VSS - Mein Körper gehört mir!

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Verband Schweizerischer Polizeibeamter VSPB

MEIN KÖRPER GEHÖRT MIR! ➽

Eine Informationsbroschüre gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Buben GRATIS!

02 ➽ Vorwort – Priska Seiler Graf, Nationalrätin

03 ➽ Vorwort – Gerhard Schaub, Präsident

04 ➽ Prävention sexueller Ausbeutung von Kindern – Fachstelle Limita

07 ➽ Gefährdungen bei kleinen Kindern früh erkennen, richtig einschätzen und damit umgehen – Sabine Brunner

13 ➽ Cyber-Grooming, Sexting und Selfies – Gerhard Schaub

16 ➽ Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie:

Fachgruppe Kinderschutz der Schweizer Kinderkliniken – Dr. med. Dörthe Harms Huser

22 ➽ Kinder müssen besser vor sexueller Gewalt geschützt werden!

Marianne Kauer, Kinderschutz Schweiz und Ariane Schwaar, Schulsozialarbeiterin Jegenstorf (BE)

27 ➽ Auskunftsstellen – Kanton Zürich

29 ➽ Rechte der Kinder

30 ➽ Vorfall im Baumhaus – Monica Meyer und Franziska Guntern

32 ➽ Wo Eltern den Umgang mit heiklen Fragen üben – Geschäftsstelle Elternbildung

34 ➽ Adrianas tiefe Schnitte – Werner Glauser

36 ➽ Lisas Geheimnis – Gabriela Kaiser

40 ➽ Mauro, der Junge mit den viel zu grossen Schuhen – Charles Baumann

44 ➽ Die Rolle der Kindes und Erwachsenenschutzbehörde in Fällen von Gewalt und Missbrauch – Peter Meier

48 ➽ Die Opferhilfe: Werdegang und Aufgaben des Kantons Glarus – Jasmin Blumer

Im Interesse der Lesbarkeit haben wir auf geschlechtsbezogene Formulierungen verzichtet. Selbstverständlich sind immer Frauen und Männer gemeint, auch wenn explizit nur eines der Geschlechter angesprochen wird.

Eigentümer und Herausgeber: Verein für Schutz und Sicherheit unter dem Patronat des Verbands Schweizerischer Polizei-Beamter VSPB CH-8722 Kaltbrunn, Müllisperg 19 Gerhard Schaub, Präsident Telefon: +41 79 815 17 54 praesident@vereinschutzsicherheit.ch www.vereinschutzsicherheit.ch Verlag und Werbung: Informationsverlag Schweiz GmbH Fachinformation für Ihre Region Grundstrasse 18, CH-6343 Rotkreuz Telefon: +41 41 798 20 60 anzeigen@iv-verlag.ch www.iv-verlag.ch Geschäftsführung: Benjamin Kunz Anzeigenabteilung: Franziska Mathys Inserate: Karin Strommer-Pojer Grafik/Design: Anita Fliesser-Steinrisser Titelbild-Elemente: shutterstock.com

UID-Nummer: CHE-295.811.423 Index: 123456 Schweiz Druck: Kromer Print AG Juni 2024

Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung des Herausgebers und des Verlegers!

© Die in dieser Broschüre befindlichen Bilder wurden zur Verfügung gestellt.

shutterstock.com

«LIEBE ELTERN UND ERZIEHUNGSBEAUFTRAGTE»

Autorin: Priska Seiler Graf, Nationalrätin

In den letzten Jahren ist die sexuelle Ausbeutung und Belästigung von Kindern und Jugendlichen vermehrt zu einem Thema in der Öffentlichkeit geworden.

Das ist auch absolut richtig so, hat die Tabuisierung in der Vergangenheit doch dazu beigetragen, dass die Opfer oft allein gelassen wurden und ihnen bei der Bewältigung und Verarbeitung ihres Schicksals nicht genügend professionell geholfen wurde. Das kann dazu führen, dass bei den Opfern psychische und körperliche Erkrankungen entstehen. Diese Kinder und Jugendliche werden so quasi ein zweites Mal zum Opfer, das ist nicht gerecht. Kinder haben ein Recht auf Schutz, Unversehrtheit und Geborgenheit. Es ist darum umso wichtiger, dass eine rechtzeitige Intervention erfolgen kann. Noch besser ist es aber, wenn Kinder und Jugendliche gar nicht erst zu Opfern werden. Darum ist Aufklärung in diesem Themenbereich nach wie vor von enormer Wichtigkeit. Kinder müssen lernen, dass sie sich nicht alles gefallen lassen müssen von Erwachsenen, denn es gibt eindeutige Grenzüberschreitungen. Das Internet ist eine wunderbare Sache, aber leider hat es auch seine

Schattenseite. Mit den Phänomenen «Cyber Grooming» und «Sexting» sind leider zusätzliche Möglichkeiten von (sexuellem) Missbrauch dazu gekommen. Auch hier ist umfassende Aufklärung und Sensibilisierung unerlässlich.

Aber auch die Erwachsenen müssen in der Lage sein, die Zeichen des Kindes rechtzeitig wahrzunehmen und angemessen zu interpretieren. Diese Broschüre ist daher als Hilfe und Information für Betroffene, aber auch für Eltern, Erziehungsberechtigte und alle Arten von Lehrerinnen und Lehrern gedacht. Denn niemand darf bei diesem Thema allein gelassen werden!

MEIN KÖRPER

GEHÖRT

MIR!

Diese Broschüre richtet sich an Betroffene und an Fachstellen. Es ist wichtig, über dieses Thema „Sexueller Missbrauch“, das immer noch ein Tabuthema darstellt, öffentlich zu diskutieren und sich zu informieren. Wir dürfen nie wegschauen, sondern sind dazu verpflichtet, im Ernstfall Hilfe zu holen. Nur so kann etwas bewirkt werden. Alle Inserenten ermöglichen diese Broschüre und leisten somit einen wichtigen Beitrag für unsere Gesellschaft, wofür ihnen ein besonderer Dank gebührt.

Mit den Geschichten und Themen in dieser Broschüre wird auf unterschiedliche Art aufgezeigt, wie Kinder/Jugendliche und Erwachsene ausgenutzt werden, welche Anlaufstellen es gibt und was Betroffene, Eltern, Erziehungsverantwortliche, Pädagogen und Lehrer tun können, um sich für sich und andere zu wehren.

Sexuelle Ausbeutung kann im Kindes­/Jugendund Erwachsenenalter stattfinden. Dass die Dunkelziffer relativ hoch ist, ist wahrscheinlich. Studien berichten von alarmierenden Zuständen. So seien zwei von fünf Mädchen und einer von sechs Jungen schon einmal Opfer irgendeiner Form von sexueller Belästigung oder Missbrauch geworden.

Belästigungen via E­Mail oder SMS sind oft der Einstieg. Aber auch das persönliche ständige und fortlaufende Anbändeln ist verbreitet. Dabei wird der Tätergruppe eine skrupellose Vorgehensweise attestiert. Oft liegt ein Verantwortungs­, Vertrauens­ oder Abhängigkeitsverhältnis zwischen Täter und Opfer vor. Sehr häufig wird die Cyberviktimisierung genannt, die oft auch ohne Körperkontakt stattfindet. Dabei schweigen die Opfer mehrheitlich und erdulden das Erlebte, was eine rechtzeitige Intervention erschwert. Bei den Opfern entstehen dadurch oft psychische und körperliche Erkrankungen.

Allen Opfern und deren Angehörigen wünschen wir viel Kraft und hoffen, dass das Erlebte verarbeitet werden kann.

PRÄVENTION SEXUELLER AUSBEUTUNG

VON KINDERN

Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche geschieht täglich. Die Täter und Täterinnen sind oft Menschen, denen die Kinder vertrauen – und von denen sie abhängig sind: Verwandte, Bekannte oder Menschen aus dem nahen Umfeld. Die Kinder vor sexueller Gewalt schützen –dieses Ziel hat Limita.

VORBEUGEN HEISST STÄRKEN

Die Verantwortung für den Schutz vor sexueller Gewalt haben nicht die Kinder, sondern ihre Bezugspersonen. Erwachsene können Kinder so stärken, dass sie weniger angreifbar und verletzlich sind. Der Grundstein dafür ist eine klare, respektvolle und bejahende Beziehung. Wenn die Botschaft „Dein Körper gehört dir!“ im Alltag in allen Lebensfeldern der Kinder gelebt und geübt wird, kann ein Kind wichtige Abwehrstrategien entwickeln. Tragfähige Beziehungen zu Bezugspersonen und die ausdrückliche Erlaubnis, schlechte Geheimnisse zu besprechen, erleichtern es Kindern, frühzeitig Hilfe zu holen.

VORBEUGEN HEISST ACHTSAM SEIN

Kinder können sich jedoch nicht alleine schützen. Sexuelle Gewalt ist immer mit Macht und Manipulation der Täterschaft verbunden. Kinder brauchen in allen Lebensbereichen deshalb ein

achtsames und schützendes Umfeld, welches klar auf Grenzüberschreitungen jeglicher Form reagiert und den Mut hat, hinzuschauen und für den Schutz der Kinder einzustehen. Wenn sich in allen Lebensbereichen – in Elternhaus, Schule und Freizeit – eine Kultur der Achtsamkeit entwickelt, wird es eng für potenzielle Täter*innen.

VORBEUGEN HEISST TRANSPARENT SEIN Für pädagogische Einrichtungen wie zum Beispiel Schulen, Krippen, Heime kann eine Kultur der Achtsamkeit konkret bedeuten, dass Bezugspersonen klare und transparente Richtlinien erarbeiten zum Umgang mit Nähe und Distanz und im Rahmen ihrer Qualitätsentwicklung Standards zur Gestaltung von Grenzen in ganz konkreten Alltagssituationen entwickeln. Gefordert sind dabei Transparenz und Rollenklarheit der Bezugspersonen.

➽SEXUELLE AUSBEUTUNG

VORBEUGEN HEISST IM GESPRÄCH SEIN

Es ist anspruchsvoll, über das Tabu der sexuellen Gewalt an Kindern zu reden und Worte dafür zu finden. Austausch und Gespräche sind jedoch unabdingbar – ist entlastend, sich dem Thema der sexuellen Ausbeutung nicht als Einzelkämpfer

und Einzelkämpferin zu widmen. Austausch ermöglicht, Prävention zu konkretisieren – sei es im Elternhaus oder in einer Institution. Prävention ist in erster Linie auch Haltungsarbeit – und diese entwickelt sich erst im Gespräch.

LIMITA UNTERSTÜTZT SIE DABEI!

Limita begleitet Bezugspersonen und Institutionen bereits seit 16 Jahren in der Umsetzung ganz konkreter Präventionsmassnahmen: mit Sensibilisierung, Weiterbildung, Moderation, Präventionsberatung und Materialien. Limita ist vom Kanton und der Stadt Zürich subventioniert und in der ganzen Deutschschweiz tätig.

UNTERSTÜTZEN SIE LIMITA!

Mit Ihrer Mitgliedschaft oder mit Ihrer Spende ermöglichen Sie Limita, das präventive Netz immer dichter zu weben, damit Nischen für Sexualstraftäter kleiner und enger werden. Je mehr Mitglieder Limita als Verein hat, desto schlagkräftiger und wirkungsvoller kann die Fachstelle sein. Herzlichen Dank!

➽INFO

Limita – Fachstelle zur Prävention sexueller Ausbeutung

Klosbachstrasse 123, 8032 Zürich

Telefon +41 44 450 85 20 info@limita.ch

PC 80-30524-6 www.limita-zh.ch

Kinderparcours „Mein Körper gehört mir!“ für Schulen der Primarstufe

GEFÄHRDUNGEN BEI KLEINEN KINDERN FRÜH ERKENNEN, RICHTIG EINSCHÄTZEN UND

DAMIT UMGEHEN

Es ist eine Tatsache, dass Kinder in ihrer Entwicklung manchmal gefährdenden Situationen ausgesetzt sein können. Gerade bei Säuglingen und Kleinkindern sind Gewalterfahrungen prägend für ihr ganzes Leben und Misshandlungen oder Vernachlässigungen können schnell lebensgefährlich werden. Deshalb ist es wichtig, dass Personen, die aufgrund ihrer beruflichen Aufgabe mit Familien in Kontakt kommen, Gefährdungen bei kleinen Kindern frühzeitig erkennen, richtig einschätzen und geeignete Handlungswege finden können.

WIE ENTWICKELN SICH KINDER GESUND?

Für ihre gesunde Entwicklung benötigen Kinder sowohl ausreichend Schutz als auch eine anregende Umgebung. Erst wenn Kinder sich geschützt und sicher fühlen, sind sie bereit, ihre Umwelt zu entdecken und so für ihre Entwicklung wichtige neue Erfahrungen zu machen.

Kinder können alleine auf sich gestellt weder für ihren Schutz noch für eine anregende Umgebung sorgen. Sie sind im Gegenteil in hohem Masse abhängig von anderen Menschen. Diese müssen ihnen vertraut sein und sie sollen sowohl

verlässlich sein als auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Kleine Kinder zeigen mit ihrem ganzen Wesen, welche Bedürfnisse sie haben. Die ihnen nahen Bezugspersonen verstehen diese Signale in der Regel und helfen dem Kind, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Wichtig sind dabei folgende Fähigkeiten: Die Erwachsenen müssen in der Lage sein, Zeichen des Kindes rechtzeitig und feinfühlig wahrzunehmen, sie angemessen zu interpretieren und sowohl prompt als auch passend darauf zu reagieren.

Autorin: Sabine Brunner

SCHÄDIGENDE

PROZESSE

UND SCHUTZFAKTOREN

Leben ist ohne äussere und innere Belastungen, also etwa Krankheiten, zwischenmenschliche Konflikte oder persönliche Krisen nicht denkbar. Starke und anhaltende Belastungen stellen jedoch ein Risiko für die gesunde Entwicklung eines Kindes dar. Dies gilt unabhängig davon, ob die Belastungen beim Kind selbst, bei der Bezugsperson, im Familiengefüge oder im sozialen und materiellen Umfeld bestehen.

Gehäufte und chronische Belastungen führen bei Eltern oder anderen Betreuungspersonen zu Überforderung und zu einer allgemeinen Schwierigkeit, kindliche Bedürfnisse zu erfassen und/oder passend darauf einzugehen. Mehrere Belastungsfaktoren verstärken sich gegenseitig in ihrer Wirkung.

Persönliche Ressourcen oder solche der Familie und des sozialen Umfeldes helfen dem Kind, belastende Situationen besser zu ertragen und damit umzugehen. So hilft es etwa einem Kind, wenn es eine gute Fähigkeit oder auch Unterstützung darin hat, über schwierige Erlebnisse nachzudenken. Zeigt ein Kind Widerstandskraft gegenüber belastenden Umständen, spricht man von Resilienz.

WER ODER WAS GEFÄHRDET KINDER?

In den meisten Fällen steht bei kleinen Kindern eine Gefährdung durch die direkten Bezugspersonen im Vordergrund. Je nach Betreuungssituation des Kindes betrifft dies aber nicht nur die Eltern sondern auch Fachpersonen der familienergänzenden Betreuung, Heimpersonal, Geschwister und andere Personen, mit denen das Kind im direkten Kontakt steht. Eher selten geht die Gefährdung kleiner Kinder von einer völlig fremden Person aus.

Eine Gefährdung des Kindeswohls durch die betreuende Person entsteht grundsätzlich dann, wenn die Bedürfnisse des Kindes nicht, ungenügend oder nicht passend beantwortet werden. Dabei ist zu betonen, dass nicht jedes einzelne „unfürsorgliche“ Verhalten der Erwachsenen das Kind grundsätzlich gefährdet. Es gehört durchaus zu einem ausreichend guten Betreuungsverhalten, dass bisweilen Signale verpasst oder fehlinterpretiert werden oder dass die Betreuungsperson zwischendurch nicht die Möglichkeit hat, Anliegen des Kindes prompt zu beantworten. Vielfach entsteht erst dann eine Gefährdung, wenn regelmässig nicht oder falsch auf das Kind eingegangen wird. Bei sehr schweren Misshandlungstaten oder einer groben Missachtung existenzieller Bedürfnisse kann eine Gefährdung des Kindes allerdings auch ganz plötzlich auftreten.

Auch gesellschaftliche und politische Strukturen können eine Gefährdung des Kindswohls bewirken. Das Erleben von Krieg und Katastrophen oder das Aufwachsen in einer anhaltend

ungewissen Situation (Sans Papiers), Armut und Hunger gehören dazu. Zu erwähnen ist, dass etwa die Umweltzerstörung und der Strassenverkehr ebenfalls eine latente bis akute Kindeswohlgefährdung darstellen.

Manchmal gehen Gefährdungen ungewollt auch von getroffenen Massnahmen zum Schutze des Kindes selbst aus. So kann es sein, dass behördliche Entscheide die Bedürfnisse des Kindes nicht passend beantworten. Oder der Ablauf von Verfahren und die Umsetzung von Massnahmen können dem kindlichen Erleben und seinem Zeitverständnis nicht entsprechen.

FORMEN VON MISSHANDLUNGEN

BEI

KLEINEN KINDERN

Körperliche Misshandlung: Schlagen, Stossen, Schütteln, Verletzungen oder Verbrühungen zufügen, genitale Verstümmelung, gewaltsames Füttern etc.

Psychische Misshandlung: kontinuierliche Entwertungen, Demütigungen, Beschimpfungen, Manipulationen, Instrumentalisierung in hochstrittigen Scheidungssituationen, Erleben von häuslicher Gewalt etc.

Sexuelle Ausbeutung: verschiedenste sexuelle Handlungen, die eine erwachsene Person oder ein deutlich älteres Kind vornimmt, um sich selbst sexuell zu erregen oder zu befriedigen.

Vernachlässigung: Körperliche Bedürfnisse des Kindes oder auch Bedürfnisse nach Beziehung, Liebe, Akzeptanz, Zugehörigkeit, Anregung etc. werden ungenügend erfüllt.

FRÜHZEITIG ERKENNEN

GEFÄHRDUNG FRÜHZEITIG ERKENNEN

Gefährdungen sollen möglichst zu einem frühen Zeitpunkt der Entstehung erkannt werden. Für die Entwicklung eines Kindes ist es zentral, dass es verstörendem Verhalten, Gewalthandlungen und/oder Verwahrlosung nicht lange ausgesetzt bleibt.

Prekäre Situationen können für Säuglinge und Kleinkinder schnell lebensgefährlich werden. Überdies hat die gelingende Beziehung zwischen Kind und Bezugspersonen nur eine Chance, wenn allfällige Misshandlungen bald wieder beendet werden. Erfahrungsgemäss werden Gewaltanwendungen im Laufe der Zeit stärker (Gewaltspirale). Dies ist ein weiterer wichtiger Grund, warum Misshandlungen früh erkannt werden sollen.

Nicht immer weisen sichtbare körperliche Verletzungen auf Gewalt erleben oder Gefährdung eines Kindes hin. Es gibt hingegen vielerlei (unspezifische) Signale, die zumindest ein näheres Hinschauen erfordern. Beispielsweise kann das kindliche Verhalten auffällig sein, das Kind kann eine schlechte Befindlichkeit oder eine verzögerte Entwicklung zeigen, die Beziehung des Kindes zur Betreuungsperson erscheint speziell schwierig oder die Umgebung und der Tagesablauf des Kindes weisen Mängel an Schutz oder Anregung auf.

GEFÄHRDUNGEN MIT DEM AMPEL­

MODELL RICHTIG EINSCHÄTZEN

Es hat sich bewährt, Gefährdungen von Kindern anhand einer Ampel einzuschätzen. Es ist jedoch wichtig zu erwähnen, dass Kindeswohlgefährdungen weder als messbare Grösse verstanden werden können, noch als etwas, was über einen Zeitraum hinweg konstant bleibt. Im Gegenteil gibt es bei Gefährdungen Verläufe und Schwankungen, die beachtet werden müssen. Veränderungen in der Befindlichkeit der Bezugspersonen oder bei den unterstützenden Massnahmen, wie auch Entwicklungen beim Kind selbst können eine Gefährdung verstärken oder sie geringer werden lassen. Deshalb stellt eine Gefährdungseinschätzung mit dem Ampelmodell nur eine Momentaufnahme dar. Damit sie der Situation des Kindes gerecht wird, muss die Einschätzung regelmässig wiederholt werden. Nützlich ist das Ampelmodell für die Beantwortung der Frage, ob Schutzmassnahmen noch oder neu notwendig sind. Es darf aber nicht dazu verleiten, eine Familiensituation einseitig als gut = grün oder schlecht = rot einzuschätzen.

Steht die Ampel auf Grün, gehen wir von einer nicht gefährdenden Situation aus. Die Entwicklung des Kindes geht gut voran und das Kind zeigt sich gesund. Die Interaktionen zwischen den Bezugspersonen und dem Kind gestalten sich überwiegend gelingend, die Betreuung des Kindes geschieht feinfühlig und die Grundbedürfnisse des Kindes werden sicher befriedigt.

Zeigt die Ampel Orange, so besteht eine mögliche oder latente Gefährdung und es gibt Warnsignale. Das Kind hat möglicherweise Probleme, sein Befinden und seine Gefühle zu regulieren oder es weist Schwierigkeiten in seiner Entwicklung auf. Sein Verhalten ist eventuell auffällig. Vielleicht sind körperliche Symptome zu sehen, welche beunruhigen. Die Grundbedürfnisse des Kindes werden durch die Betreuungsperson nur teilweise sicher befriedigt. Die Ressourcen des Umfeldes sind längerfristig eventuell nicht ausreichend. Die Eltern sind nur bedingt kooperativ und zeigen eine fragliche Bereitschaft, Lösungen zu finden und umzusetzen. Fachpersonen sollen mit dem Kind und den Betreuungspersonen im Kontakt bleiben und Hilfen zur Unterstützung einleiten. Eventuell sind vertiefende Abklärungen notwendig. Wenn die Ampel auf Rot schaltet, besteht bezüglich der Gefährdung des Kindes Alarmzustand (akute Gefährdung, chronische Belastung). Symptome des Kindes und/oder das Verhalten der Bezugsperson(­en) geben Anlass zur konkreten Sorge um das Kindeswohl. Die Interaktionen zwischen Kind und Bezugspersonen wirken verunglückt, Risiken sind deutlich erkennbar, Ressourcen sind wenig oder nicht vorhanden. Die Grundbedürfnisse des Kindes werden unzureichend erfüllt und die Eltern zeigen sich nicht kooperativ oder wirken sehr hilflos. Eventuell besteht akute Gefahr für das Kind. Es müssen nun zum Wohl des Kindes umgehend Massnahmen zu seinem Schutz und/oder zur Abklärung seiner Lebensumstände eingeleitet werden.

WANN IST EIN KIND AKUT GEFÄHRDET?

Akute Gefährdungen von Kindern haben oft eine Vorgeschichte mit einer zuvor festgestellten latenten oder möglichen Gefährdung und sind somit zumindest teilweise voraussehbar. Wenn zu erkennen ist, dass ein Kind an Leib und Leben gefährdet sein könnte, z. B. durch Nahrungsentzug, erlittene oder drohende Körperverletzung, Einsperren, Entführung oder weil die Betreuungsperson momentan nicht in der Lage ist, für das Kind zu sorgen (Krankheit, Abwesenheit, Drogenrausch), sollten die notwendigen Handlungen zum Schutze des Kindes ohne Verzug vorgenommen werden. Es ist dabei wichtig, immer sorgfältig und verhältnismässig zu handeln.

WENN KLEINE KINDER VON IHREN

BEZUGSPERSONEN GETRENNT WERDEN

Kleine Kinder stehen in einer grossen Abhängigkeit zu ihren Eltern (Bezugspersonen). Sie sind enge Beziehungen mit ihnen eingegangen. Und auch wenn sie eventuell misshandelt oder vernachlässigt worden sind, reagieren sie mit massiver Irritation, Angst und Verlustgefühlen, wenn sie eine Trennung von ihren Bezugspersonen nicht einordnen können. Alle Fremdplatzierungen sollen deshalb möglichst gut vorbereitet werden. Die weitere Beziehungspflege zwischen Kind und Bezugspersonen soll angemessen unterstützt werden. Das Kind soll auch im Nachhinein die Möglichkeit haben, Fragen zu seiner Situation stellen zu können und ehrliche, ausführliche Antworten zu erhalten. Werden die Bedürfnisse des Kindes nicht beachtet, verarbeitet das Kind die Trennung traumatisch. Dies hat Folgen für sein weiteres Beziehungsverhalten und seine seelische Gesundheit.

ARBEIT MIT DEN ELTERN

Arbeit mit Menschen erfordert immer Respekt, auch wenn schwierige, unakzeptable Verhaltensweisen sichtbar werden. So benötigen auch misshandelnde Eltern ein respektvolles Gegenüber. Die Misshandlung eines Kindes knüpft an eigene Verletzlichkeiten an. Deshalb ist Kritik für Eltern oft schwer annehmbar. Und neben dem kritischen Verhalten dem Kind gegenüber verfügen Eltern auch über Ressourcen. Mit und an diesen können Fachpersonen arbeiten.

EINBEZUG DES KINDES

Kinder sind Persönlichkeiten mit eigenen Sichtweisen und Meinungen. Und Kinder benötigen Orientierung. Aus diesen beiden Gründen ist es ganz wichtig, dass Kinder in Abläufe, die sie betreffen, ganz konkret einbezogen werden. So sollen Kinder über alles, was mit ihnen und für sie geschieht, informiert werden. Und sie sollen auch ihre Erfahrungen, ihre Meinung und ihre Wünsche äussern können. Der Einbezug des Kindes ist auch dann wichtig, wenn die Arbeit mit den Bezugspersonen im Vordergrund steht. Kinder können oft einiges dazu beitragen, wenn es darum geht, mögliche Gefährdungsmomente zu klären oder Ideen für Veränderungsprozesse der Familie zu entwickeln. Kinder sollen jedoch keine Entscheidungen treffen müssen – dafür sind die Erwachsenen zuständig. Je älter Kinder werden, desto mehr haben sie einen (berechtigten) Anspruch, dass ihr eigener, geäusserter Wille tatsächlich berücksichtigt wird.

SCHLUSSWORT

Um Gewalt an kleinen Kindern und prekäre Lebensumstände frühzeitig erkennen und darauf reagieren zu können, braucht es ein verantwortungsvolles Hinschauen aller Personen, die mit Kindern arbeiten. Alle können dazu beitragen, dass mögliche Gefährdungen eines Kindes frühzeitig angegangen und wieder behoben werden, ohne dass es zu schwerwiegenden Krisen und einer Eskalation kommen muss. Gefordert sind offene Augen, Respekt, kreative Lösungen, Zusammenarbeit, ein mutiges Vorgehen und vor allem – die Bedürfnisse und Anliegen des Kindes nie aus den Augen zu verlieren!

Hinweis:

Diesem Text liegt der Leitfaden „Früherkennung von Gewalt an kleinen Kindern“ derselben Autorin zugrunde. Er wurde 2013 von der Stiftung Kinderschutz Schweiz herausgegeben – zusammen mit einem Leitfaden für die ärztliche Praxis (Lips, U., Kindesmisshandlung – Kindesschutz. Ein Leitfaden zur Früherfassung und Vorgehen in der ärztlichen Praxis) sowie einem Leitfaden für Sozialarbeitende (Hauri, A., Zingaro, M., Kindeswohlgefährdung erkennen in der sozialarbeiterischen Praxis).

Sabine Brunner arbeitet als Psychologin am Marie Meierhofer Institut für das Kind in Zürich und befasst sich mit den Fragen der Partizipation und des Schutzes von Kindern.

SEXUELLE

CYBER GROOMING, SEXTING UND SELFIES

Sexuelle Übergriffe an Kindern und Jugendlichen in Chatrooms, „Cyber-Grooming“ genannt, beginnen oft mit einfachem Verschicken von erst harmlosen Bildern und Texten, sogenannten „Sexting“ und „Selfies“.

„Cyber­Grooming“ ist die neuzeitliche Form von Anbahnung sexueller Kontakte via InternetChatforen. Mittels Aliasnamen werden fiktive Geschichten verbreitet, um so das Vertrauen zu erschleichen. Die Opfer werden immer tiefer hineingezogen, Bilder werden ausgetauscht und Videos erstellt. Dabei verwendet die Täterschaft Bilder aus früheren Verbindungen, verschickt diese aufbauend, das heisst immer gewagtere Bilder oder Videos, um so das Vertrauen der Forenbenützer zu erlangen. Die Bilder sind in genügender Anzahl vorhanden. Die ahnungslosen Opfer werden aufgefordert, an sich selbst sexuelle Handlungen vorzunehmen, um eine Aufnahme davon dann eben an die vermeintliche „Freundin“ oder den vermeintlichen „Freund“ zu verschicken. Dabei wird mit dem Versenden angeblich eigener Fotos durch die Täterschaft ein Abhängigkeitsverhältnis zu den Opfern geschaffen. Den Opfern wird so ein falsches Zeichen gesetzt, was grundsätzlich in

Freundschaft und Liebe aufbauend entstehen sollte.

Betroffene können schwerwiegende gesundheitliche Konsequenzen erleiden. Dabei besteht die erhöhte Gefahr psychischer körperlicher Erkrankungen, es kann eine ungestörte sexuelle Entwicklung gefährden.

Sexueller Missbrauch von Kindern liegt gemäss Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor, „wenn Kinder in sexuelle Aktivitäten einbezogen werden, die sie nicht vollständig verstehen, zu denen sie keine informierte Einwilligung geben können oder für die das Kind aufgrund seiner Entwicklung nicht bereit ist und daher kein Einverständnis erteilen kann oder die Gesetze oder gesellschaftliche Tabus verletzen“. Sexueller Missbrauch von Kindern ist definiert durch diese Art der Aktivitäten zwischen einem Kind und einem Erwachsenen oder einem ande­

Autor: Gerhard Schaub, Präsident VSS

ren Kind, zu dem es aufgrund des Alters oder seiner Entwicklung in einem Verantwortungs­, Vertrauens­ oder Abhängigkeitsverhältnis steht, sofern diese Aktivität dazu dient, die Bedürfnisse der anderen Person zu befriedigen. Dazu gehören unter anderem: die Überredung oder Nötigung eines Kindes, sich an strafbaren sexuellen Aktivitäten zu beteiligen, die Ausbeutung von Kindern in Prostitution oder anderen strafbaren Sexpraktiken sowie die Ausbeutung von Kindern in pornografischen Darstellungen und Materialien.

Wie in den Medien berichtet wird, ist der sexuelle Missbrauch in der Schweiz weitverbreitet. So sollen zwei von fünf Mädchen und einer von sechs Jungen bereits Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden sein. Die „Optimus“­Studie zeigt aber auch auf, dass Grenzüberschreitungen nicht in jedem Fall aus einer Abhängigkeitssituation heraus entstehen. Man spricht auch von einer „sexuellen Viktimisierung“. Diese wird als Oberbegriff für alle Formen von Handlungen gegen ein Kind oder einen Jugendlichen verwendet, bei denen die sexuelle und persönliche Integrität bedroht und verletzt wird. Viktimisierung leitet sich vom Verb viktimisieren ab und bedeutet „zum Opfer machen“. Häufig werden Jugendliche von Gleichaltrigen viktimisiert, oft auch ohne Körperkontakt.

Der Begriff der „sexuellen Viktimisierung“ erfasst die verschiedenen Arten der sexuellen Handlungen, denen Kinder und Jugendliche zum Opfer fallen, besser als der Begriff

„sexueller Missbrauch von Kindern“. Unter sexueller Viktimisierung verstehen die Autoren von diversen Studien jede Form von kriminellen sexuellen Handlungen mit Kindern und Jugendlichen unter 18, unabhängig von der Beziehung zwischen Täter und Opfer.

So werden sexuelle Anspielungen auch per SMS versendet. Jugendliche lassen sich trotz allfälligem Widerwillen durch ihr direktes Umfeld unter Druck setzen, Fotos in erotischer Pose und sexy Mitteilungen zu verschicken („Sexting“). Das Finden der eigenen sexuellen Identität gehört zu den Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen, zu denen auch das Austauschen von Informationen, Vorstellungen und Erfahrungen unter Gleichaltrigen gehört.

Ganz aktuell sind Sexting, das Herstellen und Verschicken erotischer Mitteilungen, und Selfies. Die Gründe hierfür sind vielseitig und finden sich in „Suchen nach Aufmerksamkeit“, „Experimentieren mit der Sexualität“ (auch wenn diese noch nicht aktiv gelebt wird), „Interesse zeigen an potenziellen Partnern/Partnerinnen“, „Aufrechterhalten von Intimität in einer bestehenden (Fern­)Beziehung“ sowie im „Status innerhalb einer Gruppe“ wieder. Dies wiederum bringt Gefahren mit sich, wie „unkontrollierte Verbreitung der Bilder und Nachrichten“, „Veröffentlichung aus Rache, Spass oder um die eigene Popularität zu steigern“, „Nutzung zur Erpressung“, „mögliche disziplinarische Massnahmen in der Schule und zu Hause“ und eventuell mögliche strafrechtliche Konsequenzen.

Das breite Medienangebot bietet sich für Übergriffe an und wird auch sehr häufig eingesetzt. Wie die „Optimus“­Studie aufzeigt, besitzen

97 Prozent der Mädchen und 93 Prozent der Jungen im Alter von 13 Jahren ein eigenes Handy. Eine Viktimisierung ohne Körperkontakt kommt deutlich häufiger vor als Übergriffe mit Körperkontakt. 30 Prozent aller befragten Schülerinnen und Schüler gaben an, dass sie solche Erfahrungen schon einmal gemacht haben. Wiederum sind Mädchen stärker betroffen als Jungen: Knapp 40 Prozent der weiblichen Jugendlichen und 20 Prozent der männlichen wurden schon einmal Opfer sexueller Handlungen ohne Körperkontakt.“ (gemäss „Optimus“ ­ Studie Schweiz).

PRÄVENTION

Die Aufklärung soll schon früh in der Kindheit beginnen und bis ins Teenageralter allgegenwärtig sein. Dabei fällt den Eltern oder Erziehungsberechtigten eine wichtige Rolle zu. Der Umgang mit dem eigenen Körper und der eigenen Sexualität sollte in eine Beziehung gestellt werden, sodass ein Gefühl der eigenen Integrität entwickelt wird. Kinder und Jugendliche sollten diesbezüglich immer unter Beobachtung sein und abweichendes Verhalten sollte immer auch mal hinterfragt werden. Immerhin verschicken Jugendliche eher erotische Bilder, wenn sie innerhalb einer Beziehung sind und wenn sie der Person vertrauen. Demnach kann abgeleitet werden, dass die Risiken nicht gänzlich ignoriert werden. Ein kleiner Lichtblick also, auch wenn es noch sehr viel präventive Arbeit zu leisten gibt.

SCHWEIZERISCHE GESELLSCHAFT FÜR PÄDIATRIE:

FACHGRUPPE KINDERSCHUTZ DER SCHWEIZER KINDERKLINIKEN

Dr. med. Dörthe Harms Huser, Leiterin der Fachgruppe, Leitende Ärztin Klinik für Kinder und Jugendliche, Kantonsspital Baden

KINDERSCHUTZFÄLLE AN SCHWEIZER KINDERKLINIKEN:

MARKANTER ANSTIEG BEI PSYCHISCHEN MISSHANDLUNGEN DURCH DAS MITERLEBEN VON HÄUSLICHER GEWALT

Von der Fachgruppe Kinderschutz wurden im Jahr 2023 zum 15. Mal in Folge die Fälle von vermuteten oder bewiesenen Misshandlungen an Kindern und Jugendlichen erfasst, die an einer Schweizer Kinderklinik betreut oder behandelt wurden. Die vorliegende Analyse beruht auf den Rückmeldungen aus 19 Schweizer Kinderkliniken, von denen 18 sich konstant an der Erhebung beteiligt haben.

Bei gleichbleibenden Einschlusskriterien (Alter 0 bis 17 Jahre, direkte ambulante oder stationäre

Betreuung, vermutete oder erwiesene Misshandlung) sind somit verlässliche Vergleiche zu den Vorjahren möglich.

Die Gesamtzahl von 2023 wegen Misshandlungen betreuten Kindern und Jugendlichen betrug 2097. Das stellt eine erneute deutliche Zunahme dar. Diese beträgt über alle Rückmeldungen hinweg 11 Prozent, bei Evaluation der Daten der 18 sich konstant beteiligenden Kliniken sogar 13 Prozent (Abbildung 1, auf nächster Seite ersichtlich).

Abbildung 1: Fallzahlen der 18 konstant teilnehmenden Kliniken 2013­2023. Schwankungen im Vergleich zum Vorjahr.

Die genauere Analyse zeigt, dass der Anstieg überwiegend durch die Zunahme an Meldungen von psychischen Misshandlungen durch Miterleben von häuslicher Gewalt verursacht wurde. Im Vergleich zum Vorjahr wurden für diese Form der Misshandlung 185 Fälle mehr gemeldet, was einer Steigerung um 64 Prozent entspricht.

Es ist unwahrscheinlich, dass diese Zahlen einer realen Inzidenzsteigerung entsprechen. Vielmehr sind sie auf ein besseres Melde- und Erfassungsverhalten zurückzuführen. Die Unterteilung der Misshandlungsform «psychische Gewalt» in «Miterleben von häuslicher Gewalt» und «andere» wird erst seit drei Jahren von der Fachgruppe durchgeführt. Mit dem steigenden Bewusstsein, dass das Miterleben von häuslicher Gewalt für Kinder und Jugendliche eine ernsthafte psychische Belastung bedeutet und gravierende Folgen haben kann, sind auch die Kinderschutzgruppen zunehmend in die Betreuung dieser Minderjährigen involviert.

Für alle anderen Misshandlungsformen wurden keine relevanten Veränderungen in der prozentualen Verteilung festgestellt (Abbildung 2).

Abbildung 2: Art der Misshandlung 2013­2023 – prozentuale Verteilung.

➽KINDERSCHUTZ

Sicherheit der Diagnose

Nachdem 2022 die Diagnose einer Misshandlung seltener mit Sicherheit gestellt werden konnte, stieg der Anteil der als «sicher» eingestuften Fälle 2023 wieder auf knapp 64 Prozent.

Ausser beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom (MSS) nahmen die Fälle, die als «sicher» bewertet wurden, für alle Formen der Misshandlung zu (Vorjahreswerte: körperliche Misshandlung 55 %, Vernachlässigung 48 %, Sexueller Missbrauch 35 %, MSS 41 %). Am häufigsten bestand in 81 Prozent der Fälle Sicherheit für die Diagnose der psychischen Misshandlungen (Vorjahr 67 %).

Analysiert nach den Untergruppen für die psychischen Misshandlungen zeigte sich, dass in Fällen von Miterleben häuslicher Gewalt eine sichere Diagnose in knapp 90 Prozent gestellt werden konnte.

Dies ist am ehesten darauf zurückzuführen, dass sich bei diesen Fällen oft durch Polizeieinsätze dokumentierte Ereignisse finden. Somit stehen Beobachtungen und Schilderungen von Aussenstehenden zur Verfügung.

Zudem ist eine zeitnahe Ansprache der Kinder bzw. Jugendlichen möglich, was zu authentischen Erlebnisberichten der Betroffenen führt. Damit existieren für die Bewertung durch die Kinderschutzgruppen konkretere Anhaltspunkte, die eine Diagnosestellung unterstützen.

➽KINDERSCHUTZ

Geschlecht der betroffenen Kinder und Jugendlichen

Die Geschlechterverteilung der von Misshandlungen betroffenen Kinder und Jugendlichen war 2023 sehr ausgeglichen (Jungen 49 %, Mädchen 50 %).

Im Geschlechtervergleich wurden mit 60 Prozent mehr Jungen (mutmassliche) Opfer von körperlichen Misshandlungen (Vorjahr 53 %), während Mädchen mit 79 Prozent häufiger von sexuellen Übergriffen betroffen waren (Vorjahr 83 %). Die anderen Misshandlungsformen traten bei beiden Geschlechtern in etwa gleicher Häufigkeit auf.

Alter der betroffenen Kinder und Jugendlichen

Wie in den Vorjahren ist ein grosser Anteil der wegen Misshandlungen betreuten Kinder sehr jung und damit sehr verletzlich. Unverändert waren 45 Prozent der gemeldeten Kinder jünger als 6 Jahre, 18 Prozent der Misshandlungen traten bereits im 1. Lebensjahr auf.

Abbildung 3: Betroffene Kinder bis 6 Jahre – prozentuale Verteilung.

0-1 Jahr: 377 Kinder (18,0 %)

2-4 Jahre: 744 Kinder (35,5 %)

5-6 Jahre: 946 Kinder (45,1 %)

Dieses Ergebnis kann seit Beginn der Erhebung jedes Jahr erneut bestätigt werden. Es zeigt, dass gerade im Bereich des frühkindlichen Kinderschutzes Massnahmen zur Prävention und Früherkennung dringend auszubauen sind (Abbildung 3).

Täter*innen: Beziehung zum Kind bzw. zu der/dem Jugendlichen

Zur Beziehung der Täterschaft mit den (mutmasslichen) Opfern ergaben sich keine neuen Aspekte. Die meisten Misshandlungen von Kindern und Jugendlichen geschehen wie bisher im familiären Umfeld.

Dies gilt insbesondere für die Vernachlässigungen, psychischen Misshandlungen und das MSS. Auch körperliche Misshandlungen erfolgen in über der Hälfte der Fälle durch direkte Familienangehörige gefolgt, von Personen aus dem Bekanntenkreis.

Täter*innen, die sexuelle Übergriffe auf Minderjährige ausüben (oder dessen verdächtigt werden), sind sowohl in der Familie als auch im Bekanntenkreis zu finden. Im Jahr 2023 allerdings hat der Anteil der unbekannten Täter*innen (also der auch im Anschluss an das Ereignis nicht identifizierten Täter*innen) merklich zugenommen (Vorjahr 9,7 %).

Täter*innen: Geschlecht

Männliche Einzeltäter machen die weiterhin grösste Gruppe von Täter*innen aus, der Anteil an der Gesamtzahl ist im Vergleich zum Vorjahr sogar etwas gestiegen (Vorjahr 36 %), während der Anteil von Frauen als Einzeltäterinnen gering rückläufig war (Vorjahr 23 %). Diese Zahlen sind allerdings im Rahmen von Schwankungen und nicht als Trend zu bewerten.

Aufgeteilt nach Diagnosen verüben unverändert Männer häufiger körperliche Misshandlungen. Ihnen wird auch weiter ein Grossteil der Fälle von sexuellem Missbrauch zugerechnet. Bei den Vernachlässigungen werden dagegen häufiger Männer und Frauen gemeinsam bzw. Frauen allein als Täter*innen benannt.

2023 wurden mit knapp 50 Prozent männliche Einzeltäter häufiger beschuldigt, für psychische Gewalt verantwortlich zu sein (Vorjahr 37 %). Rückläufig war dagegen der Anteil der psychischen Misshandlungen, die durch Täter*innen beider Geschlechter verübt wurden (2022: 46 %, 2023: 35 %).

Auch dieses Ergebnis ist unter dem Aspekt der Untergruppen von psychischer Gewalt zu betrachten. Hier zeigt sich, dass psychische Misshandlungen durch Miterleben von häuslicher Gewalt zu 63 Prozent von männlichen Tätern ausgeht und zu weiteren 27 Prozent von Männern und Frauen gemeinsam.

Täter*innen: Alter

Wie im Vorjahr wurden minderjährige Täter*innen in etwa 11 Prozent allein und in knapp 2 Prozent zusammen mit Volljährigen benannt.

Die Taten, die minderjährigen Täter*innen zur Last gelegt werden, sind wie im Vorjahr überwiegend im Bereich der körperlichen oder der sexuellen Gewalt zu finden. Diese beiden Misshandlungsformen werden unverändert zu je etwa einem Viertel der Fälle von jugendlichen Täter*innen verübt.

Medizinisch­therapeutische Massnahmen und Todesfälle

Trotz der hohen Fallzahl waren akut-medizinische Interventionen nur in 25 Prozent der Fälle von Misshandlungen erforderlich. Erneut aber wurden zwei Todesfälle gemeldet. Die Kinder sind im 1. resp. 3. Lebensjahr infolge körperlicher Misshandlung bzw. Vernachlässigung verstorben.

Meldung an die Kindes­ und Erwachsenenschutzbehörde (KESB)

Wie bereits im Vorjahr war die KESB in etwa 40 Prozent der Fälle bereits initial involviert oder im Verlauf durch Gefährdungsmeldung durch die Kinderschutzgruppe informiert worden.

Die Kinderschutzgruppen entschieden sich häufiger dazu, bei Fällen von Vernachlässigung und psychischer Misshandlung eine Gefährdungsmeldung zu machen.

Im Gegensatz zum Vorjahr wurde die KESB in Fällen von psychischer Gewalt durch Miterleben von häuslicher Gewalt mit 17 Prozent deutlich seltener hinzugezogen (Vorjahr 38 %), während bei anderen psychischen Misshandlungen die Gefährdungsmeldung deutlich häufiger (31 %) als notwendige Massnahme erachtet wurde (Vorjahr 15 %).

Meldung an die Strafverfolgungsbehörden

Strafanzeigen in Fällen von (vermuteten) Kindsmisshandlungen wurden weiterhin nur zurückhaltend durch die Kinderschutzgruppen empfohlen oder gemacht. Diese Massnahme wurde auch durch andere Stellen seltener veranlasst als eine Gefährdungsmeldung.

Nur in Fällen von (vermuteter) sexueller Gewalt und körperlichen Misshandlungen wurde die Strafanzeige häufiger durch andere Stellen oder die Kinderschutzgruppen eingeleitet.

Zusammenfassung

Die Fachgruppe Kinderschutz legt nunmehr die 15. Nationale Statistik über (Verdachts-)Fälle von Kindsmisshandlungen im Jahr 2023 vor, die in Schweizer Kinderkliniken registriert wurden. Erfasst wurden lediglich die direkt betreuten Kinder und Jugendlichen; die grosse Zahl zusätzlicher Fremdberatungen, die jährlich von den Kinderschutzgruppen geleistet werden, flossen nicht in die Auswertung ein.

Es wurde erneut ein deutlicher Anstieg der Fallzahlen festgestellt – insgesamt wurden mit 2097 Meldungen von (vermuteten) Kindsmisshandlungen so viele Fälle wie noch nie erfasst. Der markante Anstieg ist überwiegend durch die grössere Aufnahme von Fällen psychischer Misshandlungen durch das Miterleben von häuslicher Gewalt erklärt. Das Bewusstsein um die Belastungen, denen Kinder und Jugendliche durch das Miterleben von Gewalt zwischen ihren engsten Bezugspersonen ausgesetzt sind, hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Es existieren zunehmend Bestrebungen, den Gefährdungen dieser Opfergruppe Rechnung zu tragen. Daher sind die Kinderschutzgruppen an den Schweizer Kinderkliniken vielerorts bereits in das spezifische Unterstützungsangebot der betroffenen Kinder und Jugendlichen eingebunden. Trotz der steigenden Fallzahl ist aber auch in diesem Bereich weiter mit einer hohen Dunkelziffer zu rechnen, da nicht überall Angebote bestehen und auch die Zusammenarbeit zwischen Behörden und Kinderschutzgruppen sehr variabel geregelt ist.

Ein weiterer Aspekt dieser Erhebung ist wiederum die hohe Zahl von sehr jungen Kindern, die jedes Jahr als Opfer von verschiedenen Formen der Misshandlung identifiziert werden. Auch 2023 war ein Drittel der betroffenen Kinder zum Zeitpunkt des Ereignisses jünger als vier Jahre. Diese Opfergruppe, die nicht oder nur eingeschränkt durch äussere Kontrollfaktoren geschützt werden kann, bedarf unserer besonderen Aufmerksamkeit. Es sind dringend weitere Massnahmen im Bereich des frühen Kinderschutzes erforderlich.

KINDER MÜSSEN BESSER VOR

SEXUELLER GEWALT

GESCHÜTZT WERDEN!

Marianne Kauer, Verantwortliche „Mein Körper gehört mir!“, Kinderschutz Schweiz

Ariane Schwaar, Schulsozialarbeiterin

Jegenstorf (BE)

Mit dem interaktiven Präventionsprojekt „Mein Körper gehört mir!“ von Kinderschutz Schweiz setzen sich Schülerinnen und Schüler an sechs verschiedenen Ausstellungssäulen spielerisch mit ihrem Körper, ihren Gefühlen sowie guten und schlechten Geheimnissen auseinander und üben, laut „Nein“ zu sagen, wenn ihnen jemand zu nahe kommt und sie das nicht möchten. In einer Rahmenveranstaltung werden Eltern über sexuelle Gewalt informiert. Sie erfahren, was sie zum Schutz ihrer Kinder beitragen können und wo sie im Verdachtsfall Hilfe erhalten. Auch Schulleitungen, Lehrpersonen und Schulsozialarbeitende werden zum Thema fortgebildet und setzen sich zusätzlich mit Fragen der institutionellen Prävention auseinander.

Durch diese umfassenden Massnahmen auf verschiedenen Ebenen können die Kinder bestmöglich vor sexueller Gewalt geschützt werden.

Im Frühling 2015 fiel in der Gemeinde Jegenstorf der Startschuss für die erste Durchführung des Präventionsprojekts „Mein Körper gehört mir!“ Die Projektvorbereitungen haben sich über mehrere Monate hingezogen. Aus organisatorischen sowie finanziellen Gründen haben sich mehrere Gemeinden für das Projekt zusammengeschlossen, koordiniert durch die jeweiligen Schulsozialarbeitenden. Während zwei Wochen stand uns eine Aula zur Verfügung, damit sich die Auf­ und Abbauarbeiten des Parcours möglichst klein hielten.

➽SEXUELLE GEWALT

Der personelle Aufwand ist relativ gross, so haben sich nebst den Schulsozialarbeitenden zusätzlich Jugendarbeitende und teilweise Mitarbeitende des Sozialdienstes bereit erklärt, die eintägige Ausbildung zur Animatorin bzw. zum Animator zu besuchen, um dann einzelne Gruppen von Schülerinnen und Schülern durch den Parcours zu führen.

Die Ausstellung „Mein Körper gehört mir!“ besteht aus sechs Spielstationen und einigen Aussenstationen, sogenannten „Trabanten“ eines Parcours, welche die Schülerinnen und

Schüler der Unterstufe unter Anleitung geschulter Animatorinnen und Animatoren im Turnus durchlaufen. Die Kinder lernen auf spielerische Weise Begriffe für die unterschiedlichen Körperteile kennen und setzen sich mit guten und schlechten Gefühlen und Geheimnissen auseinander. Sie versuchen, unangenehme Berührungen und Situationen von angenehmen zu unterscheiden, und jede Schülerin, jeder Schüler überlegt sich, welche Vertrauenspersonen im Umfeld im Falle eines „schlechten Geheimnisses“ ein offenes Ohr hätten und weiterhelfen könnten.

Beispiel einer Durchführung von „Mein Körper gehört mir!“

Während zwei Wochen wurden rund 430 Schülerinnen und Schüler der 2., 3. und 4. Klasse durch die Ausstellung geführt. Jede Klasse besuchte die Ausstellung während 1,5 Stunden und wurde von einer Lehrperson begleitet. Die Gruppeneinteilungen wurden bereits im Vorfeld getätigt, sodass kurz nach der Ankunft mit den Rundgängen gestartet werden konnte. Je eine Animatorin/ ein Animator führte eine (wenn möglich geschlechtergetrennte) Gruppe durch den Parcours. Durch den konsequenten Ablauf kamen sich die drei Gruppen trotz relativ engem Raum nicht in die Quere. Die Klassenlehrperson hielt sich jeweils bewusst im Hintergrund. Zum Schluss durften die Kinder frei durch den Parcours gehen und die spannendsten Posten nochmals bestaunen und ausführen.

Ein Höhepunkt, das Abschlussritual, wurde wiederum mit der ganzen Klasse zusammen durchgeführt.

Im Rahmen des Projektes wurden die Lehrpersonen vorgängig thematisch weitergebildet. Jede Lehrperson konnte zudem selbst entscheiden, wie weit sie mit der Klasse bereits vor dem Parcours auf das Thema eingehen wollte und wie sie die Nachbereitung des Ausstellungsbesuches gestalten wollte. Alle Lehrpersonen erhielten eine Arbeitsmappe mit didaktischem Begleitmaterial (Hrsg. Kinderschutz Schweiz) zur direkten Anwendung im Unterricht.

Auch die Eltern wurden umfassend informiert. Der Elterninformationsanlass stiess auf grosse Resonanz und dank einer engagierten Referentin entwickelte sich zum heiklen Thema „sexuelle Gewalt“ eine spannende Diskussion. Für Eltern und weitere Interessierte stand der Parcours ausserdem an zwei Samstagen zur Verfügung und wurde rege besucht!

Dank ausschliesslich positiven Rückmeldungen von Lehrpersonen, Eltern und Animatorinnen/Animatoren stand der Entscheidung, den

ORIGINALZITATE …

Parcours regelmässig durchzuführen, nichts im Weg. Der Parcours ist an der Schule Jegenstorf ab sofort ein fixer Bestandteil des Präventionskonzepts und wird zukünftig voraussichtlich alle drei Jahre durchgeführt, sodass jedes Kind in seiner Grundschulzeit die Ausstellung einmal besuchen darf.

Auch die Kinder konnten sich zum Parcours äussern. Hier einige Beispiele aus dem Rückmelde­Fragebogen der kleinen Besucherinnen und Besucher.

◆ Es war spannend wir haben anderes gelernt, was wir noch gar nicht über unseren Körper wussten. (2. Klasse)

❣ Es hat mir sehr gefallen und ich hoffe, dass es das noch einmal gibt. (4. Klasse)

❤ Es war alles sehr gut. Was mir am meisten gefallen hat, ist dort, wo man reinschreien musste „Neeeein“. (4. Klasse)

✿ Ich fand die Ausstellung super, ich hatte viel Spass. Ich habe viel Neues gelernt, zum Beispiel, dass ich "NEIN" sagen darf, wenn mir etwas nicht gefaellt. (3. Klasse)

✘ Sie (die Ausstellung) war spannend und lustig, Vor allem wo ich gekrönt geworden bin. (2. Klasse)

✸ Ich fand es eine gute Ausstellung, weil es auch Sachen zum Ausprobieren hatte. (4. Klasse)

Mehr Informationen zum Parcours „Mein Körper gehört mir!“ und darüber, wie Sie vorgehen müssen, wenn Sie den Parcours selbst gerne an Ihre Schule holen möchten, finden sich unter www.kinderschutz.ch/de/parcours­mein­koerper­gehoert­mir.html

Kinderschutz Schweiz Seftigenstrasse 41 CH­3007 Bern www.kinderschutz.ch

Marianne Kauer, Verantwortliche „Mein Körper gehört mir!“ marianne.kauer@kinderschutz.ch

Kinderschutz Schweiz setzt sich als Fachstelle schweizweit dafür ein, dass alle Kinder in Schutz und Würde gewaltfrei aufwachsen können, dass ihre Rechte gewahrt werden und ihre Integrität geschützt wird.

KINDER­ UND

JUGENDHILFEZENTREN (KJZ)

kjz Adliswil

Albisstrasse 20

CH­8134 Adliswil

Tel.: 043 259 92 92

Fax: 043 259 92 89

kjz.adliswil@ajb.zh.ch

kjz Affoltern

Im Winkel 2

CH­8910 Affoltern am Albis

Tel.: 043 259 93 33

Fax: 043 259 93 50

kjz.affoltern@ajb.zh.ch

kjz Bülach

Schaffhauserstrasse 53

CH­8180 Bülach

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Spitalstrasse 11

CH­8157 Dielsdorf

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Badenerstrasse 5

CH­8953 Dietikon

Tel.: 043 259 93 00

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Wallisellenstrasse 5

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CH­8810 Horgen

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KINDER­ UND

JUGENDHILFEZENTREN (KJZ)

kjz Kloten

Ifangstrasse 10

CH­8302 Kloten

Tel.: 043 259 98 30

Fax: 043 259 98 31

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Kohlrainstrasse 1

CH­8700 Küsnacht

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Dorfgasse 37

CH­8708 Männedorf

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kjz.maennedorf@ajb.zh.ch

kjz Pfäffikon

Hochstrasse 12

CH-8330 Pfäffikon

Tel.: 043 288 60 00

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CH­8105 Regensdorf

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CH­8630 Rüti

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St. Galler Strasse 42

CH­8400 Winterthur

Tel.: 052 266 90 90

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Landstrasse 36

CH-8450 Andelfingen

Tel.: 052 304 26 11

Fax: 052 304 26 00

zentrum-breitenstein@ ajb.zh.ch

NOTIZ

KINDER­ UND

JUGENDHILFEZENTREN (KJZ)

Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde

Pilatusstrasse 22

6002 Luzern

Telefon: 041 208 82 57 www.kesb.stadtluzern.ch

Fachstelle Kinderschutz

Rösslimattstrasse 37

6002 Luzern

Telefon: 041 228 58 96

www.disg.lu.ch/themen/ kinderschutz

Opferberatungsstelle

des Kantons Luzern

Obergrundstrasse 70

6003 Luzern

Telefon: 041 228 74 00

www.disg.lu.ch/themen/ opferberatung

RECHTE DER KINDER

DAS RECHT AUF Gleichheit, unabhängig von Rasse, Religion, Herkunft und Geschlecht

DAS RECHT AUF eine gesunde, geistige und körperliche Entwicklung

DAS RECHT AUF einen Namen und eine Staatsangehörigkeit

DAS RECHT AUF genügende Ernährung, Wohnung und ärztliche Betreuung

DAS RECHT AUF besondere Betreuung, wenn es behindert ist

DAS RECHT AUF Liebe, Verständnis und Fürsorge

DAS RECHT AUF unentgeltlichen Unterricht, auf Spiel und Erholung

DAS RECHT AUF sofortige Hilfe bei Katastrophen und Notlagen

DAS RECHT AUF Schutz vor Grausamkeit, Vernachlässigung und Ausnutzung

DAS RECHT AUF Schutz vor Verfolgung und auf eine Erziehung im Geiste weltumspannender Brüderlichkeit und des Friedens

Auszug aus der Erklärung der Rechte des Kindes der Vereinten Nationen vom 20. 11. 1989.

VORFALL IM BAUMHAUS

Autorinnen: (links) Monica Meyer, Leiterin Mütter­ und Väterberatung, und Franziska Guntern, Leiterin Erziehungsberatung, kjz Winterthur

Familie Zünd wohnt in einer familiären Siedlung am Stadtrand mit viel Grün und einem tollen Spielplatz. Täglich vergnügen sich Kinder unterschiedlichen Alters auf den Wiesen, zwischen den Büschen oder auf dem Spielplatz. Die Familie ist bewusst in die kinderfreundliche Siedlung gezogen, um ihren zwei Kindern ein Aufwachsen in schöner und friedlicher Umgebung zu ermöglichen.

Eines Morgens läutet es an der Tür und Frau Duwe, eine Nachbarin, steht verstört und bleich davor. Sie beginnt stockend zu erzählen: Ihr bald dreijähriger Sohn Jonas sei mit seiner grösseren Schwester draussen am Spielen gewesen. Da lockten grosse Jungs den kleinen Jonas unter einem Vorwand ins Baumhaus, wo er seine Unterhosen und die Shorts ausziehen musste. Die Jungs spielten danach mit seinem Geschlechtsteil und fotografierten es mit ihren Handys. Sie liessen Jonas wieder gehen unter der Bedingung, dass er ja niemandem vom Vorfall erzähle, sonst würden sie seiner Schwester wehtun …

Auch Frau Zünd ist schockiert und beunruhigt. Am Abend, als die Kinder im Bett sind, sitzt sie mit ihrem Mann zusammen und erzählt ihm vom Vorfall bei Familie Duwe. Auch Herr Zünd ist bestürzt und kann nicht fassen, dass so etwas passieren kann. Was, wenn das ihrem Jungen

passiert wäre? Wie können sie ihre Kinder schützen? Die Kinder vor Fremden warnen? Frau und Herr Zünd wissen, dass die meisten Übergriffe durch Bekannte geschehen. Das Kind ständig unter Aufsicht haben? Dies ist unmöglich und wäre für die Entwicklung der Kinder auch nicht förderlich. Die Eltern beschliessen, sich bei einer spezialisierten Beratungsstelle zu melden, um dort Antworten auf ihre Fragen und Unsicherheiten zu bekommen.

In der Beratung im Kinder­ und Jugendhilfezentrum (kjz) erfahren Herr und Frau Zünd, dass sie ihren vierjährigen Sohn Paul und ihre sechsmonatige Tochter Tania nicht hundertprozentig vor Übergriffen schützen können. Selbstbewussten Kindern fällt es jedoch leichter mitzuteilen, was sie mögen und was sie nicht mögen. Sie können besser Nein sagen und unangenehme Berührungen abwehren. Für Kinder ist es deshalb

wichtig, sich ihrer Gefühle und ihres Körpers bewusst zu werden. Denn nur so können sie Grenzen setzen. Manchmal zeigt die kleine Tania deutlich, dass sie bestimmte Berührungen nicht will, indem sie den Kopf wegdreht oder das Gesicht verzieht. Der ältere Paul wird wütend, wenn etwas nicht so geht, wie er es gerne hätte. Auch wenn dies für die Eltern manchmal schmerzhaft ist, realisieren sie, wie wesentlich es ist, dass ihre Kinder ihre Gefühle mitteilen können. Indem die Eltern diese wahrnehmen und ernsthaft darauf eingehen, geben sie ihren Kindern die Chance, sich zu selbstbewussten und starken Kindern zu entwickeln.

Herr und Frau Zünd wurde in der Beratung bewusst, wie wichtig und wertvoll es ist, dass ihre Kinder eine tragfähige Bindung und Vertrauensbasis zu ihnen aufbauen können. Sie sollen ihre Eltern als verlässlich erleben. Und sie sollen ein Zuhause haben, in dem ihre Nöte und Gefühle Platz haben und ernst genommen werden. Je mehr positive Erfahrungen die Kinder machen, umso leichter wird es ihnen fallen, in einer Notsituation Hilfe zu holen. Auch erfahren die Eltern, dass eine altersentsprechende Aufklärung ihrer Kinder sehr wichtig ist und sie mit dem Thema Sexualität offen umgehen sollen. Neugierige Fragen sollen altersentsprechend klar beantwortet und dabei auch die Geschlechtsteile mit richtigem Namen benannt werden. In der Beratung haben Herr und Frau Zünd zudem erfahren, dass das manchmal nervenaufreibende „Nein“ der Kinder als eine durchaus wertvolle Äusserung zu betrachten ist. Kinder sollen nämlich lernen, dass ihre Grenzen akzep­

tiert werden und dass sie sich wehren dürfen. Gleichzeitig sollen sie aber auch begreifen, dass auch sie die Grenzen der anderen respektieren müssen. Ausgerüstet mit einer Broschüre zum Thema Prävention, vielen Anregungen und neuen Betrachtungsweisen verlassen Herr und Frau Zünd das kjz und machen sich mit neuer Zuversicht auf den Nachhauseweg.

INFO

In den 17 Kinder­ und Jugendhilfezentren (kjz) im Kanton Zürich erhalten alle Eltern professionelle Beratung und Unterstützung bei diversen Fragen rund um die Entwicklung und Erziehung ihrer Kinder und die Herausforderungen im Familienalltag.

Das Beratungsangebot bezieht sich auf die Erziehung von Kindern bis 18 Jahren sowie die Entwicklung und den Umgang mit Babys und Kleinkindern. Bei Notlagen und familiären Konflikten bieten die kjz den Betroffenen zudem unkompliziert Hilfe.

Sämtliche Beratungen werden von ausgebildeten und erfahrenen Fachpersonen erbracht und sind vertraulich und kostenlos.

Daneben sind die kjz auch im Auftrag von Gerichten und Kindes­ und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) tätig.

Weitere Informationen findet man unter www.ajb.zh.ch.

WO ELTERN DEN UMGANG MIT HEIKLEN FRAGEN ÜBEN

Autor: Geschäftsstelle Elternbildung, Amt für Jugend und Berufsberatung Kanton Zürich

ELTERNBILDUNG ALS PRÄVENTION

VON SEXUELLEN GRENZVERLETZUNGEN

Über heikle Themen mit den Kindern zu sprechen, ist für alle Eltern eine Herausforderung. Geht es um Sexualerziehung, kommen im Kreise von Müttern und Vätern schnell Fragen auf: Bienen und Blumen waren gestern, aber wie sage ich es meinem Kind heute? Ist es normal, dass sich der Vierjährige zusammen mit den Nachbarskindern so gerne nackt auszieht? Wie reagieren, wenn das Kindergartenkind mit sexualisierten Kraftausdrücken nach Hause kommt? Wann ist der beste Zeitpunkt für ein Gespräch mit der Tochter über die erste Menstruation? Und welche Massnahmen sind sinnvoll, damit Jugendliche sich nicht selbst schaden, indem sie Nacktbilder von sich herumschicken?

Eltern wissen heute, dass die sexuelle Entwicklung der Kinder ein ganz natürlicher Prozess ist. Trotzdem sind sie manchmal unsicher und ratlos, wie sie auf das Dökterlispiel im Wohnzimmer reagieren oder unerwartete Fragen beantworten sollen. Sie werden dann vielleicht mit ihren eigenen Hemmungen oder den wenig hilfreichen Erfahrungen aus der eigenen Kindheit konfrontiert. Wenn zudem die Medien ganz andere Werte und ganz andere Umgangsformen von Sexuali­

tät verbreiten als jene, welche die Eltern kennen, fühlen sie sich zusätzlich verunsichert: Birgt der Chatroom das Risiko für Elfjährige, sexuell belästigt zu werden? Ist der beliebte Juniorentrainer in Tat und Wahrheit ein pädophiler Unhold? Und wie steht es mit der „Generation Porno“, ist die Jugend wirklich sexuell verwahrlost?

Engagierte Mütter und Väter können davon profitieren, wenn sie sich selbst mit dem Thema beschäftigen. Elternbildungskurse geben Gelegenheit dazu. Dort werden Alltagsfragen zu Sexualerziehung bei Kindern der verschiedenen Altersstufen diskutiert und entwicklungsförderndes Erziehungsverhalten aufgezeigt. Was heisst das konkret?

Sexualerziehung ist mehr, als über die Funktion der Geschlechtsorgane zu informieren und das Geheimnis der menschlichen Fortpflanzung zu lüften. Die sexuelle Entwicklung von Kindern braucht in jedem Alter eine aufmerksame, angemessene und respektvolle Begleitung. Kleinkinder sollen mit allen Sinnen lustvolle Erfahrungen machen können. Sandkastenspiele und ausgiebiges Plantschen in der Badewanne dienen deshalb nicht nur der Bewegungsförderung und hygienischen Zwecken, sondern fördern das Kind in seiner ganzen Entwicklung.

Indem Eltern von Anfang an alle Körperteile namentlich benennen – auch die Geschlechtsorgane – vermitteln sie bereits Kleinkindern den Wortschatz und die Sprache für weitere Gespräche rund um Sexualität. Hier bieten auch Elternzeitschriften und ­plattformen im Internet oder Bücher Hilfen an, wie Geschlechtsteile in einer kindergerechten Sprache ebenso benannt werden können wie Hand und Fuss.

In einem Elternbildungskurs wird zudem aufgezeigt, wie wichtig und grundlegend die Gestaltung einer positiven Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist. Auf dieser Basis des gemeinsamen Vertrauens können Eltern und Kinder über die vielfältigsten Fragen, über Vorfälle in der Schule, über News im TV oder aus der Zeitung sprechen. Gespräche rund um Sexualität entstehen oft nebenbei, eher unter vier Augen als am Esstisch, beim gemeinsamen Aufräumen oder vielleicht sogar beim Veloflicken.

Weil Kinder, besonders im Kleinkindalter, ihre Bedürfnisse und Fragen zur Sexualität direkt und ungeniert formulieren, lässt es sich in diesem Alter leichter darüber reden, als wenn sie bereits in der Pubertät sind. Dann sind viele Themen mit

INFO

Scham verbunden und Teenager wollen sich von Mutter und Vater abgrenzen. Deshalb ist Sexualerziehung nicht erst etwas für die Zeit der Pubertät, sondern beginnt, kind­ und altersgerecht, so früh wie möglich. In einem Elternbildungskurs erfahren Eltern auch, wie sie Kinder und Jugendliche gegenüber sexuellen Grenzverletzungen schützen können.

Sexualerziehung trägt zum Schutz vor sexueller Ausbeutung bei, indem sie den selbstbestimmten Umgang von Kindern mit ihrem Körper und ihrer Sexualität fördert. Wenn das Kind sich weigert, der „lieben Tante“ einen Kuss zu geben, so haben Erwachsene diese Grenze zu respektieren. Das Kind lernt so: „Mein Körper gehört mir“, und wird sich auch später selbstbewusster gegen unangenehme Anmache oder sexuelle Belästigung zur Wehr setzen. Es lernt so von Kindsbeinen an, dass sein „Nein“ und seine Gefühle ernst genommen werden. Diese Gefühle sagen ihm dann vielleicht auch einmal, dass es sich beim Geheimnis von letztens auf dem Pausenplatz nicht um ein „gutes“, sondern um ein „schlechtes“ Geheimnis handelt. Und dass es sich in einem solchen Fall unbedingt Hilfe bei Erwachsenen holen darf.

Die Geschäftsstelle Elternbildung informiert Eltern und Interessierte über das vielfältige Elternbildungsangebot im Kanton Zürich und unterstützt Organisationen bei der Planung und Durchführung von Elternbildungsveranstaltungen. Zudem entwickelt und sichert sie ergänzende Bildungsangebote für Eltern in schwierigen Lebenssituationen und Risikolagen und unterstützt Fachpersonen in methodischen und didaktischen Fragen. www.elternbildung.zh.ch

ADRIANAS TIEFE SCHNITTE

Autor: Werner Glauser, Leiter Regionalstelle Schulsozialarbeit der Bezirke Andelfingen und Winterthur, Amt für Jugend und Berufsberatung Kanton Zürich

Die 14-jährige Adriana besucht die zweite Klasse einer Sekundarschule im Kanton Zürich. Ihrer Lehrerin, Frau Studer, fällt auf, dass Adriana immer weniger Kontakt zu den anderen Kindern in der Klasse hat und sich zu einer stillen Aussenseiterin entwickelt. Ihre schulischen Leistungen werden immer schlechter. Auch hat Frau Studer den Verdacht, dass Adriana sich durch Ritzen selbst Verletzungen an den Unterarmen zufügt. Sie meldet das Mädchen beim Schulsozialarbeiter, Herrn Ott, für eine Beratung an.

Herr Ott kennt Adriana. Sie war bereits vor einem Jahr in der Beratung. Damals hatte sie Probleme mit ihrer Mutter und konnte keine Nähe zu ihr aufbauen. Der Schulsozialarbeiter stellte damals schon tiefe Schnitte mit Narbenbildung an Adrianas Armen fest. Er organisierte für Mutter und Tochter einen Termin in der Familienberatung eines Kinder­ und Jugendhilfezentrums (kjz) und überwies Adriana an einen Psychologen. Die Massnahmen waren erfolgreich, und schon bald bewegte sich Adriana wieder sicher im Schulalltag. Auch mit dem Ritzen hörte sie auf.

Adriana vertraut Herrn Ott. Beim jetzigen Treffen teilt sie ihm mit, dass sie Schwierigkeiten mit einem „Bekannten“ namens Mike habe. Sie habe Mike übers Internet, in einem Chatroom, kennengelernt und sich in ihn verliebt. Die beiden haben sich mehrmals getroffen, sich geküsst

und Zeit miteinander verbracht. Geschlafen hatten sie nicht miteinander. Mike habe gesagt, er sei erst 19, ist aber in Wirklichkeit bereits 24 Jahre alt. Als sie das erfahren habe, habe sie mit ihm Schluss gemacht, aber er wolle das nicht akzeptieren. Ständig belästige er sie mit SMS und auf Facebook.

Auch drohe er, dass er Nacktbilder von ihr veröffentlichen würde, die sie ihm in ihrer Verliebtheitsphase geschickt hatte. Der Druck sei nun so gross, dass sie wieder mit dem Ritzen begonnen habe.

Beim erneuten Ritzen sind es bisher nur leichte Kratzer, noch keine tieferen Schnitte wie beim ersten Mal. Adriana bittet Herrn Ott, dass er davon nichts der Mutter oder der Lehrerin

sage. Der Schulsozialarbeiter verspricht der Schülerin, dass er ohne ihre Einwilligung nichts unternehmen werde. Gleichzeitig beginnt er mit ihr einen Aushandlungsprozess mit dem Ziel, das Mädchen davon zu überzeugen, dass ein Einbezug der Mutter und der Lehrerin wichtig ist, um ihr zu helfen. Er nimmt Adrianas Befürchtungen ernst und räumt sie behutsam und in diversen Gesprächen aus dem Weg. Schliesslich gelingt ihm ein Treffen mit Adriana und ihrer Mutter. Sowohl die Familienberatung wie auch die psychologische Behandlung wird wieder aufgenommen. Bezüglich der Bedrohungssituation durch den Internetbekannten bezieht Herr Ott den Jugenddienst der Kantonspolizei Zürich ein. Zusammen entscheiden sie, Anzeige zu erstatten. Adriana geht es wieder gut. Dank der professionellen Unterstützung hat sie wieder den Kontakt zu ihren Mitschülern aufgebaut und die schulischen Leistungen verbessert.

INFO

Durch ihr niederschwelliges Angebot erkennt die Schulsozialarbeit frühzeitig ernsthafte Problemstellungen von Kindern und Jugendlichen und wird rasch und professionell tätig. Sie ist eine wichtige Scharnierstelle zwischen Schule und Elternhaus bei sozialen Fragestellungen. Die Leistungen der Schulsozialarbeit umfassen nebst der persönlichen, vertraulichen Beratung Kriseninterventionen in Klassen, thematisches Arbeiten mit Klassen (präventiv), Beteiligung an Schulhausaktivitäten, Elterngespräche und vieles mehr. Zentral ist auch die Vernetzung mit verschiedenen Hilfsinstitutionen, wie dem Schulpsychologischen Dienst, dem Kinder­ und Jugendpsychiatrischen Dienst, der Suchtprävention, dem Jugenddienst der Kantonspolizei und den Kinder­ und Jugendhilfezentren (kjz).

Weitere Informationen findet man unter www.schulsozialarbeit.zh.ch

LISAS GEHEIMNIS

Autorin: Gabriela Kaiser, Familienberaterin Fachstelle OKey & KidsPunkt

Die heute 15-jährige Lisa kam zusammen mit ihren Eltern vor neun Jahren aus dem Fernen Osten in die Schweiz. Für die noch jungen Eltern war es nicht einfach, hier Fuss zu fassen und sich zu integrieren. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten bemühten sich beide Eltern intensiv um die deutsche Sprache und fanden innerhalb eines Jahres Arbeit. Lisa schloss mit ihrer unkomplizierten und offenen Art in der Schule schon bald Freundschaften und entwickelte sich zu einer guten Schülerin. Ein jüngerer Cousin des Vaters wohnte wiederholt für ein paar Monate bei Lisas Familie hier in der Schweiz und unterstützte die Eltern in der Kinderbetreuung.

Wann immer möglich verbrachte die Familie die Sommerferien in der Heimat. Die Eltern waren stolz auf ihr Kind und auf das, was sie selbst in der Schweiz erreicht hatten. Sorgen bereiteten ihnen manchmal Lisas häufige Kopf- und Bauchschmerzen, welche medizinisch nicht erklärbar waren.

Vor zwei Jahren, während des Sexualkundeunterrichts in der ersten Klasse der Sekundarschule, begann Lisa plötzlich heftig zu weinen und war kaum zu beruhigen. Endlich vertraute sie unter vier Augen der Lehrerin an, sie habe „das“ alles schon erlebt. Plötzlich wurde sie wieder ruhig und meinte, sie müsse nun nach Hause gehen. In einem späteren Gespräch erst konnte Lisa der Lehrerin erzählen, dass sie jahrelang sexuelle Gewalt erlebt hatte, welche vor erst einem Jahr aufgehört habe: Der Cousin des

Vaters hatte schon vor der Migration von Lisas Familie in die Schweiz das kleine Mädchen im Intimbereich berührt und sie auf unangemessene Art und Weise geküsst.

Die Übergriffe wurden intensiver, bis der junge Mann das Mädchen im Alter von acht Jahren zum ersten Mal auf brutale Art vergewaltigte. Dies wiederholte er ab da bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Ein Jahr vor Lisas Gespräch mit der Lehrerin hatte sich Lisas Vater mit seinem Cousin zerstritten und den Kontakt zu diesem abgebrochen. Offenbar hatte der Mann auch keine Möglichkeit mehr, erneut in die Schweiz zu reisen.

Anscheinend war es für den Täter ein Leichtes, das Mädchen mit Drohungen, Schlägen und Schuldzuweisungen daran zu hindern, sich Hilfe zu holen.

Nach drei Gesprächen in der Opferberatung war Lisa bereit, sich ihren Eltern anzuvertrauen. Schwer auszuhalten war für das Mädchen die Angst, diese würden ihr nicht glauben, sie für „schmutzig“ oder „verdorben“ halten oder sie sogar schlagen – entsprechend musste sie für das gemeinsame Gespräch mit der Beraterin und den Eltern ihren ganzen Mut aufbringen. Diese waren verständlicherweise schockiert, traurig, verletzt.

Es schmerzte sie nicht nur die Tatsache, dass ihre Tochter wiederholt und während Jahren so Schreckliches erlebt hatte, sondern auch, dass Lisa damit ganz alleine gewesen war und sie als

Eltern nicht hatten helfen können. Betroffenheit und Trauer bei Mutter, Vater, Tochter waren enorm. Die ganze Familie brauchte eine Zeit lang Unterstützung, und Lisa verspürte selbst das Bedürfnis nach einer längeren traumatherapeutischen Begleitung. Von einer Strafanzeige gegen den Täter in der Heimat sahen die Eltern ab: Zu gross erschien ihnen das Risiko, dass der Mann dort die ganze Familie und die Öffentlichkeit gegen Lisa aufhetzen würde und somit Lisas und den Ruf der Familie für immer schädigen würde. Für Lisa war die Entscheidung der Eltern in Ordnung. Sie war unendlich erleichtert darüber, in Sicherheit zu sein und von ihren Eltern nun endlich Unterstützung zu erhalten.

Lisas Schulleistungen litten vor zwei Jahren erst einmal ziemlich unter den Turbulenzen, welche die Offenlegung der Gewalt mit sich brachte. Belastungen, welche tief im Innern versteckt waren, zeigten sich. Therapie, Familienberatung und die verständnisvolle, fürsorgliche und gleichzeitig klare Haltung der Schule halfen.

Lisa möchte Ärztin werden und überlegt deshalb, sich in einem zehnten Schuljahr auf die Aufnahmeprüfung für die Mittelschule vorzubereiten. Sie klagt nur noch selten über Kopfschmerzen und ist auffallend seltener erkältet als früher. Die Therapie ist eigentlich abgeschlossen. Manchmal allerdings hat Lisa ihre, wie sie es selbst nennt, „komischen Zustände“. Dann vereinbart sie einen Termin mit der Therapeutin. Diese hilft Lisa, ihre schlimmen Erinnerungen und unangenehme Gefühle zu ordnen und wieder mehr zur Ruhe zu kommen. Geht es Lisa besser, geht sie am liebsten mit ihren Freundinnen shoppen oder backt mit diesen Cupcakes.

Kinder oder Jugendliche, ob Mädchen oder Jungen, welche Opfer von sexuellen Übergriffen oder von sexueller Gewalt werden, haben vielfältige Gründe, über das Geschehene zu schweigen. Sie werden von den Tätern manipuliert, eingeschüchtert und bedroht und sind oft von diesen abhängig. Kindern fehlt noch immer Wissen und Vokabular über Körperteile und sexuelle Vorgänge. Wie also über das Unfassbare reden?

INFO

Die Fachstelle OKey & KidsPunkt ist ein Beratungsangebot für Kinder und Jugendliche, welche direkt von körperlicher, sexueller oder psychischer Gewalt betroffen sind oder welche in der Familie Zeugen von Gewalt geworden sind. Beraten werden ebenso Angehörige und Fachpersonen. Betrieben wird die Fachstelle von der Stiftung OKey – für das Kind in Not. Die Leistungen der anerkannten Opferberatungsstelle sind in einem Leistungsvertrag mit der Justizdirektion des Kantons Zürich geregelt und finanziell abgegolten. OKey & KidsPunkt beruht auf einer langjährigen Kooperation zwischen der Kinderklinik des Kantonsspitals Winterthur und dem Amt für Jugend und Berufsberatung, welche die Fachstelle zusätzlich mit einem jährlichen Subventionsbeitrag finanziell unterstützt.

Betroffene haben – oft zu Recht – Angst, dass ihnen kein Glauben geschenkt wird oder dass ihnen selbst am Geschehen die Schuld gegeben wird. Auch schämen sich Opfer sexueller Gewalt für die Ereignisse an sich, noch mehr, über Details zu sprechen.

Sogar jüngere Kinder möchten die eigenen Eltern, welche vielleicht mit alltäglichen oder schlimmeren Sorgen sehr gefordert sind, schonen. Und nicht zuletzt kann es gerade für Jugendliche eine kaum zu ertragende Vorstellung sein, dass ihnen nahestehende Menschen sie anschauen und sich dabei Szenen sexueller Gewalt vorstellen müssen.

Betroffene, Angehörige und auch Fachpersonen finden bei verschiedenen Beratungsstellen unentgeltlich Hilfe – ob es sich wie im oben beschriebenen Fall um klar beschriebene und massive Gewalt oder um einen Verdacht, um verstörende Beobachtungen handelt. Opferhilfe muss niederschwellig zugänglich sein und in einem vertraulichen Rahmen stattfinden. Betroffene oder Angehörige brauchen in erster Linie Schutz und Sicherheit und dann – wo immer möglich – Zeit, um Strategien für längerfristige Lösungen zu finden. Kinder brauchen die Unterstützung ihnen nahestehender Bezugspersonen, im Idealfall natürlich der Eltern, und eine altersgerechte Sexualerziehung. Opfer wünschen sich einen „normalen“ Alltag zurück, eine Identität, in welcher die schlimmen Erinnerungen wohl da sind, aber an ihren Platz verwiesen werden können, sodass wieder Raum entsteht für geliebte Aktivitäten, Beziehungen, Freude, Lernen.

MAURO, DER JUNGE

MIT DEN VIEL ZU

GROSSEN SCHUHEN

Autor: Charles Baumann, Leiter kjz Winterthur, Amt für Jugend und Berufsberatung Kanton Zürich

Kurz vor Weihnachten sucht die 20-jährige Susanne mit ihrem 14-jährigen Halbbruder Mauro ohne Voranmeldung das Kinder- und Jugendhilfezentrum (kjz) Winterthur auf und bittet um Hilfe. Mauro werde vom Vater geschlagen. Es müsse etwas geschehen!

Im nachfolgenden Gespräch mit dem erfahrenen Sozialarbeiter Meier wird rasch deutlich, dass Mauro Angst hat. Angst, dass der Vater von seinem Hiersein erfahren könnte, wobei ihn weniger die Schläge, als vielmehr der Zimmerarrest und die angedrohte Heimeinweisung beschäftigen. Schläge erhält Mauro auch von der jungen Ehefrau des Vaters. Vor zwei Jahren hat sein Vater wieder geheiratet, was ihm Mühe bereitet habe. Seine leibliche Mutter hatte sich vor einigen Jahren das Leben genommen. Er gehorche der Stiefmutter eben sehr schlecht, erzählt Mauro freimütig. Deshalb werde sie manchmal wütend und schlage auf ihn ein oder verlange abends von seinem Vater, dass er ihn massregle.

Mauro ist nicht aus eigenem Antrieb ins kjz gekommen; Initiantin ist seine Halbschwester Susanne. Sie ist Mauros Vertraute. Da sie eine

eigene Wohnung hat, besucht Mauro sie häufig ohne das Wissen des Vaters. Diese Heimlichtuerei kommt daher, dass der Vater den Umgang Mauros mit seiner älteren Halbschwester nicht gern sieht und am liebsten verbieten möchte.

Da Mauro keinesfalls will, dass das kjz seinen Vater kontaktiert und die bestehende Kindsgefährdung nicht zwingend erfordert, gegen seinen Willen tätig zu werden, erarbeitet der Sozialarbeiter Meier mit ihm und seiner Schwester ein Notfallszenario für zukünftige Krisen. Mauro muss versprechen, sich sofort Hilfe zu holen, falls es wieder zu einer Eskalation der Gewalt kommen sollte.

Gut einen Monat später kommt es nicht unerwartet zu einem erneuten Vorfall: Mauro steht wieder am Empfang des kjz Winterthur. Er sieht erbärmlich aus. Er ist tropfnass, trägt viel zu gros­

se Schuhe, die von einem Erwachsenen stammen müssen, und ist sichtlich aufgewühlt. Er sei in Panik – ohne Schuhe – durchs Fenster vor den väterlichen Schlägen geflohen. Dieser habe ihn mit grosser Wut gegen die Wand geworfen und dann unkontrolliert auf ihn eingeschlagen. Mauro hat eine grosse Beule am Hinterkopf und Rötungen im Gesicht. Wie mit Herrn Meier vereinbart habe er zunächst seine Halbschwester aufgesucht, sie aber nicht vorgefunden. Also ist er, in den Schuhen eines Nachbarn, ins kjz gekommen.

Nach diesem Vorfall ist nun auch Mauro damit einverstanden, dass das kjz das Gespräch mit seinem Vater und seiner Stiefmutter sucht ...

Die Geschichte von Mauro, der im Erstgespräch seine Not hinter schalkhaftem Charme geschickt zu verstecken weiss, ist eine typische. Und sie berührt. Denn Mauro hat viel Mut aufbringen müssen, um Aussenstehenden von seinem Leid zu berichten. Mauro ist, wie viele andere körperlich und psychisch misshandelte oder sexuell ausgebeutete Kinder und Jugendliche, ein Geheimnisträger. Er weiss, dass etwas nicht stimmt mit seiner Situation. In seiner Vorstellung sind Bilder von einer fürsorglichen Familie, die er sich sehnlichst wünscht. Allerdings ist ihm nicht ganz klar, wer für deren Fehlen verantwortlich ist! Er selbst oder seine erwachsenen Bezugspersonen? Er ist unsicher, was er von Aussen­

stehenden zu erwarten hat: Hilfestellung oder Tadel, wenn nicht gar Bestrafung? Mauro ist darum misstrauisch. Zusätzlich verkompliziert wird seine Gefühlswelt dadurch, dass er den Vater, der ihn lieblos behandelt und schlägt, gern hat. Ihm gegenüber hat er starke Gefühle der Loyalität.

Mauros erster Schritt zur Veränderung seiner Situation ist, dass er sich eine vertraute Person sucht, mit der er reden kann. Bei ihm ist das seine Halbschwester, die ausserhalb des Elternhauses lebt. Mauro ist nicht mehr allein. Der zweite Schritt, der Gang auf die Beratungsstelle, braucht Zeit und zahlreiche erfolglose Versuche der Halbschwester, die Situation aus eigener Kraft zu verbessern.

Typisch für die Kindesschutzarbeit mit Jugendlichen ist, dass diese selbst Einfluss nehmen und über die möglichen Folgen mitbestimmen wollen. Diese gewünschte Selbstbestimmung ist zu respektieren und wichtig für den Vertrauensaufbau zwischen dem Jugendlichen und dem Berater. Erst wenn das Misshandlungsrisiko derart gravierend ist, dass nicht länger abgewartet werden kann, wird das kjz von sich aus tätig. Für die kjz­Mitarbeitenden ist dieses Abwägen zwischen Selbstbestimmung und Eingreifen ein schwieriger Teil des Beratungsprozesses, der sorgsam erfolgen muss.

INFO

Das kjz Winterthur ist eines von 17 Kinder­ und Jugendhilfezentren (kjz) im Kanton Zürich. In den kjz erhalten alle Eltern professionelle Beratung und Unterstützung bei diversen Fragen rund um die Entwicklung und Erziehung ihrer Kinder und die Herausforderungen im Familienalltag.

Das Beratungsangebot bezieht sich auf die Erziehung von Kindern bis 18 Jahren sowie die Entwicklung und den Umgang mit Babys und Kleinkindern. Bei Notlagen und familiären Konflikten bieten die kjz den Betroffenen zudem unkompliziert Hilfe.

Sämtliche Beratungen werden von ausgebildeten und erfahrenen Fachpersonen erbracht und sind vertraulich und kostenlos.

Daneben sind die kjz auch im Auftrag von Gerichten und Kindes­ und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) tätig.

Weitere Informationen findet man unter: www.ajb.zh.ch.

Als Mauro das kjz Winterthur zum zweiten Mal aufsucht, hat er sich innerlich neu positioniert. Er weiss nun genauer, wohin er geht und für welche Überzeugungen und möglichen Konsequenzen diese Einrichtung steht. Die Frage, ob sein Vater und seine Stiefmutter zu kontaktieren sind, löst keine Diskussionen mehr aus. Mauro hat beschlossen, sein Geheimnis „öffentlich“ zu machen und dem kjz die Erlaubnis zu geben, ihm zu helfen.

Und wie geht es Mauro heute? Vor Kurzem hat er sich von der Gastfamilie verabschiedet, bei der er ein halbes Jahr gelebt hat und die das kjz für ihn organisiert hat. Dem Entscheid, Mauro vorübergehend ein neues Zuhause zu geben, war

eine kurze, aber intensive Phase der Familienarbeit vorangegangen. Dabei wurde deutlich, dass die Familie noch Zeit brauchte, um notwendige Veränderungen umzusetzen und Mauro ein tragfähiges Zuhause zu bieten. Während der Zeit der räumlichen Trennung arbeitete insbesondere der Vater gut mit der Beiständin zusammen, die die Familie mit Rat und Tat unterstützt. Mauro berichtet, dass die Verhältnisse seit seiner Rückkehr nach Hause stabil geblieben seien. Auch in der Schule gehe es besser; er habe erfolgreich eine Lehrstelle gefunden. Zu Gewaltanwendungen ist es seit der akuten Krise, die zur Kontaktaufnahme mit dem kjz führte, nicht mehr gekommen.

DIE ROLLE DER KINDESUND ERWACHSENENSCHUTZBEHÖRDEN IN FÄLLEN VON GEWALT UND MISSBRAUCH

Autor: Peter Meier, Vize­Präsident Kindes­ und Erwachsenenschutzbehörde Bezirk Horgen

WER SIND WIR?

Seit dem 1. Januar 2013 setzen sich in der ganzen Schweiz die Kindes­ und Erwachsenenschutzbehörden – zumeist kurz KESB genannt –für den Schutz von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ein. Sie ersetzen die bisherigen Vormundschaftsbehörden. Die Entscheide im Bereich des zivilrechtlichen Kindes­ und Erwachsenenschutzes werden von diesen Fachstellen getroffen. Sie sind auch ausschliesslich zuständig für die Entgegennahme und Behandlung von Gefährdungsmeldungen. Die Fachbehörden sind interdisziplinär zusammengesetzt. Im Kanton Zürich gehören der KESB zwingend Mitglieder mit Fachwissen in den Bereichen Recht und soziale Arbeit an. Zusätzlich gehören der KESB Mitglieder an mit Fachwissen in den Bereichen Pädagogik, Psychologie, Gesundheit oder Treuhand. An einem Entscheid sind mindestens drei Mitglieder beteiligt.

Die örtliche Zuständigkeit der Kindes­ und Erwachsenenschutzbehörde richtet sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des schutzbedürftigen Kindes bzw. Erwachsenen. Liegt Gefahr im Verzug, ist auch die Behörde am Ort zuständig, wo sich die betroffene Person aufhält.

WIE GEHEN WIR VOR?

Jeder, der das Wohl eines Kindes oder einer erwachsenen Person gefährdet sieht, kann eine Meldung an die KESB machen, eine sogenannte Gefährdungsmeldung. Amtspersonen sind sogar meldepflichtig.

Die KESB beginnt in der Folge hinzuschauen und abzuklären. Sie muss sich ein eigenes Bild von der Situation machen und ist nicht an den Inhalt der Meldung oder an Anträge gebunden. Sie erkundigt sich bei den beteiligten Personen und

➽SCHUTZ VON KINDERN

Stellen, z. B. bei Verwandten, Schulen, Sozialdiensten, Heimleitungen und Ärzten. Natürlich wird auch die betroffene Person miteinbezogen. Die KESB kann auch eine externe Fachperson oder Fachstelle mit der Abklärung beauftragen (z. B. bei Kindswohlgefährdungen die Kinderund Jugendhilfezentren des Kantons Zürich bzw. für die Stadt Zürich die Sozialzentren). Nötigenfalls wird das Gutachten einer sachverständigen Person eingeholt.

Wenn die wesentlichen Umstände bekannt sind und Schutzbedarf besteht, muss vorerst abgeklärt werden, ob Unterstützung im freiwilligen Rahmen organisiert werden kann und auch von den Betroffenen akzeptiert wird. Ist dies möglich, ist keine behördlich angeordnete Massnahme nötig. Andernfalls muss die Schutzmassnahme von der KESB beschlossen werden. Die angeordnete Massnahme muss verhältnismässig sein, nach dem Motto „so wenig wie möglich, so viel wie nötig“. Die betroffenen Personen werden vor der Beschlussfassung angehört. Gegen den Entscheid der KESB kann man sich mit einer Beschwerde wehren.

Gewalt und Missbrauch sind für die Kindesund Erwachsenenschutzbehörden vor allem im Rahmen des Kindesschutzes ein wichtiges Thema. Im Bereich des Erwachsenenschutzes spielt das Thema Gewalt kaum eine Rolle; es bestehen andere Rechtsbehelfe.

ZUM KINDESSCHUTZ IM SPEZIELLEN

Das Wohl eines Kindes kann durch psychische, physische und sexuelle Misshandlung und durch Vernachlässigung gefährdet sein. Vernachlässigung und Gewalt gegen Kinder geschehen oft in einer Überforderungssituation der Eltern. Risikofaktoren sind u. a. psychische Erkrankungen bei einem Elternteil, Partnerkonflikte, wirtschaftliche Not und mangelhafte Einbettung in der Gesellschaft.

Vernachlässigung äussert sich zum Beispiel im körperlichen Zustand des Kindes, in unangepasster Kleidung, mangelhafter Ernährung und Hygiene, aber auch in einer fehlenden Tagesstruktur; das Kind sitzt in der Folge die ganze Zeit am Computer, „hängt herum“, vernachlässigt die Schule usw.

Gewaltausübung gegen ein Kind kann (muss aber nicht) körperlich erkennbar sein (blaue Flecken, Striemen usw.); dies wird oft in der Schule festgestellt. Nicht selten erzählen Kinder auch einer Vertrauensperson (zum Beispiel einer Nachbarin oder Lehrerin) davon. Schwieriger erkennbar ist psychische Gewalt wie demütigendes, abwertendes Verhalten; dazu gehört auch, nach einer Trennung den anderen Elternteil schlechtzumachen, was häufig bei Besuchsrechtsstreitigkeiten geschieht.

➽SCHUTZ VON KINDERN

Am schwierigsten erkennbar ist die sexuelle Misshandlung, die im Verborgenen geschieht und stark tabuisiert ist. Oft ist man darauf angewiesen, dass das Kind von sich aus davon berichtet. Eine vertrauensvolle Beziehung zum Kind (zum Beispiel im Rahmen der Schule) kann dies begünstigen.

Eine Kindswohlgefährdung äussert sich häufig in einer Verhaltensauffälligkeit des Kindes; es verhält sich z. B. aggressiv gegen andere oder auch gegen sich selbst, distanzlos, wirkt niedergeschlagen, in sich gekehrt, konsumiert Drogen usw. Die Gefährdung ist dann offensichtlich und es muss gehandelt werden, auch wenn man den Grund für das Verhalten nicht kennt oder nur Vermutungen darüber bestehen. Erstes Ziel des Kindesschutzes ist es ja nicht, einen „Schuldigen“ zu finden (wie im Strafrecht), sondern dem Kind zu helfen.

Als Vorkehrungen zum Schutz des Kindes kommen Massnahmen zur Unterstützung von Eltern und Kind, aber auch Eingriffe in die elterliche Sorge infrage. Den Eltern kann ein Beistand (in der Regel von einer Fachstelle) zur Seite gestellt werden, der sie in Erziehungsfragen berät; dem Beistand können auch besondere Befugnisse übertragen werden, zum Beispiel ein Jugend­/Familiencoaching oder eine Kinderkrippenbetreuung zu organisieren. Die elterliche Sorge kann eingeschränkt werden, namentlich über eine Weisung an die Eltern (zum Beispiel das Kind medizinisch behandeln zu lassen, die

Dienste einer Familienbegleiterin in Anspruch zu nehmen); dazu gehört auch der Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechtes, verbunden mit einer Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie oder einem Heim. Diese Massnahme ist sehr einschneidend und wird nur verfügt, wenn unterstützende Massnahmen (zum Beispiel Betreuung der Familie vor Ort durch eine Fachfrau) nicht ausreichend sind. In seltenen Fällen wird den Eltern die elterliche Sorge entzogen und für das Kind ein Vormund ernannt. Kindesschutzmassnahmen im weiteren Sinn sind auch Regelungen des Besuchsrechtes eines Elternteiles, Entscheide über die elterliche Sorge und Unterhaltsregelungen.

WO SIND UNSERE GRENZEN?

Im Bereich Kindesschutz sind die KESB nur zuständig, wenn die Eltern selbst das Kindswohl gefährden oder zumindest nicht richtig auf eine Kindswohlgefährdung reagieren. Kindsschutzmassnahmen bezwecken, ein Defizit bei den Eltern „auszugleichen“. Erfährt ein Kind zum Beispiel von Schulkameraden oder einem Nachbarn Gewalt, ist dies grundsätzlich nicht Sache der KESB.

Wenn eine Person Gewalt erfährt, stellt sich auch die Frage nach strafrechtlichen Konsequenzen. Diese liegen nicht im Zuständigkeitsbereich der KESB; sie kann allenfalls die betroffene Person im entsprechenden Verfahren, wenn nötig, unterstützen. Dasselbe gilt für medizinische Probleme.

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Die Kindes­ und Erwachsenenschutzbehörden können zwar Entscheide auch rasch („superprovisorisch“) fällen; sie sind jedoch nicht für Notfalleinsätze vor Ort eingerichtet. Namentlich im Kindesschutz kann es nötig sein, dass im akuten Notfall (zur Abwehr einer unmittelbaren Gefahr) die Polizei beigezogen werden muss, zum Beispiel wenn in einer Familie gerade eine Gewalteskalation stattfindet.

Hat die KESB mal eine Massnahme errichtet und eine Mandatsperson (Beistand oder Beiständin) für ein Kind oder eine erwachsene Person ernannt, führt diese das Mandat im Rahmen der erteilten Aufträge. Ansprechperson in diesem „operativen Bereich“ ist für die beteiligten Personen und Stellen primär die Mandatsperson.

INFO

Weitere Informationen über die Kindes­ und Erwachsenenschutzbehörden und ihren Wirkungskreis im Kanton Zürich sind erhältlich auf www.kesb­zh.ch, dem Gemeindeamt als Aufsichtsbehörde über diese Fachbehörden auf www.kesb­aufsicht. zh.ch oder direkt bei den einzelnen Kindesund Erwachsenenschutzbehörden.

DIE OPFERHILFE: WERDEGANG

UND AUFGABEN

DES

KANTONS GLARUS

Autorin: Jasmin Blumer, Sozialarbeiterin

Mein beruflicher Hintergrund ist die soziale Arbeit, ich habe einen Bachelor in sozialer Arbeit der Fachhochschule Luzern. Nachdem ich viele Jahre

Familienfrau war und vier Kinder ins Leben begleiten durfte, entschied ich mich, als meine jüngste Tochter in der Schule war, zu studieren. Zuvor bildete ich mich zur Beraterin in Individualpsychologie am Adler Institut in Zürich aus und dieses Jahr schloss ich meine Ausbildung als Resilienz Coach HBT ab. Nebenberuflich bin ich noch Mitglied beim Care Team des Kantons Glarus.

Nachdem ich einige Zeit im zivilrechtlichen Kindesschutz bei den sozialen Diensten des Kantons Glarus als Mandatsträgerin tätig gewesen war und gleichzeitig die Pflegekinderfachstelle für den Kanton Glarus aufgebaut hatte, suchte ich eine neue berufliche Herausforderung und fand diese bei der Kantonalen Opferberatungsstelle.

Die Opferberatungsstelle begleitet Menschen, welche Opfer einer Straftat im Sinne des Opferhilfegesetzes geworden sind, unabhängig davon, ob eine Strafanzeige eingereicht worden ist oder nicht. Das Opferhilfegesetz trat im Jahr 1993 in Kraft. Grundlage für die Verfassungsbestimmung und das Opferhilfegesetz war eine Volksinitiative des „Beobachters“ im Jahr 1980. Mit diesem

Bundesgesetz wurden die Kantone dazu verpflichtet, Beratungsstellen für die Beratung und Hilfeleistung für Opfer zu schaffen sowie Entschädigungen und Genugtuung zu leisten. Gleichzeitig wurden Minimalregeln für die kantonalen Strafprozessordnungen aufgestellt, um die Stellung sowie die Rechte der Opfer im Strafverfahren gegen den Täter zu verbessern. Es fanden schon zwei Gesetzesrevisionen statt, die letzte trat im Jahr 2002 in Kraft. Art. 1 Abs. 1 des Opferhilfegesetzes hält sinngemäss fest, dass jede Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist (Opfer), Anspruch auf Unterstützung nach dem Gesetz (Opferhilfe) hat.

Weiter hält Abs. 2 sinngemäss fest, dass auch der Ehegatte oder die Ehegattin des Opfers, seine Kinder und Eltern sowie andere Personen, die ihm in ähnlicher Weise nahestehen (Angehörige), Anspruch auf Opferhilfe haben.

Straftaten laut Opferhilfe sind zum Beispiel Raubüberfalle mit Körperverletzung, ebenso aber auch Schläge durch ein Familienmitglied, sexuelle Übergriffe, Drohungen, Bedrohungen oder auch ein Verkehrsunfall, bei dem eine Person verletzt wurde.

In der Opferberatung des Kantons Glarus begleiten wir primär Menschen, welche Opfer von häuslicher Gewalt wurden. Von häuslicher Gewalt sprechen wir, wenn zum Beispiel eine Frau oder ein Mann von ihrem Partner/seiner Partnerin oder auch Ex­Partner/­in geschlagen wird und somit deren Gewalt ausgesetzt ist. Ebenso, wenn Eltern immer wieder den Drohungen ihrer Kinder ausgesetzt sind. Häusliche Gewalt ist angedrohte oder ausgeübte psychische, physische oder sexuelle Gewalt in hetero­ oder homosexuellen Partnerschaften und Familien. Diese Art von Gewalt ist mit vielen Schamgefühlen verbunden und deshalb weitgehend tabuisiert. Es ist schwierig, sich und vor allem anderen einzugestehen, dass man Angst vor Familienangehörigen hat, welche Gewalt ausüben.

Das Gleiche gilt für die sexuelle Gewalt, da es sich beim Täter oder bei der Täterin meistens um Personen aus dem nahen Umfeld handelt.

Die emotionale Nähe des Opfers, meist auch die Abhängigkeit, wird vom Täter oder von der Täterin oft ausgenutzt. Sexuelle Gewalt ist nicht immer körperliche Gewalt, es können auch Androhungen von Gewalt oder Sanktionen sein. Opfer entwickeln bei der sexuellen Gewalt oft widersprüchliche Emotionen wie Schuld­ und Schamgefühle, aber auch Angst vor Beziehungsverlust.

Die sexuelle Gewalt an Kindern, das heisst die sexuelle Ausbeutung von Kindern, ist sicher für jede Beraterin eine Thematik, welche grosse Betroffenheit auslösen kann. Wenn Kinder oder Jugendliche von einer erwachsenen Person für deren sexuelle Erregung oder Befriedigung benutzt werden, bedingt dies eine besonders hohe Professionalität, um als Beraterin situationsadäquat Interventionen einleiten zu können.

Um eine kompetente Beratung und Begleitung zum Schutz der Kinder anbieten zu können, besuchen wir von der Beratungsstelle fachspezifische Weiterbildungen, arbeiten mit Supervision oder Intervision und sind mit den verschiedensten Akteuren im Kinderschutz eng vernetzt.

Unsere Beratungsstelle begleitet auch Opfer eines Verkehrsunfalls oder dem Opfer nahestehende Personen. Häufig gilt es, komplexe Versicherungsfragen zu klären und Ansprüche geltend zu machen, da Unfälle gravierende gesundheitliche, soziale, berufliche oder finanzielle Folgen nach sich ziehen können.

Beratungen erfolgen bei uns telefonisch, schriftlich oder in einem persönlichen Gespräch auf unserer Stelle.

Wir:

klären die Leistungen gemäss Opferhilfegesetz ab, informieren über geltende Rechte gemäss Opferhilfegesetz und über Rechte im Strafverfahren wie Ausschluss der Öffentlichkeit, Vermeidung einer Begegnung mit der beschuldigten Person, Schutz vor Veröffentlichung der Identität etc.

helfen bei der Bewältigung der Gewalterfahrung, beraten bezüglich einer Strafanzeige, unterstützen bei der Geltendmachung von Entschädigung und Genugtuung im Strafverfahren, klären versicherungsrechtliche Ansprüche ab, zum Beispiel: Heilungskosten, Zuständigkeit für die Arzt­ und Spitalbehandlungen, Ambulanzrechnung sowie für weitere Therapien wie zum Beispiel: Psychotherapie.

beraten bei der Geltendmachung finanzieller Ansprüche gegenüber der Kantonalen Opferhilfe in Bezug auf Entschädigung und Genugtuung, triagieren an Fachpersonen aus dem juristischen, psychotherapeutischen und medizinischen Bereich oder an weitere Beratungsstellen, organisieren bei Bedarf, das heisst, falls die Opfer nicht in ihrer gewohnten Umgebung bleiben können, Notunterkünfte oder auch Schutzplatzierungen.

unterstützen und begleiten Opfer und Angehörige oder dem Opfer nahestehende Personen, welche in ihrer körperlichen, psychischen oder in ihrer sexuellen Integrität verletzt wurden. Wir zeigen Wege und Möglichkeiten auf und helfen, das Erlebte zu verarbeiten.

Der Mensch als Individuum steht bei uns im Zentrum unserer Beratungsgespräche. Jeder Mensch, jede Situation, jede Hilfestellung ist verschieden. Die Beratung ist kostenlos und die Beraterinnen unterstehen der gesetzlichen Schweigepflicht.

Meine Entscheidung, die Herausforderung als Opferberaterin auf einer Opferberatungsstelle anzunehmen, habe ich nie bereut. Ich unterstütze in meinem beruflichen Alltag Menschen, welche sich oft in einer Krisensituation befinden, und bin dankbar, dass ich sie ein Stück auf ihrem Weg begleiten darf.

INFO

Jasmin Blumer, Sozialarbeiterin FH BSc

➽Kanton Glarus – Volkswirtschaft und Inneres

Opferberatungsstelle des Kantons Glarus

Bahnhofstrasse 24, 8752 Näfels

Tel. 0041 55 646 67 36, Fax 0041 55 646 67 23 jasmin.blumer@gl.ch, www.gl.ch

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