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Wenn der Mensch besser ist als der Computer
from Blaulicht 2/2023
by IV Group
Super-Recognizer – Personen, die sich Gesichter besonders gut merken können –sind oft treffsicherer als die modernste Gesichtserkennungssoftware. In der Schweiz erforscht Neurowissenschaftlerin Meike Ramon dieses Phänomen – mit Geldern des Schweizerischen Nationalfonds.
Die Meldung, dass die Stadtpolizei Winterthur ab Januar 2023 als erstes Polizeikorps in der Schweiz einen «SuperRecognizer» einsetzt (siehe Box), überraschte zu Jahresbeginn all jene, die sich vorgängig nicht mit dieser Thematik befasst haben. Für Spezialisten im Bereich Gesichtserkennung indes war es nicht mehr als eine logische Entwicklung. Denn die Schweiz nimmt bei der Erforschung der Fähigkeiten sogenannter Super-Recognizer eine Vorreiterrolle ein.
Super-Recognizer: Menschen mit Inselbegabung
Super-Recognizer sind Personen mit der angeborenen Fähigkeit, sich unbekannte Gesichter hervorragend einzuprägen und sofort oder auch Jahre später treffsicher zu vergleichen und zuzuordnen. Innert Minuten filtern sie aus hunderten Porträtbildern oder Videoaufnahmen von Menschenansammlungen jenes Gesicht heraus, das sie zuvor schon einmal gesehen haben. Dies gelingt ihnen sogar dann mit hoher Zuverlässigkeit, wenn die Gesichtsaufnahmen unscharf oder von schlechter Qualität sind, etwa, weil sie aus grosser Distanz oder bei ungünstigen Lichtverhältnissen aufgenommen wurden. Auch dann, wenn das Gesicht der fotografierten Person teilweise verdeckt ist.
Bei allen Polizeikorps begehrt
Ihre seltene Inselbegabung macht Super-Recognizer besonders wertvoll für die Ermittlungs- und Präventionsarbeit. Denn die Fähigkeit, Personen anhand ihres Gesichts zu erkennen, ist in der Polizeiarbeit eminent – bei einer Personenkontrolle ebenso wie bei der Suche nach einer Zielperson anhand eines nicht aktuellen Fotos oder bei der Bildfahndung anhand von Bildern respektive Videos von Überwachungskameras. Daher suchen Strafverfolgungsbehörden aus aller Welt händeringend nach Super-Recognizern – und einige haben bereits separate Einheiten mit entsprechenden Spezialkräften geschaffen.
So verfügt die Londoner Polizei bereits seit 2015 über eine Super-Recognizer-Einheit. Diese war unter anderem an der Aufklärung des Nervengiftanschlags auf den russischen Agenten Sergei Skripal beteiligt und unterstützte 2016 nach den gewalttätigen Silvesterausschreitungen in Köln gemeinsam mit Scotland Yard die deutsche Polizei bei der Identifizierung etlicher Straftäter.
Seit diesen Erfolgen springen immer mehr Polizeieinheiten auf den Zug auf. Allerorten suchen Strafverfolgungsbehörden in speziellen Bewerbungsverfahren, aber auch in den bereits bestehenden eigenen Reihen nach Personen mit Super-Recognizer-Fähigkeiten. Dabei vertrauen gewisse Korps, wie die Londoner Polizei, auf ein von der Universität Greenwich entwickeltes Testverfahren, während andere, beispielsweise das Landeskriminalamt, Tests einsetzen, welche die heute in der Schweiz tätige Neurowissenschaftlerin und Psychologin Meike Ramon entwickelt hat.
Die Schweizer Koryphäe Meike Ramon
Meike Ramon studierte Psychologie an der Ruhr-Universität Bochum, promovierte beim berühmten Experten für Gesichtserkennung Bruno Rossion an der Université catholique de Louvain in Belgien und forschte dann an der University of Glasgow (UK), an der Universität Fribourg und an der Universität von Lausanne zu den neurologischen Prozessen von Super-Recognizing.
Im Rahmen ihrer Arbeit an der Universität Fribourg kam Meike Ramon in Kontakt mit den Schweizer Sicherheitsbehörden. 2016 kontaktierte die Kantonspolizei Fribourg die Forscherin, weil sie im Zusammenhang mit Überfällen auf eine Bank und ein Juweliergeschäft die Dienste von SuperRecognizem nutzen wollte. Meike Ramon konnte einige der in ihr Forschungsprojekt involvierten Super-Recognizer für das Vorhaben begeistern – und so ihre Forschungsdaten erstmals unmittelbar mit reellen Erfahrungen aus dem Polizeieinsatz in Korrelation bringen.
Ihre entsprechenden Arbeiten stiessen auf reges Interesse –nicht nur bei Europol in Den Haag, wo sie ihre Forschungsresultate präsentieren durfte, sondern auch beim Landeskriminalamt Berlin, das seit 2017 auf den Rat von Meike Ramon vertraut. 2019 erhielt die ehrgeizige Forscherin, die internationale Sicherheitsbehörden und politische Entscheidungsträger zum Thema Gesichtserkennung und SuperRecognizing berät, eine Förderzusage des Schweizerischen Nationalfonds. Dank dieser konnte sie an der Universität Lausanne das «Applied Face Cognition Lab» einrichten. In diesem forscht sie aktuell (vorläufig befristet bis Ende Februar 2024) intensiv zum Thema Super-Recognizing.
Letzteres hat unlängst auch die politische Agenda geentert: Im September 2022 referierte Meike Ramon auf Einladung der parlamentarischen Gruppe Digitalisierung des Berner Grossrats im Berner Kantonsparlament über die Möglichkeiten und Risiken der menschlichen und maschinellen Gesichtserkennung.
Mensch oder Maschine? Beides zusammen!
Meike Ramon weiss, was Forscher aus aller Welt bestätigen: Die besonderen Fähigkeiten von Super-Recognizern sind angeboren – und können nur bis zu einem gewissen Grad trainiert oder durch eine spezielle Ausbildung angeeignet werden. Unklar ist allerdings bisher, welche neurologischen Prozesse dafür verantwortlich sind, dass manche Menschen sich Gesichter derart gut merken können, dass sie ein Porträt nur wenige Sekunden anschauen müssen, um die Person, der das Gesicht gehört, anschliessend in einer Videosequenz, die gleichzeitig auch zig oder gar Hunderte andere Menschen zeigt, zielsicher zu identifizieren.
Ebenso heftig diskutiert wird in Expertenkreisen die Frage, wer grundsätzlich leistungsfähiger ist: Super-Recognizer mit ihrer besonderen Begabung oder hoch entwickelte Gesichtserkennungsalgorithmen, wie sie unter anderem in China bereits massenhaft eingesetzt werden.
Erfahrene Experten wie Meike Ramon empfehlen den Strafverfolgungsbehörden, beides zu kombinieren. Denn während Algorithmen mit möglichst vielen Bildern trainiert werden müssen, um überhaupt funktionieren zu können, dann aber mit jedem Bild, das sie zusätzlich lernen, immer genauer werden, verfügen Super-Recognizer über die einzigartige Fähigkeit, sich intuitiv auf ein Gesicht zu fokussieren. Nutzt man beides, kann in einem ersten Schritt eine entsprechende Software eine Vorauswahl treffen, während der Mensch im Anschluss die eigentliche Identifizierung vornimmt. So gelingt es, die Stärke von Mensch und Maschine zu kombinieren – anstatt nur auf die eine oder die andere Möglichkeit zu setzen oder diese gar gegeneinander auszuspielen.
Es wird spannend sein, zu sehen, welche Fortschritte Meike Ramon und ihre Forscherkollegen in den kommenden Jahren machen und welche Resultate die zunehmende Zahl der Super-Recognizer bei den Polizeikorps aus aller Welt erzielen werden. Eines darf als sicher gelten: Neben biometrischen Daten wie Fingerabdrücken und genetischen Merkmalen wie DNA-Spuren ist die Gesichtserkennung die dritte grundlegende Säule der kriminaltechnischen Personenidentifizierung. Entsprechend lohnend ist die Finanzierung intensiver Forschung in diesem Bereich.
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