicher als in Ägypten, das so offensichtlich mit der israelischen Regierung zusammenarbeitete, die dem Gazastreifen eine beschämende Blockade auferlegt und 1,5 Millionen Araber zu Unterernährung und Schlimmerem verurteilt hat. Diese Blockade war nie nur israelisch, sondern israelisch-ägyptisch und wurde jährlich mit 1,5 Milliarden amerikanischen Dollars geschmiert.

Gekürzte Version. Der vollständige Artikel von Uri Avnery z.B. in „der Freitag“ vom 17. Februar 2011.

Uri Avnery ist israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist und war insgesamt zehn Jahre Abgeordneter der Knesset. 11


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Von Würmern und Firewalls Warum technische Lösungen keine sind

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eutzutage reicht es nicht aus, viel Hardware zu besitzen, um einen Krieg zu gewinnen. Auf dem modernen Schlachtfeld sind Kommunikation sowie die Überwachung derselben lebenswichtig. Bewaffnete unbemannte Überwachungsflugzeuge werden per Fernsteuerung aus Kontrollzentren auf der anderen Seite des Globus gesteuert. Dafür braucht man Software, die wiederum für Viren, Trojaner und Würmer anfällig ist. Somit kommt eine neue Ebene der Kriegsführung ins Spiel: Cyberwar. Aber Cyberwar ist nicht nur auf ein reales Schlachtfeld beschränkt. Neulich berichtete die New York Times über ein Novum: Es bestehe der Verdacht, dass Israel und die USA mit Hilfe eines Schadprogramms (Malware) die Computersteuerung einer iranischen Atomanlage gestört haben. Iran bestätigte im September 2010 eine Cyberattacke mit dem „Stuxnet“-Virus auf über 30.000 Rechner in iranischen Industrieanlagen, die auch Teile des Atomprogramms beschädigte. Der Computerwurm soll speziell für eine Computersteuerung der Firma Siemens gebaut worden sein. Er wurde weltweit in Computersystemen gefunden, allerdings hauptsächlich im Iran. Die US-Firma Symantec, ein Hersteller von Anti-Viren-Software, hat den Code des Schadprogramms entschlüsselt. Dieser bewirkt, dass in der Computersteuerung eingebaute Befehle Frequenzumwandler aussenden, die die Rotationsgeschwindigkeit von Gas-Ultrazentrifugen zur Uranan-

reicherung verändern. Der Bericht in der New York Times behauptet zudem, dass das Programm Informationen über den Normalbetrieb in der Anlage aufnahm und diese Bilder auf Kontrollbildschirme zurück spielte, so dass der Schaden zunächst unbemerkt blieb. Der scheidende Chef des Mossad, Meir Dagan, kündigte am 7. Januar 2011 an, dass der Iran nun erst 2015 in der Lage sein könnte, Atomwaffen zu bauen. Hinter geschlossenen Türen wurde gejubelt. Man hatte das Atomprogramm der Iraner verzögert, ohne den unpopulären Einsatz von Bomben. Aber ist diese Art von Kriegsführung wirklich harmlos?

über die Urananreicherungsanlage bekommen hatten, wahrscheinlich durch die Internationale Atomenergiebehörde IAEA. Folglich wird Iran die Zusammenarbeit mit der IAEA vermutlich reduzieren, wenn nicht ganz einstellen. Ohne solche Inspektionen wird es jedoch schwer zu prüfen, was tatsächlich im Atomprogramm läuft und wie bisher festzustellen, dass Iran kein Atomwaffenprogramm durchführt. 3. Iran wird nach diesem „Erstschlag“ viel defensiver werden, vor allem in den Verhandlungen über sein Atomprogramm. Warum sollte das Land jetzt kompromisswilliger sein, wenn das Gegenüber sich aggressiv verhält?

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ary Sick, ehemaliger Berater im Nationalen Sicherheitsrat der USA unter Jimmy Carter und Iran-Kenner, schreibt in seinem Blog „Gary’s Choices“ über die möglichen Auswirkungen dieser Attacke auf das iranische Atomprogramm. Er ist der Meinung, dass die Anwendung von „Stuxnet“ mehr Schaden anrichtet, als nur in iranischen Zentrifugen. Es gibt folgende mögliche Auswirkungen:

4. Das Risiko steigt, dass der Iran zurück schlägt. In den USA, Israel oder überall, wo es US-amerikanische Interessen gibt, stehen viele mögliche Ziele, seien es Staudämme, Kraftwerke, Raffinerien, Wasser- , Gas- und Stromversorgungswerke oder Atomanlagen. Zwar sind die USA in konventioneller Kriegsführung dem Iran überlegen, aber bei Cyberwar sind die Verhältnisse eher gleich.

1. Das Einschleusen des Wurms war wahrscheinlich die erste staatlich finanzierte und gezielte Cyberattacke in der Geschichte. Geheime Kriegsführung unter Anwendung von Cyberwaffen wurde damit salonfähig.

5. Wenn man davon ausgeht, dass der Iran bisher kein Atomwaffenprogramm hat, sondern höchstens die künftige Option auf Atomwaffen durch Urananreicherung erwerben will, könnte sich diese Politik durch „Stuxnet“ geändert haben. Die Hardliner, die für den Bau von Atomwaffen argumentieren, werden gestärkt und Reformer im Land geschwächt.

2. Darüber hinaus wurde deutlich, dass die USA und Israel sehr viel Informationen 12


© BuridansEsel_flickr

Cyberwar: Ist die neue Art der Kriegsführung wirklich harmlos?

6. Die Cyberattacke sowie das Töten von iranischen Atomwissenschaftlern hat direkte Folgen auf die Menschenrechtslage im Lande. Die Regierung kann keinem vertrauen, es herrscht mehr Paranoia und Repression als zuvor.

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er Vorschlag, man solle das iranische Atomprogramm lieber sabotieren als bombardieren, soll laut Wikileaks und der britischen Zeitung The Guardian von Volker Perthes von der Stiftung Wissenschaft und Politik stammen. Dennoch ist die Idee der Sabotage gewiss viel älter als dieser Rat vom Nahostexperten Perthes. Bereits im Januar 2009 berichtete die New York Times von einem heimlichen Programm unter der Bush-Regierung, als Alternative zu einer Bombardierung die Computersysteme in Natans zu sabotieren. Israel hatte seinerzeit massiven Druck auf die USA ausgeübt, Militärschläge gegen die Anreicherungsanlage zu bewilligen. Die USA haben dies laut NYT entschieden abgelehnt. Präsident Obama soll von diesem Programm bei seinem Amtsantritt gewusst und seine Entwicklung beschleunigt haben. Auch kursieren Berichte, dass der „Stuxnet“-Wurm einen Unfall im iranischen Bushehr-Reaktor auslösen könnte, der im Sommer 2011 in Betrieb gehen soll. US-Wissenschaftlerin Cheryl Rofer schreibt in ihrem Blog, dass ein von den Russen befürchtetes „iranisches Tschernobyl“ wegen des Stahlsicherheitsbehälters über Bushehr zwar nicht mög-

lich sei, aber eine Kernschmelze vom Typ „Three-Mile-Island“ schon.

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mmer häufiger wird versucht, Sicherheitsproblemen mit technischen Lösungen zu begegnen, statt mit Verhandlungen oder Vertrauensbildung. Beispiel Raketenabwehr: Seit Reagans SDI (Strategic Defense Initiative, auch als „Star Wars“ bekannt) in den 80er Jahre sehnen sich die US-Amerikaner nach einem Garant der Unverletzbarkeit, den es gar nicht geben kann. 1986 in Reykjavik torpedierte SDI die Idee der gemeinsamen Sicherheit, die Gorbatschow von Olaf Palme, Egon Bahr und Willy Brandt übernommen hatte. Er wollte die Abschaffung aller Atomwaffen (jetzt „Global Zero“ genannt) bis zum Jahr 2000 mit Reagan vereinbaren. Aber Reagan bestand auf seiner „Firewall“. Ähnliches ist bei den jetzigen START-Verhandlungen mit Russland über strategische Atomwaffen geschehen. Als Obama ins Amt kam, hielten es alle für ein Kinderspiel, die Zahl der Atomwaffen auf den Ist-Stand (je 1.550 stationierte Atomwaffen langer Reichweite) in einem Vertrag festzulegen. Und dennoch kam die Raketenabwehr dazwischen. Trotz der Uneinigkeiten über Größe und Reichweite eines Raketenabwehrsystems in Europa wurde der START-Vertrag inzwischen von beiden Parlamenten ratifiziert. Das ist sehr wichtig, denn er schreibt Kontrollmechanismen fest, die für die weitere Abrüstung notwendig sind. Und es soll weitere Abrüstung geben, sagen alle. Nur 13

die Frage der Raketenabwehr und die konventionelle Überlegenheit der USA stehen noch im Weg.

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nsere Fixierung auf technische Lösungen für unsere Sicherheitsprobleme ist hausgemacht. Es gibt keine Industrie, die durch Verhandlungen und Vertrauensbildung einen Gewinn erzielt. Raketenabwehr und Cyberwaffen bringen aber mächtig viel Gewinn, ohne das ursprüngliche Problem zu lösen. Man braucht immer mehr Updates. Sie funktionieren nicht zu 100 %, d.h. die Raketenabwehr kann – wenn überhaupt – nur einen Teil der angreifenden Raketen stoppen. Und der Computerwurm erzeugt zwar einen Schaden, kann aber das Atomprogramm nicht ganz zerstören. Daher braucht man immer noch Waffen und Trägersysteme und, falls sie das Problem nicht lösen können, als „letzte Option“ auch die Atomwaffen. Kurz gesagt: Cyberwar und Raketenabwehr sind nur weitere Stufen einer Gewaltspirale. Letztendlich müssen wir unsere Sicherheit anders gewährleisten.

Xanthe hall ist Referentin für Atomwaffen und Internationale Kampagnen der IPPNW.


© Urgewald

atomenergie

Wie radioaktiv ist meine Bank? Über das atomare Geschäft deutscher Banken

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„Wir stellen fest, dass sich immer mehr Verbraucher dafür interessieren, ob und wie ihre Bank Atomunternehmen unterstützt“, erklärt Heffa Schücking, Geschäftsführerin von urgewald. Zu den größten Atomkunden der Deutschen Bank zum Beispiel gehören E.ON, der französische Energieversorger EDF und British Energy. British Energy gehören acht Atomkraftwerke in Großbritannien und das Unternehmen möchte neue bauen. Der französische Staatskonzern EDF kann seinerseits sehr schlecht mit Kritik umgehen: Er ließ jahrelang Greenpeace-Mitarbeiter gezielt überwachen. Neben den anderen drei großen Energieversorgern in Deutschland RWE, Vattenfall und EnBW gehört auch Areva zu den Kunden der Deutschen Bank. 2007 erhielt Areva unter anderem von der Deutschen Bank einen Kredit, mit dem der Konzern das südafrikanische Unternehmen Uramin aufkaufte, um seine Uranaktivitäten in Afrika auszuweiten. Das lässt nichts Gutes ahnen, denn bei seinen bisherigen Uranabbauaktivitäten in Niger hinterlässt Areva ein verstrahltes Erbe.

tomkraft ist nicht nur gefährlich, sie ist auch teuer. Die Kosten machen der Atomindustrie zu schaffen. Neubauten gibt es nur dort, wo die Regierungen den Atomausbau massiv fördern wie in Südostasien, oder wo es langfristige Abnahmeverträge mit festen Preisen gibt, wie in Finnland. Wo das fehlt, gestaltet sich die Realisierung von Atomprojekten äußerst schwierig, das zeigen Beispiele in Bulgarien und Rumänien. Dort versuchen die Regierungen seit Jahren erfolglos, Finanzen und Investoren für den Bau von Atomkraftwerken zu finden.

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eld ist also ein entscheidender Faktor für die Atomindustrie. Banken, die ihr mit Finanzdienstleistungen helfen, hängen dies jedoch nicht an die große Glocke. Zumal in Deutschland, wo die Atomenergie eher unbeliebt ist. Um trotzdem zu erfahren, welche Banken zu den wichtigsten Helfershelfern der Atomindustrie gehören, haben im vergangenen Jahr europäische Umweltorganisationen dies recherchieren lassen. Im Fokus standen 80 Firmen, die der weltweiten Nuklearindustrie zuzurechnen sind: vom Uranabbau, der Brennelemente-Produktion, bis hin zum Reaktorbau, -betrieb und dem Management radioaktiver Abfälle.

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ie Landesbanken als Zentralinstitute der Sparkassen sind ebenfalls treue Geldgeber der Atomindustrie, wenn auch in geringerem Maße als die großen Privatbanken. Besonders tut sich dort die Bayerische Landesbank hervor, die gemeinsam mit anderen Banken dem finnischen Unternehmen TVO mehrere Kredite für den Bau des Atomkraftwerks Olkiluoto 3 gab.

Herausgekommen ist dabei die englische Webseite: „Nuclear Banks – No Thanks!“ www.nuclearbanks.org, die die Atomfirmen und ihre Hausbanken vorstellt. Bei den untersuchten Transaktionen handelte es sich um Firmenkredite, revolvierende Kredite, Ausgabe und Besitz von Anleihen, Ausgabe und Besitz von Aktien, Projektfinanzierungen sowie andere Finanzprodukte. Die Top Ten internationaler „Atombanken“ werden angeführt von französischen, britischen und amerikanischen Banken. Von den deutschen Banken schafft es die Deutsche Bank auf Platz sieben.

Neben der ‚Negativrecherche‘ zeigt die Broschüre auch Alternativen und bietet Informationen zu GLS Bank, Triodos Bank, Umwelt- und Ethikbank. Diese vier Banken schließen Atomfinanzierungen explizit aus. Denn nicht nur mit der Wahl des Stromanbieters, auch mit der Wahl seines Finanzinstituts kann man heute der Atomkraft ganz persönlich den Rücken kehren. Eins sollte klar sein: Wer nicht möchte, dass sein Geld in die Hände der Atomindustrie gerät, sollte mit seinem Konto und Geldanlagen zu einer der nicht-radioaktiven Banken wechseln. Die Broschüre kann telefonisch (02583/1031) oder über die urgewald-Webseite bestellt werden: www.urgewald.de

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ie ist jedoch nicht die einzige deutsche Bank, die Geschäfte mit der Atomindustrie tätigt. Deshalb hat urgewald speziell das Engagement deutscher Banken in der Verbraucherbroschüre „Wie radioaktiv ist meine Bank?“ vorgestellt. Platz Eins belegt die Deutsche Bank, die zwischen 2000 und 2009 die Atomindustrie mit Finanzdienstleistungen über 7,8 Mrd. Euro unterstützt hat. Ihr folgen die Commerzbank mit 3,9 Mrd. Euro und die UniCredit/Hypovereinsbank mit 2,3 Mrd. Euro Unterstützung.

Regine Richter ist Mitarbeiterin von urgewald. 14


atomenergie

Die Behörde handelt rechtsfehlerhaft Henrik Paulitz befragt den Ex-Leiter der Bundesatomaufsicht zu Biblis

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gungen widerrufen werden oder nachträgliche Auflagen erlassen werden können, wenn die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Schadensvorsorge nicht mehr gegeben ist. Wenn die hessische Behörde davon ausgeht, dass die nach Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge nur für neu genehmigte Anlagen gewährleistet sein muss, handelt sie rechtsfehlerhaft.

eit 2008 klagt die IPPNW auf Stilllegung des Atomkraftwerkblocks Biblis B. Die Behörde ist in der Defensive und kündigte zwischenzeitlich eine Korrektur ihres Bescheids an. Es ist die Aufgabe der Verwaltungsgerichte, Entscheidungen von Behörden zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Bei Entscheidungen über Atomanlagen halten sich die Gerichte unter Verweis auf die komplizierten technischen Sachverhalte aber gerne zurück. Das könnten nur die Behörden selbst beurteilen, argumentieren sie, obwohl diese die Bewertungen faktisch meist auf „den TÜV“ abwälzen. Am TÜV wiederum sind mehrere Atomkonzerne beteiligt.

Paulitz: Bei einer „Gefahr“ muss ein Atomkraftwerk stillgelegt werden. Stellen Sicherheitsdefizite im Bereich der Störfallbeherrschung eine Gefahr im atomrechtlichen Sinne dar? Und liegt eine Gefahr vor, wenn der Stand von Wissenschaft und Technik nicht mehr eingehalten wird?

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ei der Biblis-Klage der IPPNW geht es aber in erster Linie gar nicht um komplizierte technische Fragen. Die Atombehörde gibt schließlich zu, dass der vom Atomgesetz geforderte technische Sicherheitsstandard nicht eingehalten wird. Die Behörde gibt mit der „Nachrüstliste“ vom 3. September 2010 ferner zu, dass in Biblis B eigentlich ganz erheblicher Nachrüstungsbedarf besteht, der aber nicht realisiert werden wird. Gegenstand der Klage sind also in erster Linie rechtliche Auseinandersetzungen über die zutreffende Auslegung des Atomgesetzes im Lichte des Kalkar-Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Hier ist der Verwaltungsgerichtshof gefordert, sich mit der umfangreichen rechtlichen Argumentation der Klage auseinanderzusetzen.

Renneberg: Die Störfallbeherrschung muss jederzeit gewährleistet sein. Inwieweit Abweichungen vom Stand von Wissenschaft und Technik eine Gefahr darstellen können, muss im Einzelfall beurteilt werden. Insbesondere dann, wenn die Störfallbeherrschung nicht gewährleistet ist, liegt immer eine Gefahr vor. Paulitz: Wäre eine Stilllegung des Atomkraftwerks Biblis verhältnismäßig? Renneberg: Spätestens mit dem Ablauf der Restlaufzeiten nach dem alten Atomgesetz wäre eine Stilllegung des Atomkraftwerks Biblis auch verhältnismäßig. Selbst nach den Aussagen aus dem Strategiepapier der damaligen Ministerpräsidenten von Hessen und Baden-Württemberg, Roland Koch und Günther Oettinger, vom 30. September 2009 ist spätestens zu diesem Zeitpunkt ein „Bestandsschutz“ der Anlagen erloschen. Die Atomaufsicht könnte zum Beispiel eine einstweilige Stilllegung anordnen und weitgehende Nachrüstmaßnahmen nach Stand von Wissenschaft und Technik verlangen. Die nach Stand von Wissenschaft und Technik erforderlichen und auch verhältnismäßigen Nachrüstungen würden jedoch wirtschaftlich das „Aus“ der Anlage bedeuten.

Jetzt bekommt die IPPNW juristische Rückendeckung von Wolfang Renneberg. Der Jurist und Physiker war von 1998 bis 2009 Leiter der Bundesatomaufsicht. Im Gespräch mit Henrik Paulitz (IPPNW) erläutert er vor dem Hintergrund der Biblis-Klage der IPPNW wesentliche Aspekte des Atomrechts und legt die Stilllegung von Biblis B nahe: Henrik Paulitz: Laut hessischer Atomaufsicht entspricht der Sicherheitsstandard des Atomkraftwerks Biblis „selbstverständlich“ nicht mehr dem Stand von Wissenschaft und Technik. Die Behörde behauptet aber, diesen Sicherheitsmaßstab hätte Biblis nur zu Betriebsbeginn erfüllen müssen. Stimmt das? Wolfgang Renneberg: Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht haben festgestellt, dass das Atomgesetz eine „dynamische Schadensvorsorge“ garantiert. Verfassungsrechtlich gefordert sei der jeweils bestmögliche Grundrechtsschutz. Eine andere Auslegung des Atomgesetzes sei verfassungswidrig. Das Atomgesetz selbst sieht in seinem § 17 vor, dass Genehmi-

Henrik Paulitz ist Referent für den Atomausstieg der IPPNW. 15


25 Jahre tschernobyl

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lena (19) aus der Region Chernygiv auf der Onkologie-Station in einem Krankenhaus in Kiev, Ukraine. Ihre Diagnose: Schilddrüsenkrebs, im Jahr 2002 und 2005 noch einmal. Schilddrüsenkrebs ist in der Ukraine, Weißrussland und Russland fast epidemisch, besonders bei Frauen.

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Robert Knoth, Antoinette de Jong Certificat No.000358/: Nuclear Devastation in Kazakhstan, Ukraine, Belarus, the Urals and Siberia; Schilt Publishing, Amsterdam, Hardcover, 192 Seiten, 45 Euro

Certificate No. 000358/ Eine Dokumentation nuklearer Zerstörung

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usammen haben der Fotograf Robert Knoth und die Schriftstellerin Antoinette de Jong ein Buch vorgelegt, das die Zerstörung der Menschen in Kasachstan, der Ukraine, in Weißrussland, Sibierien und dem Uralgebirge eindrücklich zeigt. Und „Zerstörung der Menschen“ ist tatsächlich so gemeint.

LINKS: Gomel, Belarus. Bei Irina (19) und Yelan (24) wurden Gehirntumore diagnostiziert. Ihre Mutter sagt: “Wir haben keine Pilze gegessen und sind nicht im Fluss geschwommen. Nach Tschernobyl sind wir so weit wie möglich weggefahren, nach Russland und bis nach Dagestan. Wir hätten nicht zurückkehren sollen.“ RECHTS: Veznova, Weißrussland. Natasha (12) hat Mikrozephalie. Diese abnorme Kleinheit des Kopfes wird oft bei Kinder beobachtet, die pränatal einer erhöhten Strahlenbelastung ausgesetzt waren. Vadim (8) leidet an einer Knochenerkrankung und einer mental-psychischen Störung. Seit Tschernobyl gibt es einen Anstieg physischer und psychischer Erkrankungen unter Kindern in Weißrussland. Meist sind sie in staatlichen Heimen untergebracht, weil die Eltern sie nicht versorgen können.

Knoths Bilder sind sachte, schwarz-weiß und emotional. De Jongs Prosa dagegen sachlich, fast leidenschaftslos. Es bringt einen in Rage. Es ist eine ergreifende Anklageschrift an das nukleare Zeitalter zu einer Zeit, in der sowohl Weißrussland als auch die Ukraine neue Atomkraftwerke planen. Die Bilder werden auch im Rahmen des Tschernobylkongresses in Berlin zu sehen sein. Das Buch kann unter folgendem Link bestellt werden: www.luxphotogallery.com/photographers/ robert-knoth/photobooks/#prodrel-40

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© Robert Knoth

Sonntag Nachmittag in Narodichi, Ukraine. Eine kleine Stadt, nur ein paar Kilometer von der Sperrzone entfernt. Die Erde in und um die Stadt herum ist kontaminiert. Hier darf man sich nicht ansiedeln, nur wegziehen. Für sauberes Essen bekommt man 20 Cent im Monat.

Damit die anderen weniger abbekommen W.A. Gudow war Liquidator in Tschernobyl 1986

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schlug wieder über das Ende der vorhandenen Mess-skala aus. Wir gingen aus dem Gebäude raus. Unten berechneten wir annähernd den Durchschnittswert der Strahlung und kamen dabei auf 40 Röntgen pro Stunde. Wir berechneten dann die Arbeitszeit pro Gang und kamen auf drei Minuten. Das war aber nur die reine Zeit des Einsatzes. Die Zeit, um mit einem Sack Zement reinzulaufen, diesen zu platzieren und wieder rauszulaufen, setzten wir mit ca. 20 Sekunden an. Dem entsprechend musste jeder von uns zehn Mal einen Sack Zement in das Gebäude tragen, da wir achtzig Männer waren. Wir berieten uns, wie wir die Arbeit richtig auf die Menschen aufteilen könnten. Eine Gruppe sollte unten die Säcke mit Mörtel füllen, die andere Gruppe sie reintragen. Nach einer bestimmten Zeit würden wir wechseln. Der Wechsel sollte vom Ablaufprozess abhängig sein wie vom Wohlbefinden des Einzelnen. Es sollte zum Beispiel auch möglich sein, nur fünf Säcke reinzutragen, danach nach unten zu gehen und Säcke zu füllen, um erst später dann die restlichen fünf reinzutragen. Ein Arzt sollte sich oben direkt neben dem Raum mit den Säcken aufhalten. Nachdem wir so die Aufgaben verteilt hatten, schritten wir zur Tat.

ir waren zur Arbeit im 4. Reaktor eingeteilt. Die Aufgabe war, zwei Wände aus Zementblöcken aufzubauen. Unter der Decke sollte Platz für die Befestigung eines Schlauches bleiben, durch den man nach der Verhärtung des Zements Beton in den Zwischenraum gießen konnte. Die ganze Einheit lief in das Gebäude des 4. Reaktors. Zusammen mit dem Strahlenschutztechniker lief ich nach oben. Mit einem Plan fanden wir den Raum, bei dem an einer Wand ein Durchbruch war. Ein Teil der Wand lag auf dem Boden, aber man sah, dass dort, wo die Wände hochgezogen werden sollten, der Schutt schon weggeräumt war. Wir fingen an, die Strahlung zu messen, der Zeiger des Dosimeters schlug zur rechten Seite über die Skala aus. Der Strahlenmesstechniker schaltete das Gerät in eine andere Skalierung um, mit der sich höhere Strahlenwerte messen ließen. Der Zeiger des Gerätes schlug zunächst wieder ganz nach rechts aus, endlich aber blieb der Zeiger stehen. Wir führten die Messungen an mehreren Stellen durch, am Ende gingen wir zur gegenüberliegenden Wand und steckten unser Stativ in den Durchbruch. Der Zeiger 18


25 Jahre tschernobyl

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Jungs waren im Schnitt zwischen 20 und 35 Jahre alt. Einer war noch ganz jung, er war erst im Frühjahr aus der Armee entlassen worden und hatte erst vor einem Monat geheiratet. Ein anderer Bursche erzählte, dass sein Vater mit ihm zum Kreismilitäramt gefahren sei und dort gebeten hatte, dass sie anstelle des Sohnes ihn einberufen sollten. Sein Sohn sei doch noch so jung, er müsse doch noch eine Familie gründen und Kinder haben. Darauf hin hatte man beide eingezogen und dem Vater noch gesagt, er solle sich bloß nicht einbilden, er sei schlauer als die „da oben“.

um Vergleich, .... nein, wahrscheinlich, gibt es eine solche Arbeit, wie wir sie dort verrichteten, nirgendwo sonst. Sie ist ebenso unvergleichlich wie die Arbeitswut der Leute bei der Durchführung dieser Aufgabe. Sehr schnell schaufelten wir den Mörtel in Säcke, banden sie zu, halfen beim Schultern und los ging es nach oben. Mit der rechten Hand hielt man den Sack auf dem Rücken fest, mit der linken hielt man sich am Geländer und so ging es im Laufschritt eine Stufe nach der anderen hoch, bis wir ungefähr eine Höhe erreicht hatten, die der 8. oder 9. Etage eines normalen Wohnhauses entspricht. Die Treppenaufgänge waren hier sehr, sehr lang, und wenn man oben raus kam, sprang einem das Herz förmlich aus der Brust. Der Mörtel sickerte durch den Sack und lief am ganzen Körper runter. Als wir ankamen, legten wir die Säcke versetzt übereinander, so wie Steine beim Hausbau. Nachdem wir die Säcke hingelegt hatten, liefen wir einer nach dem anderen wieder runter. In der Gegenrichtung kamen die anderen mit ihren Säcken hochgekeucht, hielten sich am Geländer fest, und so ging es Runde um Runde.

Wir bekamen Mineralwasser und konnten unseren großen Durst stillen. Diese Tragödie, die uns alle anging, hat uns irgendwie zusammengeschweißt und uns in kürzester Zeit erwachsen werden lassen. Die Gesichter waren jung, aber die Augen waren lebenserfahren und klug. Wir hatten verstanden, welche Verantwortung auf jedem von uns lag. Im Gespräch schaute ich mir einen jungen Mann näher an. Ich kann es auch nicht erklären, warum er mir aufgefallen ist, es war nichts Besonderes an ihm, mittelgroß, ungefähr 25 Jahre. Ich fragte ihn, was er dazu meinen würde, dass wir uns hier im Kraftwerk vollkommen verausgabten und länger arbeiteten als die vorgesehene Zeit. Er sah mich mit einem bestimmten ungläubigen Gesichtsausdruck an, als ob er sagen wollte: Verstehst du das denn nicht selbst? Seine Antwort nötigte einem Respekt ab: „Wissen Sie, Herr Kommandeur, wir machen es, damit die anderen weniger abbekommen.“ Ich schaute in sein völlig übermüdetes Gesicht und nickte zustimmend. In Zeiten allgemeiner Not kommen die besten Seiten des Menschen zum Vorschein. Er wusste doch gar nicht, wer nach ihm die Arbeit weitermachen würde, sorgte sich aber trotzdem um die anderen.

Zu meinen Pflichten gehörte auch die Kontrolle, ob die Säcke richtig lagen. Schließlich, als die Wand langsam in die Höhe gewachsen war, musste ich oben bleiben und den Männern helfen, die Säcke so zu legen, dass die Wand nicht zusammenbricht. Der Zementmörtel hatte eine ganz dunkle Farbe, was ein Zeichen für die hohe Qualität war. Die Wand sollte in kürzester Zeit zum Monolith werden. Ich lief runter, die Menschenkette mit den Säcken kam mir schwer atmend und sich am Gelände festklammernd entgegen. Unten standen alle müde, verschwitzt, schwer atmend. Die Kleider waren durchnässt vom Zementmörtel und Schweiß. Die Schutzmasken sahen aus wie schmutzige nasse Lumpen, aber wir hatten keine neuen, um sie auszutauschen. Wir hatten fast schon betteln müssen, um überhaupt welche für die Arbeit da oben zu bekommen. Fast alle legten irgendwann die Gesichtsschutzmasken ab, weil man nicht mehr atmen konnte.

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iese Burschen haben Millionen von Menschen gerettet, und haben dafür ihre Gesundheit geopfert, und in der Folge auch ihr Leben, weil sie radioaktiven Müll wegräumten, die Gebäude dekontaminiert und die Strahlung gesenkt haben. Ich wurde stolz auf diese Menschen, die versuchten, so viel wie möglich wegzuarbeiten, damit die nächsten vielleicht „weniger abbekämen“. Ich schaute mir die Jungs genau an und dachte: Nach dem Einsatz gehen sie wieder dahin, wo sie vorher gewesen waren, und keiner wird es erfahren, dass genau sie den radioaktiv verseuchten Müll weggeräumt haben, dass genau sie im Jahre 1986 die Gebäude des dritten und vierten Reaktors dekontaminiert haben und das radioaktive Erdreich vom umliegenden Gelände auf eigenen Schultern weggeschafft haben. Ob in einigen Jahren die heranwachsende Generation daran noch denken wird? Wissen wird, dass zum damaligen Zeitpunkt eben solche junge Menschen ihre eigene Zukunft gerettet haben? Dass jene die wirklichen Helden der Geschichte sind? Zum größten Bedauern vollkommen vergessen von der Regierung.

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ls wir mit der Arbeit fertig waren, hatten wir keine Kraft mehr zu laufen. Wir gingen ganz müde und gleichgültig, so schnell wie wir eben noch konnten. Wir liefen die Strecke ganz ohne Schutz, die Schutzmasken waren ja schmutzig und nass, wir ließen sie in einem Sack im Reaktorgebäude liegen. Als wir unten ankamen, stand da schon der Messtechniker und kontrollierte die Strahlung, danach gingen wir duschen. Wir zogen uns um, und gingen zu unserem Sammelpunkt.

Wir standen an unserem Abfahrtspunkt, der sich zwischen dem 1. Reaktorblock und dem Verwaltungsgebäude des Werkes befand. In dem Moment habe ich zum ersten Mal im Leben erfahren, was Kopfschmerzen sein können! Alle, die schon zwei oder drei Wochen oder noch länger da waren, sagten, dass bei jedem Neuankömmling am Ende der ersten Woche sehr starke, anhaltende Kopfschmerzen losgingen, und Schwächeanfälle und ein Kratzen im Hals auftreten würden. Mir ist auch aufgefallen, dass jedes Mal, wenn wir uns dem Atomkraftwerk nährten, bzw. sobald das Werk auftauchte, in den Augen zuwenig Augenflüssigkeit war, alle begannen zu blinzeln, man hatte das Gefühl, die Augen seien vollkommen ausgetrocknet. Am Sammelpunkt stand kein Fahrzeug. Alle standen müde rum, denn hinsetzen durfte man sich nicht, überall war Radioaktivität. Manche rauchten und führten ein müdes Gespräch, man sah, dass sich die Menschen bei der schweren Arbeit verausgabt hatten. Die meisten der

Wladimir Anatoljewitsch Gudow, geb. 1956, wurde1986 als Reservist zum Katastropheneinsatz im AKW Tschernobyl einberufen. Er ist Autor des Sammelbandes mit Erinnerungen verschiedenen Liquidatoren: W.A. Gudow, Specbatal’on 731 [Spezialbataillon 731], Kiew 2009 Beim Tschernobylkongress wird er am 8. April von seinen Erlebnissen erzählen. 19


25 Jahre Tschernobyl

Alexej Jablokow ist promovierter Biologe und der unangefochtene Nestor der russischen Umweltbewegung. Er ist Gründer und Präsident des Zentrums für Russische Umweltpolitik. Hier steht er uns Frage und Antwort zu Tschernobyl.

Ein zweites Tschernobyl rückt näher Alexey Jablokow über die Folgen von Tschernobyl und die „Nuklearisten“ von heute Manfred Kriener: Herr Jablokow, vor 25 Jahren „setzte sich die Radioaktivität aus dem explodierten Reaktor auf alles Leben“, wie Sie in Ihrem Buch geschrieben haben. Wann haben Sie selbst das erste Mal von dem Unglück gehört? Alexej Jablokow: Im April 1986 war ich auf dem Weg nach Kasachsten und habe dem Thema kaum Aufmerksamkeit geschenkt, weil die offiziellen Nachrichten wenig besorgniserregend waren. Das wahre Ausmaß der Tschernobyl-Katastrophe habe ich erst drei Jahre später verstanden, als ich stellvertretender Vorsitzender im Ökologischen Ausschuss des sowjetischen Parlaments war. Ich sichtete damals das Material der Tschernobyl-Kommission, die wir nach den ersten freien Wahlen eingesetzt hatten. Da habe ich begriffen, was geschehen ist. Kriener: Heute sind Sie einer der bestinformierten und angesehensten Experten in Sachen Tschernobyl. Sie haben über viele Jahre alle Informationen gesammelt und dokumentiert. Was sagen Sie heute zur Opferbilanz: Wie viele Menschen sind tatsächlich an den Folgen und Spätfolgen von Tschernobyl gestorben?

Jablokow: Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, die Zahl der Opfer zu bestimmen. Die Erste: Sie berechnen die Gesamtdosis, die die Bevölkerung abbekommen hat. Dabei wird die Menge des freigesetzten radioaktiven Materials zugrunde gelegt und nach den offiziellen Dosis-Risiko-Betrachtungen die Sterblichkeit bestimmt. Die Unsicherheit bei dieser Methode kommt von der Abschätzung der tatsächlich freigesetzten Menge. Nach der offiziellen sowjetischen Version wurde eine Strahlenmenge von 50 Millionen Curie freigesetzt. Andere Experten sagen aber, es waren fünf Milliarden Curie. Außerdem ist unklar, welche Strahlenmengen welche Menschen jeweils erreicht haben, weil an jedem einzelnen Tag der Katastrophe – vom 26. April bis zum 16. Mai – war die Zusammensetzung der radioaktiven Wolke verschieden. Und das Wetter über Europa war stürmisch. Kriener: Also wurde die radioaktive Last ganz unterschiedlich verteilt, was eine Berechnung schwierig macht? Jablokow: Einige Regionen haben eine große Menge abbekommen, andere Gebiete nur wenig. Dazu kommen die Unter20

schiede zwischen den ständig wechselnden Radionukliden: Jod-131, besonders gefährlich für Schilddrüsenkrebs, bleibt nur einige Wochen aktiv, Plutonium aber über Zehntausende von Jahren. In der ersten Woche nach der Explosion war die „kombinierte“ Strahlenbelastung – wenn man einige Dutzend Radionuklide zusammen betrachtet – tausend mal höher als in den Monaten danach. Trotz all dieser Unsicherheitsfaktoren haben unabhängige US-amerikanische und kanadische Experten die Gesamtzahl der Toten berechnet und auf 900.000 bis 1,8 Millionen Menschen weltweit beziffert. Diese Zahl bezieht auch zukünftige Tote mit ein, weil die Tschernobyl-Nuklide weiter in der Biosphäre bleiben. Kriener: Es gibt aber noch eine zweite Berechnungsmethode. Sie geht von den tatsächlich ermittelten Todesfällen aus. Jablokow: Ja, beim zweiten Ansatz wird die tatsächliche Sterblichkeitsrate in den am meisten verseuchten Gebieten mit der Sterblichkeit in den weniger belasteten Gebieten verglichen. Die Unterschiede in der Kontamination werden grob abgeschätzt durch Messungen von radioaktivem Cae-


© Robert Knoth

Sonntag Nachmittag in Narodichi, Ukraine, nur ein paar Kilometer von der Sperrzone entfernt. Fußballspiel zwischen Zone 2 und Zone 3. Zone 3 hat gewonnen. sium-137 mit Geigerzählern. 1996 hat die EU ja einen Spezialatlas veröffentlicht, in dem die Caesium-Verseuchung aller europäischen Länder dokumentiert ist. Die detaillierte statistische Untersuchung in Russland und in der Ukraine zeigt nun das Ausmaß der Tschernobyl-bedingten Sterblichkeit. Stärker bestrahlte Gebiete, die bis zu 40 Bequerel je Quadratmeter mehr erhalten haben, hatten in den 15 Jahren nach der Katastrophe eine erhöhte Sterblichkeit zwischen 3,75 und 4,2 Prozent. Unsere auf diesen Daten basierende, grobe Abschätzung der Gesamtopferzahl geht von 1,03 Millionen Tschernobyl-Toten aus. Und zwar rund um den Globus, denn in Russland und in den früheren Sowjetrepubliken sind nur 43 Prozent der Radioaktivität niedergegangen. Kriener: Die offiziellen Angaben der UN und der Weltgesundheitsorganisation sprechen dagegen von 9.000 Toten. Ein makabres Jonglieren mit Opferzahlen. Die Würde der Toten verlangt Aufrichtigkeit bei der Berechnung. Welchen Zahlen sollen die Menschen denn glauben? Jablokow: Nach einem 1959 geschlossenen Abkommen zwischen der Interna-

tionalen Atomenergie-Agentur (IAEA) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist die WHO auf dem Gebiet der Radioaktivität an die Atomagentur gebunden. Ich selbst habe vor zwei Jahren Mahnwache gestanden dicht am WHO-Gebäude in Genf. Auf unseren Plakaten stand: Beendet endlich dieses schamlose Abkommen mit der IAEA! Erinnert euch an den hippokratischen Eid! Die Mahnwachen stehen rund um die Uhr an jedem Tag, seit nunmehr drei Jahren. Da stehen Franzosen, Deutsche, Schweizer, Briten. Mehrere Jahre lang! Mehr will ich nicht dazu sagen. Kriener: Eigentlich müssten doch zumindest die gestorbenen und als Strahlenopfer anerkannten Liquidatoren, die zu den Aufräumarbeiten abkommandiert waren, in der Bilanz der Toten auftauchen. Jablokow: Die offiziellen Angaben unterscheiden sich bei der Sterblichkeitsrate der Liquidatoren genauso wie bei der Mortalität der Allgemeinbevölkerung. Sie weichen drastisch von den Angaben der Liquidatoren-Vereinigungen ab. Nach meinen Recherchen waren 830.000 Liquidatoren im Einsatz und nicht 600.000 wie immer wieder behauptet wird. Bis zum 21

Jahr 2006 sind von den 830.000 Liquidatoren 112.000 bis 125.000 gestorben. Von diesen Toten werden 14.000 bis 15.000 direkt mit den Tschernobyl-Folgen assoziiert. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Verstorbenen lag bei rund 43 Jahren. Kriener: Sie sagten bereits, dass nicht nur über die Zahl der Toten, sondern auch über die Menge des bei der Explosion herausgeschleuderten nuklearen Materials bis heute heftig gestritten wird. Waren es nun zehn Prozent des radioaktiven Inventars oder 90 Prozent? Was haben Sie ermitteln können? Jablokow: Die einen sagen 50 Millionen Curie, die anderen fünf Milliarden. Ich bin Biologe und kein Reaktorspezialist. Ich kann keine eigene Zahl nennen. Aber beide Angaben sind nicht wirklich gut für die Atomindustrie. Waren es nur 50 Millionen Curie, dann würde dies bedeuten, dass die Niedrigstrahlung sehr viel mehr anrichtet als die offiziellen Risiko-Koeffizienten sagen. Waren es aber fünf Milliarden, dann war die Strahlenbelastung der Menschen sehr viel höher als offiziell kalkuliert.


25 Jahre Tschernobyl

Kriener: Was können Sie nach Durchsicht der vielen Studien zum Ausmaß der Krebserkrankungen sagen? Jablokow: Nach meiner Beurteilung hat der Strahlenphysiker Dr. Mikhail Malkow aus Minsk die realistischste Bestandsaufnahme gemacht. Allein für Europa rechnet er mit 90.000 Krebsfällen durch Tschernobyl. Neben den besonders auffälligen Schilddrüsen-Krebsfällen waren es viele Leukämien, viele Fälle von Brustkrebs, vielfache Hirntumore bei Kindern. Beim Schilddrüsenkrebs waren zunächst nur Kinder betroffen, weil deren Schilddrüse besonders aufnahmebereit für radioaktives Jod ist. Aber nach 1990 hat auch bei Erwachsenen der Schilddrüsenkrebs auffällig zugenommen, weil der Krebs eben nicht nur durch radioaktives Jod, sondern auch durch Tellurium, Caesium und andere Nuklide verursacht wird. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass der eigentliche Anstieg in der erhöhten Sterblichkeit nicht von Krebs- sondern von Herz-KreislaufKrankheiten kommt. Kriener: Wie ist das erklärbar? Was richten die radioaktiven Strahlen hier an? Jablokow: Während des ersten Monats war die Strahlenbelastung tausendfach höher. Auf diesen Strahlungsschock folgte als chronische Belastung die radioaktive Niedrigstrahlung. Viele Studien zeigen wie Strahlung auf lebende Wesen wirkt. Die molekularen biochemischen Prozesse in den Zellen ändern sich. Besonders die Epitelzellen reagieren empfindlich auf Strahlung. Die vielen kleinen Mechanismen, die durch die Strahlung in Gang gesetzt werden, haben wir im Detail noch immer nicht verstanden. Aber ein besonders wichtiger Mechanismus wird durch inkorporierte Nuklide ausgelöst. So haben wir entdeckt, dass die Mehrzahl der am “Sudden Death” verstorbenen strahlengeschädigten Menschen beträchtliche Mengen von radioaktivem Caesium in ihrem Herzmuskel hatten. Kriener: Welche anderen gesundheitlichen Schäden sind in den vergangenen 25 Jahren untersucht und dokumentiert worden? Gibt es überhaupt eine Chance, typische Tschernobyl-Krankheiten statistisch sauber zu ermitteln und vom übrigen Krankheitsgeschehen zu unterscheiden?

Jablokow: Am auffälligsten sind die neurologischen Erkrankungen als Ergebnis organischer Hirnschäden. Sie sind in vielen Studien sehr gut dokumentiert. Wir haben Chromosomenschäden, Fehlbildungen bei Neugeborenen, Strahlenstar der Augen („radiogene Katarakte“), wir haben die Fehlregulation des vegetativen Nervensystems bei den Gefäßen („vaskuläre vegetative Dystonie“ – das „neue Tschernobyl-Syndrom“). Dazu kommen Krankheiten des Immunsystems: einer der Hauptgründe für den vorzeitigen Alterungsprozess. Sowohl die Liquidatoren als auch andere stärker belastete Menschen sehen fünf bis sieben Jahre älter aus, als sie nach ihrem Pass wirklich sind. Es gibt verschiedene Wege, Krankheiten als Folge von Tschernobyl zu identifizieren. Man kann sich die Gesundheitsstatistiken vor und nach Tschernobyl ansehen. Und man kann den Gesundheitszustand der Bevölkerung in stark und weniger stark belasteten Gebieten miteinander vergleichen. Kriener: Beunruhigt das die Menschen? Welche Rolle spielt denn das Thema Tschernobyl überhaupt noch in der Ukraine, in Russland und Weißrussland? Jablokow: Die offizielle Propaganda hat es geschafft, die öffentliche Meinung zu beruhigen: „Es ist Zeit zu vergessen“, „es gibt keine schwerwiegenden Folgen“, heißt es. Am lautesten halten die Liquidatoren-Organisationen dagegen, aber nur, wenn sie die ihnen gesetzlich zustehenden Privilegien nicht bekommen. Und sie bekommen sehr viele. Kriener: Der Reaktor soll jetzt für Katastrophen-Touristen geöffnet werden: Abenteuerurlaub in Tschernobyl. Die Regierung hofft auf eine Million Besucher pro Jahr. Angeblich sollen diese Besucher mehr über die schwerste Atomkatastrophe der Geschichte lernen. Jablokow: Mit einer guten Organisation wäre es vielleicht möglich, die Aufmerksamkeit der Touristen in eine Art AntiAtom-Erziehung umzumünzen. Kriener: Dann müsste man ihnen die ganze Geschichte erzählen. Dazu gehört auch, dass in der Ukraine 75 Städte und Dörfer direkt nach dem Unglück evakuiert wurden, dazu 108 Siedlungen in Weißrussland. Später kamen immer noch mehr

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dazu – eine tiefe traumatische Erfahrung für mehr als 300.000 Menschen. Aber noch immer leben über sechs Millionen in deutlich radioaktiv belasteten Gebieten. Was geschieht mit ihnen, werden sie gesundheitlich überwacht? Jablokow: Es gibt Berechnungen, wonach bis zu 15 % der Weißrussen ihre Heimat verlassen haben – eine der größten Völkerwanderungen. In den belasteten Gebieten gibt es für die verbliebenen Menschen eine mehr oder weniger normale medizinische Versorgung. Aber das Ausmaß der Gesundheitsschäden ist so groß, dass eine Spezialversorgung nötig wäre, auch genetische Konsultationen, Entseuchungsmaßnahmen für Lebensmittel und für die Körper der Menschen. Das alles steht natürlich im Widerspruch zum Versuch einer Rückkehr zur Normalität. Was das Monitoring angeht, wurden die staatlichen Gelder zurückgefahren. Deshalb sind viele wissenschaftliche Studien während der letzten 10, 15 Jahre beendet worden. Kriener: Herr Jablokow, was wünschen Sie sich zum 25. Jahrestag von Tschernobyl? Kann solch ein Tag dazu beitragen, die Energiepolitik der Welt ein wenig sicherer und vernünftiger zu machen? Jablokow: Für die ausgerufene „Renaissance“ der Atomenergie ist es notwendig, Tschernobyl so schnell wie möglich zu vergessen. Nach der Katastrophe haben die USA und die EU große Summen ausgegeben, um die bestehenden Atomanlagen nachzurüsten und zu verbessern. Der typische Sound der „Nuklearisten“ heißt seitdem: Die Atomindustrie hat ihre Tschernobyl-Lektion gelernt, jetzt sind die Atomkraftwerke absolut sicher. Das ist aber nur die halbe Wahrheit: Die Atomkraftwerke haben zwar nachgerüstete Sicherheitssysteme. Dennoch geht die Zahl der Unfälle und Vorkommnisse nicht zurück. Einer der Gründe: Insgesamt werden die Atomanlagen immer älter, die Laufzeiten werden sogar noch verlängert. Aber man kann aus einem alten Auto kein neues machen. Deshalb rückt ein zweites Tschernobyl nicht weiter weg. Im Gegenteil: Es kommt näher. Das Interview führte der Journalist Manfred Kriener. Es entstand in Kooperation mit zeo2, dem Magazin für Umwelt, Politik und Neue Wirtschaft: www.zeozwei.de


25 Jahre Tschernobyl

© Robert Knoth

Hospiz-Zentrum, Minsk, Weißrussland. Vadim Selighanov (14) hat ein Prostatasarkom.

Das tödliche Erbe von Tschernobyl Gesundheitliche Folgen der Katastrophe

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Bezifferung der Opfer des Super-GAUs von weniger als 50 Toten (eine Behauptung der IAEA von 2006) bis in den 6-stelligen Bereich (Rosalie Bertrell) und bis zu Befürchtungen, dass das Schlimmste erst noch bevor steht.

m 26. April 1986 explodierte Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl. Die Welt wurde Zeuge der bislang größten Katastrophe in einem Atomkraftwerk. Bis heute und auch in Zukunft leiden ungezählte Menschen unter den Folgen. Noch immer ringen Wissenschaftler darum, das Ausmaß des Leids realitätsnah zu erfassen.

Gesundheitliche Schäden durch ionisierende Strahlung

Von der Katastrophe in Tschernobyl waren und sind etwa neun Millionen Menschen betroffen. Circa 162.000 Km² wurden kontaminiert und schätzungsweise 400.000 Menschen mussten umgesiedelt werden. Nach Auffassung von UN-Organisationen wie der IAEO und den Regierungen in Russland, Weißrussland und der Ukraine kann das Thema Tschernobyl nun, 25 Jahre nach der Katastrophe, zu den Akten gelegt werden: Armut, ungesunde Lebensweise und psychische Krankheiten stellen angeblich ein viel größeres Problem dar als die Verstrahlung. Die gesperrten Gebiete sollen zügig wieder in den Wirtschaftkreislauf eingegliedert werden, sogar von einem Touristikprogramm für die Region ist die Rede. In Weißrussland ist ein neues Atomkraftwerk in Planung – da spricht die Regierung natürlich ungern über die Risiken der Atomenergie für die Gesundheit.

In den drei am meisten von der Tschernobylkatastrophe betroffenen Ländern Weißrussland, Ukraine und Russland entstanden nach 1986 medizinische Forschungszentren, die bis heute einen großen Teil der strahlenexponierten Bevölkerung regelmäßig untersuchen: die Aufräumarbeiter, die in hochbelasteten Gebieten lebende Bevölkerung und die Evakuierten sowie jeweils die Kinder der strahlenexponierten Personen. Prof. Alexej Jablokow, Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, hat in einem 2009 in den Annalen der New Yorker Akademie der Wissenschaften erschienenen Buch zahlreiche Daten und Untersuchungsergebnisse zu den gesundheitlichen und ökologischen Folgen der Tschernobylkatastrophe zusammen getragen. 49 internationale Wissenschaftler waren an der Überarbeitung seines ersten Buches aus dem Jahr 2006 beteiligt.

Tatsächlich ist eine umfassende und objektive Abschätzung der Gesundheitsauswirkungen auch nahezu unmöglich. Zum einen, weil in den ersten Jahren Geheimhaltungsvorschriften die Forschung behinderten. Zum anderen, weil bis heute ein großer Teil unabhängiger und ergebnisoffener Tschernobylforschung von internationalen Gremien ignoriert wird. Und so reicht die

Die Wissenschaftler beobachteten sehr beunruhigende Trends, so z.B. was den Gesundheitszustand der Liquidatoren und der Evakuierten angeht, aber auch den der Kinder strahlenbelasteter Eltern. Amtliche Untersuchungen belegen einen lawinenartigen Anstieg nahezu aller Krankheiten in den ersten 10 Jahren nach

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lektuellen kognitiven Funktionen infolge von Schädigungen des zentralen Nervensystems oder den Verlust der Stabilität des antioxidanten Systems.

der Katastrophe. So kam es auch zu einem rasanten Anstieg somatischer Erkrankungen zahlreicher Körpersysteme und Organe: Schwächung des Immunsystems, schwere Herz-/Kreislauferkrankungen mit Todesfolge schon in relativ jungem Alter (Herzinfarkt, Hirnblutungen), chronische Magenerkrankungen, chronische Erkrankungen der Schilddrüse und der Bauchspeicheldrüse sowie neurologisch-psychiatrische Erkrankungen als direkte somatische Effekte von Niedrigstrahlung. Ähnliche Effekte sind in den letzten Jahren auch aus der Hiroshima-Forschung bekannt geworden.

Krebserkrankungen Die Anerkennung der Tatsache durch die IAEO, dass die Strahlenbelastung durch Tschernobyl zu einem massiven Anstieg von Schilddrüsenkrebs, zunächst bei Kindern und später auch bei Erwachsenen führte, ist ebenfalls eine Geschichte über die Unterschlagung von Studienergebnissen. Im Bericht des ukrainischen Gesundheitsministeriums finden sich statistisch signifikant erhöhte Krebsraten für alle soliden Formen von Krebserkrankungen, Brustkrebs, Schilddrüsenkrebs, Prostatakrebs, Lymphome.

Genetische Schäden und vorzeitige Alterungsprozesse Nach Tschernobyl kam es zu einer Zunahme von Perinatalsterblichkeit, Totgeburten (5.000 zusätzliche Todesfälle bei Säuglingen in Europa) und Fehlbildungen (alleine 10.000 in Europa) sowie weniger Geburten und geschlechtsspezifische Effekte (zu wenig Mädchengeburten) in Deutschland und in Europa. Gleiche Effekte wurden in allen belasteten Regionen der drei hauptbetroffenen Länder nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl beobachtet. Die IAEO und WHO streiten den Zusammenhang zwischen ionisierender Strahlung und Fehlbildungen jedoch nach wie vor ab.

Für Weißrussland wird die Gesamtzahl der zusätzliche Krebserkrankungen von Dr. Mikhail Malko mit 28.500 beziffert. Iwanow schätzt für Russland das zusätzliche Krebsrisiko für die strahlenbelastete Bevölkerung mit 0,5% ein. Auch in verschiedenen europäischen Ländern wurde ein teilweiser signifikanter Anstieg von Schilddrüsenkrebs-Erkrankungen beobachtet. Besonders betroffen von der Strahlenexposition war die Gruppe der Liquidatoren. Jablokow schätzt aufgrund von verschiedenen Studien, dass seit 1986 112.000 - 125.000 Liquidatoren von insgesamt 830.000 Helfern verstorben sind. 94 Prozent der noch lebenden Aufräumarbeiter sind nach Angaben des ukrainischen Gesundheitsministeriums erkrankt, vorwiegend an Nicht-KrebsErkrankungen.

In ihrer Studie aus dem Jahr 2006 legen Wladimir Bebeschko und Konstantin Loganowsky außerdem dar, dass die ionisierende Strahlung durch das sehr frühe Auftreten von Nichtkrebserkrankungen auch den Alterungsprozess beschleunigt. Dabei handelt sich um Krankheiten wie z.B. eine beschleunigte Alterung der Blutgefäße besonders im Gehirn, Arteriosklerose der Blutgefäße des Augenhintergrunds, grauen Star, Verlust der höheren intel24


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einer kurzfristigen äußeren Strahleneinwirkung. Die Tschernobylforschung untersucht jedoch die Folgen einer chronischen Strahlenbelastung nach Inkorporation von Radionukliden und ebenfalls einer chronischen äußeren Strahlenbelastung.

Institut für Schilddrüsenkrebs, Kiew. Nila Bandarenko wird das dritte Mal an der Schilddrüse operiert. Sie hat auch Nierenkrebs. Die Ärzte am Institut geben an, dass es drei bis vier Jahre nach Tschernobyl zu einem starken Anstieg an Schilddrüsenkrebs kam. Zunächst vor allem bei Kindern, inzwischen meistens bei erwachsenen Frauen.

Forderungen Die wissenschaftliche Tschernobyl-Diskussion verläuft wenig produktiv. Internationale Gremien wie IAEO, WHO oder UNSCEAR neigen dazu, die Folgen von Tschernobyl harmlos erscheinen zu lassen. Sie ignorieren oder unterschlagen einen wesentlichen Teil der Forschungsarbeiten, die von erfahrenen Fachleuten, von Ärzten, die täglich mit strahlengeschädigten Kinder und Erwachsenen konfrontiert sind, in den drei hauptsächlich betroffenen Ländern Russland, Weißrußland und Ukraine durchgeführt wurden. Was ist zu tun – eine viel intensivere Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Ärzten aus Ost und West. Dabei ist materieller und ideeller Einsatz beim Überwinden der Sprachbarriere ein ebenso simpler wie notwendiger Punkt. Es ist sehr begrüßenswert, dass sich seit etwa zwei Jahren mehr und mehr Schüler mit Fragen zu Strahlenproblemen und insbesondere zu Tschernobyl an uns wenden. Es bedürfte eigentlich nicht viel, dass Mitglieder der IPPNW oder der Gesellschaft für Strahlenschutz nach Wegen suchen, in ihrer Umgebung jungen Leuten die Fragen zu beantworten oder sie zu Fragen und selbständigem Denken anzuregen.

Über Nichtkrebserkrankungen erfährt die Öffentlichkeit wenig, genauso wenig wie über genetische Auswirkungen der Tschernobyl-Katastrophe. Die Zahl der betroffenen Menschen ist hoch und Politiker möchten vermeiden, dass Gesundheitsschäden dieser Art womöglich auch in ganz anderen Zusammenhängen als strahlenbedingte Berufskrankheiten anerkannt werden müssen. Von den genetischen Schäden weiß man, dass lediglich 10% der insgesamt zu erwartenden Schäden in der ersten Generation auftreten. D.h., 90% der genetischen Probleme kommen erst noch auf uns zu. Warum ist das so?

Ohne genaue Ergebnisse in der Hand zu haben, sind die Wiedereingliederungs- und Touristik-Pläne für die Region unverantwortlich. In der Sperrzone findet sich z.B. Plutonium 241. Es zerfällt zu Americium 241, das noch gefährlicher ist als Plutonium. Auch wenn die Touristen nur in weniger stark kontaminierte Gebiete gelassen werden, kann niemand seriös abschätzen, wie hoch die radioaktive Belastung bei Wind oder Waldbränden sein wird.

Tschernobyl in Deutschland?

Seit den siebziger Jahren ist bekannt, dass ionisierende Strahlung nicht nur Krebs verursacht, sondern auch zu genetischen Schäden führt. Diese Schäden können schon durch niedrigste Strahlendosen ausgelöst werden. In den letzten Jahren gab es wesentliche neue Forschungsergebnisse – non target effects, genomische Instabilität und den Bystander-Effekt. Wie das funktioniert, ist noch weitgehend unverstanden, aber es ist klar, dass die bisherigen Vorstellungen über die Mechanismen der Strahlenschädigung grundlegend geändert werden müssen. Genomische Instabilität wird nicht nur mit dem Erbgut weiter gegeben, sondern potenziert sich auch mit jeder Generation. Ein Phänomen, das Wissenschaftlern bereits aufgrund der Leukämiefälle in Sellafield bekannt ist und das sich auch durch Chromosomen-Aberrationen bei Kindern von Liquidatoren und nicht strahlenbelasteten Müttern in den Forschungszentren von allen drei betroffenen Republiken der Tschernobyl-Katastrophe zeigt.

Nach Tschernobyl gab es in Deutschland verschiedene Überlegungen, welche Auswirkungen ein Super-GAU eines deutschen Atomkraftwerks hätte. Dabei wurde die 7-10fach höhere Bevölkerungsdichte und die schlimmstenfalls deutlich höheren Emissionen im Umkreis von einigen hundert Kilometern berücksichtigt. Die Zahl der zu erwartenden Toten würde zwischen 1,2 und 12 Millionen Menschen liegen. Höhere Spaltproduktfreisetzungen als in Tschernobyl wurden in der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke für deutsche Atomkraftwerke als möglich bezeichnet. Vor dem „Restrisiko“ eines atomaren Gaus schützt tatsächlich nur der sofortige Ausstieg aus der Atomenergie und der 100 %-ige Umstieg auf Erneuerbare Energien.

Dr. Angelika Claußen ist

Vorsitzende der IPPNW, Für die Strahlenrisikoabschätzung wurden von der internationaDr. Sebastian Pflugbeil ist len Strahlenschutzkommission (ICRP) nahezu ausschließlich die Präsident der Gesellschaft Daten aus Hiroshima und Nagasaki verwendet, also das Modell für Strahlenschutz 25


25 Jahre tschernobyl

Unsichtbares Hindernis 1986 hat psychologische Folgen bis heute

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© Robert Knoth

aum bekannt und selten besprochen: Psychologische Folgen der Tschernobylkatastrophe scheinen unsichtbar, obwohl auch sie nicht allein auf Überlebende beschränkt, sondern auch nachfolgende Generationen betreffen. Dass psychologische Probleme derart unterschätzt und nicht beachtet werden, ist jedoch keine Hilfe für eine Gesellschaft, die eine Katastrophe diesen Ausmaßes verarbeiten muss. Es gibt verschiedene Gründe für die psychologischen Folgen der Katastrophe. Zum einen ist da natürlich das Reaktorunglück selbst. Wer im April 1986 in der Umgebung des Reaktors war, den haben das Erlebnis der Explosion und die Angst geprägt. Der Mangel an Information über die Geschehnisse, die fehlende Kommunikation über gesundheitliche Folgen und mögliche Schutzmaßnahmen und letztlich die Unzulänglichkeit der Schutzmaßnahmen selbst haben zu Gefühlen der Unsicherheit, Sinnlosigkeit und Verletzlichkeit geführt. Viele der Betroffenen konnten die Selbstwahrnehmung als Opfer über die Jahre nicht ablegen. Die Folge: ein permanenter Depressionszustand, der nicht nur individuelles, sondern auch das kollektive Leben bestimmt.

Buda Koshelova, Weißrussland. Valentin Masluk (64), Nierenkrebs, transportierte nach der Explosion Kühe aus der kontaminierten Zone. „Da war so viel Staub, wir konnten kaum etwas sehen. Ich war etwa zehn Mal dort. Die Dörfer waren leer, die Fenster verschlossen. Busse mit kleinen Kindern fuhren in die andere Richtung. Bis dahin hatte ich ein Jahr lang keinen Alkohol getrunken, aber in dieser Nacht machte ich mir einen Drink. Sie sagten uns, es würde gegen die Strahlung helfen.“

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ie meisten Betroffenen schätzen ihren Gesundheitszustand und ihr Wohlsein sehr negativ ein und haben das Gefühl, dass sie auf ihr eigenes Leben keinen Einfluss haben – sie fühlen sich bereits zu einer kürzeren Lebensfrist verurteilt. Verstärkt wird dies durch Befürchtungen, dass die Folgen des Unfalls für die eigene Gesundheit und die der Kinder sogar noch schlimmer sein könnten, als bisher angenommen. Der Fatalismus und die Opferrolle führen zu einem Verlust eigener Initiative, besonders in Fragen des materiellen Wohlstandes, und zu fehlendem Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten, die Situation zu verändern. Da ein schlechter Gesundheitszustand und jedes Unwohlsein auch immer als Folge der Katastrophe gesehen wird, schenken viele der eigenen gesunden oder ungesunden Lebensweise keine Aufmerksamkeit mehr.

vilegien kehren mehr und mehr Umsiedler zurück, besonders ältere Menschen. Einige von ihnen widersetzen sich sogar dem direkten Verbot, in den verseuchten Gebieten zu wohnen.

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icht zuletzt trug auch der Zusammenbruch der Sowjetunion und damit des sozialistischen Systems zum psychologischen Zustand der Tschernobyl-Opfer bei. Die wirtschaftliche Krise führte zu Armut, unausgeglichener Ernährung sowie schlechterer medizinischer Versorgung. Die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umwandlungen betrafen zwar die ganze Bevölkerung, trafen die Tschernobyl-Betroffenen jedoch besonders hart. Das aufwändige System sozialer Privilegien und Vergünstigungen hatte für die Tschernobylopfer – trotz anderer Nachteile – immerhin Sicherheit bedeutet. Die war nun plötzlich verloren. Und nicht nur das. Durch die Art der Hilfeleistungen hatten sich viele in der Zeit nach der Katastrophe auch gar nichts eigenes aufgebaut. Eine Kultur der Abhängigkeit, Mangel an Eigeninitiative, Unsicherheit und Hilflosigkeit prägen das Verhalten vieler Betroffenen und ihrer Kinder. Auch das ist, direkt oder indirekt, eine Folge der Katastrophe von 1986. Und auch das ist noch immer ein Hindernis auf dem Weg zum Wiederaufleben der Region und Wohlsein der Bevölkerung.

Weitere Ursachen für Depressionen liegen in Maßnahmen und Ereignissen, die erst nach der Katastrophe stattfanden. Da ist zum einen die Umsiedlung der Menschen, die in der 30-km Zone um den Reaktor wohnten. An den neuen Wohnorten mussten die Umsiedler nicht nur mit einer neuen Umgebung zurechtkommen. Hinzu kamen Spannungen zwischen alten und neuen Bewohnern, die im Kontext der Tschernobyl-Katastrophe stärker als üblich waren und bis heute nicht ausgeräumt sind. Einerseits tragen die umgesiedelten Personen ein Stigma der radioaktiven Belastung. Die Angst vor Missbildungen ist so groß, dass selbst schon erwachsene Kinder von Umsiedlern nur schwer einen Ehepartner finden. Andererseits trifft sie der Neid der Alteingesessenen, denn die Umsiedler wohnen in speziell für sie gebauten Wohnungen oder Häusern, sie bekommen Erholungsreisen vom Staat und haben die besseren Berufschancen. Trotz dieser Pri-

Kateryna Vyrlieieva wurde in Kiev geboren und studiert Friedens- und Konfliktforschung in Magdeburg. Momentan ist sie Praktikantin in der IPPNW-Geschäftstselle. 26


25 Jahre tschernobyl

Sichtbare Zeichen IPPNW-Mitglied Ludwig Brügmann engagiert sich im Projekt Heim-statt Tschernobyl e.V.

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s gibt viele Arten von Katastrophen. Erstens Naturkatastrophen wie Erdbeben, die schicksalhaft sind. Zweitens Katastrophen wie Überschwemmungen und Taifune, bei denen sich Wissenschaftler die Frage stellen, ob Häufigkeit und Stärke nicht durch Menschen mit verursacht wurden. Und drittens Katastrophen wie Seveso, Hiroshima und der GAU von Tschernobyl, die sicherlich menschengemacht sind.

© Robert Knoth

Es gibt viele Arten von Hilfen. Wann immer möglich, sollten Hilfsmaßnahmen langfristig angelegt sein, sollten Menschen aus ihrem Opferstatus herausgeholt und aktiviert werden. Partnerschaftliche Hilfe ist angesagt, denn hilfsbedürftige Menschen dürfen nicht zu „permanenten Wohlfahrtsempfängern“ gemacht werden. Aus diesem Grund ist es auch besser, von „Humanitärer Zusammenarbeit“ als von „Humanitärer Hilfe“ zu sprechen.

Verlassener Kindergarten in Prypyat, Ukraine. Die Stadt wurde drei Tage nach der Expolsion in Reaktor 4 evakuiert. Sie ist enschen in Belarus leiden bis heute an den Folgen von jetzt eine Geisterstadt in einer der geschlossenen Zonen, die Tschernobyl und zunehmend auch an den gesellschaftman nicht betreten darf – manche 900 Jahre lang nicht. lichen Verhältnissen. Dies habe ich soeben wieder bei meinem

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letzten Besuch Ende Januar 2011 erlebt: Im Alltag auf der Strasse und in den Wohnungen ist das Thema „Tschernobyl“ zunächst kein Thema mehr. Spreche ich jedoch mit den Menschen, sind die körperlichen, seelischen und sozialen Folgen unübersehbar. Besonders eindrucksvoll ist für mich immer wieder eine Fahrt durch die „Zone.“ Mir geht es dann wie den dortigen Bewohnerinnen und Bewohnern – nach kurzer Zeit vergesse bzw. verdränge ich, dass ich mich in einer kontaminierten Gegend befinde, da die Strahlung nicht sichtbar, fühlbar, hörbar, riechbar oder zu schmecken ist.

Kindergarten durch, installierten mehrere Solaranlagen und eine Holzpellets-Heizung. Über 1.500 freiwillige Helfer haben sich an den Workcamps beteiligt und ihrerseits weitere Hilfsprogramme zur sozialen und beruflichen Integration der Umsiedler initiiert. Gemeinsam mit der belarussischen Partnerorganisation ÖKODOM bemühen wir uns seit 1999 außerdem um strukturelle Fördermaßnahmen für das Land, insbesondere auf dem Energiesektor. Als unübersehbares Zeichen gegen Atomstrom wurden - wie alle anderen Projekte überwiegend aus Spenden finanziert - die beiden ersten Windkraftanlagen in Belarus mit einer Jahresleistung von 1,3 Millionen kWh installiert. Weiter wurde eine Schilfplatten-Produktionsanlage zur Dämmung von Häusern als Beispiel für Energie-Einsparung gebaut, und wir errichteten eine modellhafte Ambulanz im ersten Niedrigenergie-Gebäude des Landes. Im Gedenkjahr 2011 planen wir den Bau eines zweiten Ambulanzzentrums. Das Ziel ist auch hier die bessere medizinische Versorgung unserer Umsiedlerfamilien mit den vielen kleinen Kindern aus dem Tschernobylgebiet sowie die medizinische Versorgung der umliegenden Dörfer.

Viele Organisationen und Initiativen haben nach dem GAU tatkräftig zugepackt. Der 1992 von dem Ehepaar Irmgard und Dietrich von Bodelschwingh gegründete Verein HEIM-STATT TSCHERNOBYL e.V., in dem auch ich mich seit 10 Jahren engagiere, ist nur eine davon. In diesem Verein haben sich Handwerker und Menschen vieler anderer Berufsgruppen zusammengeschlossen, um vor Ort durch persönlichen, praktischen Einsatz nachhaltige Hilfe für Menschen aus dem Tschernobylgebiet zu leisten. Die Kombination zwischen handwerklicher und medizinischer Hilfe, das Thema Erneuerbare Energien und das Gemeinschaftserlebnis zwischen jungen und alten Menschen aus zwei sehr unterschiedlichen Kulturen, hat mich von Anbeginn fasziniert.

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ir hoffen sehr und glauben daran, dass uns neben der individuellen Hilfe durch den Bau der Windkrafträder, der Ökohäuser und Solaranlagen und der anderen Projekte eines gelingt zu zeigen: Wir alle müssen vor dem Hintergrund der Tschernobylkatastrophe konsequent Lernschritte in Richtung Alternative Energien gehen.

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ir helfen jungen Familien mit kleinen Kindern aus den verstrahlten Gebieten, sich im nicht verstrahlten Norden des Landes eine neue Existenz aufzubauen. Seit nun schon 20 Jahren bauen wir dafür in jährlichen Sommer-Baucamps gemeinsam mit den zukünftigen Bewohnern sowie deutschen und belarussischen Freiwilligen Holz- und Lehmhäuser. 55 Häuser sind inzwischen in zwei Dörfern entstanden, dazu Gemeinschaftshäuser, ein Werkstattgebäude, eine medizinische Ambulanz und zwei Kirchen. Wir führten Reparaturarbeiten an der Schule und im

Dr. med. Ludwig Brügmann, IPPNW Berlin und Vorstandsmitglied Heim-statt Tschernobyl e.V. ludwig.bruegmann@gmx.de www.heimstatt-tschernobyl.org 27


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Zuhause noch längst nicht vorbei Ida Persson war mit dem IPPNW-Projekt „famulieren & engagieren“ in Palästina

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und weint über ihr Kind?“ fragte ein älterer Arzt fast zornig. „Ihr Sohn war immer schwer krank, sie hat ihn aber nie besucht“. Über die Sozialarbeiterin erfuhr ich allerdings, dass die Frau große familiäre Probleme hatte und vorher nicht vorbeikommen konnte.

as schönste Erlebnis während des zweimonatigen Aufenthaltes in Palästina war das Entstehen von wunderbaren, mein Leben bereichernden Freundschaften. Das Traurigste war es, von eben diesen Freunden den tiefen Zwiespalt zwischen Hoffnung und Verzweiflung zu spüren, der in der Bevölkerung dieses Landes seit Jahrzehnten einschneidet.

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eben Medizin war die Politik täglich präsent. Während der Visite (als nebenbei erklärt wurde, welche Schwierigkeiten im Weg stehen, wenn ein Kind nach Jerusalem oder Tel Aviv überwiesen werden muss) oder später am Frühstückstisch (über persönliche Erfahrungen, wie das Leben unter Besatzung oder die Zeit der Intifada sowie persönliche Meinungen zu Hamas und Fatah, Ein- oder Zweistaatenlösung). In vielen Gesprächen ging es aber auch um die Konflikte in der eigenen Gesellschaft. Um Korruption und Skepsis den eigenen Politikern gegenüber. Um Vorurteile und Misstrauen zwischen Christen und Moslems. Beides große und schwierige Themen.

In täglichen Begegnungen konnte ich zwei sehr kontrastreiche Umgangsweisen mit dem Zustand der Besatzung beobachten. Entweder füllt die Politik den persönlichen Alltag aus – in Gedanken und Handeln – oder sie wird aus dem Bewusstsein verdrängt. Das eigene Leben engt sich dann auf einen privaten Raum ein, die Konfrontation mit den eigenen Unfreiheiten wird möglichst vermieden. Diese letztere Strategie ahnte ich hauptsächlich bei jüngeren Palästinensern und Palästinenserinnen, deren Wunsch nach Normalität und der Möglichkeit persönlicher Entfaltung durch Mauer, Check-Points, Siedlungsbau mit daraus resultierender Segregation der Westbank und wirtschaftliche Abhängigkeit kaum umzusetzen ist.

Bevor Ramadan zu Ende war, gab es für alle Angestellten eine große Feier im Hotel Intercontinental, sowie jedes Jahr auch zu Weihnachten. Die Stimmung war ausgelassen und die langen Tische mit Köstlichkeiten beladen. Wir tanzten, bis wir vor Lachen nicht mehr konnten. Nur die italienische Schwester in ihrem weißen Ordensgewand und ein junger Krankenpfleger wurden nicht müde. Dass die Leute gut feiern können, bezeugt auch die Reihe von Hochzeiten, zu denen immer großzügig eingeladen wird.

Famulieren Sehr glücklich war ich über die Möglichkeit in dem einzigen Kinderkrankenhaus der Westbank famulieren zu können, dem „Caritas Baby Hospital“. Die ganze Klinik, die einen Katzensprung von meiner Wohnung entfernt lag, war relativ klein und bestand aus einer Neonatologie und zwei allgemeinpädiatrischen Stationen. Die zugehörige Ambulanz hatte rund um die Uhr auf und bot auf wöchentlicher Basis auch mehrere Spezialsprechstunden an, wie Neurologie oder HNO. Der erste Eindruck war positiv; es war sauber, wirkte modern und gut ausgerüstet.

Engagieren Nach einem Monat in Bethlehem musste ich schweren Herzens einsehen, dass die Halbzeit schon erreicht war. Gleichzeitig wechselte ich vom Krankenhaus zum Sozialpraktikum in der Nichtregierungsorganisation GTC (Guidance and Training Center for the Child and Family), eine Organisation, die vor etwa 15 Jahren gegründet wurde und seitdem als Beratungs- und Behandlungszentrum für psychosoziale Gesundheitsstörungen fungiert. Was dort eine NGO bewältigt, wäre in Deutschland Aufgabe einer staatlichen Einrichtung.

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us medizinischer Sicht lehrreich, aber emotional schwer zu ertragen, waren die vielen von genetischen Erkrankungen betroffenen Kinder. Innerfamiliäre Ehen sind relativ häufig, was einerseits auf traditionellen Denkweisen, anderseits auf politisch begründeten Bewegungsrestriktionen beruht. Die Möglichkeiten, diesen Kindern ein würdiges Leben zu bieten, erscheinen schnell ausgeschöpft. Die Eltern sind oft mit der Aufgabe überfordert, die Gesellschaft tabuisiert und die Einrichtungen für Rehabilitation und Pflege chronisch Kranker sind rar. Als in meiner letzten Praktikumswoche ein kleiner Patient mit einem unbekannten genetischen Leiden plötzlich in Sauerstoffsättigung abstürzte, daraufhin intubiert und auf einen der neuentstehenden Intensivplätze verlegt werden musste, kam seine Mutter zum ersten Mal ins Krankenhaus. Sie war untröstlich. „Warum kommt sie jetzt

Der zentrale Teil des Praktikums bestand in dem Beiwohnen der Therapiesitzungen und Beratungsgesprächen. Es war durchgängig schön zu sehen, mit welcher Empathie und Feinfühligkeit sie geführt wurden. Am spannendsten, weil einfacher zu folgen, war die Spieltherapie mit den kleineren Kindern. Aus Gesprächen nebenbei lernte ich einiges über psychiatrische Krankheitsbilder, sowie über das Bild der Psychiatrie in der palästinensischen Gesellschaft. Ein wichtiger Teil der Arbeit des GTC sind die öf28


Was bedeutet Frieden? Bedeutet es militärische Kontrolle über Grenzgebiete und die diplomatische Festlegung dieser Grenzen?

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fentlichen Sensibilisierungskampagnen, womit angestrebt wird Vorurteile zu brechen und auf die möglichen Hilfsangebote aufmerksam zu machen.

enn ich an Palästina denke, bin ich glücklich und traurig zugleich. Ich wünsche innigst, dass die verschiedenen Bevölkerungsgruppen des Nahen Ostens eines Tages in Frieden miteinander werden leben können. Aber es hat sich auch eine Skepsis gegenüber diesem viel verwendeten Begriff entwickelt. Der in den Medien so genannte peace-process klingt für die meisten Menschen, mit denen ich gesprochen habe, wie ein Hohn. Was bedeutet wirklicher Frieden?

„Engagieren“ konnte ich mich hier aber letztendlich vor allem auf kognitiver Ebene. Damit meine ich die Auseinandersetzung mit den politischen und gesellschaftlichen Konflikten der Region. Sehr oft sprachen wir im Büro über die NGO-Landschaft des Nahen Ostens – wie vermeintliches Helfen kontraproduktiv wirken kann und welche Agenda eigentlich hinter großen Spendern steckt. US-Aid verlangt zum Beispiel das Unterschreiben einer Anti-Terror-Klausel. Kommentar meines Betreuers: „Wir können nicht unsere Patienten und Patientinnen fragen, für welche Partei sie denn in den letzten Wahlen gestimmt haben, das wäre unethisch“.

Bedeutet es, dass Menschen keine Schussverletzungen, keine Flugzeugangriffe, keine Bombenanschläge, keine QassamRaketen mehr erleiden? Bedeutet es militärische Kontrolle über Grenzgebiete und die diplomatische Festlegung dieser Grenzen? Oder ist es ein friedlicher, respektvoller Umgang miteinander – das Sicherstellen gleicher Rechte, die gegenseitige Anerkennung der Bedürfnisse des Anderen – eine Fähigkeit einer Gesellschaft und jedes einzelnen Menschen zu Konfliktbewältigung?

Für mich zählen deshalb viele andere Erlebnisse zu diesem zweiten Teil meines Aufenthaltes. Ein Wochenende verbrachte ich an der Birzeit Universität, außerhalb von Ramallah. Dort nahm ich an der Konferenz „Geographies of Aid Intervention in Palestine“ teil. In dieser Veranstaltung wurden verschiedene Aspekte der Besatzung beleuchtet; ökonomische Abhängigkeit, internationales Gesetz und humanitäre Hilfe, als ein paar Beispiele. Auch erfolgte die Diskussion darüber, ob es überhaupt angemessen ist, die gegebene Situation als Besatzung zu definieren – immer häufiger wird stattdessen von „Kolonialismus“ und „Apartheid“ gesprochen. Kann der Kampf um die Rechte der palästinensischen Bevölkerung etwas von der Anti-Apartheid-Bewegung in Südafrika lernen? Wie kann die internationale Gesellschaft ihre Verantwortung wahrnehmen um diesen Konflikt, den sie selbst mit-geschaffen hat, zu einem Ende zu bringen? What does it mean to aid Palestine and what is Palestine? Diese zwei Tage boten mir viel Stoff zum Nachdenken.

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ür mich birgt dieser letzte Ansatz den einzig nachhaltigen Weg. Jeder einzelne Mensch hat einen Einfluss auf die Welt. Es ist möglich zu einem Frieden beizutragen. An diesem Punkt bin ich allerdings schon weit außerhalb der Westbank oder der ganzen Nahostregion angelangt, und das führt mich zum abschließenden Gedanken: Eine Reise ist bei der Rückkehr nach Hause noch längst nicht zu Ende.

Ida Persson studiert im 7. Semester in Leipzig und ist in der dortigen Studierendengruppe der IPPNW aktiv. 2010 war sie Mitglied der Delegation zur NPT in New York. 29


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Update für IPPNW-Aktivisten

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Europa-Treffen während des Tschernobylkongresses 2011 IPPNW „Aiming for Prevention“, die Arbeit der “Mediteranean Commission“ sowie studentische Aktivitäten.

erlin liegt im Herzen Europas. Das führte zu der Idee, den dort von der deutschen IPPNW-Sektion veranstalteten internationalen Tschernobyl-Kongress für ein europäisches IPPNW-Treffen zu nutzen. Geplant ist ein informeller Austausch über nationale Schwerpunkte sowie ein „Update“ für IPPNW-Aktivisten aus Europa.

S

chwerpunkt wird die ICAN-Kampagne, die „International Campaign to abolish nuclear weapons“. Ein europäisches ICAN-Büro am UN-Standort Genf ist zur Zeit in Gründung. Auch die IPPNW-Aktivitäten zur NATO können diskutiert werden.

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uropa ist der Kontinent mit der höchsten Zahl an IPPNW-Sektionen. Dieser Schatz ist zugleich aber schwierig zu steuern, Die Veranstaltung findet statt am Freitag, 8. April von 12 Uhr da die nationalen IPPNW-Sektionen zum Teil sehr unterschied- bis 18:30 Uhr und ist offen für alle Interessierte. Wir hoffen vor allem auch auf Beteiligung von Gästen aus liche Gründungsgeschichten und Traditi- IPPNW-Lotterie neuen IPPNW-Sektionen wie der aus Mazeonen haben - und zudem unterschiedlich Der Losverkauf für die diesjährige Friedensdonien (Former Yugoslav Repulic of Macedogroß sind. Grob gesagt gibt es ein Nordlotterie hat begonnen. Unterstützen Sie die nia), wo sich Ende des vergangenen Jahres Süd und ein West-Ost-Gefälle in Sachen internationale IPPNW für eine Welt ohne Atomwaffen und ohne Krieg direkt und sieine IPPNW-Sektion gegründet hat. Auch im Organisationsgröße. Hinzu kommen die chern sich selbst die Chance auf einen GeNachbarland Polen hat es eine WiederbeleKontakte mit den Sektionen der ehemawinn von 10.000 Dollar. Die Idee: Weltweit bung der dortigen IPPNW-Sektion gegeben. ligen Sowjetunion, insbesondere Russwerden nur 300 Lose à 100 Dollar vertrieben. Gleiches gilt für die serbische IPPNW. land. Hier besteht ein Interesse an mehr Ein einziges Los erzielt den Hauptgewinn gemeinsamer politischer Arbeit. Dies zu von 10.000 Dollar. Alle weiteren Gelder kommen der Arbeit der internationalen IPPNW Das Treffen am Sonntag wollen wir durch fördern ist nicht nur von historischer Bezu Gute. 2010 wurde dadurch zum Beispiel eine kurze Abschlussrunde „wie weiter nach deutung, sondern auch eine Chance für die studentische Anti-Atom-Fahrradtour von Berlin“ ergänzen. die Zukunft, um Friedensfähigkeit aus Köln nach Basel unterstützt. der Mitte der Zivilgesellschaft aktiv zu geDie Ziehung ist am 1. Juni 2011 in Boston. stalten. Gleiches gilt für die Mittelmeerzowww.peaceraffle.org ne, wo Kontakte in viele Länder bestehen mit wiederum ganz eigenen strukturellen Problemen. Wir wollen deshalb praktische Zusammenarbeit fördern, Gemeinsamkeiten besser herausarbeiten, um die europäische Kampagnenfähigkeit der IPPNW weiter zu entwickeln. Lars Pohlmeier ist IPPNW-Vicepresident Europe.

Es wird kurze inhaltliche Impulse zu verschiedenen Themen geben. Hierzu zählen die internationale Kleinwaffenkampagne der 30


aktion

Für den Frieden Aktionen im Januar und Februar Ende Januar haben IPPNW-Aktive in Berlin anlässlich der Abstimmung im Bundestag über den Afghanistan-Einsatz eine Protestaktion veranstaltet. Dabei haben sie den Opfern des Krieges ein Gesicht gegeben: In Schwarz gekleidet trugen sie Masken mit afghanischen Gesichtern sowie Schilder mit afghanischen Namen und Adjektiven, die Krieg assoziieren wie z.B. „tot“, „verwaist“, „verstümmelt“, „traumatisiert“, „ausgebombt“. Am 20. Februar wurde der Friedensfilmpreis an „Morgen wird alles besser“ verliehen. Jasmin Tabatabai hielt die Laudatio. Mehr dazu auf Seite 8. Zu Beginn der Berlinale protestierte die Jury mit einem Groß-Plakat und der darauf formulierten Frage „Wo bleibt Jafar Panahi?“ vor dem Berlinale-Palast und der Botschaft Irans für den verurteilten iranischen Regisseur.

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gElESEN

gESEhEN

Lehren aus dem Kalten Krieg Verseuchtes Land In 2010 habe ich zwei wichtige englischsprachige Bücher in die hände bekommen: „Arsenals of Folly“ von Richard Rhodes und „The Dead hand“ von David E. hoffmann.

Als im vorigen herbst beabsichtigt wurde, Atommüll von Deutschland nach Russland zu verschieben, kam ein vergessener Ort für kurze Zeit ins öffentliche Bewusstsein.

eide Autoren sind US-Amerikaner, beide Bücher handeln von der Aufarbeitung des Kalten Kriegs, vor allem in den 80er Jahren. Sie enthalten viele neue Informationen aus US-amerikanischen und sowjetischen Archiven, Interviews und Memoiren, die unsere damaligen Befürchtungen bestätigen. Tatsächlich standen wir damals am Rande des Abgrunds und haben diese Zeit nur mit sehr großem Glück überlebt.

ie Atomfabrik Majak in der Region Tscheljabinsk, am Südural im Südwesten Russlands gelegen. Die Gegend um Majak zählt neben Tschernobyl zu den höchstverstrahlten Gebieten der Welt. Majak war die erste Anlage zur industriellen herstellung spaltbaren Materials in der Sowjetunion. In dem geheimen kerntechnischen Kombinat Majak wurde waffenfähiges Plutonium produziert und nukleare Brennstäbe wiederaufbereitet.

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D

In „Arsenals of Folly“ erzählt Pulitzer-Preisträger Rhodes die Geschichte des atomaren Wettrüstens und von der Rückkehr der Vernunft in Form der Rüstungskontrolle. Besonders packend ist die Beschreibung der Verhandlungen zwischen Reagan und Gorbatschow, die 1986 in Reykjavik beinahe die Atomwaffen abgeschafft hätten. Wegen des Streits um die Raketenabwehr kam es dazu am Ende nicht und „nur“ die Mittelstreckenraketen wurden eliminiert. Alarmierend ist die Beschreibung der Lage im Jahr 1983, als es während der NATO-Militärübung Able Archer um ein haar zum Atomkrieg gekommen wäre.

Am 29. September 1957 explodierte in Majak ein riesiger Betontank mit flüssigen, hochradioaktiven Abfällen aus Strontium-90 und Cäsium-137. Der Unfall wurde über 30 Jahre geheim gehalten und verschwiegen. Auch heute, über 50 Jahre später, gibt es noch immer keine verlässlichen Statistiken über die Opferzahlen. Die Folgen sind bis heute verheerend. Ein 300 km langer und 40 km breiter Landstreifen gilt als verseucht und unbewohnbar. hunderttausende wurden und werden Opfer der radioaktiven Kontamination. Der Unfall von 1957 war sicher der folgenreichste aber nicht der einzige. Majak ist so etwas wie der permanente GAU. Über jahrzehnte hinweg leitete das Werk radioaktive Abwässer in den Fluss Tetscha. Die jährliche Schneeschmelze lässt die Auffangbecken überfluten und so radioaktive Stoffe in die Umwelt gelangen. Oleg Bodrovs Dokumentation „Verseuchtes Land“ nimmt uns mit in das Dorf Musljumowo, 30 km von Majak entfernt. Kaum einer ist hier gesund. Die Menschen leiden an chronischen Krankheiten wie Bluthochdruck, herzproblemen, Arthritis und Asthma. Die Zahl der Krebserkrankungen ist drastisch erhöht. Jede zweite Frau ist unfruchtbar, jedes dritte Neugeborene kommt mit Missbildungen zur Welt.

„The Dead hand“ erzählt nicht nur vom atomaren Wettrüsten, sondern auch vom sowjetischen B-Waffenprogramm im Kalten Krieg. Durch Recherche in bisher geheimen Kreml-Dokumenten konnte hoffmann viele neue Erkenntnisse ans Licht bringen. Zum Beispiel war Gorbatschow 1985 von Rüstungsforschern ein massives „Star Wars“-Programm auf den Schreibtisch gelegt worden, als Gegengewicht zum US-amerikanischen SDIProgramm. Doch Gorbatschow lehnte ab. Darüber hinaus beschreibt hoffmann, wie in der Sowjetunion eine finstere Technik namens „Dead hand“ entwickelt wurde. Mit ihrer hilfe sollten Atomwaffen nach einem atomaren Angriff automatisch gestartet werden, falls die Befehlshaber bereits ausgelöscht wären.

„Verseuchtes Land“ gestattet uns einen eindrücklichen Blick hinter die Kulissen und führt uns die unverantwortlichen menschenverachtenden Praktiken der Atomindustrie vor Augen. Für die Auseinandersetzung über die Endlagerung und den Export von Atommüll nach Majak liefert sie wichtige Argumente. Frank Uhe

Zu hoffen ist, dass diese Bücher irgendwann auf Deutsch herauskommen. Sie bereichern nicht nur die Geschichtsschreibung, sondern enthalten viele Lehren für unsere Gegenwart, besonders zur Beziehung Abrüstung und Raketenabwehr. Xanthe hall

Verseuchtes Land - Die Atomfabrik Majak; Produktion: Greenworld Russia; Russland 2009; 31 Min. DVD OF mit dt./engl. UT; zu bestellen unter www.videowerkstatt.de

David Hoffmann: The Dead Hand; Doubleday Verlag; 27,99 Euro Richard Rhodes: Arsenals of Folly; Vintage Verlag; 11,99 Euro 32


gEdrUcKt

tErMINE

MÄrZ 11.3. Weiter tot rüsten? Öffentliche veranstaltung mit Horst-Eberhard Richter und Götz Neuneck im rahmen des IPPNW-Jahrestreffens, Ev. Matthäuskirche, Frankfurt, 20 Uhr 12.3. Anti-Atom-Menschenkette in Baden-Württemberg, vom AKW Neckarwestheim nach Stuttgart

Neue Faltblätter Im IPPNW-Shop gibt es neue Faltblätter: „Wir kehren gründlich“ richtet sich vor der Landtagswahl an Baden-Württemberger und unterzieht der Energiepolitik des Landes auf vier Seiten einer kritischen Betrachtung. Im 8-seitigen Biblis-Faltblatt geht es dagegen um Sicherheitsdefizite und die Klage der IPPNW. helfen Sie bei der Verteilung und bestellen Sie Faltblätter unter http://shop.ippnw.de

13.3. Öffentliche veranstaltung „Brandherde im Nahen und Mittleren Osten“, Ev. Matthäuskirche, Frankfurt, 9 Uhr 25.-26.3. 25 Jahre nach tschernobyl: Bombenrisiko Atomkraft, dgBhaus München 25.3. Gesundheits- und Umweltschäden durch Uranbergbau, Überseemuseum, Bremen

APrIl

gEPlANt Das nächste heft erscheint Mitte Juni 2011. Im Schwerpunkt geht es dann um

5.-10.4. Wissenschaftssymposium und IPPNW-Kongress „25 Jahre Tschernobyl“, siehe rückseite

Sicherheit im Mittleren und Nahen Osten

17.4. „25 Jahre Tschernobyl und der Atomausstieg heute - eine dramatische Lesung“, Stuttgart, Bürgerhaus West, 19 Uhr

u.a. werden wir darin über die Fortschritte der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten“ berichten. (Wer Interesse an diesem Thema hat, sollte übrigens die Veranstaltung am 13. März im Rahmen des Jahrestreffens nicht verpassen!) Außerdem wird dem nächsten heft der Jahresbericht für 2010 beigelegt sein. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: wilmen@ippnw.de

25.4. Ostermontag: gemeinsamer Aktionstag der Friedens- und AntiAKW-Bewegung; Ostermärsche an den Standorten von Atomkraftwerken, Lagerstätten und Atomwaffen; z.B. demonstration am AKW Neckarwestheim, Bhf Kirchheim/Neckar, 13 Uhr

IMPrESSUM UNd BIldNAchWEIS herausgeber: Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW) Sektion Deutschland Redaktion: Sabine Farrouh (V.i.S.d.P.), Angelika Wilmen, Anne Tritschler Freie Mitarbeit: Ulla Gorges, Xanthe hall, Ewald Feige, Jens-Peter Steffen, Frank Uhe, Pia heuer, Katja Vyrlieieva Anschrift der Redaktion: IPPNWforum, Körtestraße 10, 10967 Berlin, Telefon: 030 / 69 80 74 0, Fax 030 / 693 81 66 E-mail: ippnw@ippnw.de, www.ippnw.de Bankverbindung: Bank für Sozialwirtschaft, Konto 22 22 210, BLZ 100 205 00 Erscheint 4 mal im Jahr. Der Bezugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Sämtliche namentlich ge-

zeichneten Artikel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion oder des herausgebers. Nachdrucke bedürfen der schriftlichen Genehmigung. Redaktionsschluss für das nächste heft: 15. Mai 2011 Gestaltungskonzept: www.buerobock.de Layout: Anne Tritschler; Druck: h&P Druck Berlin; Papier: PlanoArt, Recycling FSC Titel: Robert Knoth S4 Berlinale S6 Weltsozialforum, Igor Ojeda, flickr; S7 Trident Missile Launch, wikicommons; AKW Mühleberg, BKW FMB Energie AG, wikicommons S29 Banksy Foto von Ida Persson S32/33 Cover, Double Day und Vintage Verlag; Wasteland, Still aus dem Film U4 Tschernobyl-Reaktor, Detlev Jech Nicht gekennzeichnete: privat oder IPPNW 33

26.4. IPPNW-Concerts, Benefizkonzert zu 25 Jahre tschernobyl, Philharmonie Berlin, 20 Uhr

JUlI 1.-3.7. „Krieg - und was für ein Ende?“, Konflikt um Afghanistan, Bad Boll

SEPtEMBEr 18.-25.9. Summer School „Global health“, charité Berlin Informationen und Kontaktdaten: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine


g efragt

6 Fragen an ... Dave Sweeney Campaigner der Umweltorganisation Australian Conservation Foundation

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Dave, in Australien liegen die größten Uranvorkommen der Welt. Anfang des Jahres war Australien vor allem mit Überschwemmungen und dem Zyklon in den Medien. Hat die australische Regierung eigentlich vorgesorgt, falls Tailings der Uranminen überflutet werden? In den späten 90er Jahren hat ein Bericht des Parlaments das Management der Tailings als „die größte Herausforderung im Uran-Abbau“ bezeichnet. In den Abfällen sind schließlich immer noch etwa 80% der ursprünglichen Radioaktivität erhalten. Dennoch stützt sich die Denke der Regierung und der Industrie in der Regel auf zwei Prinzipien: 1. Verleugnung: Das kann ja nicht passieren oder ist zumindest unwahrscheinlich 2. Verharmlosung: Selbst wenn es passieren würde, wäre der Schaden durch die Menge an Wasser und die Größe des Überflutungsgebiets minimal. Beide Herangehensweisen sind inakzeptabel.

es immer wieder Lecks und unkontrollierte Abgabe von radioaktivem Material, sei es in der Ranger-Mine, in Olympic Dam oder in Beverly.

4

Werden Unternehmen dafür zur Verantwortung gezogen? Die Unternehmen im Uranabbau sind dazu angehalten, ihren Abraum und die Tailings zu kontrollieren. Aber die Überprüfung und Durchsetzung der Verpflichtungen ist kaum der Rede wert. Eine Untersuchung des Senats hat 2003 festgestellt, dass Leistungsdefizite, Nichteinhaltung von Auflagen, das Fehlen verlässlicher Daten und eine Unternehmenskultur, die sich von kurzfristigen Gewinnen leiten lässt, in dieser Branche die Regel sind.

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Hat sich mit der neuen Regierung in Australien irgendetwas verändert? Leider nein. Die regierende Labour Partei ist ein großer Unterstützer des Uran-Abbaus. Auf ihrer Webseite heißt es zwar, dass sie „Uranabbau und -export nur unter den strengsten Auflagen erlauben“. Tatsächlich gibt es für die Industrie so gut wie keine Auflagen von staatlicher Seite. Verstöße werden kaum geahndet, die Unternehmen bekommen steuerliche Vergünstigungen, und Zulassungen für Minen gehen schnell über die Bühne.

2

Was hätte eine Überflutung von Tailings für Auswirkungen? In den Tailings befindet sich jede Menge radioaktives Material, Schwermetalle, Säure und andere Verarbeitungsreste. Viele sind und bleiben über lange Zeit gefährlich. Wasserressourcen würden verseucht und damit wären auch Tiere und Menschen gefährdet. Schwere Umweltkatastrophen wie Überschwemmungen sind eine ernsthafte Gefahr für die Stabilität der Tailings. Zwar sind die Becken dafür ausgelegt, einer Jahrhundertflut standzuhalten, aber die immer häufigeren und immer schwereren Umweltkatastrophen bedeuten auch ein zunehmendes Risiko – die Sicherung von Tailings in Australien hat und wird versagen.

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Die australischen Aktivisten sind durch ihre Kampagne „Stop Jabiluka“ bekannt geworden. Gibt es da eigentlich Neuigkeiten? Jabiluka ist ein Gebiet im Kakadu Nationalpark. In den späten 90er Jahren haben die traditionellen Eigentümer, die Mirrar, eine internationale Kampagne gegen den Bau einer Uranmine dort geführt. Mit Erfolg: Im Jahr 2005 hat sich Rio Tinto verpflichtet, dortige Uranvorkommen ohne Einwilligung der Indigenen nicht weiter zu erschließen. Noch heute ist Jabiluka nicht in Betrieb, aber um einen Fuß in der Region zu halten, plant Rio Tinto den Ausbau der Ranger Mine – eine Bedrohung der Umwelt und der Kultur in diesem Weltkulturerbe. Wir werden jeden Schritt in diese Richtung bekämpfen.

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Was ist denn schon passiert? Es gibt viele Beispiele für Dammbrüche bei Tailings, auch im Uransektor. Ein Leck in den Tailings der früheren Rum Jungle Uranmine in der Northern Territory hat dazu geführt, dass das ganze Gebiet noch heute davon betroffen, das Grundwasser noch immer kontaminiert ist. Später gab es schwere Verschmutzungen durch radioaktive Flüssigkeiten aus der Uranmine von Rio Tinto in Queensland, und auch in den heutigen Minen gibt 34


ANZEIgEN

Einsatz für Menschenrechte ist riskant. Andrea setzt sich für die Rechte Indigener in Mexiko ein.

Wir schaffen Raum für deren Schutz. Iñigo von pbi begleitet sie zu ihrer Sicherheit.

Mit peace brigades international und dem Programm Ziviler Friedensdienst nach Guatemala, Indonesien, Kolumbien, Mexiko und Nepal. Infos auf pbi-deutschland.de making space for peace


niker,

einlAdUnG ÖFFentlicheR inteRnAtiOnAleR iPPnW-KOnGRess 25 JAhRe nAch tscheRnObyl ZeitbOMbe AtOMeneRGie– AtOMAUsstieG JetZt! beRlin URAniA 8.–10.APRil 2011 deutsche sektion der internationalen Ärzte für die FREITAG, 8. APRIL 2011 Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für strahlenschutz, 19:00 Uhr AUSSTELLUNGSERÖFFNUNG den Physicians of chernobyl, der naturwissenschaftlerinnen Certificate no. 000358 by Robert Knoth initiative Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit, dem nuclear Free Future Award und der Urania berlin

www.tschernobylkongress.de

20:00 bis 21:30 Uhr Öffentliche Veranstaltung in Zusammenarbeit mit der Urania: 25 JAHRE TSCHERNOBYL - WAHNSINN ATOMKRAFT Einführung Angelika Claußen, IPPNW Deutschland Zeitzeugen erinnern an das Unglück und die Folgen Lesung & Musik; anschließend „Come together“

SAMSTAG, 9. APRIL 2011 9:00 Uhr AUFTAKTPLENUM Dr. Helen Caldicott; Prof. Dr. Günter Altner 10.45 bis 11:45 Uhr FOREN 1 – 4 Tschernobyl: Folgen für die Gesundheit; Uranabbau; Risiken und Gefährdungen im Normalbetrieb; Bombenrisiko Atomkraft; 12:00 bis 13:00 Uhr FOREN 5 – 8 Tschernobyl: Folgen für die Gesundheit; Atommüll; Erneuerbare Energien; Verantwortung praktisch;

Z E I T B O M B E  AT O M E N E R G I E

25 JAHRE T S CH E R N O BY L

14:30 bis 15:45 Uhr WORKSHOPS 1-5 Der „Knebelvertrag“ von IAEO und WHO; Molekulargenetische Erklärungsmuster der fehlenden Geburten nach Tschernobyl und in der Umgebung der AKW; Global call to action for a ban on uranium mining; Der energethische Imperativ; Jetzt atomwaffenfrei! 16:15 bis 17:30 Uhr WORKSHOPS 6-8 Tschernobyl heute. Zeitzeugen berichten; Uran-Waffen; Von der Urania ins Klassenzimmer - Wie können wir Informationen über die Gefahren der Atomenergie in der Bevölkerung verbreiten?; Beyond Nuclear 17.45 bis 18:30 Uhr ABSCHLUSSPLENUM Atomausstieg jetzt ! Initiativen stellen ihre Arbeit vor

SONNTAG, 10. APRIL 2011

www.tschernobylkongress.de

11.00 Uhr FEIERLICHE VERLEIHUNG DER NUCLEAR-FREE FUTURE AWARDS Der Nuclear-Free Future Award ehrt weltweit Menschen oder Initiativen, die sich, auf herausragende Weise für eine Zukunft ohne Atomwaffen und ohne Atomstrom einsetzen. Der Preis, mit je 10 000 Dollar ausgestattet, wird in den drei Kategorien Widerstand, Aufklärung und Lösungen verliehen; daneben gibt es einen Ehrenpreis für Lebenswerk. www.nuclear-free.com


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