Spiegel der Forschung 2012-2

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ISSN 0176-3008 Nr. 2/2012 · 29. Jahrgang

W issens c haftsmagazin

Das Higgs-Teilchen und der Rest der Welt • Schwerpunkt: Georg Büchner und seine Zeit • Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage im Vormärz • Spuren der „Gießener Schwarzen“ in Büchners „Dantons Tod“ • Die „Gießener Auswanderergesellschaft“ im Vormärz • Auf nach Amerika! • 400 Jahre Universitätsbibliothek Gießen • Jenseits von Furcht: Milena Jesenská • Soziale Folgen der AIDS-Waisen-Krise in Namibia • Zur Finanzierung der EU-Politiken von 2014 bis 2020


Die ersten 1.000 Tage … entscheiden über die Zukunft eines Kindes. Mehr als zwei Millionen Kleinkinder sterben jährlich an den Folgen von Unterernährung. Schon die Mangelernährung der Mutter während der Schwangerschaft schwächt das Immunsystem des Kindes. Kleinkinder, denen in den ersten Monaten wichtige Nährstoffe fehlen, sind anfälliger für Durchfall, Lungenentzündung und Malaria. terre des hommes schützt das Leben von Müttern und Kleinkindern. Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit – mit Ihrer Spende! Weitere Informationen unter Telefon 0541/7101-128

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Nr. 2 – November 2012 · 29. Jahrgang

Physik 4

Michael Düren und Hasko Stenzel

Das Higgs-Teilchen und der Rest der Welt • Langjährige Suche ist endlich von Erfolg gekrönt Physiker am CERN in Genf haben in diesem Sommer die Beobachtung eines neuen Teilchens bekannt gegeben. Dabei handelt es sich um das schwerste je beobachtete elementare Teilchen, das 134mal so schwer wie das Proton ist. Vieles spricht dafür, dass es sich bei der Beobachtung um das lange gesuchte Higgs-Teilchen handelt, den letzten fehlenden Baustein im Standardmodell der Teilchenphysik. Die Arbeitsgruppe von Prof. Düren und Dr. Stenzel am II. Physikalischen Institut der Justus-Liebig-Universität ist als Mitglied der ATLAS-Kollaboration an den Messungen beteiligt.

Schwerpunkt:

Georg Büchner und seine Zeit 12 Heinrich Brinkmann

Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage im Vormärz • Wie lebte die ­Bevölkerung in und um Gießen zwischen 1815 und 1848 Oberhessen zählte in der Zeit des so genannten Vormärz von 1815 bis 1848 zu den rückständigsten und ärmsten Gebieten in Deutschland. Nach der Bauernbefreiung im Jahr 1811 konnten viele Bauern sich die Selbstständigkeit finanziell gar nicht leisten, denn die bisher in Naturalien und körperlicher Arbeit erbrachten Leistungen für die Grundherren mussten nun abgelöst werden. So übergaben sie ihr Land häufig den Gutsherren und mussten sich als Tagelöhner verdingen. Wenn irgend möglich wanderte man nach Amerika aus. 18

Günter Oesterle

Georg Büchner und seine Zeit • Ein privilegierter Schriftsteller und ein ­solitäres Werk Wenn man an die Stelle des Titels „Georg Büchner und seine Zeit“ „Georg Büchner in seiner Zeit“ setzt, hat man den Unterschied der Lebenszeit Büchners (1813-1837) und seiner Wirkung über einen umfassenderen Zeitraum im Blick. Diese doppelte Perspektive versucht der Essay durchzuhalten: Er fragt zunächst, wie es möglich wurde, dass ein junger

Spiegel der Forschung Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen Herausgeber: Der Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen Ludwigstraße 23, 35390 Gießen www.uni-giessen.de

Redaktion: Christel Lauterbach Telefon: 0641 99-12040 Fax: 0641 99-12049 christel.lauterbach@uni-giessen.de www.uni-giessen.de/ spiegel-der-forschung

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Die Beiträge geben die Meinung der Autorinnen und Autoren wieder. Der Nachdruck ist nach Absprache mit der Redaktion und den Autoren möglich. Titelbild: Georg Büchner (1813-1837), Bronze-Kopf, patiniert, von KarlHenning Seemann, Löchgau, 2006, vor dem Alten Schloss in Gießen. Foto: Franz Möller

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Mann, der mit 24 Jahren starb, nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Wissenschaftler und Revolutionär eine herausragende Rolle spielen konnte. Anschließend werden zwei avantgardistische Alternativen zu den von Büchner gewählten Dramenstoffen Danton und Woyzeck fiktiv vorgeführt. 28

Gerhard Kurz

„Der Freiheit eine Gasse“ • Spuren der „Gießener Schwarzen“ in Büchners „Dantons Tod“ Die „Gießener Schwarzen“ waren eine Gruppe radikaler Studenten, deren revolutionäres Programm für die Ambivalenzen der deutschen Demokraten nach 1800 aufschlussreich ist. Georg Büchner setzte sich in seiner kritischen Vorführung der französischen Revolutio­ näre in seinem Drama „Dantons Tod“ auch mit ihnen auseinander. 35

200. Geburtstag von Georg Büchner – Veranstaltungen an der Universität Gießen

36 Rita Rohrbach

Bleiben oder Gehen? • Die „Gießener Auswanderergesellschaft“ im Vormärz: Projektseminar in der Didaktik der Geschichte Georg Büchner, Ludwig Weidig, die Brüder Follen und Pastor Friedrich Münch waren durch vielfältige Aktivitäten im Rahmen ihres Studiums an der „Vormärz-Universität Gießen“, ihrer revolutionären Ziele und durch verwandtschaftliche Beziehungen verbunden. Als Akteure in der Zeit des Vormärz stellten sie sich die Frage, wie sie ihre freiheitlich-republikanischen Ideen umsetzen könnten: hier in Deutschland oder durch Gründung eines eigenen Staates in Amerika. Büchner und Weidig blieben, während Paul Follen und Pfarrer Münch die „Gießener Auswanderergesellschaft“ gründeten und mit 500 Mitgliedern die Utopie in Amerika verwirklichen wollten. 44 Rolf Haaser

Auf nach Amerika! • Die Erinnerungen des „roten Becker“ in einer ­amerikanischen Zeitschrift Die im amerikanischen Exil verfassten Erinnerungstexte des Büchner-Freundes August Becker sind als Hintergrundinformationen für die Entstehung des „Hessischen Landboten“ nur wenig bekannt. Nachfolgende Veröffentlichung aus den digitalen Beständen des Oberhessischen Literaturarchivs möchte auf die Bedeutung des „roten Becker“ als Chronisten der Gießener Ereignisse zur Zeit Büchners aufmerksam machen.

Kur z berichtet 49

Das Mathematikum wird 10: herzlichen Glückwunsch!

Universitätsbibliothek 50 Claudia Martin-Konle

Was war und was wird • 400 Jahre Universitätsbibliothek Gießen Im Jahr 1607 gründete Landgraf Ludwig V. von Hessen-Darmstadt die Universität Gießen als neue Landesuniversität. Fünf Jahre später kaufte er 1000 Bücher in Straßburg und legte damit den Grundstock für die Universitätsbibliothek. Vor 400 Jahren begann also die Geschichte der UB Gießen: Grund genug für einen Rück- und einen Ausblick.

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Justus-Liebig-Universität Gießen


Biogr afieforschung 56 Lucyna Darowska

Jenseits von Furcht: Milena Jesenská • Zur widerständigen Praxis der Prager Journalistin gegen den Nationalsozialismus Wie ist Milena Jesenská zur Widerständlerin geworden? Diese Frage steht im Mittelpunkt der Untersuchung von Lucyna Darowska, die neue Perspektiven interpretativer Biografieforschung innerhalb der politisch-historischen Widerstandsforschung zum Nationalsozialismus erschließt. Ausgehend vom New Historicism formuliert sie den Begriff der widerständigen Praxis neu. Auf dieser methodisch-theoretischen Basis entwickelt sie Interpretationen widerständiger Handlungen der in literarischen Kreisen bekannten Prager Journalistin Milena Jesenská gegen das NS-Regime.

Kur z berichtet 65

50 Jahre Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Justus-Liebig-Universität Gießen

Soziologie 66

Michaela Fink, Julia Erb und Reimer Gronemeyer

Soziale Krisen und soziale Kräfte • Forschung zu den sozialen Folgen der AIDSWaisen-Krise in Namibia Experten schätzen, dass gegenwärtig rund 15 Millionen Kinder und Jugendliche in Afrika einen Elternteil oder sogar beide Eltern durch die Immunschwäche AIDS verloren haben. Am Institut für Soziologie widmet sich ein dreiköpfiges Forscherteam seit März der Frage nach den sozialen Folgen der AIDS-Waisen-Krise im Südlichen Afrika. Am Beispiel von Namibia wird der gesellschaftliche Umgang mit dieser Krise untersucht. Geleitet wird das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierte Projekt „Soziale Krisen und soziale Kräfte“ von dem Soziologen und Theologen Prof. Reimer Gronemeyer. Er forscht seit über vierzig Jahren in Afrika.

Politikwissenschaf t 72 Karin Pieper

Mehrwert Europa • Zur Finanzierung der EU-Politiken von 2014 bis 2020 Bis spätestens Mitte 2013 müssen sich die EU-Mitgliedstaaten auf einen neuen Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) für den Zeitraum 2014 bis 2020 einigen. Wie bei den vorherigen Verhandlungen geht es hierbei um Milliardenbeträge und um die Aushandlung zwischen den Staaten der EU, welches Politikfeld mit welchen Summen finanziell ausgestattet wird. Mit Blick auf die andauernde Finanzkrise stellt diese Aufteilung ein „kniffliges Spiel“ dar: Einerseits geht es um die Umsetzung der Wachstumsprämisse und um den EU-weiten Solidaritätsgedanken, andererseits um das mögliche Festhalten an traditionellen Politiken wie der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Der Artikel beleuchtet aus politikwissenschaftlicher Sicht die Reichweite einer Finanzaufteilung, die einer innovativen und wachstumsfördernden sowie einer solidarischen Logik folgt.

Spiegel der Forschung · Nr. 1/2012

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Das Higgs-Teilchen und der Rest der Welt Langjährige Suche ist endlich von Erfolg gekrönt Von Michael Düren und Hasko Stenzel

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Justus-Liebig-Universität Gießen


Das Higgs-Teilchen und der Rest der Welt

Was ist eigentlich ein HiggsTeilchen? Wozu ist es gut, und was macht es so wichtig, dass Tausende Physiker Jahrzehnte lang danach gesucht haben? Wieso werden kilometerlange unterirdische Teilchenbeschleuniger gebaut, um es zu erzeugen? In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, Nicht-Physikern einen Einblick in die Welt der physikalischen Grundlagenforschung an vorderster Front zu vermitteln, wo mit gigantischen Maschinen und immensem Aufwand versucht wird, die grundlegenden Gesetze der Natur zu verstehen.

Abb. 1: Der ATLAS-Detektor ist in einer großen Kaverne 100 m unter der Erde aufgebaut. Die während der Bauphase zu sehenden acht Röhren beinhalten die supraleitenden Spulen, die den ganzen Raum mit einem starken Magnetfeld füllen. Der gesamte hier zu sehende Raum wurde anschließend mit empfindlichen, hoch auflösenden Detektoren ausgefüllt, die in der Lage sind, die bei der Kollision entstehenden Teilchen und Antiteilchen zu messen. © 2012 CERN ATLAS Experiment

Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012

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iel der Physik ist es, die grundlegenden Phänomene in der Natur zu erforschen, d.h. zu beobachten, zu klassifizieren und mathematisch zu beschreiben. Als Krönung einer Jahrhunderte langen Entwicklung gelang es der modernen Physik in den letzten Jahrzehnten, sämtliche bekannten Formen der Materie, der Energie und ihre Wechselwirkungen in Raum und Zeit in einem sehr einfachen mathematischen System zusammenzufassen, welches das „Standardmodell der Teilchenphysik“ genannt wird. Das Standardmodell der Teilchenphysik beruht auf einer Synthese der Einstein’schen speziellen Relativitätstheorie, welche die Welt als vierdimensionales Raum-ZeitKontinuum beschreibt, und der Quantentheorie zur so genannten relativistischen Quantenfeldtheorie. Letztlich werden alle Phänomene in der Physik auf Wechselwirkungen zwischen Teilchen zurückgeführt. Wir kennen drei Sorten lang-reichweitiger Wechselwirkungen, die über große Distanzen zu spüren sind, und drei Sorten kurz-reichweitiger Wechselwirkungen, die nur in der subatomaren Welt spürbar werden. Die lang-reichweitigen Kräfte sind uns aus dem täglichen Leben bekannt: die elektrischen Kräfte, die magnetischen Kräfte und die Schwerkraft. Die kurzreichweitigen Kräfte sind unter anderem für Radioaktivität, Kernenergie und den Zusammenhalt der Atomkerne zuständig.

Aber wie lässt sich erklären, dass Kräfte über Entfernungen wirken können, dass beispielsweise der weit entfernte Mond hier auf der Erde Ebbe und Flut verursachen kann? Bereits in der klassischen Physik wurde die Fernwirkung der Kräfte dadurch beschrieben, dass Felder eingeführt wurden, die sich in dem zunächst leeren Raum ausbreiten und ihre Wirkung dann lokal ausüben. Auf diese Weise werden Fernwirkungen in der Physik generell auf lokal wirkende Prozesse zurückgeführt. Der Mond wirkt also auf die Erde dadurch, dass sich vom Mond aus ein Gravitationsfeld ausbreitet, das dann die Erde umgibt und dort seine Wirkung zeigt. Die Natur dieser Kraftfelder bekam später im Rahmen der Quantentheorie eine neue Interpretation: Die den Raum ausfüllenden Felder bestehen in Wirklichkeit aus Quantenfluktuationen von speziellen Austauschteilchen, den Bosonen, benannt nach dem indischen Physiker Satyendra Nath Bose. Sie können quasi aus dem Nichts jederzeit entstehen und wieder verschwinden und sind in der Lage, Energie, Impuls und viele andere Eigenschaften von Ort A nach B zu transportieren. Das bekannteste Boson ist das Photon, also das Lichtteilchen. Photonen sind also nicht nur die Bausteine von Licht, Radiowellen oder Röntgenstrahlung, sondern sie sind auch die mikroskopischen Bestandteile jedes elektrischen oder magnetischen Feldes.

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Düren, Stenzel

Liste der fundamentalen Kräfte in der Natur Die Phänomene in der Natur werden in der Physik auf Wechselwirkungen zwischen Teilchen zurückgeführt. Diese Wechselwirkungen werden einerseits durch Felder, andererseits durch so genannte Austauschquanten beschrieben. Das bekannteste Austauschteilchen ist das Photon oder Lichtteilchen. Noch völlig ungeklärt ist die Existenz des Gravitons und der zugehörigen Gravitationswellen. Auf sub-atomarem Niveau wirkt die so genannte schwache Wechselwirkung, die durch die inzwischen gut studierten W- und Z-Bosonen vermittelt wird, sowie die starke Wechselwirkung, die von Gluonen hervorgerufen wird. Während die W- und Z-Bosonen den Zerfall der Atomkerne verursachen, sind die Gluonen für den Zusammenhalt der Atomkerne verantwortlich. Das Gluon bekam seinen Namen aufgrund seiner Eigenschaft, die Quarks – also die Bestandteile von Proton und Neutron – so stark zusammen zu kleben (engl. „glue“), dass die Quarks nie als einzelne freie Teilchen in der Welt zu finden sind, sondern nur in Gruppen von zwei oder drei Teilchen bzw. Antiteilchen. Das Higgs-Teilchen, auch Higgs-Boson genannt, ist das letzte im Standardmodell der subatomaren Physik vorhergesagte Teilchen. Es spielt in der quantentheoretischen Beschreibung der subatomaren Physik eine besonders wichtige Rolle. Wechselwirkung

Quant

Phänomen

Photon

Magnetismus, Elektrizität, Licht, Radiowellen, Röntgenstrahlen, …

Graviton

Schwerkraft, Gravitationswellen

schwache Wechselwirkung

W-, Z-Boson

Radioaktivität (β-Zerfall)

starke Wechselwirkung

Gluon

Kernkraft

Higgs-Feld

Higgs-Boson

Trägheit der Masse

lange Reichweite: Magnetfeld elektrisches Feld Gravitationsfeld kurze Reichweite:

Wozu ist das Higgs-Teilchen gut? Das Higgs-Teilchen wurde erfunden, um den Teilchen Masse zu geben. Ohne Masse würden sich alle Teilchen mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, wie Albert Einstein in seiner speziellen Relativitätstheorie gezeigt hat. Eine Welt ohne träge Masse ist also nicht denkbar. Aber wieso braucht man ein Higgs-Teilchen, damit Teilchen Masse haben?

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Nach der Einstein’schen Formel E=mc2 gibt es eine Äquivalenz von Masse und Energie. Jede Energieform kann sich in einem gebundenen System als Masse manifestieren. Die Masse des Protons beispielsweise besteht weit gehend aus der Bewegungs- und der Bindungsenergie seiner Bestandteile, den Quarks und Gluonen (1). Somit könnte man denken, dass alle Massen als reine „Energiebälle“ zu verstehen sind. Das ist aber nicht der Fall.

Um das zu verstehen, gehen wir zurück in die 1960er Jahre. Damals wurden wesentliche Teile des Standardmodells der Teilchenphysik entwickelt. Es wurde eine Theorie entwickelt, die es erlaubte, die schwache Wechselwirkung quantenfeldtheoretisch zu beschreiben. Diese Theorie sagte die Existenz von zwei neuen Austauschteilchen vorher, die anders als das masselose Photon eine große Masse haben mussten. Diese massiven W- und Z-Bosonen konnten 20 Jahre später als reale Teilchen im Experiment nachgewiesen werden (2), (3). Die Theorie hatte in den 1960er Jahren aber noch einen „Schönheitsfehler“: Setzte man die postulierten Massenwerte für die W- und Z-Bosonen in die Formeln der Quantenfeldtheorie ein, so erhielt man zwar zunächst die richtigen Ergebnisse, es zeigte sich jedoch, dass die so formulierte Theorie mathematisch nicht korrekt war. Wann immer man die Massenwerte der Austauschteilchen explizit in die Theorie einbauen wollte, traten Unendlichkeiten in der Theorie auf, die nicht „renormierbar“, also nicht praktisch handhabbar waren. Statt die quantenfeldtheoretische Beschreibung der W- und Z-Bosonen zu verwerfen, erfanden Peter Higgs (4; 5; 6; 7) und andere im Jahre 1964 einen mathematischen Trick: Sie setzten die Masse der Teilchen nicht explizit in die Formeln der Feldtheorie ein, sondern sie postulierten die Existenz eines neuen Feldes, des Higgs-Feldes, welches durch seine Wechselwirkung mit den W- und ZBosonen diesen eine Trägheit und damit eine Masse gab. Da das HiggsTeilchen nicht nur mit den W- und ZBosonen, sondern laut Theorie auch mit anderen Teilchen und auch mit sich selbst wechselwirkt, bekommen alle diese Teilchen träge Massen, und das Higgs-Teilchen selbst bekommt auch eine Masse. Je stärker ein Teil-

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Das Higgs-Teilchen und der Rest der Welt

chen mit dem Higgs reagiert, desto größer ist seine Masse. Das so postulierte Higgs-Feld, das die gesamte Welt ausfüllt, hatte also keinerlei physikalischen Nutzen, außer dass es die Theorie rettete. Seit 48 Jahren beruhte somit das Fundament der Teilchenphysik auf einem mathematischen Trick, für den es keinerlei experimentelle Verifikation gab. Ist das Higgs-Feld, das sich durch nichts äußert, außer dass es den Teilchen Masse gibt, real oder nur eine Erfindung verzweifelter Theoretiker? Erst der Nachweis des Higgs-Teilchens im Experiment stellt die Theorie auf soliden Boden.

Wie wird das Higgs-Teilchen nachgewiesen?

Spontane Symmetriebrechung Die Theorie von Peter Higgs nutzt ein weiteres bemerkenswertes Phänomen, das mit dem Begriff der spontanen Symmetriebrechung bezeichnet wird. Vereinfacht gesagt bezeichnet dieses Phänomen die Tatsache, dass die reale Welt oft weniger Symmetrien aufweist, als sie eigentlich haben müsste. Folgendes Beispiel aus der klassischen Physik illustriert das: Wird eine Eisenkugel auf 770°C erhitzt, so verliert sie ihren Magnetismus. Die heiße Kugel wird unmagnetisch, und sie besitzt völlige Rotationssymmetrie. Wird die Kugel langsam abgekühlt, so bilden sich in der Kugel mikroskopisch kleine Bereiche, die so genannten Weiss’schen Bezirke, in denen sich ein Magnetfeld in einer bestimmten Richtung ausbildet. Die Theorie sagt voraus, dass sich solche Vorzugsrichtungen ausbilden müssen, aber es gibt keine Möglichkeit die Richtung vorherzusagen. Somit wird während der Abkühlung spontan, also auf unvorhersagbare Weise, die ursprüngliche Rotationssymmetrie zerstört. Auf ähnliche Weise wurde nach dem Urknall, als sich unser Weltall abkühlte, auch das Higgs-Feld erzeugt. Dabei wurden Symmetrien gebrochen, die heute zwar noch in den Formeln der Theoretiker, aber nicht mehr in der realen Welt des Experimentalphysikers zu finden sind.

Eines der wenigen Dinge, welche die Theorie von Peter Higgs nicht vorhersagen konnte, war die Masse des Higgs-Teilchens. Nach Jahrzehnten vergeblicher Suche nach dem HiggsTeilchen in verschiedenen Beschleunigeranlagen der Welt wurden in Genf der LHC-Beschleuniger (Large Hadron

Collider) (8) sowie zwei große Teilchendetektoren ATLAS (A Toroidal LHC ApparatuS) (9) und CMS (Compact Muon Spectrometer) (10) gebaut mit dem Ziel, endgültig zu zeigen, ob das

Abb. 2: Protonen werden im CERN in Genf mit hohen Energien aufeinander geschossen, um neue Teilchen und Antiteilchen zu erzeugen. Nach vielen Monaten Messzeit mit extrem hohen Raten von bis zu 600 Millionen Ereignissen pro Sekunde konnten im Juli 2012 einige Hundert Ereignisse selektiert werden, bei denen ein neuartiges Teilchen entstanden war.

Higgs-Teilchen existiert oder nicht. Das Prinzip der Experimente ist einfach: Protonen hoher Energie werden frontal aufeinander geschossen (Abb. 2). Bei den hochenergetischen Kollisionen der Quarks und Gluonen im Proton werden neue Teilchen und Antiteilchen produziert. Wenn HiggsTeilchen existieren, so sollten sie bei diesen Kollisionen – mit einer gewis-

Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012

sen, aber sehr geringen Wahrscheinlichkeit – kurzzeitig in Erscheinung treten, dann aber sofort wieder zerfallen. Die Zerfallsprodukte wiederum sind in den Detektoren ATLAS und CMS messbar. Die technologischen Herausforderungen zur Messung der Higgs-Teilchen stoßen aus zwei Gründen an die Grenzen des technisch Machbaren: Erstens muss die Energie der Teilchen sehr hoch sein, damit überhaupt Higgs-Teilchen bei den Kollisionen entstehen, und zweitens sind Reaktionen mit Higgs-Teilchen extrem selten, so dass sehr viele Kollisionen studiert werden müssen, um ein Higgs-Teilchen zu finden. Gesucht wurde das Higgs-Teilchen am CERN in dem Massebereich von etwa 100 bis 600 GeV/c2. Die in der Teilchenphysik übliche Einheit GeV bezeichnet eine Energie, die ein Proton aufnimmt, wenn es in einem elektrischen Feld der Spannung von einer Milliarde Volt beschleunigt wird. Nach der Einstein’schen Formel

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Düren, Stenzel

E=mc2 kann aus purer Energie von 1 GeV dann eine Masse von 1 ­GeV/c2 erzeugt werden, was etwa 1,8⋅10 -24 Gramm entspricht. Um genügend Kollisionsenergie für die Erzeugung des Higgs-Teilchen bereit zu stellen, wurden die Protonen auf eine kinetische Energie beschleunigt, die einer Spannung von 4000 Milliarden Volt entspricht. Aus der Größe dieser Energie

erklärt sich, dass der Beschleuniger so groß sein muss. Der LHC-Beschleuniger ist der weltgrößte Beschleuniger und hat einem Umfang von 27 km. Die Größe der Detektoren ATLAS und CMS folgt daraus, dass die beim Zerfall des Higgs-Teilchens entstehenden Teilchen eine enorme Energie haben und es großer Menge an Materie bedarf, um die hochenerge-

Die Autoren Michael Düren, Jahrgang 1957, hat an der RWTH Aachen Physik studiert und über nukleare Effekte auf Quarks im Atomkern in einem Experiment am CERN in Genf promoviert. Anschließend war er am Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg und an der Universität Erlangen-Nürnberg tätig. 1996 habilitierte er sich über das HERMES-Experiment am DESY in Hamburg. Nach einer Lehrstuhlvertretung in Bayreuth wurde er 2001 nach Gießen berufen. Im Rahmen großer internationaler Kooperationen am CERN, DESY und der GSI/FAIR führt er Experimente zur Erforschung der inneren Struktur des Protons durch. Seit 1998 ist Prof. Düren Mitglied im Arbeitskreis Energie der Deutschen Physikalischen Gesellschaft und setzt sich dort mit technisch-gesellschaftlichen Aspekten der Energieversorgung und der Klima­ problematik auseinander. Er gehört zu den Initiatoren der SEPA-Gruppe (Solarenergiepartnerschaft mit Afrika) an der Universität Gießen und ist Koordinator des Akademischen Netzwerkes der DESERTECStiftung. Hasko Stenzel, Jahrgang 1964, promovierte an der Universität Heidelberg zu einem Thema der starken Wechselwirkung am ALEPHExperiment am CERN. Anschließend befasste er sich am MaxPlanck-Institut für Physik in München bereits mit ersten Vorarbeiten zum ATLAS-Experiment und führte Datenanalysen mit dem ALEPH-Experiment fort. Seit 2002 ist Dr. Stenzel als Akademischer Rat an der Universität Gießen und konzentriert seine Forschungsarbeiten seit 2006 auf das ATLAS-Experiment.

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tischen Zerfallsteilchen abzubremsen. Auch braucht es riesige Magnetfelder, um die schnellen Teilchen abzulenken und aus der Bahnkrümmung ihre Geschwindigkeit bestimmen zu können. Der ATLAS-Detektor ist der größte je gebaute Teilchendetektor an einem Beschleuniger mit 46 m Länge und 25 m Durchmesser. Er befindet sich in einer großen Kaverne 100 m unter der Erde (siehe Abb. 1). Da die Entstehung von Higgs-Teilchen bei der Kollision von Quarks und Gluonen ein extrem seltener Prozess ist, müssen sehr viele Teilchenkollisionen studiert werden, um ein HiggsTeilchen zu finden. Bis zu 600 Millionen Ereignisse pro Sekunde werden rund um die Uhr erzeugt und ausgewertet, um dann nach Monaten einige Hundert Higgs-Teilchen nachgewiesen zu haben. Die riesigen Datenmengen des komplexen ATLAS-Detektors werden in einem weltweiten Netz von Rechenzentren simultan analysiert.

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Das Higgs-Teilchen und der Rest der Welt

Der Nachweis des HiggsTeilchens Am 4. Juli 2012 wurde am CERN bekannt gegeben, dass sowohl im CMS-Detektor (11) als auch im ATLAS-Detektor (12) übereinstim­ mend und unabhängig von einander ein neues Teilchen entdeckt wurde, das eine Masse von etwa 126 GeV/c2 bzw. 2,25⋅10 -22 g hat und damit 135 mal so schwer wie ein Wasserstoffatom ist. Es ist davon auszugehen, dass es sich dabei um das lange gesuchte HiggsTeilchen handelt. Genauere Messungen in den nächsten Monaten müssen zeigen, ob das neu entdeckte Teilchen wirklich genau die Eigenschaften hat, wie sie vom Standardmodell der Teilchenphysik für das Higgs-Teilchen vorhergesagt werden. Prinzipiell kann es sich bei dem neuen Teilchen allerdings auch um eine ganz neue Klasse von Teilchen handeln. Wir wissen heutzutage, dass das Weltall so genannte dunkle

Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012

Abb. 3: Diese Computergrafik zeigt eines der potenziellen HiggsEreignisse (gemessen am 10. Juni 2012). Die vier roten Spuren sind Myonen, die aus dem Zerfall des neuen Teilchens stammen. Aus den Winkeln und der Krümmung der roten Linien wurde die Masse von 126 GeV/c 2 berechnet. Die orangefarbenen Spuren zeigen Hunderte weiterer Teilchen, die bei der Kollision der beiden Protonenpakete außerdem noch entstanden sind. Die grauen Röhren in der Grafik deuten die Magnetspulen an, wie sie auch in Abbildung 1 zu sehen sind. Die grünen und blauen Quader deuten diejenigen Subdetektoren an, durch die die Myonen geflogen sind und in denen die Winkel- und Impulsbestimmung der Myonen stattgefunden haben.

Abb. 4: Die durchgezogene schwarze Kurve zeigt die Messergebnisse zu der Suche nach dem Higgs-Teilchen im ATLAS-Detektor. Bei einer Masse von 126 GeV/c2 weicht der Messwert signifikant von den erwarteten Untergrundereignissen ab, die als grüne und gelbe Bänder dargestellt werden. Vertikal ist eine Größe aufgetragen, aus der sich die statistische Signifikanz der Entdeckung des neuen Teilchens herleiten lässt.

© 2012 CERN ATLAS Experiment

© 2012 CERN ATLAS Experiment

Materie beinhaltet, die nicht durch Teilchen des Standardmodells beschrieben werden kann. Es besteht die Hoffnung, dass im LHC auch neue Teilchen jenseits des Standardmodells gefunden werden. Abbildung 3 zeigt ein Ereignis eines einzelnen solchen Higgs-Kandidaten, der in diesem Fall in vier Myonen (dargestellt als rote Linien) zerfallen ist. Myonen sind Elementarteilchen, die mit den Elektronen verwandt sind. Eine statistische Analyse von Hunderten solcher Higgs-Kandidaten mit verschiedenen Zerfallskanälen führte dann zu dem eigentlichen Ergebnis der Higgs-Messungen bei ATLAS, wie in Abbildung 4 dargestellt.

Die mathematische Physik, eine Meisterleistung des menschlichen Geistes, hat ihre Vorhersagekraft abermals bewiesen! Die Vorhersage und der Nachweis des neuen Teilchens ist aber nicht nur eine Meisterleistung der Physik und der Technik. Die LHC-Experimente wurden erst dadurch möglich, dass sich Tausende von Physikern und Ingenieuren aus der ganzen Welt organisiert und zusammengetan haben, um gemeinsam dieses Problem des Ursprungs unserer Materie zu lösen. Das CERN ist ein Prototyp für eine internationale Organisation, die es über nationale und kulturelle Schranken hinweg hoch motivierten und Ziel orientierten Wissenschaftlern ermöglicht, Dinge zu erreichen, die oft für unmöglich gehalten wurden, und sich so den Grenzen des menschlich Machbaren zu nähern. In diesem Sinne hat das CERN in Genf Modellcharakter auch für den nicht-naturwissenschaftlichen Bereich und trägt zu der Hoffnung bei,

Das CERN: Prototyp für globale Zusammenarbeit auf höchstem Niveau Peter Higgs erfand als junger Mann einen Mechanismus, der sich jetzt im hohen Alter als korrekt erwiesen hat.

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Düren, Stenzel

Gießens Anteil am größten ­ Teilchenphysik-Experiment der Menschheit Im Jahr 2006 hat sich unsere Arbeitsgruppe am II. Physikalischen Institut der ATLAS-Kollaboration am CERN angeschlossen. Eine Kernaufgabe bestand darin, die Detektoren für das ALFA-Projekt zu bauen. ALFA steht für Absolute Luminosity For ATLAS (13) und soll zusammen mit anderen Subdetektoren die Luminosität des LHC am ATLAS-Wechselwirkungspunkt bestimmen. Die Luminosität eines Teilchenbeschleunigers ist eine wichtige Größe, die angibt, wie häufig die Teilchen – im Falle des LHC sind es Protonen – an den Kreuzungsstellen der Strahlen kollidieren. Dies ist z.B. im Falle des Higgs von Bedeutung, wenn man die beobachtete Häufigkeit der Produktion des Higgs-Bosons mit den theoretischen Erwartungen vergleichen möchte, und kann Aufschlüsse darüber liefern, ob es sich bei dem jetzt entdeckten Boson tatsächlich um das lang erwartete letzte fehlende Teilchen des Standardmodells der Teilchenphysik handelt oder womöglich um ein anderes exotischeres Teilchen. Einer der insgesamt zehn ALFA-Detektoren ist in Abbildung 5 gezeigt. Auffällig sind die zahlreichen Fasern, die zum einen als Nachweismedium für den Durchgang von geladenen Teilchen dienen und zum anderen das bei diesem Durchgang entstehende Lichtsignal weiter transportieren, ähnlich wie beim Informationstransport in optischen Fasern.

Abb. 5: Ein in Gießen produzierter ALFA-Detektor. Der Detektor besteht aus 1500 szintillierenden Fasern die beim Durchflug von geladenen Teilchen Lichtblitze erzeugen, welche dann von empfindlichen Photodetektoren registriert werden. © 2010 Sune Jakobsen

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Aus der Kombination der Fasern, die beim Durchgang von Protonen aus Kollisionen am LHC angesprochen haben, lässt sich sehr genau die Flugbahn der Protonen bestimmen. Dazu war es jedoch nötig, beim Bau des Detektors die Fasern mit größter Präzision auszurichten, wozu die mechanische Werkstatt der Physikalischen Institute in Gießen aufwendige Vorrichtungen hergestellt hatte. Schlussendlich wurde eine Präzision in der Faserausrichtung von 0.03 mm erreicht, die den Anforderungen des Experimentes mehr als genügen. Der Detektorbau konnte 2010 abgeschlossen werden, und im selben Jahr wurde der Detektor – nach umfangreichen Tests – in den LHC eingebaut. Das Detektorsystem hat zwei Besonderheiten: Es kann bis auf wenige Millimeter an den LHC-Protonenstrahl herangefahren werden und hat damit einen kleineren Abstand vom Strahl als jeder andere ATLAS-Detektor. Gleichzeitig befinden sich die Detektoren 240 m strahlabwärts vom Wechselwirkungspunkt und sind damit sehr weit von den anderen ATLAS-Detektoren entfernt. Dadurch können Protonen gemessen werden, die den Wechselwirkungspunkt unter einem winzigen Streuwinkel von etwa 0.03° verlassen. Solche kleinen Streuwinkel entstehen bei der elastischen Streuung und bei der so genannten diffraktiven Streuung, deren Messung zur Bestimmung der Luminosität und anderer fundamentaler Parameter das Ziel von ALFA ist. Der ALFA-Detektor konnte im Jahre 2011 den Betrieb aufnehmen und hat bereits große Mengen an viel versprechenden Daten geliefert. Gegenwärtig befassen sich die Gießener Forscher federführend mit der Analyse der speziellen ALFA-Daten und rechnen mit einer ersten Publikation dieser Ergebnisse noch in diesem Jahr. Ermöglicht wurde die Arbeit der Gießener Gruppe im ATLAS-Experiment durch die Forschungsförderung des BMBF im Rahmen des Forschungsschwerpunktes FSP 101. Durch den Zusammenschluss von 18 deutschen Universitäten, zwei Helmholtz-Zentren und einem Max-Planck-Institut zur Helmholtz-Allianz „Physik an der Teraskala“ wurde die deutsche Teilchenphysik zu einem nationalen Netzwerk gebündelt. Die Allianz unterstützt die Ausbildung und Entwicklung des wissenschaftlichen Nachwuchses durch Schulen und Workshops, fördert junge Spitzenforscher durch die Einrichtung von Jungforschergruppen und ermöglicht es Wissenschaftlern, an leitender Stelle in den aktuellen Großprojekten zu wirken.

Justus-Liebig-Universität Gießen


Das Higgs-Teilchen und der Rest der Welt

Abb. 6: Am CERN arbeiten Tausende hoch motivierter Wissenschaftler (hier Mitglieder der ATLAS-Kollaboration) aus aller Welt gemeinsam an einem Ziel. © 2012 CERN ATLAS Experiment

dass wir eines Tages auch die drängenden Probleme unserer globalen Gesellschaft effizient angehen und lösen werden. •

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LITERATUR

1. Ch. Fischer et al.: Spiegel der Forschung, Nr. 1/2012, 60. 2. UA1 Collaboration: Phys. Lett., 1983, Bd. B 122, 103. 3. UA2 Collaboration: Phys. Lett., 1983, Bd. B 122, 476. 4. P.W. Higgs: Phys. Lett., 1964, Bd. 12, 131, S. 132. 5. P.W. Higgs: Phys. Rev. Lett., 1964, Bd. 13, 508. 6. C.S. Guralnik, C.R. Hagen, T.W.B. Kibble: Phys. Rev. Lett., 1964, Bd. 13, 585. 7. F. Englert, R. Brout: Phys. Rev. Lett., 1964, Bd. 13, 321.

Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012

8. L. Evans, P. Bryant: JINST, 2008, Bd. 3, S08001. 9. ATLAS Collaboration: JINST, 2008, Bd. 3, S08003. 10. CMS Collaboration: JINST, 2008, Bd. 3, S08004. 11. CMS Collaboration: Phys. Lett. 2012, Bd. B 716, 30. 12. ATLAS Collaboration: Phys. Lett. 2012, Bd. B 716, 1. 13. ATLAS Collaboration: CERN/ LHCC/2008-004. 2008.

KONTAKT Prof. Dr. Michael Düren Dr. Hasko Stenzel Justus-Liebig-Universität II. Physikalisches Institut Heinrich-Buff-Ring 16, 35392 Gießen Telefon: 0641 99-33220/-33222 Michael.Dueren@uni-giessen.de Hasko.Stenzel@uni-giessen.de

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Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage im Vormärz Wie lebte die Bevölkerung in und um Gießen zwischen 1815 und 1848* Von Heinrich Brinkmann

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Justus-Liebig-Universität Gießen


Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage im Vormärz

Die Jahre 2012 und 2013 sind aus Anlass des 175. Todestags und des 200. Geburtstags dem Andenken an Georg Büchner (1813-1837) gewidmet. Büchner, am 17. Oktober 1813 in Goddelau bei Darmstadt geboren, studierte 1833/34 an der Großherzoglichen Landesuniversität Gießen. Hier hatte er Kontakt zu oppositionellen Bewegungen, wie den „Gießener Schwarzen“, und gründete die Gesellschaft für Menschenrechte, eine Geheimorganisation nach französischem Vorbild, deren Ziel ein Umsturz der politischen Verhältnisse war. Anfang 1834 lernte er den Butzbacher Rektor und Pfarrer Friedrich Ludwig Weidig kennen, mit dem er den Hessischen Landboten, eine achtseitige Flugschrift gegen die sozialen Missstände der Zeit, verfasste. Wie lebte damals, in der Zeit des so genannten Vormärz, die Bevölkerung in Oberhessen und in Gießen? „Oberhessen war eines der rückständigsten und ärmsten Gebiete, die es damals in Deutschland gab“, schreibt Heinrich Brinkmann in seinem Aufsatz über „Politische Strategien im Vormärz (1815-1848) – Büchner und Liebig“, der hier im Auszug dokumentiert wird.

In „Georg-Büchner-Universität“ nannten die protestierenden Studierenden im Mai 1968 die Justus-Liebig-Universität Gießen um. Foto: Archiv

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… Schaut man sich in der Zeit des Vormärzes um, so ist auffällig, daß zwei Universitätsstädte besonders in die politischen Unruhen dieser Jahre verwickelt gewesen sind: Jena und Gießen. Zwischen den beiden Städten gab es eine rege Fluktuation politisch aktiver Studenten. Läßt man Jena außen vor und beschränkt sich auf Gießen, so ist die Frage berechtigt, warum gerade die Gießener Studenten mindestens bis zu den Karlsbader Beschlüssen 1819 führend an den Bewegungen des Vormärz beteiligt gewesen sind. Es mag als Platitüde erscheinen, wenn man angesichts der damaligen politischen Misere darauf hinweist, daß sie sich in besonders krasser Weise in Oberhessen ausprägte und demzufolge auch besonders heftige Reaktionen in Gießen hervorrief. Oberhessen war eines der rückständigsten und ärmsten Gebiete, die es damals in Deutschland gab. Eugen Katz, ein Schüler Lujo Brentanos, hat 1904 in seiner Dissertation „Landarbeiter und Landwirtschaft – Die Entwicklung der Landwirtschaft seit der Mitte des 18. Jahrhunderts“ dargestellt. Die Durchschnittsgröße der Höfe lag zwischen 1,2 Hektar (=ha) in Ulrichstein und 5 ha in Gettenau. Diese Hofgrößen reichten kaum zu einem anständigen Sterben, geschweige denn

für ein anständiges Leben aus. Noch drückender war die Situation der Beisassen, deren von ihnen selbst bestellte Flächen zwischen 0,03 ha in Homberg und 1,8 ha in Langgöns lagen. Wenn auch diese Zahlen aus dem Jahre 1776 stammen, so wird man doch davon ausgehen können, daß die Verhältnisse sich am Tage der Bauernbefreiung im Großherzogtum, am 25. Mai 1811, kaum geändert haben dürften. Die Freisetzung der Bauern bedeutete nicht, daß sie selbständig wirtschaftende Subjekte geworden waren, vielmehr kam dadurch auf die Bauern eine hohe Verschuldung zu. Denn die bisher in Naturalien, körperlicher Arbeit und auch in Geld erbrachten Leistungen für die Grundherren mußten nun abgelöst werden. Viele Bauern waren dadurch finanziell überfordert, gaben ihr Land auf und übergaben es an den Gutsherrn, so daß sie sich nun als Tagelöhner verdingen mußten. Wenn irgend möglich, wurde bevorzugt nach Amerika ausgewandert. Angesichts der geringen Betriebsgrößen übten viele Bauern vornehmlich im Winter schon seit Urzeiten ein Nebengewerbe in Form des Verlagswesens aus: die Spinnerei und Weberei. Während der napoleonischen Kontinentalsperre, der Abschottung des europäischen Marktes

* Auszug aus dem Artikel „Politische Strategien im Vormärz (1815-1848) – Büchner und Liebig“ von Heinrich Brinkmann, in: 800 Jahre Gießener Geschichte 1197-1997. Herausgegeben im Auftrag des Magistrats der Universitätsstadt Gießen von Ludwig Brake und Heinrich Brinkmann, Gießen 1997, Seite 150 ff., mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber. Die Fußnoten konnten in diesem Kontext nicht berücksichtigt werden.

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Brinkmann

gegen britische Ware, gab es hier wie auch sonst in Deutschland einen Aufschwung dieses Nebengewerbes. Als sich nach der Niederlage Napoleons der europäische Markt wieder öffnete und die britischen Tuchwaren, die z.T. bereits maschinell hergestellt wurden und deswegen billiger waren als die in Handarbeit gefertigten Waren, den deutschen Markt überschwemmten, brach ein langfristig aussichtsloser Konkurrenzkampf zwischen den englischen und u.a. den Produkten der hessischen Heimindustrie aus, die nicht über genügend Kapital verfügte, ebenfalls maschinell zu produzieren. Damit verloren die Bauern eine wichtige Erwerbsquelle. Ihre Situation verschärfte sich noch dadurch, daß die Großbauern, sofern sie es sich leisten konnten, und die Grundherren, die bis dato allen zur Verfügung stehenden Weideflächen, die Gewässer und die Wälder privatisierten, also die Kleinbauern von der unentgeltlichen Nutzung ausschlossen, die somit ihr Weidevieh einschränken mußten und auch die Wälder nicht mehr oder nur einge-

Die Badenburg bei Gießen: Georg Büchner traf sich hier mit republikanischen Revolutionären und verfasste den Hessischen Landboten.

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schränkt zur Beschaffung von Brennholz nutzen konnten. Zu dem Verlust der Almende und den Ablösezahlungen kam noch das Steueraufkommen hinzu, das angesichts der hohen Verschuldung des Darmstädter Hofes recht drückend gewesen ist. Bereits in normalen Zeiten waren die Bauern bis an ihre Grenzen belastet. Liebig, der diesen Prozeß beobachtete, schreibt: „Der kleine Bauer ist unvermögend, sich auf seinem Besitze zu behaupten, weil er ihm durch die steigende Abnahme der Erträge seiner Felder seinen und seiner Familie Unterhalt nicht mehr abgewinnen kann. Während sonst 20 Acker hierzu genug waren, sind jetzt 40 Acker dazu nötig; er verkauft sein Feld und wandert mit dem Rest seiner Habe aus, oder er verkommt und wird Tagelöhner bei einem großen Landbesitzer.“ Wenn dann zu diesen normalen Beschwerden Mißernten und Hungersnöte hinzukamen, war die Situation unerträglich geworden. Auch hier hat Liebig hellsichtiger als derzeit mancher Historiker bereits die Probleme benannt und zugleich auch das Schlüsselerlebnis bezeichnet, das ihn zu seiner Forschung veranlaßte; „Wenn diese Kriege nicht stattgehabt hätten und die Population auf dem Continente von 1790 bis 1815 in einer ähnlichen Progression sich vermehrt hätte, wie dies jetzt geschieht, so würden ein paar

Millionen Menschen mehr die Hungerjahre 1816 und 1817 erlebt haben, und wer sich dieser Zeit erinnert, der wird nicht zweifelhaft darüber sein können, daß alsdann Zustände in vielen europäischen Ländern eingetreten wären, von einer Schrecklichkeit, wie sie das Mittelalter nicht gekannt hat.“ Wilhelm Bingsohn hat in einer bisher unveröffentlichten Zusammenstellung der Preisentwicklung für die wichtigsten Grundnahrungsmittel in Gießen das bestätigen können, was Wilhelm Abel in seinen beiden Büchern „Agrarkrisen und Agrarkonjunktur“ und „Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa“ generell für Europa herausgefunden hatte: Es gab drei Nahrungskrisen im Vormärz, die bemerkenswerterweise in ihrer Begleitung oder auch leicht phasenverzögert mit sozialen und politischen Unruhen verbunden waren. Mit Blick auf Frankreich bemerkt Abel allerdings einschränkend, nachdem er die Jahre der sozialen und politischen Aufstände im 18. Und 19. Jahrhundert in Frankreich aufgezählt hat: „Das waren mit geringen Abweichungen, …, die Hungerjahre auch in deutschen Territorien, doch fehlten bei uns – mit vielleicht wenigen noch nicht entdeckten Ausnahmen – die Aufstände des hungernden Volkes.“ Wenn auch nicht das Volk rebellierte, so fand doch immerhin 1817 das Wartburgfest statt, das der Obrigkeit einige Kopfschmerzen bereitete und das von Gießener Studenten ausging. Blickt man auf Gießen, so hat sich die Situation durch die Schleifung der Mauern insofern geändert, als nun nicht nur im übertragenen Sinne frische Luft in die Stadt eindringen konnte. Welche Beleidigung für die Nase Gießen gewesen sein muß angesichts der teilweise 15 m hohen Stadtmauern, macht man sich dann klar, wenn man daran denkt, daß eine Kanalisation fehlte, jedes Haus einen eigenen, selten geruchsdicht

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Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage im Vormärz

Der Marktplatz in Gießen im 19. Jahrhundert. Kolorierter Stahlstich von F. Foltz.

verschlossenen Abort hatte. Zudem wurden meist Kleinvieh, Geflügel, seltener schon Schweine, Ziegen, auch Schafe usw. gehalten, manchmal noch Pferde und Kühe, deren Mist wohl eher offen gelagert, denn verborgen wurde. Hinzu kamen so geruchsintensive Handwerke wie Lohgerber und Tuchwalker. Die meisten Häuser hatten eigene Brunnen, wobei angesichts der hygienischen Zustände über der Erde die keimfreie Qualität des dicht unter dem Boden liegenden Grundwassers und damit des geschöpften Wassers zumindest in Zweifel gezogen werden darf. Wenn zu diesen fehlenden hygienischen Bedingungen der menschliche Organismus durch Hunger geschwächt wurde und damit die körperlichen Abwehrkräfte reduziert waren, dann kann man sich leicht vorstellen, welche katastrophalen Auswirkungen Hungersnöte haben

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mußten: Pest in früheren Jahrhunderten, im 19. Jahrhundert vor allem die Cholera waren die Folgen. Insofern mag die idyllische Schilderung, die Hauschild wesentlich gestützt auf Carl Vogts „Erinnerungen“ vorlegt, zu einigem Mißtrauen Anlaß geben. Gleichwohl sind ein paar Zahlen von Interesse. „Im Jahr 1812 lag Gießens Einwohnerzahl bei 5200; 1830 zählt Wagner unter Einschluß der teils auswärtigen Studenten und Gymnasiasten 7224 Seelen. Nur etwa 20% der Erwachsenen waren abhängig beschäftigt.“ Wenn diese Angaben richtig sind, dann spricht dies dafür, daß die Gießener Handwerks- und Kaufmannsbetriebe zumeist Familienbetriebe gewesen sein müssen, in denen nur in seltenen Fällen fremde Personen angestellt waren. Bei dieser Größe waren die Betriebe hoch krisenanfällig. Hausschild weist darauf hin, daß durch Georg Philipp Gail am Kreuzplatz eine neue zeitgemäße Form des Wirtschaftens einzog. „Mit Beginn der Rauch-Tabakfabrikation von Georg Philipp Gail am Kreuzplatz hielt die Industrialisierung in Gießen Ein-

zug. 1822 beschäftigte Gail, der bald drauf Bürgermeister wurde, bereits 40 Mitarbeiter.“ Diese neue Form der Produktion scheint zunächst kaum einen Einfluß auf das übrige Wirtschaften gehabt zu haben; bis weit nach Büchners Tod sollte dies der einzige industrielle Betrieb bleiben. Die Zahl der Studenten schwankte zwischen 400 und 600 und betrug damit etwa 10% der Bevölkerung. Diese Studenten waren für Gießen ein so wichtiger Wirtschaftsfaktor, daß man nach Auseinandersetzungen zwischen Studenten und Soldaten 1821 eher bereit war, den Abzug der Soldaten nach Worms hinzunehmen, als auf die Studenten zu verzichten. Ebenso war es die Bürgerschaft, die 1846 die nach Staufenberg ausgezogene Studentenschaft bewog, wieder nach Gießen zurückzukommen, die während ihres Auszugs von Bürgern aus Gießen verpflegt wurden. Gießen war auf sein Hinterland angewiesen. Auch dann, wenn es außerordentlich verkehrsgünstig lag und deswegen auch aus der weiteren Umgebung – etwa

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Brinkmann

Frankfurt – versorgt werden konnte, waren doch die meisten Gewerbetreibenden auf die Zulieferung der Produkte der näheren Umgebung verwiesen. Fleisch, Getreide, Holz, Tabak und auch die Produkte der Leinweberei gingen zunächst nach Gießen. Ein wichtiger Wirtschaftsfaktor war die Universität nicht nur durch den Zuzug der Studenten, sondern auch durch die Gewerbe, die sich spezifisch um eine Universität anzusiedeln pflegen: Buchhandel, Buchdruckerei, Kliniken und nicht auch zuletzt die Universitätsbediensteten selbst. Die enge Verbindung zum unmittelbaren Hinterland wurde auch dadurch gewahrt, daß viele Gießener Bürger bis in die Professorenkreise hinein einen eigenen kleinen Acker oder Garten vor der Stadt hatten, den sie bestellten und sich so mit eigenem Obst und Gemüse nebst natürlich dem entsprechenden Kleinvieh versorgten. Es ergab sich von daher, daß die Bekanntschaft mit

Menschen aus anderen Schichten nicht ungewöhnlich war. Diese starke Abhängigkeit von Stadt und Land bedeutete, daß die Stadt sehr viel stärker in die unmittelbaren Krisen des Hinterlandes mit einbezogen war, als dies heute bei unseren Verkehrsmitteln gegeben ist. Umgekehrt galt dies natürlich auch. Gleichwohl läßt sich trotz aller Provinzialität nicht leugnen, daß durch die Französische Revolution auch Gießen und sein Hinterland an die internationale Entwicklung angeschlossen wurde; auf die negative Auswirkung der Überschwemmung des deutschen Marktes mit englischen Tuchen und Stoffen wurde hingewiesen. Durch diese Revolution war unabweisbar die Frage der Modernisierung des Wirtschaftens gestellt. Dahinter stand die Frage, wie eine radikale Reform von Gesellschaft und Politik durchzuführen sei, ohne eine Revolution von unten zu provozieren. Denn davor hatten selbst die mutigs-

Der Autor Heinrich Brinkmann, Jahrgang 1942, studierte von 1962 bis 1965 an der Universität Münster, anschließend ein Semester in Frankfurt/Main und von 1965 bis 1968 an der Universität Gießen Germanistik, Soziologie, Philosophie und Politikwissenschaft. 1974 wurde er an der Universität Bremen promoviert und habilitierte sich im Jahr 1983 an der Universität Gießen im Fach Politikwissenschaft. Von 1971 bis 1983 war er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Gießen tätig. Lehrstuhlvertretungen in Mainz und Gießen sowie Lehraufträge in Darmstadt und Erfurt schlossen sich an. Im Jahr 1985 bis 1989 und von 1993 bis 2001 war er Ehrenamtliches Magistratsmitglied in Gießen, 1989 bis 1993: Mitglied der Stadtverordnetenversammlung und stellvertretender Stadtverordnetenvorsteher. Von 1991 bis 1997 war er als Mitarbeiter bei den Vorbereitungen des Gießener Stadtjubiläums in der Gießener Stadtverwaltung tätig. 1996 wurde er zum apl.-Professor ernannt. Seit 2006 ist Prof. Heinrich Brinkmann wieder Ehrenamtliches Magistratsmitglied in Gießen.

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ten Reformer mit Blick auf die Phase der Terreur in der Französischen Revolution Angst. In Hessen-Darmstadt wurde, wie übrigens auch in Preußen nach dem Zusammenbruch, das Modell der engen Zusammenarbeit aufgeklärter Intellektueller mit gleichgesinnten politischen und administrativen Eliten favorisiert, ohne daß das Volk selbst in diesen Reformprozeß als politisch mit entscheidendes Subjekt einbezogen werden sollte. Die Verfassungsfrage wurde virulent, als man gegen die Massenheere Napoleons eine Mobilisierung des Volkes nur glaubte erreichen zu können, wenn man dem Volk eine aktive Teilnahme an den politischen Entscheidungsprozessen in Aussicht stellte. Nach 1815 wurden häufig die Verfassungsschwüre gebrochen oder doch deren Einlösung auf die lange Bank geschoben. Ein zweites war für die Zeit nach der Niederlage Napoleons bis zu den Karlsbadern Beschlüssen wichtig und prägend für die Entstehung des deutschen Nationalismus. Frankreich war als Eroberer und Plünderer aufgetreten. Die napoleonische Herrschaft über den Kontinent war durch die Niederschlagung von Aufständen, Bespitzelung und Unterdrückung gekennzeichnet gewesen, so daß auch die Napoleon hervorbringende Revolution abgelehnt wurde. Was als politische Emanzipation in Frankreich 1789 begonnen hatte, war als Unterdrückung, Krieg und in einem Meer von Blut und Zerstörung geendet, zumal Napoleon es nicht unterlies, sich als den Sohn und Vollender der Revolution darzustellen. Der deutsche Nationalismus ist auch dort, wo er bewußt gegen die Obrigkeit der Fürstentümer auftrat, durch diese Wunde gezeichnet, die erklärt, daß hinter der These der Erbfeindschaft zu Frankreich auch immer die Ablehnung der Französischen Revolution stand.

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Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage im Vormärz

Das alte Kollegiengebäude der Universität Gießen am Brandplatz (rechts), wo Büchner und seine Freunde studierten; aus dem Stammbuch Sinnigsohn, um 1787.

Sieht man sich z.B. die Liste der Gegenstände und Bücher an, die während des Wartburgfestes verbrannt wurden, so wird das durchaus Zwiespältige dieser Aktion sichtbar. In Erinnerung an die vier Jahre vorher stattgefundene Völkerschlacht bei Leipzig, den 300 Jahre vorher vollzogenen Thesenanschlag Luthers (der nie so stattgefunden hat, wie es die protestantische Heroenlegende gern hätte) und die Verbrennung der

päpstlichen Bannbulle durch Luther wurden Gegenstände und Bücher verbrannt, die besonders verhaßt waren: der Zopf, der Schnürleib und der Prügelstock als die Zeichen der politischen Unterdrückung, auch Cromes Buch „Deutschlands Krisis und Rettung“. Diese Schrift plädierte für ein kulturelles deutsch-französisches Zusammengehen. Kategorial orientierte sich Crome an der Literatur der französischen Aufklärung. Dies war

…Ein armes Land, dieses hessische Hinterland! Öde Schieferberge mit dünnen Waldflecken, Moore und Heiden, magere Felder und Wiesen! Hie und da Eisenhütten, sonst aber nur Schiefergruben, die mit engen Mündungen gen Himmel gähnen, in die Tiefe sich mehr und mehr erweitern und schließlich voll Wasser laufen, so daß der Boden mit kleinen, runden Löchern besät scheint an vielen Stellen. Häufig kommen Unglücksfälle vor, denn erst, wenn jemand in einer solchen „Kaute“ ertrunken ist, umgiebt man sie mit einer Wehre. Die Bewohner, meist arm und in elender Weise sich behelfend. Tante Lenchen hatte an einem, auf die Straße gehenden Fenster ein Schieberchen anbringen lassen, hinter welchem sie an jedem Morgen auf einem Brettchen eine bestimmte Anzahl von Hellern aufreihte. Die vorübergehenden Armen nahmen stillschweigend einen Heller, lüpften den Hut zum Danke und gingen weiter. Wenn die Heller verausgabt waren, schloß die Tante den Schieber. Niemand hätte mehr als einen Heller genommen – man hätte das für einen Diebstahl gehalten. Aber Holzfrevel war keine Diebstahl und Jagdfrevel auch nicht. Die Strafen für Holzfrevel mußten durch Arbeiten im Walde an Wegen und Kulturen abverdient werden. Aber Venator war nachsichtig. „Wie sollen denn die armen Leute durch den harten Winter kommen“, sagte er, „wenn sie nicht Holz freveln. Kaufen können sie es nicht und Schiefer, die sie zur Genüge haben, brennen nicht.…“ In: Carl Vogt, Aus meinem Leben. Erinnerungen und Rückblicke, hrsg. Von Eva-Marie Felschow, Heiner Schnelling u.a., Gießen 1997

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aber bereits zu viel vor allem für die Gießener Studenten. Saul Aschers „Germanomanie“, der sehr früh den Unrat im entstehenden Nationalismus entdeckte, wurde auf dem Flugblatt, das über dieses Autodafé berichtet, am Rand mit einer eindeutig antisemitischen Judenphysiognomie versehen. Vor allem war der „Code Napoleon“ ins Feuer geworfen worden, also jenes Gesetzbuch, das in einer bis heute vorbildlichen Klarheit die Rechtsverhältnisse zunächst in Frankreich und dann durch Ausweitung des unmittelbaren französischen Einflußbereichs auch in Hessen-Darmstadt regelte. Der „Code Napoleon“, der für die bürgerliche Gesellschaft die Ergebnisse der Revolution in ein systematisches Regelwerk brachte, war das abschließende wichtigste Ergebnis dieser Revolution. Wer dieses Buch ins Feuer warf, warf damit zugleich die Errungenschaften der Revolution ins Feuer, deren wichtigste die Gleichstellung aller Menschen ist. Dies war für Hegel, den diese Verbrennung erboste, die Unterscheidung zwischen reaktionären und einer solchen Bewegung, die sich auf der Höhe der bürgerlichen Emanzipation befand. Nicht unerwähnt bleiben sollte, daß auch Kotzebue, der knapp zwei Jahre später von Karl Ludwig Sand ermordet wurde, mit seinem Buch „Geschichte des deutschen Reiches“ vertreten war…“ •

Kontakt Prof. Dr. Heinrich Brinkmann Stephanstraße 29 35390 Gießen Telefon: 0641 791250

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Georg Büchner und seine Zeit Ein privilegierter Schriftsteller und ein solitäres Werk* Von Günter Oesterle

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Georg Büchner und seine Zeit

Wenn man an die Stelle des Titels „Georg Büchner und seine Zeit“ „Georg Büchner in seiner Zeit“ setzt, hat man den Unterschied der Lebenszeit Büchners (1813-1837) und seiner Wirkmächtigkeit über einen viel umfassenderen Zeitraum im Blick. Diese doppelte Perspektive versucht der Essay durchzuhalten: Er fragt zunächst, wie es möglich wurde, dass ein junger Mann, der mit 24 Jahren starb, nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Wissenschaftler und Revolutionär eine herausragende Rolle spielen konnte. Zwei avantgardistische Alternativen zu den von Büchner gewählten Dramenstoffen (Danton und Woyzeck) werden fiktiv vorgeführt – ein Feuilleton über Danton und ein naturalistisches Drama über Woyzeck –, um auf diese experimentelle Weise eine Folie herzustellen, auf der sich das Besondere und das Einzigartige von Büchners Werk plastisch abheben kann.

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as Thema „Georg Büchner und seine Zeit“ eröffnet ein weites Feld. Schon eine kleine Veränderung im Titel macht darauf aufmerksam. Stellt man neben den Titel „Georg Büchner und seine Zeit“ eine Variante „Georg Büchner in seiner Zeit“, eröffnet sich ein Fern- und Nahblick, eine lange und eine kurze Zeitstrecke. Bedenkt man etwa, dass Büchners für die weitere literarische Entwicklung so überaus wirkmächtiges Dramenfragment Woyzeck zum ersten Mal in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts – also 40 Jahre nach seinem Tod – publiziert wurde (1875/1878), so gibt es gute Gründe, die Zeitspanne, unter der wir die Titelformulierung „Büchner und seine Zeit“ begreifen können, weit zu fassen, etwa in dem Sinne „Büchner und das 19. Jahrhundert“ zu verstehen. Interpretiert man den Titel in der

Richtung „Büchner in seiner Zeit“, dann wird man sich eher auf Büchners Lebenszeit – also von 1813 bis 1837 – einschränken. Beide Perspektiven zeitigen Ergebnisse. Der umfassende panoramatische Blick auf das lange 19. Jahrhundert hilft rückblickend die vorgängige poe­ tische und philosophische Inkubationszeit der Aufklärung, des Klassizismus und der Romantik für Büchners Schreiben zu begreifen und vorausblickend das Zukunftsweisende von Büchners neuartiger Verbindung von Dokumentarischem, Poetischem und Wissenschaftlichem etwa für den Naturalismus einzuschätzen. Ein derartiger Langzeitblick hat u.a. auch den Vorzug, Büchners Innovationen auf künstlerische Tendenzen im 19. Jahrhundert zu beziehen – die nicht nur literarisch-poetisch sind. So ist es mir z.B. gegangen, als ich jüngst eine

* Vortrag gehalten in Büchners G­eburtshaus in Goddelau am 12. Februar 2012.

Das Geburtshaus von Georg Büchner in Goddelau, Großherzogtum Hessen-Darmstadt, heute ein Stadtteil von Riedstadt. Foto: Rudolf Stricker

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Ausstellung zur bildenden Kunst im 19. Jahrhundert – im buchstäblichen Sinne – durchmaß: Der Besucher dieser 100 Jahre umfassenden Ausstellung Die Düsseldorfer Schule und ihre internationale Ausstellung 1819–1918 konnte ein riesig dimensioniertes Bildpanorama des 19. Jahrhunderts abschreiten, das in der Zeit Büchners – in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts also – mit eindeutiger Dominanz und Vorliebe für das die großen weltgeschichtlichen Ereignisse präsentierende Historienbild begann, dann aber noch zur Zeit von Büchners letzter Schaffensperiode in den 30er Jahren Zug um Zug den Aufstieg der bis dahin eher abschätzig oder zumindest zweitrangig angesehenen Genre- und Sittenbilder erlebte – sowie parallel die unaufhaltsame Aufwertung des Landschaftsbildes. In der Tat hat Georg Büchners poetische Arbeit sowohl Anteil an der Destruktion des großen, universalgeschichtlichen Konzepts des Geschichtsdramas, des literarischen Pendants zum Historienbild, als auch an der gleichzeitigen Aufwertung der kleinen drastischen Genreszenen aus dem Alltagsleben – denken Sie etwa an die Genreszene zu Beginn von Dantons Tod mit dem betrunkenen Simon, der seine Tochter der Hurerei bezichtigt, von der er aber widersprüchlicher Weise zugleich lebt – das

steht eh ,außer Zweifel‘. Und Büchners Landschaftsevokation in seiner Erzählung Lenz ist für die Moderne Maßstab setzend geworden. Wer die Sätze aus dem Anfang der Erzählung hört, wird schwerlich deren Rhythmus und Bilderreichtum vergessen: „Am Himmel zogen graue Wolken, aber Alles so dicht, und dann dampfte der Nebel hervor und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg so plump. / Er ging gelangweilt weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald lang, bald abwärts.“

Die allumfassenden Herauforderungen in einer allumfassenden Umbruchszeit Wenden wir den Blick auf die enger gefasste Lebenszeit Georg Büchners, dann lässt sich konstatieren, dass eben diese Zeit der ersten 40 Jahre des 19. Jahrhunderts durchweg und in allen Bereichen als eine Umbruchszeit bezeichnet werden kann – im Politischen, Ökonomischen, Philosophischen und Poetisch-Literarischen. Das Erstaunliche ist nur, Büchner hat an all diesen Umbrüchen nicht nur randständig als Beobachter Anteil, sondern er begibt sich jeweils ins Zentrum derartiger Umbruchsereignisse. Der junge deutsche Schriftsteller Karl Gutzkow, der dem noch unbe-

kannten jungen Literaten Büchner bei der Publikation seines poetischen Erstlings Dantons Tod wiewohl auf schlimmbessernde Weise geholfen hatte, dieser Karl Gutzkow hat seinem Nachruf auf Büchner die Überschrift Ein Kind der neuen Zeit gegeben. Als Charakteristik der neuen Zeit und neuen Generation hat er die Bündelung von politischem Engagement und literarischer Innovation verstanden wissen wollen. Der neuartige literarische Avantgardismus bestand für Gutzkow darin, dass Literatur nicht mehr vorwiegend fabula, also freie Erfindung, bedeutet, sondern historia, also im weitesten Sinne dokumentarische Bezüge aufweise. So hat er selbst, um ein Beispiel zu geben, unter dem Titel Sterbecassirer als erster Schriftsteller einen witzigen Essay über das neue Phänomen der Versicherungsinstitute geschrieben. Der Bezug auf historia im weitesten Sinne darf aber nach Ansicht Gutzkows nicht rückwärts gewandt rekonstruieren – das wäre nichts Neues – nein, gefordert wird prognostisch, vorwärtsorientiert, zukunftshaltig zu schreiben. Kurz: der moderne Poet sollte nicht Geschichtsschreiber, sondern Geschichtstreiber sein (Börne). Dazu wiederum musste der moderne Schriftsteller über Wissen verfügen, forschende Neugier mit großen Kenntnissen verbinden. In einer Zeit allerdings, die immer komplexer wird und in der sich die Wissenschaften immer mehr ausdifferenzieren, wird der moderne Schriftsteller immer mehr Not haben, den auf verschiedensten Gebieten kenntnisreichen Lesern exakte Angaben machen zu können. Die zeitgenössische Dichterin Annette von Droste-Hülshoff erzählt er-

Dantons Tod – hier als E-Book im Bücherregal Foto: Maximilian Schönherr

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Georg Büchner und seine Zeit

staunliche Geschichten über dieses Dilemma moderner Schriftsteller in einer im 19. Jahrhundert immer ausgeprägteren Wissenslandschaft. In einem von ihr besuchten Lesezirkel, so berichtet sie, habe es jedes Mal Streit gegeben, wenn z.B. bei der Lesung eines historischen Romans von Walter Scott ein auf Schlachten spezialisierter Zuhörer die Angaben im Roman bezweifelte, der Förster hingegen behauptete, die beschriebenen Bäume habe es im Schottland der von Scott erzählten Zeit gar nicht gegeben, und der zuständige Architekt die Darstellung der Burganlagen für Chimären ohne Hand und Fuß gehalten habe, so dass ihr – so der Bericht der jungen Dichterin Annette von Droste-Hülshoff – angst und bang geworden sei, überhaupt noch etwas Historisches zu Papier zu bringen. Kurz, in einer Zeit, in der das Expertentum und die Spezialisierung immer mehr zugenommen hatte, konnte der junge Büchner diesem Anspruch, in derart vielen Bereichen führend dabei zu sein, nur aufgrund von außerordentlich günstigen Vorbedingungen entsprechen.

Georg Büchner – ein privilegiertes „Kind der neuen Zeit“ Georg Büchner war nicht nur ein „Kind der neuen Zeit“, sondern genauer und zutreffender auch ein privilegiertes Kind der neuen Zeit. Er war in dreierlei Hinsicht privilegiert: Sein Vater war Arzt in der Residenzstadt Darmstadt in einer ganzen Reihe von Funktionen als Physikatsarzt, Hospitalarzt, Medicinalrath, Marstallchirurg – kurz, die Familie gehörte zur Führungsschicht des Großherzogtums Hessen-Darmstadt. Georg Büchner war zweitens privilegiert, weil er am Darmstädter „Pädagog“ zur Schule gehen konnte, ein herausragend gutes Gymnasium, dessen Schülerschaft um 1831 zu 80 % aus Kindern von Staatsbeamten,

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Der moderne Poet solle nicht Geschichtsschreiber, sondern Geschichtstreiber sein, diese Meinung vertrat der Literatur- und Theaterkritiker Ludwig Börne. Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim (1800-1832)

Gelehrten, Geistlichen und Militärs bestand und nur zu 20 % aus Kindern der Mittelschicht, also Kindern von Kommunalbeamten, Bürgern und Gewerbetreibenden. Georg Büchner genoss ein weiteres, seltenes Privileg, das ihm der französisch­gesinnte Vater nach dem bestandenen Schulexamen ermöglichte: Georg musste nämlich zunächst nicht wie seine anderen Mitgymnasiasten an die großherzogliche Landesuniversität Gießen, sondern durfte sich – nachdem eine Eingabe des Vaters von der Landesregierung genehmigt wurde – am 9. November 1831 an der Straßburger Universität als Medizinstudent immatrikulieren. Hatte Büchner schon in Darmstadt neben der Ausbildung als Gymna­siast die umfängliche Privatbibliothek seines Vaters benutzen können, mit der bildungsorientierten, literaturinteressierten Mutter und Schwester die neueste romantische Literatur – Tieck, Jean Paul und Goethe – gelesen und mit einem Gymnasiastenzirkel politisiert, so konnte er in Straßburg seinen vier Interessensfeldern, dem wissenschaftlichen, dem literarischen, dem philosophischen und dem politischen, intensiv nachgehen. Straßburg war eine Hochburg empirischer Studien der Cuvier’schen Schule in den Naturwissenschaften; in einer theologischen Verbindung na-

mens ,Eugenia‘ findet Büchner einen literarisch-theologisch interessierten geselligen Kreis – auf diese Weise erhält er Zugang zu Materialien, die er für seine Erzählung Lenz auswerten konnte. Schließlich aber kam Georg Büchner in die privilegierte Situa­tion, in Straßburg aus direktester Nähe die neuesten politischen Entwicklungen zu verfolgen: Er hatte Flugblätter von Blanqui lesen können. Er kam 14 Monate nach Ausbruch der Julirevolution nach Straßburg mitten in ein politisches Diskussionsfeld hinein, das durch die nun offensichtlich gelungene Revolution die Machbarkeit und erneute Wiederholbarkeit von Revolution denkbar machte und zugleich – angesichts des Juste Milieu – das Problem der halben, unfertigen, instrumentalisierten und daher zu vollendenden Revolution ins Rampenlicht der Aufmerksamkeit rückte.

Büchner nutzt seine Chance in Politik, Wissenschaft, Poesie und Publizistik Es gibt Zeiten großer weltgeschichtlicher Ereignisse, und es gibt Zeiten einer Latenz, in der sich Alternativen abzeichnen. Georg Büchner erlebt in Straßburg in der unmittelbaren Nach-Julirevolutionszeit eine solche intensive Zeit der alternativ diskursiven, der politischen kontroversen Diskussionen um Strategien einer Revolution, die am Ende nicht nur einer bestimmten Schicht Vorteile bringen sollte. Als Anfang März 1834 mehrere „Wachenstürmer“ (gemeint sind die

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Der Zürcher Atheismusstreit 1845 (von links: Ruge, Follen, Heinzen, Schulz). Karikatur eines unbekannten Zeichners.

Teilnehmer an dem am 3. April 1833 unternommenen, aber gescheiterten Sturm auf die Frankfurter Haupt- und Kon­ stablerwache in der Absicht, ein Signal zu einer allgemeinen Revolution zu geben) entlassen wurden – die meisten waren schon in Darmstadt mit Büchner bekannt oder befreundet, den Butzbacher Rektor Friedrich Ludwig Weidig hatte er schon zuvor, Anfang des Jahres 1834, kennengelernt – überrascht Büchner die sich zur Gründung einer Gießener „Gesellschaft der Menschenrechte“ (nach dem Vorbild der französischen „Societé des Droits de l’homme“) Zusammengefundenen durch seine klare Kritik an den bisherigen strategischen Maßnahmen, durch sein klares politisches Konzept. Er hatte offensichtlich das Privileg genutzt, zwei Jahre in Straßburg die dortige Debatte studieren zu können.

Georg Büchner war privilegiert – aber er nutzte auch seine Privilegien, um sich auf den verschiedensten Feldern wissenschaftlich, literarisch und politisch zu profilieren. Auch wenn er bekanntlich Kompromisse eingehen und Abstriche hat machen müssen, so können wir doch aus heutiger Sicht sagen, dass die mit dem politisch erfahreneren Konrektor Friedrich Ludwig Weidig gemeinsam verfasste Flugschrift Der hessische Landbote eine neuartige innovative Form erhielt, weil sie sich nicht vorlauter Agitation und propagandistischer Slogans allein

Der Autor Günter Oesterle, Jahrgang 1941, war 32 Jahre Professor der Germanistik in Gießen. Er war dort zeitweise Sprecher des Graduiertenkollegs „Klassizismus und Romantik“ und des Sonderforschungsbereichs „Erinnerungskulturen“. Nach seiner Pensionierung (2006) war er Gastprofessor am „Freiburg Institute for Advanced Studies“ (FRIAS) in Freiburg, am Gutenberg Forschungskolleg in Mainz, am IFK in Wien sowie an der Columbia University in New York; im Wintersemester 2012/13 lehrt er an der Universität in Peking. Neben seinem Forschungsschwerpunkt zur Romantik hat er zu den meisten deutschen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, u.a. E.T.A. Hoffmann, Heinrich Heine, Annette von Droste-Hülshoff, Eduard Mörike, Wilhelm Raabe und Theodor Fontane, Veröffentlichungen vorgelegt.

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bediente, sondern durch Integration statistischer Informationen über die Steuerlasten Wissen und Sachinformation unter die ländliche Bevölkerung brachte. Im Bereich der Wissenschaft begnügte er sich nicht mit einem Medizinstudium in Straßburg, sondern ging in die avancierte Forschung seiner Zeit. Er nutzte geschickt die Differenz der naturwissenschaftlichen Forschungsausrichtungen in Frankreich und Deutschland – dort die empirischexperimentelle, hier die spekulativ-typologische –, um „nach ausgedehnten Präparationen“ im ersten Teil seiner Dissertation Abhandlung über das Nervensystem der Barben (Originaltitel: Memoire sur le Système Nerveux du Barbeau) zunächst seine empirischen Befunde nach französischer Manier zu beschreiben, um dann im zweiten Teil spekulativ die deutsche Methode einer Rekonstruktion von Grundtypen zu versuchen. In Philosophie- und Religionsstrategien eignet er sich nicht nur den gängigen Standard an, sondern kapriziert sich vornehmlich auf den seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ausgebrochenen Atheismusstreit. Aus dem Staunen kommt man aber gar nicht mehr heraus, wenn man bedenkt, dass er von Mitte Januar 1835 bis zu seinem Tode am 14. Februar 1837, also in etwas mehr als zwei

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Georg Büchner und seine Zeit

Jahren, neben Übersetzungen zweier Dramen Victor Hugos (Lukretia Borgia, Marie Tudor) vier poetische Werke unterschiedlicher Art geschrieben hat: die Erzählung Lenz, das Drama Dantons Tod, die Komödie Leonce und Lena, das Tragödienfragment Woyzeck, ohne die heute die moderne Literatur schwerlich zu denken wäre. Ich kenne keinen Intellektuellen in Büchners Zeit, der in so vielen Bereichen, Politik, Wissenschaft, Religionskritik, Poesie, derart kreativ eigenständig und innovativ gearbeitet hätte. Es gab viele zeitgenössische Vormärzschriftsteller, die den neuen Tendenzen Raum gaben, Politik und Wissenschaft in ihr Schreiben experimentierfreudig integrierten. Wir wissen heute, dass die Zeit des Vormärz (1820–1848) im Unterschied zu späteren literarischen Richtungen, z.B. dem Poetischen Realismus, die offenste, experimentierfreudigste Schreibartistenzeit gewesen ist. Eine Reihe von Vormärzliteraten begab sich durchaus in Gefahr: Gutzkow saß vier Wochen in Arrest, Glasbrenner wurde aus Berlin ausgewiesen und musste in der Provinz zu überleben trachten – aber sie alle, Börne, Heine, Gutzkow, Mundt, Laube, Herwegh – bleiben allesamt Literaten, die zwar politik- und wissensaffin schreiben, keiner von ihnen hat sich aber so tief eingelassen in politisch konspirative Tätigkeit, dass er steckbrieflich gesucht wurde, und keiner hat wissenschaftliche, ja naturwissenschaftliche Forschung so intensiv eigenständig betrieben, und keiner hat die Poesie im Durchgang durch Geschichtsschreibung und wissenschaftliche Fallstudien derart revolutioniert wie Georg Büchner. Er ist in der Tat „Ein Kind der neuen Zeit“ – zugleich aber ist er

einzigartig und solitär. Er ist paradox: er ist tief verwurzelt in seiner Zeit und zugleich in Distanz zu seiner Zeit.

Die damals avancierteste moderne Literaturkonzeption im Vergleich zu Büchner Um dieses Paradox – in seiner Zeit über seine Zeit hinaus – zu begreifen, ist es hilfreich, die avancierteste, moderne Literaturkonzeption von Büchners Zeit kurz vorzustellen, um Büchners Nähe und seine Distanz dazu plausibel machen zu können. Heinrich Heine hat 1831 in Paris das Ende der politisch abstinenten Kunstperiode ausgerufen und stattdessen eine neue

Kunst, eine politisierte Kunst, die mit der geschichtlichen Bewegung auf engster Tuchfühlung bleibe und die modernen medialen Mittel nutze, prognostiziert, Er erwähnt die medialen Panorama­effekte, die er in St. Sulpiz in Paris gesehen hatte, wenig später wird er auf die Daguerreotypie, eine Vorstufe der Photographie, verweisen. Dieser programmatischen These Heines, die neue Zeit würde eine neue Kunst gebären, geht eine bemerkenswerte Aufwertung des Skizzenhaften voraus, der Skizze, die nunmehr nicht mehr als bloße Vorstudie eingestuft wird, die in dem später ausgeführten und vollendeten Werk verschwindet und gelöscht wird – nein, jetzt wird

Steckbrief vom 13. Juni 1835, mit dem Georg Büchner vom „Hofgerichtsrath Georgi“ gesucht wurde.

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Oesterle

Büchners Grabstein in Zürich, Schweiz. Foto: Paebi

die Skizze, die spontan hingeworfene blitzartige Momentaufnahme zum Ziel der literarischen und bildnerischen Produktion. Geschult wird diese literarische Schnappschusstechnik und blitzartige Aufscheinfähigkeit in der modernen Großstadtwahrnehmung: Nicht nur die eigenartige Figurenund Personenkonstellation in diesem großstädtischen Milieu – sagen wir beispielsweise die Zusammenstellung eines Bettlers mit einer hübschen vorbeischlendernden Kurtisane und einem alten Rentier mit einem hässlichen Pinscher – sondern auch die Atmosphäre etwa der sich bewegenden städtischen Menschenmenge rundherum wird und soll eindrücklich auf den Punkt gebracht werden. Um derartiges auffangen und aufschreiben zu können, bedarf der moderne Literat einer speziellen, außergewöhnlichen produktiven Aufmerksamkeit: auf der einen Seite eine gereizte Nervosität (dieser Begriff taucht just genau zu Büchners Zeit auf), auf der anderen Seite benötigt er einen distanzierten anatomisch-analogistischen Blick. Das literarische Gattungsmedium für diese treffgenaue, nervöse und zugleich präzis kalkulierende Schnappschussartistik ist zu Büchners Zeit, also in den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts: das Journal, und

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zwar der Teil des Journals, der die größten Freiheiten zuließ: das Feuilleton, das damals unter dem Strich auf einer Seite geradezu herausforderte, darüber stehende offizielle Verlautbarungen parodistisch-ironisch zu konterkarieren. Kurz: das avanciertere literarische Medium dieser Zeit sind Feuilletons aus den großen Städten, die eine originelle Wahrnehmungsweise in einer virtuosen Übergänglichkeit von neuen Informationen, neuem Wissen, neuen Schreibtechniken zwischen Journal und Poesie erlaubten und erforderten. Diese neuartige Schreibweise ließe sich exemplarisch an Heines Darstellung eines Balletts in Paris demonstrieren. Heine liest aus den Tanzschritten der Balletttänzerinnen – ihren Quadrillen und Arabesken – die entstehenden noch geheim gehaltenen Strategien der europäischen Mächtepolitik. Nebenbei plaudert er Geheimnisse und Klatschwissen aus, dass der berühmte Komponist Meyerbeer alle Orgeln in der Umgebung von Paris aufgekauft hätte, um seine Überraschung, in seiner Oper die Zuhörer gleich mit drei Orgeln zu überwältigen, vor dem Zugriff eines potenziellen Konkurrenten zu sichern; dann aber lässt er sich sachkundig über die neuesten Kompositionstechniken aus, wie sie nur einem Experten zuzutrau-

en sind. Georg Büchner wurde von kundigen Zeitgenossen des Öfteren in Zusammenhang gebracht mit diesen avantgardistischen Schreibvirtuosen, Heine, Gutzkow, Mundt, Laube (die 1835 in unzutreffender Weise von der sie verklagenden Obrigkeit, dem „Bundestag“, als „Schule“ des Jungen Deutschland zusammengefasst werden). Im provozierend witzigen schlagkräftigen Schreiben, im virtuosen Spiel mit literarischen und wissenschaftlichen Zitaten steht Büchner seinen damals avancierten Schriftstellerkollegen in Nichts nach. Karl Gutzkow bescheinigt ihm sowohl seinen seltenen anatomisch-sezierenden Blick wie seine außerordentliche Fähigkeit zur schnellen, scharf konturierten Skizze: „[...] seine außerordentliche Begabung in kurzen scharfen Umrissen schnell, im Fluge, an die Wand zu schreiben“. Und doch unterscheidet sich Georg Büchners Poesie entschieden von der seiner zeitgenössischen Schriftstellerkollegen. Anders als die jungdeutsche Favorisierung einer Verbindung von Poesie und Publizistik, in der Wissen und Politik nur als poetisches Ideen­ inzitament und „Ideenschmuggel“ benutzt werden, bleibt Georg Büchner viel strenger im poetischen und im wissenschaftlichen Bereich. Georg Büchner bevorzugt das Drama und die dramatische Bühne vermutlich, weil er den feuilletonistischen Verschleif und Verschnitt von Poesie, Publizistik und Wissenschaft vermeiden möchte. Unsere eingenommene Perspektive auf das kurze und das lange 19. Jahrhundert erlaubt uns die Hypothese, dass Büchner der am Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden Kritik am Heine’schen und jungdeutschen

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Georg Büchner und seine Zeit

Feuilletonstil durch Karl Kraus (seine polemische Abhandlung trägt den Titel Heine und die Folgen) weitsichtig und vorausschauend hätte aus dem Wege gehen wollen. Die Anlage meines Vortrags, einen Blick sowohl auf das lange wie auf das kürzere, die Lebenszeit Büchners umspannende 19. Jahrhundert zu werfen, gestattet mir, zum Abschluss zwei Gedankenexperimente durchzuführen. Im Blick auf Büchners Zeit fragen wir – gleichsam zur Gegenprobe: Wie hätte ein jungdeutsches „Dantons TodFeature“ ausgesehen? Und im Blick auf das ausgehende 19. Jahrhundert und die aufkommende naturalistische Richtung – denken Sie etwa an Gerhard Hauptmanns Weber – fragen wir: Wie sähe wohl ein naturalistisch bearbeitetes Woyzeck-Drama aus?

tiv von uns konstruierten jungdeutschen Feuilletons über Dantons Tod zu Büchners gleichlautendem Drama herauszuarbeiten. Ein jungdeutsches Feuilleton hätte zwar auch wie Georg Büchner die historischen Quellen zur französischen Revolution ausgiebig herangezogen; es hätte aber, so meine Unterstellung, zweierlei anders gemacht: Erstens hätte es versucht, das revolutionäre Milieu der damaligen Zeit möglichst genau nachzubilden, und zweitens hätte es die Reden der Revolutionshelden in der narrativen Zitierung und Darstellung direkt persifliert und ironisiert – so etwa wie es heutzutage im Spiegel bzw. im SpiegelJargon geschieht. Büchner hingegen verdichtet und komprimiert zwar die historisch gehaltenen Reden, aber er

einem Effekt, dass sie zwar immer noch in der einzelnen Äußerung nachvollziehbar und vernünftig klingen, in diesem wilden Kontext aber dann hohl und ohne Boden erscheinen. Ich hoffe, dass Sie noch Zuhörlust genug haben – und einige veranschaulichende Beispiele akzeptieren. 1. Akt, 1. Szene: Robespierre ist auf dem Weg zum Jakobinerclub. Wir unterstellen, dass er noch ganz in Gedanken sich auf seine in Bälde Furore machende Rede zu konzentrieren versucht, und da stößt er auf eine sich zusammenrottende Menschenmenge. Anlass dieses Auflaufs einer schauund tötungslustigen Menge ist ein krakeelender, seine Frau verprügelnder Säufer und die Entdeckung eines Taschentuchs bei einem Passanten,

überschreibt sie nicht durch eine eigene Perspektive: Er stellt sie markant aufs Podest – auf die Bühne. Statt einer historischen Revolutionskulisse schafft er allerdings einen ganz anderen von Shakespeare inspirierten, von Zoten, Paranomasien (Wortspielen) und Persiflagen nur so strotzenden Kontext, so dass die ,authentischen‘ historischen Reden durch diesen neu geschaffenen ,wilden‘ Kontext derart vor- und nachinszeniert werden mit

Premiere im Deutschen Theater von „Dantons Tod“, Berlin 1981, in der Regie von Alexander Lang. In dieser Szene spielen Inge Keller (l.) die Julie (Dantons Gattin), Margit Bendokat (3.v.l.) die Marion, Christian Grashof (2.v.l.) den Georg Danton und Günter Sonnenberg (4.v.l.) den Mercier. ADN-ZB-Rehfeld-20.4.81-Berlin

Erstes Gedankenexperiment: Wie hätte ein jungdeutsches „Dantons Tod-Feature“ ausgesehen? Als Ausgangspunkt für unser erstes Gedankenexperiment kann die Verärgerung Büchners aufgegriffen werden, als er bemerkte, dass der Verleger seines Dramas Dantons Tod diesem bei der Publikation eigenmächtig den Untertitel gab: Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft. In die gleich verballhornisierende Stoßrichtung zielte ja der Vorschlag, sein Drama als „dramatisierter Thiers“, also als illustrierende Geschichtsschreibung, auszugeben (Louis ­Adolphe Thiers hatte ein zehnbändiges Werk zur Geschichte der Französischen Revolution, Paris 1823–1827, verfasst, das Büchner im Oktober 1834 aus der Darmstädter Hofbibliothek ausgeliehen und bei der Anfertigung seines Dramas benutzt hatte.) Büchners Ärger über eine derartige die Rezeption lenkende Voreinstellung bietet für uns die Steilvorlage dafür, drei zentrale Unterschiede eines fik-

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Bundesarchiv, Bild 183-Z0420-027 / Rehfeld, Katja / CC-BY-SA

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Oesterle

Aufführung des Woyzeck von Robert Wilson/Tom Waits/Kathleen Brennan nach dem Stück von Georg Büchner 2009 in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin: Moritz Grove (Woyzeck) und Maren Eggert (Marie). Siehe auch Bild Seite rechts. Foto: Arno Declair

das, weil als aristokratisch verschrienes Accessoire, zum Ruf nach dessen Soforthängung an eine Laterne führt, wodurch dieser sich nur durch einen Witz retten kann. In diese brisante, streit- und mordsüchtige Situation voll Lärm und Gelächter tritt nun Robes­ pierre – der Unbestechliche, wie er genannt wird – um das Geschrei der Menge: ,Totgeschlagen, totgeschlagen, totgeschlagen‘ (12) mit dem Diktum: „Im Namen des Gesetzes“ auszubremsen, eine Formulierung, die prompt durch einen ihm antwortenden Bürger aus der Menge durch eine Tautologisierung von Volk und Gesetz desavouiert wird: „Wir sind das Volk, und wir wollen, daß kein Gesetz sey. Ergo ist dieser Wille das Gesetz, ergo im Namen des Gesetzes giebts kein Gesetz mehr, ergo todgeschlagen.“ Robespierre nun seinerseits hält eine improvisierte Ansprache auf der Gasse – in Vorwegnahme seiner im Jakobinerclub kurz darauf zu haltenden Rede, deren Pathos: „Armes tugendhaftes Volk! Du thust deine Pflicht, du opferst deine Feinde. Volk du bist groß. Du offenbarst dich unter Blitzstrahlen und Donnerschlägen“, in diesem karnevalesken Umfeld der Menge auf der Gasse peinlich verfremdet wirkt, für Robespierre aber Anlass ist, seine dann tatsächlich im Jakobinerclub gehaltene Rede als nicht selbst erfunden, sondern als Antwort auf den Schrei des Volkes auszugeben: „Wir warteten nur“, so beginnt er, „auf den Schrei des Unwillens, der von allen Seiten tönt, um zu sprechen.“ (14)

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Das andere Lager der Dantonisten ist von einer qualitativ anderen, aber nicht weniger chaotischen weltfremden Tautologie befallen. Während drei profilierte Dantonisten, nämlich Herault, Philippeau und Camille, in der ersten Szene des 1. Akts in richtiger Lageeinschätzung sich mit einer Kaskade von Muss- und Werdens- und Wollens-Thesen Mut zur Aktion und Reorganisation der Revolution einreden: „Die Revolution muss aufhören“, „die Staatsform muss ein durchsichtiges Gewand seyn“, „Wir werden den Leuten“, „Wir wollen den Römern nicht verwehren“, „aber ...“, bremst Danton das von Camille gegebene Aktions-Stichwort: „Danton du wirst den Angriff im Convent machen“, und alle diese davor gemachten an sich berechtigten Willens- und Wunschäußerungen mit einer schlichten, sich aus aller Zeit und Planung herausnehmenden tautologischen Wendung aus: „Ich werde, du wirst, er wird. Wenn wir bis dahin noch leben, sagen die alten Weiber. Nach einer Stunde werden 60 Minuten verflossen sein. Nicht wahr mein Junge.“ (7) Nun sind wir vorbereitet, zur Differenz von jungdeutschem Feuilleton und Büchner’schem dramatischem Stil Stellung zu nehmen: Ein jungdeut-

sches Feuilleton zu Dantons Tod hätte alles darauf angelegt, die Ideologeme, Weltanschauungen und Positionen der beiden antagonistischen Lager, der Dantonisten einerseits und der Robes­ pierre-Anhänger andererseits derart zu profilieren, dass sich die Leser affektisch angeregt entscheidungsfähig und entscheidungsfreudig fühlten. Indem, im Gegensatz dazu, Büchner in seiner Dramenfassung die Pathosformeln beider Seiten als weltfern, basislos und den Akteuren selbst entzogen darstellt, zerschellen diese Ideologeme, um nicht etwa in einer nihilistischen Position zu enden, sondern – das ist Büchners außerordentliche Leistung –, um elementare Lebensformen wie Hunger, Angst, Verzweiflung, partiell auch Sexualität als Triebfeder unserer Lebensdynamik herauszuarbeiten.

Zweites Gedankenexperiment: Wie würde ein naturalistisches Woyzeck-Drama gestaltet sein? Unser zweites Denkexperiment – also die Fragestellung, wie ein naturalistisch dramatisierter Woyzeck sich von dem Büchner’schen unterscheidet – ist schneller und gleichsam ohne spekulativen Einschlag präsentierbar: Die Antwort lautet: Ein naturalistisch

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dramatisierter Woyzeck würde dem historischen Woyzeck stärker gleichen als dem ,poetischen‘ Woyzeck Büchners. Der historische Woyzeck, der am 2. Juni 1821 in Leipzig seine Geliebte erstochen hatte und am 27. August 1824 hingerichtet wurde, kannte nicht das Problem der Überbeschäftigung wie der Büchner’sche Woyzeck. Der historische Woyzeck sah sich der Arbeitslosigkeit ausgesetzt. Seinen ursprünglich gelernten Beruf Perückenmacher benötigte man in moderneren Zeiten nicht mehr, seine zunächst gewählte Ausweichmöglichkeit, sich als Soldat zu verdingen, war nach den Napoleonischen Kriegen nicht mehr gefragt. Der historische Woyzeck war noch ärmer dran als der Büchner’sche: Er verlor sogar eine Bleibe zum Übernachten und musste zunehmend im Freien campieren. Zudem war er Alkoholiker. Er war nicht eifersüchtig im traditionellen Sinne; er wurde aggressiv, wenn sein Ehrgefühl verletzt schien; entsprechend bildete er sich mehr und mehr ein, seine Umwelt, vorneweg seine Geliebte, würde ihn wegen seiner Arbeitslosigkeit nicht mehr achten, ja, seine Geliebte wolle sich deshalb nicht mehr öffentlich mit ihm zeigen. Es wäre nun freilich ein Kurzschluss, wenn wir aufgrund dieses Befundes behaupteten, der Büchner’sche Woyzeck wäre gegen-

über dem arbeitslosen und ehrlosen Pauper poetisiert worden. Die Akzente liegen anders. Der Entstehungsprozess des Büchner’schen Woyzeck zeigt deutlich die Verlagerung von einem ursprünglich geplanten Eifersuchtsund Mordschauspiel zu einem Drama, in dem Vertreter der Disziplinarmächte, ein Repräsentant der Wissenschaft und des Militärs, Woyzeck als Objekt behandeln und zurichten. Die Pointe ist nämlich, dass Büchners und unsere heutige Kenntnis des historischen Woyzeck sich fast ausschließlich auf zeitgenössische medizinische und juristische Gutachten stützen. Woyzecks Fall löste eine wissenschaftliche Kontroverse zwischen Psychologen und Somatikern aus, eine Debatte um die Zurechnungsfähigkeit oder den partiellen Wahnsinn des Täters. Büchner rekonstruiert nun nicht hinter die Gutachten zurückgehend den historischen Woyzeck, sondern er gestaltet den wissenschaftlich diskursfähig gewordenen Woyzeck – mit seinen Halluzinationen und seiner Erbsendiät – in wissenschaftlich experimentellen Interessen aus. Fazit: Der historische und der Büchner’sche Woyzeck repräsentieren je einen bestimmten damals sich herausbildenden Typen des Pauperismus: nämlich einen Typ, der arbeitslos ist und sich ehrlos fühlt, und

einen Typ, der überbeschäftigt als Objekt für Experimente somatisch ruiniert wird. Obgleich der historische, arbeitslose und ehrlose Woyzeck, den wir als naturalistischen Woyzeck etikettiert haben, etwas einliniger ausfällt als der wissenschaftlich zugerichtete und poetische Woyzeck, wäre es gleichwohl problematisch, den einen gegen den anderen auszuspielen. Moderne Aufführungen jüngster Zeit zeigen, dass aus dem Widerspiel des historischen naturalistisch zugerichteten Paupers modernes dramaturgisches Potenzial entsteht. Ostermaiers Verlagerung Woyzecks in ein gewalttätiges ban-milieu in Paris oder Marseille, Herzogs Herausarbeitung der halluzinatorischen Züge des durch Doktor und Professor ausgebeuteten Woyzecks oder Thalheimers Bühnenfassung, die gesellschaftspolitische Aspekte zwar ausblendet, dafür aber sich ganz konzentriert auf die in einer Anspielung Büchners im Drama präsente „wunderliche Märchengasterei“: „Blutwurst ist ein Mörder, der die Leberwurst mit einem langen, langen Messer, das blinkt als wärs frisch gewetzt“ – mit der Folge, dass das nicht zu befriedigende Begehren zwischen Woyzeck und Marie zu Massenlustmorden führt. Diese Vielfalt an je stimmigen Auslegungen verdankt sich dem spannungsreichen hochmodernen Doppelgesicht des Paupers als arbeits- und ehrlosen und als wissenschaftlich hergerichteten Geringen. So gesehen haben wir schlussendlich das Thema noch einmal ausgeweitet: Es geht bei dieser Aktualität nicht mehr nur um Büchner und seine Zeit, sondern um Büchner und unsere Zeit. •

Kontakt Prof. Dr. Günter Oesterle Nahrungsberg 49 35390 Gießen guenter.oesterle@germanistik.uni-giessen.de

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„Der Freiheit eine Gasse“ Spuren der „Gießener Schwarzen“ in Büchners „Dantons Tod“ Von Gerhard Kurz

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„Der Freiheit eine Gasse“

Büchner reagiert mit seinem Werk nicht nur auf die allgemeine politische und soziale Situation seiner Zeit und das literarische Programm des „Jungen Deutschland“, er reagiert auch auf hessische Verhältnisse. Der „Hessische Landbote“, zusammen mit dem Butzbacher Pfarrer und Rektor Friedrich Ludwig Weidig verfasst, zielt auf die soziale Lage der Bauern und Handwerker im Großherzogtum Hessen-Darmstadt, „Woyzeck“ verarbeitet auch Gießener Erfahrungen, „Leonce und Lena“ auch Darmstädter Erfahrungen, und „Dantons Tod“ bezieht sich in seiner kritischen Vorführung der französischen Revolutionäre auch auf die radikale hessische Oppositionsbewegung. Im revolutionären Paris lässt Büchner nicht nur die Marseillaise, sondern auch deutsche Volkslieder singen, darunter ein hessisches Soldatenlied. Ihren Ausgang nahm diese Oppositionsbewegung von den „Gießener Schwarzen“. Deren Spuren in „Dantons Tod“ soll hier nachgegangen werden.

Abb. 1: Adolf August Ludwig Follen im Harnisch, Sommer/Herbst 1816 gezeichnet (Feder, Pinsel/Tusche, 36,6 x 25,4 cm) von dem mit den „Schwarzen“ sympathisierenden Künstler Carl (Karl) Philipp Fohr (Heidelberg 1795-1818 Rom). Inv. Nr. Z 255 © Kurpfälzisches Museum Heidelberg

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D

ie Universität Gießen und ihre Studentenschaft war um 1815 ein Zentrum der oppositionellen Bewegung in Deutschland. Hier entstand unter wechselnden Namen („Teutsche Lesegesellschaft zur Erreichung vaterländisch-wissenschaftlicher Zwecke“, „Germania“ oder „Germanenbund“, „Deutscher Bildungs-und Freundschaftsverein“) eine geheimbündische, burschenschaftliche Vereinigung, die wegen ihrer „teutschen“ Tracht – schwarzer oder grauer, bis zum Hals zugeknöpfter Rock, darüber ausgeschlagen ein breiter, weißer Hemdkragen, langes Haar, ein schwarzes Samtbarett mit einem Kreuz, an der Seite meist ein Dolch – die „Gießener Schwarzen“ genannt wurden. (Abb. 2). Die einheitliche Tracht sollte die Gleichheit symbolisieren, die Farbe schwarz das Geheime, Unheimlich-Bedrohliche und sollte wohl auch an die Talarfarbe der protestantischen Pfarrer erinnern. In Darmstadt bildete sich ebenfalls ein Kreis von „Schwarzen“. Die Schreibweise „teutsch“ vs. „deutsch“ markiert in dieser Zeit ein politisches Programm, nämlich die Forderung nach nationaler Einheit und (vermeintlich altdeutscher) Freiheit. Im Kreis der „Schwarzen“ wurden Schiller und die nationalen Schriften von Fichte, Arndt und Jahn gelesen, die Freiheitslieder Theodor Körners mit ihrer Verklärung des Todes für das Vaterland und das „Nibelungenlied“. Als Hagen des Nibelungenlieds (Abb. 9) oder Ritter im Harnisch (Abb. 1) zeichnete der

mit den Schwarzen sympathisierende Maler Karl Philipp Fohr Adolf Ludwig Follen. Gegen die restaurative Entwicklung nach den Befreiungskriegen und gegen die alten studentischen Landsmannschaften mit ihrer Sauf-, Rauf- und Duellkultur verstand sich diese neue Burschenschaft als eine moralische und intellektuelle Elite, als eine Jugendbewegung und als eine politisch radikale, nationale Avantgarde. Die „Gießener Schwarzen“ engagierten sich auch in der jungen Turnbewegung, zu deren Zielen ebenfalls politische Einheit, Gleichheit und Freiheit gehörten. Die führenden Köpfe der „Gießener Schwarzen“ waren der Pfarrersohn

Abb. 2: Einheitliche Tracht der „Gießener Schwarzen“: hier „Der ritterliche Kahl“, Zeichnung vermutlich von Ernst Fries aus dem Jahre 1819

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Kurz

Abb. 3: Carl Philipp Fohr: „Adolf Follen, Brustbild nach rechts“; Hessisches Landesmuseum Inv.-Nr. HZ 1248

Abb. 4: Karl Follen, der Bruder von Adolf Ludwig Follen

Abb. 5: Der Pfarrersohn Karl Christian Sartorius, einer der führenden Köpfe der „Gießener Schwarzen“.

Karl Christian Sartorius (Abb. 5), Schüler des Darmstädter „Pädagogs“, das später auch Büchner (Abb. 6) besuchte, 1817 einer der Wortführer des studentischen Wartburgfestes, dann die beiden Brüder August (später Adolf) Ludwig und Karl Follen (Abb. 3 und 4), Söhne eines Juristen. An ihren Versammlungen nahm auch Weidig teil, später die Zentralfigur der oberhessischen Opposition. Die Brüder Follen besuchten das Gymnasium in Gießen. August Ludwig studierte dann Philologie und Evangelische Theologie in Gießen, später Jura in Heidelberg. 1817 wurde er Redakteur der Elberfelder „Allgemeinen Zeitung“. 1819 gab er die „Freye Stimmen frischer Jugend“ in Jena heraus, ein politisches Manifest der „Gießener Schwarzen“ und der Turnbewegung in Liedern. Das erste Lied, von ihm selbst gedichtet, formuliert als Losung: „Gott, Freyheit, Vaterland, altteutsche Treu“. Im selben Jahr wurde er in Berlin inhaftiert. Mit seinem Fall war das Mitglied der „Königlichen Immediat-Untersuchungs-Kommission zur Ermittlung hochverräterischer Verbindungen und staatsgefährlicher Umtriebe“, der

Kammergerichtsrat und Dichter E. Th. A. Hoffmann befasst. 1821, gegen Kaution entlassen, floh August Follen in die Schweiz. Sein weiterer Lebensweg: bis 1827 Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Kantonsschule Aarau; durch eine Heirat finanziell unabhängig geworden, Mittelpunkt eines literarisch-politischen Kreises in Zürich, in dem auch Gottfried Keller verkehrte; mehrere Jahre Mitglied des „Großen Rates“ von Zürich; 1828/29 erschien seine vielgelesene Anthologie „Bildersaal deutscher Dichtung“. Er starb verarmt 1855. Karl Follen studierte in Gießen Jura und promovierte 1818. Den Zeugnissen nach war er eine charismatische Figur, verglichen wurde er mit Robespierre und Christus. Er entwarf den „Ehrenspiegel“ der „ChristlichTeutschen Burschenschaft“, so etwas wie eine Verfassung der neuen Burschenschaft. Sie fordert eine einheitliche, demokratische Organisation der Studenten und formuliert als Ziel ein „christliches, wissenschaftliches und teutsches Streben“ der „Burschen“, die Ausbildung aller „Geistes – und Leibeskräfte“. Sie löst den Ehrbegriff

von der herkömmlichen studentischen, quasifeudalen Kultur und bindet ihn an Bildung, eine disziplinierte Lebensführung, an ein neues Tugend­ ideal einschließlich einer asketischen Sexualmoral, schließlich an das „Vaterland“. Vaterland heißt nun nicht mehr die landsmannschaftliche Herkunft, sondern das geeinte, republikanische und demokratische Vaterland aller Deutschen. Zusammen mit seinem Bruder konzipierte er 1818 die „Grundzüge für eine künftige Reichsverfassung“. Diese Grundzüge waren revolutionär, inspiriert von den Zielen der Französischen Revolution. Sie sahen einen einheitlichen, demokratischen Staat vor, Gewaltenteilung, Freiheit und Gleichheit der Bürger und Anspruch auf gleiche Bildung. Dieser Staat sollte zugleich deutsch und christlich sein. Gleichberechtigung der Frauen und Religionsfreiheit waren nicht vorgesehen. Christlich bedeutete für den Protestanten Follen christlich-lutherisch. Dieser fundamentalistische Grundsatz richtete sich gegen den ‚römischen‘ Katholizismus und schloss Juden aus. Da dieses Christentum nationalreli­

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„Der Freiheit eine Gasse“

…Offen gestanden, dieser Georg Büchner war uns nicht sympathisch. Er trug einen hohen Zylinderhut, der ihm immer tief unten im Nacken saß, machte beständig ein Gesicht wie eine Katze, wenn‘s donnert, hielt sich gänzlich abseits, verkehrte nur mit einem etwas verlotterten und verlumpten Genie, August Becker, gewöhnlich nur der „rote August“ genannt. Seine Zurückgezogenheit wurde für Hochmut ausgelegt, und da er offenbar mit politischen Umtrieben zu tun hatte, ein- oder zweimal auch revolutionäre Äußerungen hatte fallen lassen, so geschah es nicht selten, daß man abends, von der Kneipe kommend, vor seiner Wohnung still hielt und ihm ein ironisches Vivat brachte: „Der Erhalter des europäischen Gleichgewichts, der Abschaffer des Sklavenhandels, Georg Büchner, er lebe hoch!“ – Er tat, als höre er das Gejohle nicht, obgleich seine Lampe brannte und zeigte, daß er zu Hause sei. In Wernekincks Privatissimum war er sehr eifrig, und seine Diskussionen mit dem Professor zeigten uns beiden andern bald, daß er gründliche Kenntnisse besitze, welche uns Respekt einflößten. Zu einer Annäherung kam es aber nicht; sein schroffes, in sich abgeschlossenes Wesen stieß uns immer wieder ab...“ Carl Vogt (1817-1895) in seinen Lebenserinnerungen (1895 veröffentlicht) über Georg Büchner

giös verstanden wurde – „Im Volkstum erblühe das Christentum“ –, schloss es tendenziell für die Juden auch den Weg der Taufe aus. Die „Schwarzen“ waren aber (noch) keine Antisemiten. Ihre Judenfeindschaft begründeten sie nicht rassistisch. Im selben Jahr 1818 ging Karl Follen nach Jena, wo er als Privatdozent der

Jurisprudenz lehrte. Jena war neben Gießen eine Hochburg der Burschenschaftsbewegung.

„Die unbedingten“ Der innere Kreis um Karl Follen in Gießen und Jena wurde „Die Unbedingten“ genannt. Unbedingt, weil sie

Das „Große Lied“ „... Ihr Geister der Freien und Frommen, Wir kommen, wir kommen, wir kommen, Eine Menschheit zu retten aus Knechtschaft und Wahn, Zur Blutbühn‘, zum Rabenstein führt unsre Bahn. Auf Zwingherrn Nacken zu fußen, Lohnt uns auch der Dolch in dem Busen. Nur die Bürgergleichheit, der Volkswille sei Selbstherrscher von Gottes Gnaden. Auf, auf, mein Volk, Gott schuf Dich frei, Ruft Dich aus der Knechtschaft Wüstenei Zu der Freiheit Heimatgestaden. Musst wandeln durch ein rotes Meer, Durch Deiner Söhne Opferblut, Dass tilgt die Pharaonenbrut Mit Ross und Tross, mit Kron‘ und Heer...“ Auszug aus dem „Großen Lied“ der Brüder Follen.

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Abb. 6: Georg Büchner, im revolutionären Polenrock.

ihre Ziele unbedingt und kompromisslos verfolgen wollten und diese Ziele die Mittel heiligten. Die Mittel, das war revolutionäre Gewalt: politischer Mord, der „Opfertod“ für „Freiheit und Vaterland“, das war das „Schwert“. In seinem Votum für die Untersuchungskommisssion zu August Ludwig Follen konstatiert E. Th. A. Hoffmann einen „Fanatismus“ in der „höchsten Rechtlichkeit und Sittlichkeit“ und kommt zu dem Urteil, dass der „Verein der Schwarzen“ den Umsturz aller bestehenden Verfassungen will und daher als ein „höchst gefährlicher Bund“ zu gelten hat. Dem Kreis der Unbedingten gehörte auch Karl Ludwig Sand an. Als Sand, der schon länger davon träumte, „für unsere heilige teutsche Sache als Märtyrer“ sterben zu wollen, 1819 den Schriftsteller August von Kotzebue ermordete, eine Symbolfigur der politischen Verhältnisse für diese Studenten, wurde Karl Follen der geistigen Urheberschaft beschuldigt. Der Verhaftung entzog er sich durch die Flucht über Paris in die Schweiz, 1824 in die USA. Sein weiterer Lebensweg: In Harvard hatte er den ersten Lehr-

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Kurz

Abb. 7: Dantons Tod, Berliner Ensemble 2012 Foto: Monika Rittershaus

stuhl für deutsche Sprache und Literatur in den USA inne. Da er für die Sklavenbefreiung eintrat, wurde er entlassen. Danach war er als unitarischer Prediger tätig. Bei einem Schiffbrand kam er 1840 ums Leben. Sands Attentat nutzten die deutschen Regierungen unter der Führung Metternichs für die repressiven „Karlsbader Beschlüsse“ im Jahr 1819.

Das „Große Lied“ Das „Allerheiligste“ der „Unbedingten“ enthält das „Große Lied“, das die Brüder Follen 1817/18 verfassten. Nur geheim und mündlich wurde es verbreitet. In seiner revolutionären Radikalität, seinen wilden Rache- und Vernichtungsphantasien, seiner Identifizierung des nationalrevolutionären und des religiösen Akts, seinem völkischen Jakobinismus, seiner totalitären Tendenz, seiner reaktionä-

ren Fortschrittlichkeit ein singuläres Dokument in der frühen demokratischen Bewegung und der Geschichte der deutschen politischen Literatur. Aus ihm geht hervor, dass die Farbe schwarz auch eine apokalyptische Todessucht symbolisiert. Veröffentlicht wurde es in zwei Drucken 1829 und 1830. Das „Lied“ stellt in der Form einer religiösen Liturgie eine Einschwörung auf die revolutionäre Tat dar, für die man sein eigenes Leben zum Opfer bringt, und soll zugleich diese

Der Autor Gerhard Kurz, Jahrgang 1943, ist Professor i.R. für Neuere deutsche Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er studierte an der Universität Heidelberg und promovierte an der Universität Düsseldorf. 1980 wurde er auf den Lehrstuhl für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Amsterdam berufen, 1984 an die Justus-Liebig-Universität. Seine Forschungsgebiete sind vor allem die Literatur um 1800 und des 20. Jahrhunderts, Literaturtheorie und Hermeneutik. Er ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Freien Deutschen Hochstifts/Goethemuseums in Frankfurt a.M. und Ehrenpräsident der Hölderlingesellschaft.

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Einschwörung vollziehen. In einem mitternächtlichen Abendmahl vor dem „Vaterlandsaltar“ wird eine „auserwählte Schar“ in „nachtschwarzem“ Gewand in einen verschworenen, todesbereiten „heil’gen Märt‘rerorden“ der „ewgen Freiheit“ verwandelt. „Ein Herz, ein Arm, ein Blut sind wir geworden“. Diese Trias wie auch „Ein Gott, ein Vater, ein Wille“ wandelt die Forderung der französischen Revolution einer „Nation une et indivisible“ und eine religiös-politische Tradition nationalreligiös ab: Epheser 4, 5: „Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe“, Ludwig XIV.: „un roi, une loi, une foi“. Monströs wird der eigene Opfertod in die Nachfolge Christi gestellt. „Ein Christus sollst du werden“. Die Tötung der Tyrannen und der eigene Opfertod sollen die Erhebung des Volks auslösen. „Dann Volk: Die Molochpriester würge! würge!“ oder: „Gewehr und Axt, / Schlachtbeil und Sense packst, / Zwingherrn den Kopf abhackst“. Apokalyptisch wird der Freiheitskampf als ein „Weltbrand“, als „Abend aller Schlachten“ imaginiert. Wie viele Tyrannen umgebracht werden müssen, ist „gleichviel“. Religiösen und revolutionären Akt identifizierend heißt es in bezeichnender Abwandlung der französischen Trias

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„Der Freiheit eine Gasse“

liberté, égalité, fraternité „Freiheit, Gleichheit, Gottheit“. Die totalisierende Metaphorik und performative Rhetorik, die das „Große Lied“ durchzieht, wird später der Nationalsozialismus aufgreifen. Hier heißt es z.B. „ein Volk, ein Reich, ein Führer“ oder „Volk ans Gewehr“, „Volk ins Gewehr“ heißt es im „Großen Lied“. Charakteristisch für den Nationalsozialismus auch die liturgische Inszenierung von Parteitagen, die apokalyptische Rhetorik und Szenerie von Aufmärschen, die schwarze Uniform der SS.

„Guillotinenromantik“ Diese revolutionäre Bewegung in Gießen und Darmstadt war Büchner (Abb. 6) gegenwärtig. In seiner Umgebung gab es nicht wenige personelle Beziehungen zu den „Schwarzen“, z.B. in der Person Weidigs. Kurz vor Verlassen der Schule 1831 hatte er sich auch Passagen aus dem „Großen Lied“ in sein Schulheft notiert. Büchner war ein Revolutionär, aber anders als die „Schwarzen“ kein National­ revolutionär. Entscheidend für ihn war die soziale Frage, nicht die nati-

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onale. In der revolutionären Strategie der „Schwarzen“ konnte er, der revolutionäre Gewalt durchaus bejahte, wenig später nur eine naive Fehleinschätzung der Revolutionsbereitschaft des Volkes sehen. Mit ihrer deutschprotestantisch-romantischen, revolutionären Welt setzt er sich implizit in „Dantons Tod“ auseinander. In das Paris der Revolution, in die Rhetorik und Phantasmen der französischen Akteure fügt er auch Elemente der revolutionären Rhetorik und Phantasmen ein, mit denen sich die „Schwarzen“ selbst bezauberten und berauschten. Kritisch – und selbstkritisch gegen eigene, frühere Wunschbilder – blendet er beide Welten ineinander. Das Drama führt mit einer spezifischen Zitiertechnik vor, wie sich die französischen Revolutionäre an ihren heroischen „Phrasen“ in antiker Pose berauschen, wie sie darin ihre Verantwortung für die blutige terreur verdrängen, wie das hungernde Volk leer ausgeht. Hier, in Paris, die Pose einer heroischen Nachahmung der Antike, die Berufung auf die exempla, dort, bei den „Schwarzen“, analog die Pose einer heroischen Nachahmung der

´altteutschen` Heroen Hermann, Hagen, Hus, Luther, Tell, der Ritter, von „Teutoburg und Rütli“, die Berufung auf „Kreuz, Schwert und Eiche“. Unter den „Schwarzen“ verbreitet war der sagenhafte Ruf Winkelrieds aus der Schlacht bei Sempach (Abb. 8): „Der Freiheit eine Gasse“. Mit diesem Ruf opfert er sich. Diesen Ruf legt Büchner im Drama dem Souffleur Simon in den Mund, um die Posen der Revolutionäre zu entlarven. Das Drama kritisiert diese Posen als politische Romantik. Auf den Todes- und Opferrausch ist im Drama der Ausdruck „Guillotinenromantik“ gemünzt. „Zur Blutbühn`, zum Rabenstein führt unsre Bahn“, heißt es im „Großen Lied“. Der Ausdruck soll auch die Sehnsucht nach dem Vergangenen treffen, mit ihr auch ein falsches Bewusstsein, das sich über den geschichtlichen Stand betrügt und die Grenzen von Politik

Abb. 8: Schweizer Gevierthaufen in der Schlacht bei Sempach am 9. Juli 1386, Schlachtgemälde von Hans Ulrich Wegmann.

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Kurz

und Ästhetik, Rhetorik und Realität aufhebt. Zur Evokation der deutschromantischen Welt im Drama gehören auch die Fensterszenen, die Volkslieder, darunter auch „Es ist ein Schnitter, der heißt Tod“, der Vergleich Dantons mit dem „hörnernen Siegfried“. Protestantisch konnotiert ist der Name „Herrgott“. Mitgetroffen wird in der Figur Robespierres auch die asketische Tugendpose der „Schwarzen“, mitgetroffen auch die Identifizierung von Religion und Politik, die Berufung auf den Opfertod von Christus. Im Drama verstehen Robespierre und Danton ihre Handlungen als Überbietungen des Opfers Christi – weil sie andere opfern. Danton nennt Robes­ pierre einen „Blutmessias“. Hier wie dort wird die Revolution mit dem Gang des israelischen Volkes durch das Rote Meer verglichen – rot ist es, weil es rot von Blut ist, heißt es nun. Hier wie dort zählt der Tod nichts, „gleichviel“ heißt es im „Großen Lied“, „was liegt daran“ im Drama. Schließlich lässt sich die kritische Perspektive des Dramas auch auf die spezifisch narrativ-performative Rhetorik des „Großen Lieds“ beziehen. Es soll zugleich Darstellung der revolu­ tionären Handlung und Einschwörung und Vorwegnahme dieser Handlung sein. Die Konsequenzen einer solchen Setzung der revolutionären Rhetorik als Wirklichkeit werden im Drama von Mercier scharf benannt. Zu seinen Mitgefangenen in der Conciergerie sagt er: „Blickt um euch, das Alles habt ihr gesprochen, es ist eine mimische Übersetzung eurer Worte. Diese Elenden, ihre Henker und die Guillotine sind eure lebendig gewordnen Reden.“ •

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LITERATUR

Berding, H.: Von der Judenemanzipation zum Antisemitismus. Die Situation der Juden in Hessen im 19. Jahr-

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Abb. 9: Carl Philipp Fohr: Die Donau-Nixen verkünden Hagen die Zukunft, Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt a. M.

hundert, in: Spiegel der Forschung, 29. Jg., Nr. 1 (2012), S. 10-25 Brandt, H.-H.: Studentische Korporationen und politisch-sozialer Wandel – Modernisierung und Antimodernismus, in: Hardtwig, W./ Brandt, H.-H. (Hrsg), Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert, München: Beck 1993, S. 122-143 Fellrath, I.: Auf den Spuren des „Großen Liedes“ der Brüder Follen, in: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde, N.F. 54 (1996), S. 223-260 Gissel, N.: Vom Burschenturnen zur Wissenschaft der Körperkultur. Struktur und Funktion der Leibesübungen an der Universität Gießen 1816-1945, Gießen: Ferber’sche Universitätsbuchhandlung 1995, S. 45-106 Hardtwig, W.: Nationalismus und Bürgerkultur 1500-1914, Göttingen:

Vandenhoeck & Ruprecht 1994, S. 108-148 Haupt, H.: Karl Follen und die Gießener Schwarzen, Gießen: Alfred Töpelmann 1907 Kurz, G.: Dantons Tod im regionalen Horizont, in: Burdorf, D./Matuschek, S. (Hrsg.), Provinz und Metropole. Zum Verhältnis von Regionalismus und Urbanität in der Literatur, Heidelberg: Winter 2008, S. 155-169

KONTAKT Prof. Dr. Gerhard Kurz Justus-Liebig-Universität Institut für Germanistik Otto-Behaghel-Straße 10 B 35394 Gießen Gerhard.Kurz@germanistik.uni-giessen.de

Justus-Liebig-Universität Gießen


[ BÜCHNER-JAHR ]

Geburtstag von Georg Büchner Veranstaltungen im Jubiläumsjahr 2013 an der Justus-liebig-universität Gießen Aus Anlass des 200. Geburtstags von Georg Büchner (1813-1837) finden im Jahr 2013 zahlreiche Veranstaltungen statt – auch an der Universität Gießen, wo Büchner in den Jahren 1833/34 Medizin studierte. Hier die Zusammenstellung einiger Veranstaltungen an der Justus-Liebig-Universität im Jubiläumsjahr: Georg Büchner (1813–1837)

auftaktveranstaltung zum Georg Büchner Gedenkjahr 2013 Vortrag von felicitas hoppe, Büchnerpreisträgerin 2012 24. April 2013, 19 Uhr s.t., Aula im Universitätshauptgebäude Grußworte: Prof. Dr. Joybrato Mukherjee, Präsident der Justus-LiebigUniversität Gießen; Dietlind Grabe-Bolz, Oberbürgermeisterin der Stadt Gießen Der Vortrag ist gleichzeitig der Eröffnungsvortrag der Reihe „Georg Büchner – literatur/wissenschaft“ die an sechs Abenden im Sommersemester 2013 jeweils mittwochs um 19 Uhr stattfindet. Veranstalter: Der Präsident der JustusLiebig-Universität Gießen, Prof. Dr. Joachim Jacob, Hon.-Prof. Dr. Sascha Feuchert, Dr. Kai Bremer, Institut für Germanistik, in Kooperation mit dem Literarischen Zentrum Gießen e.V.

im Visier der staatsgewalt. Die universität Gießen als Zentrum von revolution und repression 1813-1848 Historische Ausstellung des Universitätsarchivs der Universität Gießen 1. November bis 13. Dezember 2013

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Öffnungszeiten: montags bis freitags 9 bis 19 Uhr, Rektoratszimmer im Universitätshauptgebäude. eröffnung: 31. Oktober 2013 Konzeption: Dr. Eva-Marie Felschow und Dr. Irene Häderle Studierende der Geschichtsdidaktik bieten Führungen für Schulklassen mit Begleitmaterialien an. Im Rahmen von zwei Projektseminaren werden ein didaktisches Konzept und das pädagogische Begleitmaterial zur Ausstellung erarbeitet.

Gesellschaft, Familie und Erziehung im 19. Jahrhundert. Die Materialien werden an der Georg-Büchner-Schule erprobt und danach den Gießener Grundschulen zur Verfügung gestellt. Zu diesem Thema findet auch eine Vorlesung im Rahmen von Justus‘ Kinderuni für Mädchen und Jungen im Alter von 8 bis 12 Jahren statt: „warum konnten Georg und luise ihr land nicht verändern?“ 28. Mai 2013, 16 Uhr c.t., Aula im Universitätshauptgebäude

Leitung: Dr. Jens Aspelmeier

„Georg und luise. Die Geschwister Büchner in ihrer Zeit“ Erarbeitung und Erprobung von Unterrichtsmaterialien Veranstalter: Professur für Didaktik der Geschichte in Zusammenarbeit mit dem Magistrat der Stadt Gießen und der Georg-Büchner-Schule Gießen. Leitung der Seminargruppe und Ansprechpartnerin: Rita Rohrbach Am Beispiel der Geschwister Georg und Luise Büchner erarbeiten Lehramtsstudierende gemeinsam mit Lehrerinnen und Lehrern der GeorgBüchner-Schule Unterrichtsmaterialien zu Themen wie Landespolitik,

lesung aus frederik hetmanns Jugendbuch „Georg B“ 13. Mai 2013, 18 Uhr, im Rahmen des Geschichtslesesommers im KiZ Veranstalter: Professur für Didaktik der Geschichte in Zusammenarbeit mit dem Literarischen Zentrum Gießen

Justus-Liebig-Universität Hauptgebäude Ludwigstraße 23 35390 Gießen KiZ Lonystraße 2 35390 Gießen

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Bleiben oder Gehen? Die „Gießener Auswanderergesellschaft“ im Vormärz: Projektseminar in der Didaktik der Geschichte Von Rita Rohrbach

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Justus-Liebig-Universität Gießen


Bleiben oder Gehen

Georg Büchner, Friedrich Ludwig Weidig, die Brüder Follen (auch Follenius genannt) und Pastor Friedrich Münch waren durch vielfältige Aktivitäten im Rahmen der Freiheitskriege und des Studiums an der „Vormärz-Universität Gießen“, der Burschenschaftsgestaltung, ihrer revolutionären Ziele und auch durch verwandtschaftliche Beziehungen verbunden. Als Akteure im Vormärz stellten sie sich die Frage, wie sie ihre freiheitlich-republikanischen Ideen umsetzen könnten: entweder hier in Deutschland oder aber durch Gründung eines eigenen Staates in Amerika. Büchner und Weidig blieben, während Paul Follen und Pfarrer Münch die „Gießener Auswanderergesellschaft“ gründeten und mit 500 Mitgliedern die Utopie in Amerika verwirklichen wollten.

I

m Sommersemester 2012 haben Studierende der Didaktik der Geschichte in einem Projektseminar zum Thema „Gießener Auswanderergesellschaft“ mit der Künstler- und Forschergruppe „Reisende SommerRepublik“ sowie dem Stadtarchiv Gießen zusammengearbeitet. Die Studierenden haben aus neuen Quellenfunden über die „Utopisten“ und aus curricularen Vorgaben für den Geschichtsunterricht Unterrichtsmaterialien für die Schulen der Region erstellt. Diese stehen 2013 parallel zu der Ausstellung „Aufbruch in die Utopie“ den Schulen in der Region und auch der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung.

Die „Gießener Auswanderergesellschaft“

„Dieser Vorsatz erwachte in uns, seit

Pfarrer Friedrich Münch, der gemeinsam mit Paul Follen die „Gießener Auswanderergesellschaft“ gründete und mit 500 Mitgliedern „ein Leben, wie es in den freien Staaten Nordamerika’s möglich ist“, führen wollte. Foto von Mitte des 19. Jahrhunderts, Fotograf unbekannt. Missouri History Museum Photograph and Print Collection. Portraits n12876.

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wir nach unserer Einsicht die Überzeugung gewonnen haben, daß uns die Verhältnisse in Teutschland weder jetzt noch für die Zukunft gestatten, die Anforderungen, welche wir als Menschen und Staatsbürger für uns und unsere Kinder an das Leben machen müssen, zu befriedigen, seit wir erkannt haben, daß nur ein Leben, wie es in den freien Staaten Nordamerika’s möglich ist, uns und unseren Kindern genügen könne.

Mit diesen Worten begründeten der Gießener Rechtsanwalt Paul Follen und Pfarrer Friedrich Münch aus Nie-

der-Gemünden den Entschluss, ihre Heimat zu verlassen. In ihrem Auswanderungsaufruf „Aufforderung und Erklärung in Betreff einer Auswanderung aus Teutschland im Großen in die nordamerikanischen Freistaaten“, publiziert im Verlag Ricker in Gießen, warben sie 1833 um gleichgesinnte Bürger aus ganz Deutschland. Was wissen wir über ihre Amerikareise? Was über die Mühen des Neubeginns in Amerika, was über ihr Scheitern oder ihre Erfolge? Versuchen wir, uns ihre Geschichte wie ein Theaterstück vorzustellen! In der Geschichte der „Gießener Auswanderergesellschaft“ treten auf: der Gießener Rechtsanwalt Paul Follen und der oberhessische Pastor Friedrich Münch aus Nieder-Gemünden.

Prolog Paul Follenius und Friedrich Münch kennen sich seit ihrer Studienzeit an der Gießener Universität, wo sie den so genannten „Gießener Schwarzen“ angehörten. Paul kämpfte, wie sein Bruder Karl und sein Freund Weidig als 14-jähriger in den Befreiungskriegen gegen Napoleon und wurde für seine Tapferkeit geehrt. Sie protestieren gegen die Fürstenwillkür und setzen sich in nationaler und christlicher Gesinnung für einen demokratisch orientierten Nationalstaat ein. Darum werden sie bespitzelt und bedroht. So verlangt der hessische Staat von Friedrich Münch 1825 bei seiner Er-

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Rohrbach

Der Butzbacher Rektor Friedrich Ludwig Weidig, Büchners Mitautor des Hessischen Landboten, kritisiert den Entschluss, Deutschland zu verlassen, als „Verrat am Vaterland“.

wollen, sondern aus politischen Motiven? Wie gelangt man – ohne Auto oder Zug – nach Bremerhaven? Münch und Follen erarbeiten eine 25-seitige Deklaration, die in ganz Deutschland gelesen wird. Sie halten Versammlungen ab und werben um „unbescholtene und fleißige Familien“ mit finanziellen Mitteln, demokratischen Gedanken und brauchbaren Berufen. Es finden sich 500 Bauern, Akademiker, Handwerker und Kaufleute mit ihren Familien zusammen, die „ein verjüngtes Teutschland“ in Amerika aufbauen und von dort aus ein Vorbild für das enttäuschende absolutistische Heimatland geben wollen. Die Männer, Frauen und Kinder, manche Familien sogar mit Gesinde, reisen 1834 zu Fuß oder mit der

Kutsche bis zur Weser, von dort sollen Flussschiffe sie bis Bremerhaven bringen, wo sie ein Segelschiff gebucht haben. Die erste Gruppe unter Paul Follen erreicht zwar ohne Zwischenfälle New Orleans, aber durch die Strapazen der Reise und durch die Cholera in der Region Mississippi verlieren sie etwa 40 Mitglieder. Die zweite Gruppe unter der Leitung von Pfarrer Münch kann die Atlantik­ reise nicht sogleich antreten, weil ihnen bei der Ankunft das gebuchte Schiff nicht zur Verfügung steht. Sie müssen fünf Wochen in der Nähe von Bremerhaven warten und werden vom Reeder auf der Weserinsel Harriersand in einem Kuhstall untergebracht. Hier zermürben das Warten, schlechte Ernährung und

Foto: Museum Butzbach

nennung zum Pastor eine besondere Loyalitätserklärung. Im Unterschied zu Büchner und Weidig lehnen Münch und Paul Follen Gewalt als Mittel der Veränderung ab. Aus Gottfried Dudens Amerikaberichten und von Karl Follen, Pauls Bruder, der wegen seiner Verfolgung nach Amerika ausgewandert war und dort als Professor an der Harvard University arbeitet, hören sie von „Amerika als Vaterland der Freiheit“. Paul und Friedrich beschließen, dort eine deutsche Musterrepublik zu gründen. Weidig, Büchners Mitstreiter, kritisiert diesen Entschluss als „Verrat am Vaterland“.

Erster Akt: Die Auswanderung Wie erreicht man im Jahr 1833, also ohne Internet oder ein breites Nachrichtenangebot, Gleichgesinnte, die nicht aus Armut ihr Land verlassen

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Bleiben oder Gehen

Veranstaltet vom Magistrat der Stadt Gießen mit Stadtarchiv und Kulturamt und der Reisenden Sommer-Republik. Projektpartner: Justus-Liebig-Universität Gießen, German-American Heritage Foundation, Washington DC; Heinrich Böll Stiftung Bremen, Kulturkirche St. Stephani Bremen u.a.

Aufbruch in die Utopie Ausstellungsreise auf den Spuren einer deutschen Republik in den USA

Die Ausstellung

Pfarrer Friedrich Münch wurde in Amerika Freidenker, statt Predigten hielt er dann Vorträge, u.a. auch als Mitglied des US-Senats.

Die Ausstellung und das Begleitbuch AUFBRUCH IN DIE UTOPIE sind weltweit die erste ausführliche Darstellung der Gießener Auswanderergesellschaft – einem einzigartigen und inspirierenden Kapitel in der deutschen Demokratie­ geschichte, das seinen Ursprung in Oberhessen hat. Reisende Sommer-Republik

Missouri History Museum

das feuchte Klima auf den Flusswiesen die Ausreisewilligen. Besonders die kleinen unter den Kindern erkranken. Immer wieder gelingt es Friedrich Münch, die Gruppe mit seinen Gottesdiensten zu ermutigen, bis das Schiff endlich bereit steht. In Amerika geht dann die anstrengende Reise mit Pferdewagen und Flussdampfern weiter ins Missouri-Valley. Als sich die zwei Gruppen endlich wieder treffen, leiden die Auswanderer

Die Reisende Sommer-Republik ist ein freier Zusammenschluss von Künstlern, Kulturschaffenden und Wissenschaftlern u.a. aus Hessen, Bremen, Berlin und Missouri. Sie forscht über eine utopische Idee und ihre Brücken in die Gegenwart: die wahre Geschichte der Gießener Auswanderergesellschaft, die 1834 in den USA einen deutschen demokratischen Staat errichten wollte. www.sommer-republik.de

Dorris Keeven-Franke, Archivarin der „Saint Charles County Historical Society“, und Dr. Ludwig Brake vor dem Grabstein von Paul Follenius, einem der beiden Führer der „Gießener Auswanderergesellschaft“, der 1844 auf seiner Farm am Lake Creek in Warren County, Missouri, verstarb. Der Grabstein befindet sich auf Follenius‘ ehemaligem Farmgelände. Foto: Peter Roloff

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Rohrbach

Projekte der Geschichtsdidaktik in einer Auswahl • Zeitreise im Botanischen Garten: Studierende entwickeln Projektstationen für den Botanischen Garten. Schulklassen aus der Region besuchen an einem Präsentationstag diese Stationen und arbeiten mit Hilfe der Studierenden zu Themen wie ‚Geschichte der Pflanzen und Ernährung‘. • Geschichtslesesommer ­(GELESO): Jeweils im Sommersemester arbeiten Lehrende und Studierende gemeinsam im so genannten GELESO. Die Studierenden entwickeln didaktische Konzepte zur Einbindung von Jugendbüchern mit historischen Themen in den Geschichtsunterricht. Zu Lesungen treffen sich die Studierenden mit der Öffentlichkeit und lernen u.a. Jugendbuchautoren wie Pressler, Kordon, Flacke, Beyerlein oder Boie mit ihren Arbeitsweisen kennen. • Erarbeitung von Unterrichtsmaterialien zur Region: Geschichte wird für Grund- und Hauptschulklassen besonders dann anschaulich, wenn sie mit Regionalgeschichte verbunden ist. Studierende entwickeln didaktische Konzepte mit Unterrichtsmaterialien zu Themen wie Gießen, Justus Liebig, Bildungsgeschichte oder National­ sozialismus in der Region. • Erarbeitung von museumspädagogischen Konzepten oder Ausstellungen an Beispielen: Studierende erarbeiten das didaktische Potenzial von Ausstellungen für Schulklassen, zum Beispiel für ein mögliches Gießener Criminalium oder für eine Ausstellung zu einer Archivrecherche.

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Dorris Keeven-Franke, Archivarin der „Saint Charles County Historical Society“, und Dr. Ludwig Brake hier bei der Recherche in der „Missouri Historical Society“ in Saint Louis. Foto: Folker Winkelmann

unter Trauer, Erschöpfung, Krankheiten und Geldnot. Die „Gießener Auswanderergesellschaft“ löst sich auf.

Zweiter Akt: Siedeln, Versuch der Utopie, Deutschenfeindlichkeit Die Deutschen bauen sich im Missouri Valley Hütten und betreiben Landwirtschaft, sie bieten ihre Arbeitskraft an, gründen Handwerksbetriebe und Schulen. Die deutsche Sprache soll Amtssprache werden, also die englische und französische Kultur und Sprache verdrängen. Aber: Die Etablierung einer „teutschen Colonie“ gelingt nicht. Paul Follen stirbt 1844 krank und erfolglos. Friedrich Münchs Arbeit allerdings hat Spuren hinterlassen. Seine Schriften und Vorträge, u.a. auf einer Wahlreise in New York für die Republikanische Partei vor 10.000 Menschen, bewirken veränderte Vorstellungen von Freiheit und

Gleichheit, besonders von der Freiheit von Sklaverei. Münch ist Freidenker geworden, er hält keine Predigten mehr, sondern Vorträge, u.a. auch als Mitglied des Senats. Den Traum von einer deutschen Musterrepublik muss Münch aber aufgeben, denn die Einheimischen fühlen sich bevormundet und bedrängt, sie reagieren sogar deutschenfeindlich.

Dritter und aktueller Akt: Ab 2005 „reisen“ wieder „Republikaner“ in die USA Historiker, Archivare, Fotografen, Filmemacher und andere Neugierige mehr gründen die „Reisende Sommer-Republik“ und machen sich ab 2005 auf die Suche nach den Spuren der „Gießener Auswanderergesellschaft“. Sie möchten viel mehr als nur Quellen finden, sie möchten Erinnerungskultur gestalten, indem sie nachvollziehen, verstehen und dokumentieren. Sie verbringen, wie die Münch-Gruppe, einige Tage auf der Weserinsel Harriersand und reisen in die Missouri-Region, wo sie Nachfahren der Auswanderer und verlassene Farmen oder alte Weingärten ausfindig machen. In ihrem ‚Experiment Geschichte‘ forschen sie auf Dachböden in Hessen oder in Archiven in der

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Bleiben oder Gehen

Handschrift Friedrich Münch: „Gedanken einsamer Stunden“; Manuskript (3364) Foto: Folker Winkelmann

Region Missouri in den USA mit dem Ziel, bürgerschaftliches Engagement zu dokumentieren und Erfahrungen der Vergangenheit für gegenwärtige gesellschaftliche Schlüsselprobleme nutzbar zu machen. Mit dabei: aus Gießen Dr. Ludwig Brake und Oliver Behnecke, aus anderen Orten sind es u.a. Peter Roloff, Rolf Schmidt, Folker Winkelmann und Dorris KeevenFranke. Zum Büchner-Jahr stellen sie die Ergebnisse ihrer Spurensuche in Zusammenarbeit mit dem Kulturamt und dem Archiv der Stadt Gießen aus. Den Studierenden der Didaktik der Geschichte an der Universität Gießen überlassen sie Quellen, aus denen Unterrichtsmaterialien erstellt werden, damit sich Schülerinnen und Schüler auf die Ausstellung vorbereiten oder diese nachbereiten können.

einer Studienreform, die auf die Vermittlung von Lernstrategien und die Teilhabe an der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens abzielt. Für Lehrende und Studierende ist die Arbeit in einem Projektseminar ein Spagat zwischen Forschung, Lehre/Lernen und praktischen Erfahrungen sowie überprüfbaren Ergebnissen. Das Pro-

jekt, das auch als „vorausgeworfenes Wagnis“ bezeichnet wird, geht von einer aktuellen gesellschaftlichen Frage- oder Aufgabenstellung aus, die u.a. mit Kooperationspartnern in eine zwar betreute, aber dennoch relativ selbstständige Erarbeitungsphase der Teilnehmenden mündet und mit einer Präsentation abgeschlossen wird, in

Die Autorin

Das Thema in der Ausbildung von Geschichtslehrern Die Frage, ob man aus politischen Gründen ein Land verlassen oder aber in der Heimat die Veränderungen mitgestalten sollte, ist von überzeitlicher Bedeutung und darum für das Lernen und Lehren zukünftiger Lehrerinnen und Lehrer von großer Relevanz. Dies trifft sicherlich auch für unsere multiethnischen Schülergruppen zu. Als Teil der modularisierten Lehramtsausbildung wurde am Historischen Institut das Modul Pragmatik mit Projekt- und Exkursionsseminaren entwickelt. Das Projektseminar ist integratives Element in der Lehre und wird von der Didaktik konzeptionell ausgerichtet. Die Didaktik reagierte damit auf die Unesco-Forderung nach

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Rita Rohrbach, Jahrgang 1951, ist Pädagogische Mitarbeiterin in der Didaktik der Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sie hat 19 Jahre lang als Lehrerin an verschiedenen Schulen vom Primar- bis Sekundarstufenbereich Erfahrungen im historischen Lernen und Lehren gesammelt. Seit 1993 arbeitet sie am Historischen Institut/Didaktik der Geschichte in der Lehramtsausbildung. Sie ist Autorin von Fachbüchern und Koautorin von Schulbüchern. Zuletzt erschien von ihr das Buch „Kinder und Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft“ in der Reihe „Wie Kinder lernen/ Was Erwachsene wissen sollten“, Seelze/Velber 2009. Mit Studierenden hat sie Schülerhefte zur Geschichte Gießens erarbeitet, die an den Schulen in der Region verteilt wurden und bei der Tourist-Info in Gießen erhältlich sind. Rita Rohrbach ist Gutachterin an Institutionen, die sich mit der Planung und Ausführung von Sach- und Geschichtsunterricht befassen.

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Rohrbach

Unterrichtsblatt aus der Seminararbeit, erarbeitet von Anastasia Esaulov, Studierende L2:

Ein Ziel, aber verschiedene Wege Die Aktivisten, die in Gießen und Umgebung einen freien und demokratischen Nationalstaat anstrebten, hatten ähnliche Forderungen. Sie wollten nach der christlichen Lehre ein menschenwürdiges Leben für das Volk erkämpfen. Ihre Wege dazu waren aber unterschiedlich. Dieses Lied der „Gießener Schwarzen“ gilt für manche als Vorläufer des „Hessischen Landboten“:

Ein Lied der „Gießener Auswanderergesellschaft“. Hier die erste und dritte Strophe:

„Brüder, so kann‘s nicht gehn, Laßt uns zusammenstehn, Duldet‘s nicht mehr! Freiheit, dein Baum fault ab, Jeder am Bettelstab Beißt bald ins Hungergrab, Volk ins Gewehr!

„Auf in muthigem Vertrauen, Fest und brüderlich vereint! Vorwärts, vorwärts laßt uns schauen, Am Missouri Hütten bauen. Wo der Freiheit Sonne scheint.

Brüder im Bauernkleid, Reicht Euch die Hand! Allen ruft Teutschlands Not, Allen des Herrn Gebot: Schlagt Eure Plager tot, Rettet das Land!“

Ihr vom alten Vaterlande, Seht, wir gehen euch voran. Oh, zerbrecht auch eure Bande, Kühn entreißet euch der Schande – Folgt, oh folget unsre Bahn“

Aufgaben in Partnerarbeit: 1. Erstellt eine Tabelle und schreibt in Stichpunkten die wichtigsten Aussagen der beiden Lieder in euer Heft. 2. Beurteilt die beiden Wege. Nennt eine Alternative. 3. Die beiden Lieder wurden immer wieder gesungen. Schreibt auf, welche Emotionen Musik über den Text hinaus bewirken kann, besonders, wenn die Lieder wiederholend gesungen werden. Alternative zu Aufgabe 3 in Alleinarbeit: Stell dir vor, deine Familie möchte ein neues Leben in einem anderen Land beginnen. Schreibe dazu deine Gefühle, Wünsche u.a.m. in Liedform auf.

Seminargruppe und „Reisende Sommer-Republik“ (links) singen ein Auswanderungslied. Foto: Folker Winkelmann

Die Seminargruppe (rechts) im Stadtarchiv Gießen. Foto: Rita Rohrbach

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Bleiben oder Gehen

Dr. Ludwig Brake (2. von links), Leiter des Stadtarchivs Gießen, und der Berliner Filmemacher Peter Roloff (links, mit Kamera) recherchieren für die Ausstellung „Aufbruch in die Utopie“ am Kindheitsort der revolu­ tionären Follen-Brüder, dem ehemaligen Forstamt ihres Großvaters in Romrod. Hier im Gespräch mit dem Hauseigentümer und dem Hausmeister (rechts). Foto: Folker Winkelmann

diesem Fall von Unterrichtsmaterialien für Schulen in und um Gießen (Beispiele zur Projektarbeit des Instituts siehe Seite 40).

ders, weil die Themen Migration und Integration zu den „großen Fragen der Zeit“ gehören. Die Studierenden haben in „angewandter Geschichte“ das

„Die Projektseminare sind die effektivsten Seminare. Es gibt heftige Diskussionen, es gibt Rückschläge und auf einmal eine Lösung von Problemen, die einen weiterbringen. Die Studierenden sind immer sehr motiviert, daraus entsteht dann auch die Lebendigkeit.

Die Lehrkonzeption für die Projektseminare der Didaktik der Geschichte eröffnet den Studierenden dabei das Arbeiten an außeruniversitären Lernorten, die Erprobung von fachwissenschaftlichen Medien und Methoden, wie zum Beispiel der Spurensuche oder der Historischen Methode, die Zusammenarbeit mit Experten und Schulen, die Erstellung von Materialien nach fachdidaktischen Gesichtspunkten u.a.m. In diesem Zusammenhang war die Zusammenarbeit mit Experten wie Dr. Ludwig Brake, dem Leiter des Gießener Stadtarchivs, und den Künstlern und Historikern der Gruppe „Reisende Sommer-Republik“ ein Glücksfall für die Seminararbeit. Sowohl methodisch als auch inhaltlich konnte sehr konkret und zukunftsbezogen gearbeitet werden, letzteres beson-

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Recherchieren gelernt, zum Beispiel im Stadtarchiv Gießen, Quellenkritik und die Verarbeitung von Sach- und Bildquellen für den schulischen Gebrauch in einer Didaktischen Analyse, sie formulierten dafür Kompetenzund Lernzielbestimmungen sowie differenzierende Aufgaben für Sekundarstufenklassen. Ein Beispiel für ein ausgearbeitetes Unterrichtsblatt aus dem Projektseminar zur „Gießener Auswanderergesellschaft“, findet sich auf der Seite links. •

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Mehring, Frank: Karl/Charles Follen: Deutsch-Amerikanischer Freiheitskämpfer, Gießen 2004. Münch, Friedrich: Gesammelte Schriften, St. Louis 1902. Schmidt, Rolf: Warten auf die Flut. Ein historischer Harriersand-Roman, Oldenburg 2008. Schmidt, Rolf: Die Gießener Auswanderergesellschaft. Vom Scheitern einer deutschen Republik, in: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins Bd. 95, Gießen 2010, S. 77-92

KONTAKT Rita Rohrbach Justus-Liebig-Universität Didaktik der Geschichte Otto-Behaghel-Straße 10C 35394 Gießen Telefon: 0641 99-28311 Rita.Rohrbach@geschichte.uni-giessen.de

LITERATUR

Assion, Peter: Von Hessen in die Welt. Eine Sozial- und Kulturgeschichte der hessischen Amerikaauswanderung mit Text- und Bilddokumenten, Frankfurt/M 1987.

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Auf nach Amerika! Die Erinnerungen des „roten Becker“ in einer amerikanischen Zeitschrift Von Rolf Haaser

Die im amerikanischen Exil verfassten Erinnerungstexte des Büchner-Freundes August Becker sind als Hintergrundinformationen für die Entstehung des „Hessischen Landboten“ nur wenig bekannt. Nachfolgende Veröffentlichung aus den digitalen Beständen des Oberhessischen Literaturarchivs möchte auf die Bedeutung Beckers als Chronist der Gießener Ereignisse zur Büchner-Zeit aufmerksam machen.

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Auf nach Amerika

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ie Erinnerungen von August Becker (1812-1871) werfen ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Spannungen innerhalb der oppositionellen Bewegung in Oberhessen, die durch Paul Follens Gründung einer „Auswanderungsgesellschaft“ um die Jahreswende 1833/34 hervorgerufen wurden. Die geschilderten Ereignisse legen die Vermutung nahe, dass die Abfassung des Hessischen Landboten nicht nur den äußeren Zweck der Agitation der oberhessischen Bauern verfolgte, sondern – zumindest aus der Sicht des Butzbacher Rektors Ludwig Weidig – den Sinn hatte, den politischen Oppositionskräften im Lande, nach dem Debakel des „Frankfurter Wachensturms“ und der danach spürbaren Depression in weiten Teilen der Bewegung, neuen Schwung zu verleihen. Mit Blick auf seine hier deutlich werdende Frontstellung gegen Paul Follen in Sachen Auswanderung lässt sich auch leicht nachvollziehen, warum Weidig später bei seiner drohenden Verhaftung nicht von der Möglichkeit Gebrauch machen wollte, sich selbst ins Exil in die Schweiz zu begeben. Der Verfasser der Erinnerungen, August Becker (1812-1871) – wegen der Farbe seines Haarschopfes mit dem Beinamen „der rote Becker“ versehen – war an der Vorbereitung und Verbreitung des Hessischen Landboten beteiligt und 1834 Mitglied der von Georg Büchner gegründeten „Gesellschaft für Menschenrechte“. Er emigrierte 1853 über die Schweiz in die USA, wo er sich u.a. auf die Spuren der ehemaligen Gießener Gesinnungs-

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August Becker (1812-1871), wegen der Farbe seines Haarschopfes „der rote Becker“ genannt.

genossen machte und über diese in verschiedenen amerikanischen Zeitschriften Erinnerungstexte veröffentlichte. Nebenbei ist der Text auch stadtgeschichtlich von Interesse, weil er einen wichtigen Hinweis darauf gibt, wie die Gießener Stadtbevölkerung sich im Herbst 1830 auf die aus dem Vogelsberg anrückenden aufständischen Bauern vorbereitete. Auf das klägliche Scheitern des Aufstandes bezieht sich an einer Stelle auch der Hessische Landbote. Im Folgenden ist der Text von August Becker, der 1869 in Cincinnati in der Zeitschrift „Der deutsche Pionier“ publiziert wurde, dokumentiert:

Der Autor Rolf Haaser, Jahrgang 1950, Studium der Germanistik und Anglistik in Gießen (1971–1977), Studienrat (1980), 1996 Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit zum Thema „Spätaufklärung und Gegenaufklärung: Bedingungen und Auswirkungen der religiösen, politischen und ästhetischen Streitkultur in Gießen zwischen 1770 und 1830“ an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Zwischen 1980 und 1999 Mitarbeit bei mehreren Forschungsprojekten des Instituts für Germanistik der Universität Gießen unter der Leitung von Prof. Dr. Gerhard Kurz und Prof. Dr. Günter Oesterle; 2010: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik, Vergleichende Literaturund Kulturwissenschaft der Universität Bonn im Rahmen des DFGForschungsprojekts „Von der ‚Aufklärung’ zur ‚Unterhaltung’: Literarische und mediale Transformationen in Deutschland zwischen 1780 und 1840“. Dr. Haaser betreut das Oberhessische Literaturarchiv an der Universität Gießen.

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[August Becker:] Sagen-Geschichte einer deutschen Auswanderungs-Gesellschaft. In: Der deutsche Pionier, Cincinnati, 1 (1869), S. 20-24.

S. 20  „In der ersten Hälfte des Jahres 1833, nicht lange nach Auflösung der großen, für die politische Umgestaltung des Vaterlands über ganz Deutschland verbreiteten Verschwörung, welche in dem sogen. Frankfurter Attentat zu einem vorzeitigen und fast kläglichen Ausbruch gekommen war, erschien im Frankfurter Journal und der Augsburger allgemeinen Zeitung ein motivirter Aufruf für Bildung einer Auswanderungs-Gesellschaft nach Amerika. Die politischen Zustände Deutschlands, hieß es in demselben ungefähr u. A., seien dermalen so trost- und hoffnungslos, daß es sich wohl mit der Ehre selbst des ausdauernsten Patrioten vertrage, denselben den Rücken zu kehren und sein und seiner Kinder Schicksal abzutrennen von dem des unglücklichen deutschen Volks. Der Aufruf schloß mit einer Aufforderung an Alle, welche gesonnen seien, sich in Gemeinschaft mit dem Unterzeichner eine neue deutsche Heimath in Amerika zu gründen, an einem gewissen Tag in einem Gasthof in Friedberg (zwischen Gießen und Frankfurt) zusammenzukommen, um dort das Nähere zu berathen. Zu verwundern war nur, daß die Censur, welche damals schärfer als vorher den Rothstift in Deutschland führte, das Alles S. 21  hatte passiren lassen, und daß eine hochlöbliche Polizei den Verfasser des Aufrufes nicht den Gerichten überwies, denn unterzeichnet war das Schriftstück von Paul Follenius, HofgerichtsAdvokat und Rechtsanwalt zu Gießen. Gab es je einen Mann, der das Zeug zur Rolle eines Führers solcher Auswanderungs- und Colonisationsgesellschaften zu haben schien, so war es gerade dieser Paul Follenius. Er war der Onkel Carl Vogts, des späteren sogen. Reichsvogts und Naturforschers und der jüngste Bruder von Carl und August Follen, welche beide, in die sogen. demagogischen Umtriebe der fünfzehner und zwanziger Jahre verwickelt, nach dem Ausland geflüchtet waren. Carl, früher Professor in Jena, der Verfasser des sogen. hohen Liedes und Veranstalter des Wartburg-Festes, war zu Anfang der 20er Jahre mit Empfehlungsschreiben Lafayettes versehen, nach Amerika gekommen und lebte damals als hochgeachteter Professor

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der Religionsphilosophie in Cambridge, Massachusetts. Der wissenschaftliche Sinn und Geist, durch welchen sich die Gebildeten von Massachusetts vor denen anderer Staaten noch heut auszeichnen, ist besonders durch ihn in‘s Leben gerufen worden, und sein tadelloser Charakter und Wandel hatten ihn dabei in ein so großes über die Grenzen jenes Staates hinausgehendes Ansehen versetzt, daß ihn, so versicherte mich einmal einer seiner Schüler, Namens Hydekooper, den ich in Genf kennen lernte – seine neuenglischen Verehrer sicherlich als Präsidentschafts-Candidat aufgestellt haben würden, hätte sie das constitutionelle Hinderniß seiner ausländischen Geburt nicht daran gehindert. Im Jahr 1844 hatte er seiner Schwester Louise, der Gattin des Professors W. Vogt, seinen Besuch angemeldet, er verbrannte aber mit dem Dampfer Lexington auf der Fahrt nach New-York, von wo er sich eben nach Europa einschiffen wollte. Er hat eine Wittwe, die seine zahlreichen Werke herausgegeben hat und einen wackern Sohn hinterlassen, der im letzten Kriege als Divisionsarzt fungirte. August Follen, der deutsche Kaiser genannt, ebenfalls poetisch hochbegabt, lebte zur Zeit, von der hier die Rede ist, in Zürich – als reicher Privatmann und Mäcen angehender Dichter (Herweg, Freiligrath, Keller), – und starb erst Ende der 50er Jahre auf einer alten romantisch restaurirten Burg im Thurgau, nachdem er seinen Theil zur freiheitlichen Regeneration der Schweiz beigetragen hatte. Paul, der jüngste, war etwas anders geartet als seine älteren, etwas deutsch thümelnden Brüder. Er war mehr Verstandsmensch. Er wollte nichts wissen von der altdeutschen Wahlkaiser-Romantik, welcher seine Brüder gehuldigt hatten. Auch war er nie dahin zu bewegen gewesen, seinen lateinisch klingenden Namen Follenius in Follen umzuwandeln, wie seine Brüder gethan hatten. Er war ein Republikaner, wie der alte Follenius in der Jugend gewesen war. Paul war ein Mann von einer unbändigen Energie und Willenskraft. Als seine Brüder in 1815 in einem Bataillon freiwilliger Jäger gegen die Franzosen auszogen, lief Paul, damals noch nicht 15 Jahre alt, seinem Vater davon und zog als Gemeiner eines hessi-

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schen Infanterie-Regiments mit in den Krieg. Vor Lyon verdiente er sich durch ein von ihm verübtes Bravourstück einen österreichischen Orden, verkaufte denselben aber sobald das Regiment in die Stadt eingerückt war, an einen Trödler, um sein Taschengeld aufzubessern. Er diente seine Zeit aus im Regiment und brachte es darin S. 22  bis zum Unteroffizier. Dann erst studirte er die Rechtswissenschaften. In 1830, zur Zeit des Vogelsberger Bauernaufstandes, bemächtigte er sich fast mit Gewalt des Oberbefehls über die gegen die Bauern errichtete Bürgerwehr von Gießen – in der Absicht, wie er mir später sagte, mit derselben bei der ersten Gelegenheit zu den Aufständischen überzugehen. Der Ausgang der 1833er Bewegung, zu deren Leitern er gehörte, stimmte seine Hoffnungen auf ein baldiges Besserwerden in Deutschland auf‘s Tiefste herunter. Er hatte nach derselben noch einmal seine politischen Freunde in Kurhessen besucht, um die Stimmung der Bewohner jenes Landes, auf die er so große Stücke hielt, zu erkunden. Der Bescheid, den er dort erhielt muß ein wenig tröstlicher gewesen sein. Diese Hessen, sagte er mir nach seiner Rückkehr, werden nichts thun – und wenn die nichts tun, thun die andern erst recht nichts. Kurz darauf erschien sein Aufruf. Derselbe fand Anklang bei vielen politisch Unzufriedenen, aber bei weitem nicht bei allen. Der Rector Weidig in Butzbach z. B. sah in dem Auswanderungsproject eine Art Verrath am Vaterland und rückte dem Follen deßhalb sofort auf die Bude. Es soll zu den heftigsten Auftritten zwischen beiden gekommen sein. Aber Follenius war nicht der Mann, sich von einem einmal gefaßten Vorsatz durch Vorstellungen, Vorwürfe oder Drohungen abbringen

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zu lassen. Er war ents c hlo s s e n, seine gesicherte und behäbige Existenz (er erfreute sich in Gießen eines schönen Hauses mit Garten vor den Thoren der Stadt und einer ausgedehnten und einträglichen advokatischen Kundschaft) an sein Project auf‘s Spiel zu setzen und agitirte nur um so eifriger dafür. Die erste Versammlung in Friedberg war gut besucht. Friedrich Münch (Far West) ein Schwager Follen‘s, damals Pfarrer in Obergemünd und der Bruder desselben Georg, Pfarrer in Homberg an der Ohm – auch der Candidat der Theologie, August Kröll, und gar viele andern wackre Männer aus andern Theilen Deutschlands (Coburger, Altenburger und Rheinpreußen) hatten sich zu derselben eingefunden. Der ersten Versammlung folgten andere. Es wurde eine Gesellschaftskasse gegründet, es wurden Agenten erwählt, das westliche Land der Ver. Staaten auszukundschaften und eine geeignete Heimstätte für die europamüden freien Männer aus Deutschlands Gauen auszusuchen. Der Apotheker Müller aus Homburg an der Höhe und der Pfarrer Schmidt aus Büdingen, welche für diese Mission ausersehen worden waren, machten sich sofort über NewOrleans nach St. Louis auf den Weg nach Arkansas, wo sich der Pfarrer Klingelhöfer niedergelassen hatte, aber die Berichte, welche sie von dort einsendeten, lauteten keineswegs sehr ermuthigend. Das rohe Backwood-Leben welches sie dort und in Missouri gesehen, hatte ihnen alle Lust zum Auswandern benommen

Gemälde von Pfarrer Friedrich Münch, der gemeinsam mit Paul Follenius die Auswanderer betreute. Missouri History ­Museum

und als sie nach einigen Monaten wieder zurück kehrten, erklärten sie vor der Versammlung, daß sie um keinen Preis dort „abgemalt“ sein möchten. Diese Erklärung schreckte Viele der Auswanderungslustigen zurück – nicht aber Alle – am wenigsten den Follenius. Es blieben noch zwei volle Schiffsladungen deutscher Männer und Frauen übrig, die sich durch die Beschreibung des Klingelhöfer‘schen Blockhauses in Arkansas und seiner mangelnden Bequemlichkeiten und der dort so häufig vorkommenden Morde, Todtschläge und Lynchgerichte nicht abhalten ließen, ihr Glück in Amerika und gerade in Arkansas unter Kehlabschneidern und Pferdedieben versuchen zu wollen. Arkansas hatte damals schon um Aufnahme in die S. 23  Union als Staat angeklopft und man glaubte, diese Zustände würden sich ändern, sobald eine Staatsregierung daselbst eingerichtet sei. „Auf nach Arkansas!“ war daher das Feldgeschrei. Gerade zur Zeit als es erhoben wurde, besuchte ich einmal Paul Follenius. „Sie kommen mir gerade recht“, sagte er, „Sie müssen mit als Lehrer der deutschen Colonie in Arkansas.“ Ich erhob Einwendungen – aber er verstand sie zu beseitigen. Geld, antwortete er, brauche ich keins, da ich in Diensten der Colonie stehen und diese die Reisekosten bestreiten werde. Ich nahm Rücksprache mit meinen Angehörigen. Nach einigen Tagen schon

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Haaser

Die „Reisende Sommer-Republik“, ein Zusammenschluss von Künstlern, Kulturschaffenden und Wissenschaftlern, begab sich bereits 2006 auf die Spuren der „Gießener Auswanderergesellschaft“. Foto: Folker Winkelmann

trug mich Follenius in die EmigrantenListe ein – und auch ich schwärmte von da an für Amerika. Um diese Zeit erhielt ich eines Morgens einen Zettel von der Hand des Rectors Weidig in Butzbach, worin mir dieser schrieb, daß er mich in einer wichtigen Angelegenheit „wo möglich heute noch“ sprechen müsse und daß ich mich sofort auf den Weg nach Butzbach begeben möge. Der Wunsch eines so wackern Mannes war mir natürlich Befehl. Ehe ich ging, besuchte ich den Follenius. „Wenn Sie nach Butzbach gehen“, sagte er, „können Sie dem Sarracin die amerikanischen Papiere da mitnehmen, aber lassen Sie sich von dem Weidig nicht herum schwatzen.“ Und damit rollte er einige Papiere zusammen, Karten von ausgelegten Städten, wie man sie hier bei den Landagenten hängen sieht und Schreibereien, wahrscheinlich Briefe des Klingelhöfer. Ich nahm die Rolle unter den Arm und begab mich direct zu Weidig. „Sie wollen nach Amerika“, hub er an, nachdem er mich von oben bis unten gemessen – und hielt dann eine Predigt an mich, die mich so vollständig zermalmte, daß ich dastand, ich weiß selbst nicht wie und nichts

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mehr zu sagen wußte. „O, pfui!“ rief er, „sein Vaterland zu verlassen, ehe man noch Pulver dafür gerochen – die Mutter zu verlassen, die uns geboren und gesäugt hat,“ etc. Kurz ich war vernichtet – und die Geschichte endete damit, daß ich dem Rector in die Hand gelobte, nicht nach Amerika auszuwandern! „Was haben Sie da unterm Arm?“ fragte mich Weidig, als er mich so weit gebracht hatte. „Es sind amerikanische Papiere,“ antwortete ich kleinlaut, „die ich dem Sarracin bringen soll!“ „So, so“, sagte er höhnisch, „amerikanische Papiere – vom Freund Verräther Follenius. Geben Sie doch her; die will ich selber besorgen.“ Und damit nahm er die Rolle unter meinem Arm hervor, öffnete die Küchenthüre und warf die ganze Herrlichkeit, ehe ich es mich versah, in‘s Heerdfeuer. So kam es, daß ich in 1833 nicht mit den Andern auswanderte nach Amerika und daher heute, laut Statuten, noch nicht zu den Pionieren gehöre. Nach Gießen zu Follenius zurückzukehren, durfte ich nicht wagen. Er würde mir eine noch fürchterlichere

Predigt als Weidig gehalten haben – er würde mich auf‘s Tiefste beschämt haben wegen meiner Schwäche und Unbeständigkeit, er würde mich wegen des Verlustes seiner Papiere gewürgt haben. Weidig mochte dies einsehen, und gab mir den Rath, mich nach meinen Verwandten im Hinterland zu begeben und dort zu verweilen, bis der Unhold Follenius und die von ihm Verführten abgezogen seien. Diesen Rath zu befolgen, hatte ich um so mehr Ursache, als ich schon damals, obgleich auf freiem Fuße, in die politische Untersuchung verwickelt war, welche später meine Verhaftung zur Folge hatte. Mitten im Januar, S. 24  fast bei Frühlingswetter, wanderte ich zu Fuß nach Wallau bei Biedenkopf und von dort zu andern Verwandten – über den Westerwald nach Montabaur im Nassauischen und fühlte mich von einer beschämenden Angst befreit, als ich in der Zeitung las, daß der erste Transport der Deutschen Auswanderungs-Gesellschaft am 2. Febr. 1834 von Gießen nach den Ver. Staaten abgegangen sei.“ •

KONTAKT Dr. Rolf Haaser Am Brühl 13 77776 Bad Rippoldsau-Schapbach rolf.haaser@uni-giessen.de

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[ Kurz berichtet ]

Das „Mathematikum“ wird 10: herzlichen Glückwunsch! Der „Mathemacher des Monats November 2012“ ist Prof. Dr. Albrecht Beutelspacher

Das Mathematikum wird 10. Dies nahm die Deutsche Mathematikervereinigung (DMV) zum Anlass, seinen „Erfinder und Direktor“ Albrecht Beutelspacher zum „Mathemacher des Monats November 2012“ zu ernennen. Das Mathematikum in Gießen, das erste Mitmachmuseum für Mathematik in Deutschland, ist mit diesem Themenschwerpunkt heute noch einmalig. Was mit originellen Seminararbeiten und dann als Wanderausstellung unter dem Motto „Mathematik zum Anfassen“ begann, ist heute ein Science Center mit rund 150.000 Besuchern pro Jahr. Insgesamt waren schon über 1,4 Millionen Gäste im Gießener Mathematikum. Albrecht Beutelspacher ist seit 1988 Professor für Geometrie und Diskrete Mathematik an der Justus-Liebig-Universität Gießen und präsentiert sein Fach gerne auch einer breiten Öffentlichkeit. Er ist Autor von Fachliteratur ebenso wie von populärwissenschaftlichen Büchern, Hörfunksendungen und anschaulichen Kolumnen zur Mathematik und wurde schon mehrfach ausgezeichnet. So erhielt er im Jahr 2000 als erster

Prof. Dr. Albrecht Beutelspacher, der „Mathemacher des Monats November 2012“ im Foto: Franz Möller Mathematikum. Preisträger den Communicator-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft für seine „herausragenden Leistungen in der Vermittlung seiner Wissenschaft in die Öffentlichkeit“. Für seine erfolgreichen Aktivitäten auf dem Gebiet der Wissenschaftskommunikation für Mathematik zeichneten jetzt die Kollegen Prof. Beutelspacher mit dem Titel „Mathemacher des Monats“ aus.

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Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012

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Was war und was wird 400 Jahre Universitätsbibliothek Gießen Von Claudia Martin-Konle

Abb. 1: Ein Blick hoch und über drei Stockwerke hinaus: Die Eingangsfassade der Universitätsbibliothek Gießen, die seit 1983 im Philosophikum I angesiedelt ist. Foto: Franz E. Moeller

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Was war und was wird

Im Jahr 1607 gründete Landgraf Ludwig V. von Hessen-Darmstadt die Universität Gießen als neue Landesuniversität. Fünf Jahre später kaufte er 1000 Bücher in Straßburg und legte damit den Grundstock für die Universitätsbibliothek. Vor 400 Jahren begann also die Geschichte der UB Gießen: Grund genug für einen Rück- und einen Ausblick.

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as Buch und sein Haus – das ist im Jubiläumsjahr einer Bibliothek ein nahe liegender Betrachtungsgegenstand. Der Blick zurück zeigt Traditionsreiches, über Jahrhunderte Gewachsenes und plötzlich Verlorenes. Wechselfälle, Zäsur, Wiederaufbau und Kontinuität. Der Blick nach vorn macht nur spekulativ den Horizont aus: Brauchen wir noch Regale, braucht der universitäre Wissensspeicher noch einen Ort? Das Wissen um die digitale Transformation, das Wissen, dass nicht mehr der physische Bestand einer Bibliothek ihre Nützlichkeit bestimmt, erzwingt Fragen nach dem Selbstverständnis und einer Standortbestimmung.

1612: 1000 Bände als Grundstock Der Zugang von etwa 1000 Bänden, die Landgraf Ludwig V. im Jahr 1612 in Straßburg kaufte und der Universität Gießen schenkte, war nicht unvorbereitet. Fünf Jahre lehrte man bereits an der Universität ohne eine ausgewiesene Bibliothek, vorgesehen waren im Kollegiengebäude am Brandplatz aber bereits zwei Räume dafür. 1611 gab der fürstliche Baumeister Martin Kersten zwei Tische, vier Bänke und acht offene Bücherschränke in Auftrag. So vorausschauend und planvoll verlief der weitere Bestandsaufbau nicht. Die finanzielle Ausstattung blieb über die nächsten zwei Jahrhunderte karg, und die nennenswerten Bestandszuwächse in qualitativer und quantitativer Hinsicht waren Schen-

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kungen, Vermächtnisse und administrative Zuweisungen. Exemplarisch für die Schenkungen mag hier der Name Senckenberg genannt werden: Im Jahr 1800 verdoppelte sich der Bücherbestand der Universitätsbibliothek Gießen durch das Vermächtnis von Renatus Carl Freiherr von Senckenberg, dem Sohn von Heinrich Christian von Senckenberg. 16.000 Bände vorwiegend juristischer und historischer Literatur, über 900 Handschriften (siehe Abb. 2) und eine Urkundensammlung, dazu noch ein herrschaftliches Haus gingen in den Besitz der Universität über. Während das Senckenberg’sche Erbe gut dokumentiert ist, gibt die Herkunft des wertvollsten Stückes der UB Gießen – das Kölner Evangeliar (Abb. 3) – bis heute Rätsel auf. Wie und wann diese kostbare, mit Gold und Purpur ausgemalte Pergamenthandschrift, die um das Jahr 1000 in Köln entstand, nach Gießen gelangte, weiß man nicht. Information – Geschriebenes, Gedrucktes, Gemaltes – auf welchem physischen Träger auch immer ist das klassische Medium einer wissenschaftlichen Bibliothek gewesen. Ein Blick in die Sondersammlungen der UB Gießen zeigt die Bandbreite: Assyrische Keilschrifttafeln um 1800 v. Chr. beschrieben, finden sich ebenso wie eine Sammlung von antiken Tonscherben, so genannte Ostraka, oder die international bekannten Papyrussammlungen (siehe Abb. 4), die mit 2500 Fragmenten die fünftgrößte Sammlung in Deutschland ist.

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Martin-Konle

Abb. 2: Elsässisches Trojabuch: Die durchgehend farbig illustrierte Handschrift entstand um 1418 in einer elsässischen Werkstatt. Ihr Inhalt ist eine deutschsprachige Fassung der Geschichte des Trojanischen Krieges. Zu sehen ist hier König Priamos in Troja. Renatus Carl von Senckenberg schenkte die Handschrift mit dem Nachlass seines Vaters Heinrich Christian von Senckenberg im Jahr 1800 der Universitätsbibliothek. Quelle: UB Gießen, Hs 232

Die Bibliothek blieb über nahezu 200 Jahre Untermieterin in verschiedenen Universitätsliegenschaften. Die steigende Buchproduktion und die Entwicklung der Wissenschaft und der Universität ließen die Bestände wachsen und die Benutzung ansteigen. Platznot für Bücher und Leserschaft wurde zum drängenden Problem und führte schließlich zu einem Neubau.

1904: Das erste eigene Bibliotheksgebäude Das beeindruckende Jugendstilgebäude an der Einmündung Kepler- und Bismarckstraße (Abb. 5) wurde 1904 eingeweiht. 40 Jahre lang bis zur Zer-

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störung durch alliierte Flugzeuge am 11. Dezember 1944 beherbergte der dreigeteilte Komplex aus Magazin-, Verwaltungs- und Benutzungstrakt etwa 800.000 Bände. 90% der Bände und sämtliche Korrespondenzen verbrannten nach der Bombardierung. Übrig blieben ausgelagerte wertvolle Sammlungen und u.a. die Dubletten im Keller. Diese Zäsur prägt die Universitätsbibliothek Gießen bis heute: zum einen durch empfindliche Bestandslücken bei der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, zum anderen durch die verloren gegangenen Akten, die die Bestandsgeschichte dokumentierten. So gestaltete sich beispielsweise die Recherche nach „Raubgut“, also nach

Büchern, die während der NS-Zeit in die Gießener Bibliothek gelangten, weil sie von ihren Eigentümern unter Zwang veräußert werden mussten oder von Behörden beschlagnahmt oder enteignet wurden, äußerst schwierig. Etwa 800 Bände konnten nach mühsamer Durchsicht der Bestände als mutmaßliches „Raubgut“ – oftmals als „Geschenk“ deklariert – identifiziert und separiert werden. Die Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels dokumentiert die Ausstellung „Raubgut“, die bis zum 15. Februar 2013 in der Universitätsbibliothek zu sehen ist. Nach einem provisorischen Betrieb in der UB-Ruine und einer Übergangszeit in der Ludwigstraße 19 bezog die Bibliothek erst im Jahr 1959 ein neues Gebäude in der Bismarckstraße (Abb. 6), das aber schon bald zu klein für die wiedererstarkende Volluniversität war. 1983 siedelte die Universitätsbibliothek dann ins Philosophikum I um (Abb. 1 und 7). Mit diesem Neubau vollzog sich auch ein Paradigmenwechsel: Während Bibliotheks­ bestände bislang überwiegend magaziniert und somit für den Lesewilligen verschlossen aufbewahrt wurden, ist seitdem die „FreihandAufstellung“ die Regel: Die Leser bewegen sich zwischen den Regalen

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Was war und was wird

Abb. 3: Kölner Evangeliar: Diese wohl wertvollste Handschrift der Universitätsbibliothek entstand 995 oder 996 in Köln und enthält den Text der vier Evangelien. Sie wurde vom damals gerade fünfzehnjährigen König und späteren Kaiser Otto III. (980-1002) selbst in Auftrag gegeben. Hier dargestellt ist der Anfang des Matthäus-Evangeliums mit dem Stammbaum Jesu Christi (Liber generationis). Bei den vier Personen in den Medaillons handelt es sich oben um den König selbst. Die weiteren sind die Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln. Wie und wann die Handschrift in die Universitäts­ bibliothek gelangte, ist noch immer nicht genau geklärt. Quelle: UB Gießen, Hs 660

Abb. 4: Cicero-Papyrus: Eines der bedeutendsten Stücke der Papyrussammlungen ist der Cicero-Papyrus. Es ist der einzige bislang bekannte Text von Marcus Tullius Cicero (106-43 v.Chr.), der auf einer Papyrusrolle erhalten ist. Er wurde nicht allzu lange nach seinem Tod auf das Stück geschrieben und enthält einen kurzen Teil aus einer seiner Reden. Den Papyrus vermachte der Gießener Altphilologe Karl Kalbfleisch (18681946) gemeinsam mit seiner privaten Papyrussammlung testamentarisch der Universitätsbibliothek. Quelle: UB Gießen, P. Iand. inv. 210

und suchen selbstständig heraus, was sie interessiert.

21. Jahrhundert: Steinern oder/und virtuell? Die 3,9 Mio. Bände, die sich heute in UB, Zweig- und Fachbibliotheken in Gießen befinden und zu etwa 80% frei zugänglich sind, sind aber nur noch eine Säule der Literaturversorgung. Der digitale Wandel entmaterialisiert die Bibliotheken, und die hybride Informationswelt fordert neue Organisations- und Geschäftsmodelle. Ohne den Zugang zu elektronischen Zeitschriften, Datenbanken und anderen digitalen Quellen ist eine Univer-

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sität heute nicht mehr lebensfähig, und die Breite des Zugangs ist ein entscheidender Wettbewerbsfaktor. Lizenzbedingungen, Konsortial- und Allianzlösungen sind strategisches Tagesgeschäft. Hinzu treten die Virtualisierung der Benutzungsdienste und die Entwicklungsplanung hinsichtlich neuer Dienstleistungen für beispielsweise virtuelle Forschungsumgebungen. Die Profilierung der digitalen Dien­ ste ist daher eine wesentliche Zukunftsaufgabe, z.B.: • der Ausbau der „Giessener Elektronischen Bibliothek“ (GEB) – der zentrale Open-Access Publikations- und Dokumentenserver der Universität;

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Martin-Konle

Abb. 5: Magazin, Verwaltungs- und Benutzungstrakt gliedern das große Jugendstilgebäude in der Kepler-/ Bismarckstraße, das 1904 von der Bibliothek bezogen wurde. Die Zerstörung 1944 führte zum Verlust von 800.000 Bänden. Foto: Bildarchiv der UB

• die Unterstützung der Open-­ Die virtuelle macht allerdings die „steinerne“ Bibliothek bislang keineswegs Access-Initiative der Wissenschaft überflüssig. Nie waren die Bibliothedurch einen Publikationsfonds der ken stärker nachgefragt, und zu HochJustus-Liebig-Universität und mit Zeiten findet man in den Leseräumen Förderung durch die Deutsche Forkeinen freien Platz. Auslastungsspitschungsgemeinschaft; zen sind nach einer Erhebung im Jahr • die Digitalisierungsoffensive: Der 2011 überraschenderweise auch an bibliothekseigene Server DIGISAM – den Wochenenden festzustellen. Die „Digitale Giessener Sammlung“ – ist Bibliotheken sind mehr denn je zen­ 2011 in Betrieb gegangen. Dabei hantrale Lern- und Arbeitsorte, in denen delt es sich um einen leistungsfähigen sowohl das stille Studieren als auch Server zur hochwertigen Präsentation das lebhafte Diskutieren in Gruppenvon Digitalisaten, z.B. der unikalen arbeitsräumen möglich sein soll – und Bestände aus den Sondersammlundas möglichst täglich und rund um die gen.

Die Autorin Claudia Martin-Konle, Jahrgang 1965, Ausbildung zur DiplomBibliothekarin an der Universitätsbibliothek Gießen, Studium der Germanistik und Psychologie an der Justus-Liebig-Universität, Abschluss M.A. 1996; Bibliotheksreferendariat von 2001 bis 2003 an der UB Marburg. Seit 2003 als Fachreferentin wieder an der UB Gießen, hat sie 2006 die Leitung der Zweigbibliothek im Philosophikum II übernommen. Die Bibliotheksdirektorin ist u.a. für die Arbeitsbereiche Öffentlichkeitsarbeit / Ausstellungen und Informationskompetenz im Bibliothekssystem der Universität Gießen verantwortlich.

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Abb. 6: Die zerstörte Bibliothek wich einem modernen Neubau. Das funktional und ästhetisch beeindruckende Gebäude – der Benutzungstrakt im Vordergrund ist der Silhouette eines aufgeschlagenen Buches nachempfunden – prägt seit 1959 bis heute die Bismarckstraße. Der Magazinturm wird weiterhin von der UB genutzt. Foto: Bildarchiv der UB

Uhr. Neben der hohen Nutzung von E-Books und E-Journals wächst auch die klassische Ausleihe kontinuierlich weiter: Im Jahr 2012 wird sie in Gießen die Millionengrenze übersteigen. Eine Universitätsbibliothek des 21. Jahrhunderts kann kein bloßes Bücherbehältnis sein. Sie bleibt physischer Wissensspeicher und ist gleichzeitig digitaler Campus, sozialer Raum und Lernort in zweierlei Sinn. „Bestandsvermittlung“ im Sinne der Beratung und Unterstützung der Studierenden, ist durch die Virtualisierung mehr denn je notwendig. Die Entwicklung von Informationskompetenz wird eine Kernaufgabe bleiben. Das Haus muss sich auf die Rahmenbedingungen einstellen. Der in

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Was war und was wird

Abb. 7: Künftige Studentengenerationen werden wahrscheinlich die Universitätsbibliothek anders wahrnehmen. Die Planungen im Rahmen der Campusentwicklung für einen An- und späteren Erweiterungsbau im Philosophikum I sind im vollen Gange. Foto: Barbara Zimmermann

Planung befindliche, großzügige Anbau an die Universitätsbibliothek in Gießen wird neue Möglichkeiten schaffen. Er wird bislang verstreute Bestände zusammenführen (vorgesehene Kapazität: 780.000 Bände), ruhige und lebhafte Arbeitszonen bieten und Multimedialität gewährleisten. Die geplante Position des Anbaus mit Ausrichtung zur „Neuen Mitte“ zwischen den Philosophika I und II unterstützt eine Strategie der Verknüpfung dieser beiden Campus-Areale in Gießen: Die Universitätsbibliothek wird dann der einzige Bibliotheksstandort im Campus Kultur- und Geisteswissenschaft sein. Die drei Trends – die introvertierte, die extrovertierte und die virtuelle Bibliothek – , die derzeit die Bibliothekswelt umtreiben, sind auch in Gießen virulent. Das Haus, das Buch und das Digitale – warum nicht? •

Das Bibliothekssystem in Zahlen Gesamtbestand

3.922.413 Bände

Erwerbungsetat

3.326.884 €

Bestand

Zugang an Bänden

74.933

Laufende Zeitschriftentitel • gedruckt • elektronisch Handschriften und Autographen Nachlässe Giessener Elektronische Bibliothek/ Dokumente Benutzung

KONTAKT Claudia Martin-Konle, M.A. Leiterin der Zweigbibliothek im Philosophikum II Justus-Liebig-Universität Karl-Glöckner-Straße 21 F 35394 Gießen Claudia.Martin-Konle@bibsys.uni-giessen.de

4.117 31.135 2.723 87 7.393

Öffnungsstunden pro Woche • Universitätsbibliothek

101,5

Anzahl Nutzerarbeitsplätze

1.499

Computerarbeitsplätze

226

Aktive Nutzer

33.325

• Universitätsangehörige

27.233

• außeruniversitäre Nutzer

Entleihungen

Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012

(Stand: 31.12.2011)

6.092

Zugriffe auf elektronische Kataloge

3,2 Mio.

Entleihungen gesamt

930.458

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Jenseits von furcht: Milena Jesenská Zur widerständigen Praxis der Prager Journalistin gegen den nationalsozialismus Von Lucyna Darowska

Die Prager Journalistin Milena Jesenská ist einem breiteren Publikum weder als autorin noch als widerständlerin bekannt. Dabei hat sie in mehreren Prager Zeitschriften publiziert, bewegte sich in den kreisen der literarischen avantgarde des „café arco“ und später der künstler/-innen-Vereinigung „Devětsil“ (‚neunkraft’), die rege kontakte zum Dessauer Bauhaus unterhielt. als frau bürgerlicher herkunft, die zum Beginn des 20. Jahrhunderts eine gymnasiale Bildung genoss, engagierte sie sich für die kommunistische Bewegung, bis sie die Gleichschaltungsstrategien des Parteiapparats durchschaute. im aufkommenden nationalsozialismus legte sie als redakteurin der angesehenen kultur-politischen Zeitschrift „Přítomnost“ (‚Gegenwart’) ein Bekenntnis zur subjektiven politisch-moralischen Verantwortung und zum widerstand ab, das sie selbst auch in die Praxis umsetzte. wie hat sich Milena Jesenská zur widerständlerin entwickelt? Dies ist eine frage, die aus der Perspektive der Biografie- und widerstandsforschung deshalb interessiert, weil erkenntnisse über die Bedingungen widerständiger Praxis im kontext fortwährender Bedrohungen der Menschlichkeit hoch aktuell sind.

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Jenseits von Furcht: Milena Jesenská

„Im Wirtshaus sitzen die Leute und debattieren. Was wird England tun, wie wird sich Frankreich verhalten, was unternimmt Hitler? In der Tat, das sind dringende und wichtige Fragen. Sie brennen uns allen unter den Nägeln, nicht an sie zu denken, ist unmöglich. Aber vor allem müssen wir uns über etwas anderes im klaren sein: darüber, was wir selbst tun werden. Nicht im internationalen, sondern im privaten Maßstab mit dem Radius von dreieinhalb Straßen, dem Nachhauseweg und einer Zweizimmerwohnung mit Küche. Wir müssen wissen, was wir gerade auf dem Stück Erde, auf dem wir leben, und an dem Platz, an dem wir arbeiten, tun werden.“ (Jesenská 1996a: 166f.; 30.3.1938 – Herv.: L.D.)

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iese Zeilen schrieb Milena Jesenská am 30. März 1938, nach dem Anschluss Österreichs, etwa ein Jahr vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Tschechoslowakei. Sie arbeitete in dieser spannungsvollen politischen Zeit in der Redaktion der renommierten Prager kultur-politischen Zeitschrift „Přítomnost“. Sie schrieb politische Artikel, Reportagen, Analysen zur aktuellen Entwicklung des Nationalsozialismus in Deutschland und zu den Reaktionen europäischer Staaten. In ihren politischen Urteilen und in ihren subjektiven Positionierungen war Milena Jesenská entschieden und klar. Sie sind es vor allem, die sie als eine historisch und politisch wichtige weibliche Figur auszeichnen. Vieles aus ihrem Leben ist allerdings bis jetzt unbekannt. Jedoch vor allem ihr journalistisches Werk bietet eine breite Fläche für Interpretationen und diskursive Auseinandersetzung. Bevor einige grundlegende Publikationen zu Milena Jesenská erschienen sind (u.a. Černá 1985, Wagnerová 1995, Jirásková 1996), wurde sie lange Zeit in literarischen Kreisen im westlichen Europa

Das „Café Milena“ in Prag, das inzwischen nicht mehr existiert.

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rin Milena Jesenská geworden? „Widerständige Praxis“ kann sich hier womöglich treffender als der Begriff des Widerstandes auf verschiedene Arten individueller und kollektiver Praxis beziehen. Bei diesem Ansatz geht es also um die Analyse biografischer Zusammenhänge, die in der Auseinandersetzung eines Individuums mit der Welt auf die Entwicklung seines widerständigen Potenzials hinweisen.

Jugenderfahrungen und Empathie

Milena Jesenská Quelle: Verlag „Neue Kritik“, mit freundlicher Genehmigung

vorrangig als Objekt, als Geliebte und Adressatin von Franz Kafkas „Briefen an Milena“ bekannt gemacht. In der kommunistischen Tschechoslowakei war sie als politische Feindin aus der „Erinnerungsarbeit“ zunächst ausgeschlossen, weil sie sich vom Kommunismus distanziert hatte. Das Spannungsverhältnis zwischen Biografie und Widerstand kann fruchtbar in die Frage komprimiert werden, die sich am New Historicism Stephen Greenblatts orientiert und lautet: Wie ist Milena Jesenská zur Widerständle-

Milena Jesenská wurde am 10. August 1896 in Prag geboren. Der Wohlstand und bürgerliche Status ihrer Familie ermöglichten ihr materielle Stabilität in einem sicherlich zum Teil liebevollen Elternhaus. Margarete Buber-Neumann, die am letzten Ort des Lebens von Milena Jesenská, im Konzentrationslager Ravensbrück, mit ihr eng befreundet war, überlieferte in ihren Erinnerungen Hinweise auf ein herzliches Verhältnis zwischen Milena und ihrer Mutter. Darüber hinaus ist bekannt, dass sich Milena Jesenská an der Pflege ihrer schwerkranken Mutter längere Zeit bis zu deren Tod (wahrscheinlich) ein Jahr vor ihrem Abitur (1915) intensiv beteiligte. Es erscheint schlüssig, dass diese Zu-

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wendung und Mühe bei dem jungen Mädchen, das sich ohnehin die Welt sensibel aneignete, ein besonders empathisches Verhältnis zu Menschen herausgebildet haben. Dies entspricht den Forschungsergebnissen der New Yorker Psychoanalytikerin und Forscherin Eva Fogelman (1995), die feststellte, dass die von ihr interviewten Retter und Retterinnen, die jüdischen Menschen Hilfe leisteten, über ein ausgeprägtes Empathievermögen verfügten. Mehrere von ihnen hatten den Verlust einer nahen Person erlitten. Das Verhältnis zwischen Milena Jesenská und ihrem Vater scheint ambivalent gewesen zu sein. Der in der nationalen Emanzipationsbewegung der Tschechen engagierte Jan Jesenský

Blick auf den Hradschin mit Burg in Prag. Foto: Stefan Bauer

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war für seine Tochter eine politische Vorbildfigur. Sowohl das Bewusstsein ihrer nationalen Zugehörigkeit als auch eine würdige widerständige Haltung waren die zentralen Aspekte der widerständigen Praxis von Milena Jesenská, die sie selbst mit ihrem Vater in Verbindung brachte und literarisch verarbeitete. Vermutlich war Jan Jesenskýs Verhältnis zu ihr liebevoll, klar und fair und zugleich autoritär. Beide verbrachten auf langen Spaziergängen in der Natur viel Zeit miteinander. Lebenslang hielt Milena Jesenská an der Strategie fest, seelischen Schmerz durch Bewegung, durch das „Laufen“ in der Natur oder einfach auf der Straße lindern zu wollen. Eine andere Strategie war eine Art „Ausdehnung“ des eingeengten seelischen Raumes, z.B. durch einen Blick aus dem Fenster oder eine Lüge oder, noch wirksamer, durch eine innige Verbindung mit einem anderen Menschen.

Gewalt und Normdistanz Ein weiterer aktiver, aber destruktiver Ausweg aus dem Schmerz war der Gedanke an Suizid oder sogar ein Suizidversuch. Diesen Weg hatMilena Jesenská (mindestens) zweimal gewählt, und mehrmals hat sie ihn in ihren Feuilletons und Briefen thematisiert. Im Zusammenhang mit einem Schwangerschaftsabbruch und Suizidversuch kam es zu einem Übergriff Jan Jesenskýs auf die subjektive Selbstbestimmung seiner Tochter. Im Jahr 1917 ließ Jan Jesenský, der Zahnarzt und Kieferchirurg in Prag war, mit Hilfe eines anderen Arztes seine Tochter in die psychiatrische Klinik Veleslavin einweisen. Bei der Aufnahme wurden bei der jungen Frau mehrere ernsthafte medizinische Diag­nosen gestellt: „Paranoia“, „Melancholie“ und „moral insanity“ (Kienzle 1991, Kouřímská 6, Dokumentarfilm), also „moralischer Irrsinn“.

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Jenseits von Furcht: Milena Jesenská

Tatsächlich hatte Milena Jesenská in ihrer Jugend ein prekäres Verhältnis zu einigen Normen, was weder für einen Vater, noch für die Gesellschaft irrelevant sein kann. Sie verletzte das Eigentumsrecht ihres Vaters, indem sie u.a. sein Geld ohne seine Zustimmung ausgab. Sie stahl, wobei wenig Genaues in den Quellen, eher Anekdotenhaftes, dazu zu finden ist. Sie log, wobei sie sich darin wohl kaum von anderen Menschen unterschied. Das Problematischste scheint jedoch die Tatsache gewesen zu sein, dass sie sich aus der Perspektive des Vaters nicht in den richtigen Mann verliebte. Der Mann ihrer Wahl Ernst Pollak überlieferte jedenfalls diese Begründung in einem Brief an Willy Haas: „[...]heute früh ist M. in einem Auto mit Gewalt ins Sanatorium Veleslavin geschafft worden, bis sie ihr Wort gibt, mit mir nie mehr zu sprechen. Was Sanatorium bedeutet, wissen Sie; früher sagte man Kloster oder Gefängnis.“ (Pollak, 20.6.1917, in: Neue Rundschau Heft 2/1991: 175) Max Brod deutete die Motivation Jan Jesenskýs aus seiner antisemitischen Haltung heraus: „Auch Milenas Mann war Jude, was die heftigsten Konflikte mit ihrem Vater ausgelöst hatte, der als besonders nationalistisch eingestellter Tscheche auf der politischen Bühne stand.“ (Brod 1974, Über Franz Kafka: 191) Und auch Kafka schrieb 1920 in einem Brief an Jesenská: „Natürlich, daran ist gar kein Zweifel, zwischen Deinem Mann und mir ist vor Deinem Vater gar kein Unterschied, für den Europäer haben wir das gleiche Negergesicht [...].“ (Kafka 1995, Briefe an Milena: 182; 4.8.1920) Eine der Rationalisierungen des Antisemitismus war die national-politisch motivierte Protesthaltung gegen die in der Habsburger Monarchie in vieler Hinsicht, u.a. wirtschaftlich, privilegierte Stellung der deutschen Bevölkerung. Nicht selten wurde

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dabei Deutschsein mit Jüdischsein gleichgesetzt. Milena Jesenská blieb acht Monate bis März 1918 in der Anstalt. Der durch die Anwendung von Gewalt vollzogene Bruch in der Beziehung zwischen dem Vater und der Tochter setzte sich in den nächsten Jahren auch in Wien, wohin Milena Jesen­ ská und Ernst Pollak nach ihrer Heirat emigrierten, fort und belastete sie seelisch sehr. Diese Gewalterfahrung forderte sie jedoch zugleich zu einer widerständigen Haltung heraus. Letztendlich hat sie ihr Vorhaben – trotz Psychiatrie und Isolation – durchgesetzt und ihre Liebe zu Ernst Pollak nicht verleugnet, auch wenn die Liebesbeziehung durch diesen dramatischen Konflikt mit dem Vater und durch den Ortswechsel gravierende Brüche erlitt. In der Psychiatrie hat Milena Jesen­ ská den Un-sinn der restriktiven medizinischen Methoden ihrer Zeit beobachtet und am eigenen Leib erfahren. Je nach Härte des „Falls“ ähnelten sie in einigen Aspekten der späteren Ordnung des Konzentrationslagers Ravensbrück. Isolation stand im Mittelpunkt. Bei Milena Jesenská ging es um die Bekämpfung einer Liebes-

beziehung, bei einem anderen Patienten, von dem sie später berichtete, handelte es sich um ein Verbot jeglicher Kontakte zu anderen Menschen, auch Bücher waren ihm verwehrt. Und bei jedem Versuch, diesem Menschen aus seiner desolaten Lage zu helfen, musste sie mit Isolationshaft rechnen. In einem Brief an Max Brod 1920 reflektierte Milena Jesenská (in deutscher Sprache): „Nur ist Psychiatrie eine entsetzliche Sache, wenn sie mißbraucht ist, anormal kann alles sein und jedes Wort ist neue Waffe für den Quäler.“ (Jesenská, 21.7.1920, in: Brod 1974: 196) Die Erfahrung früher Normdistanz, die mit Restriktionen einherging, und ihr Streben nach Selbstbestimmung, brachten Milena Jesenská ganz sicher in Situationen von Ohnmacht, wofür ihre Suizidversuche stehen. Ernst Pollak macht dies deutlich in einem anderen Brief an Willy Haas: „[…] bekräftigen Sie die Hoffnung eines Zurückfindens, von der einzig ihr Leben sich erhält, das ich selbst dreimal vom Selbstmord zurückgerissen habe.“ (Pollak 19.11.1916, in: Neue Rundschau Heft 2/1991: 174) Zugleich erfuhr Milena Jesenská auch Handlungswirksamkeit: Womöglich aus der Reflexion über die Verbindung von Norm und Gewalt mobilisierte sie ihre Kräfte und passte sich weder der Norm, noch dem Willen des Vaters an. Dennoch half Jan Jesenský seiner Tochter immer wieder. Das Wien, in das Milena Jesenská und Ernst Pollak nach der Heirat, die am 14. März 1918 stattfand, übersiedelten, war nach dem Ersten Weltkrieg von wirtschaftlicher Stagnation und Hyperinflation gezeichnet. Milena Jesenská hatte, wie viele Frauen in dieser Zeit, keinen Beruf. Ernst Pollak trug als Angestellter der Österreichischen Länderbank wenig oder gar nichts zu ihrem Unterhalt bei. Gina Kaus, die Schriftstellerin, die wie die beiden in den literarischen Kreisen der

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Wiener Moderne verkehrte und mit Milena befreundet war, beschreibt in ihren Erinnerungen Milena Jesenskás Kollisionen mit dem Rechtssystem: „Sie [Milena-L.D.] hatte bares Geld aus einer Lade gestohlen. Wir nahmen ihr einen Anwalt – was keine große Sache war, denn der Anwalt war ebenfalls ein Freund von uns, und Milena amüsierte ihn sehr. Bei der Verhandlung sagte sie, sie habe das Geld gestohlen, um sich hübsche Kleider zu kaufen. `War ich in erotische Krise´. Sie bekam eine kurze Gefängnisstrafe, dann lebte sie wieder unter uns, und keiner von uns trug ihr das Vergehen nach.“ (Kaus 1979, Und was für ein Leben: 55) Für die Interpretation dieser Normverletzung scheint entscheidend, was Hannah Arendt in ihrem Moralkonzept vertrat, und zwar die Unterscheidung zwischen der Übertretung und dem „skandalon“, einer Straftat im Sinne eines Verbrechens (Arendt 2007, Über das Böse: 98). Aus der Perspektive von Milena Jesenskás biografischer Entwicklung wird deutlich, dass Normverletzungen zwar immer wieder zu ihrer Alltagspraxis gehörten, dass sie aber zugleich den Anspruch verfolgte, das wirklich Böse (im Sinne Hannah Arendts) zu verhindern. Und es kam

eine Zeit, in der die Distanz zu kollektiven Normen zur Bedingung für eine subjektive Entscheidung für eine widerständige Praxis gegen kollektive Verbrechen wurde.

Die Ambivalenz von Bildung und die Handlungswirksamkeit Die existenzielle Not und Milena Jesenskás Handlungs- und Lösungsorientierung „verhalfen“ ihr in Wien zu einem großen Schritt: Sie begann literarische Texte zu übersetzen und Artikel für Prager Zeitschriften zu schreiben. Zuerst publizierte sie überwiegend in der angesehenen KulturZeitschrift „Tribuna“, später schrieb sie für die national-liberale Zeitschrift „Národní listy“. Sie erlebte Jahre des Erfolgs und konnte berufliche Sicherheit als Journalistin und Übersetzerin erlangen. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür war ihre in Prag absolvierte gymnasiale Bildung, die Frauen gerade erst ermöglicht worden war. Ihr anschließendes Studium (der Medizin, mit dem Wechsel zur Musik) brach sie zwar ab, aber ihre humanistische Bildung regte insgesamt ihr ästhetisches Empfinden an und förderte eine reflexive Haltung. Am Ende der

Die Autorin Lucyna Darowska, Dr. rer. soc., in Tarnobrzeg (Polen) aufgewachsen, Studium der Englischen Philologie an der Universität Warschau und der Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Mitarbeiterin der Universität Bielefeld. Zu ihren Publikationen gehören: Widerstand und Biografie. Die widerständige Praxis der Prager Journalistin Milena Jesenská gegen den Nationalsozialismus, Bielefeld: transcript (2012) sowie (mit Claudia Machold und Thomas Lüttenberg (Hg.): Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität, Bielefeld: transcript (2010).

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Schulzeit und auch danach bewegte sich Milena zudem in Kreisen der Prager literarischen Moderne, überwiegend im Milieu des „Café Arco“, das ein starkes kreatives und bürgerliche Konventionen destabilisierendes Potenzial entfaltete. Charakteristisch für das „Café Arco“ war, dass sich neben den deutsch-jüdischen dort auch einige tschechische Schriftsteller trafen. Diese vorsichtige Annäherung wurde von zweisprachigen Schriftstellern wie Franz Werfel, Max Brod, Otto Pick und Rudolf Fuchs gefördert. Später, in Wien, verkehrte Milena Jesenská in den literarischen Kreisen, die vorrangig das „Café Central“ und das „Café Herrenhof“ als Orte ihrer intellektuellen Diskurse wählten. Die Freundschaften, Netzwerke, literarischen Kreise und Bildungsinhalte können als potenzielle Freiräume interpretiert werden, die ein Gegengewicht zu den restriktiven institutionellen Bedingungen der Schulen dieser Zeit boten. Sie waren für die spätere politisch-moralische Ausrichtung des Denkens von Milena Jesenská wesentlich. Eine „ausnehmend deprimierende Institution, etwas wie eine Kreuzung von Kloster und Besserungsanstalt“ nennt Kafkas Biograf Ernst Pawel das österreichische Gymnasium dieser Zeit (Pawel 1986, Das Leben Franz Kafkas: 57), und Stefan Zweig benennt in seinen Erinnerungen an die Schulzeit „menschliche Lieblosigkeit“, „nüchterne Unpersönlichkeit und das Kasernenhafte des Umgangs“ (Zweig 2006, Die Welt von Gestern: 46f.). Mit diesen widersprüchlichen – emanzipatorischen und reproduktiven – Effekten der institutionellen Bildung kann möglicherweise die Tatsache erklärt werden, dass Bildung, auch akademische Bildung, Menschen nicht daran gehindert hat, zu Massenmördern zu werden. Milena Jesenská thematisierte auch diese strukturelle Gewalt, sie schrieb vom „Ersticken

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Jenseits von Furcht: Milena Jesenská

Milena bewegte sich in Kreisen der Prager literarischen Moderne, vor allem im „Café Arco“. Foto: privat

vor Schmerz“, „an den Pranger gestellt werden“, von den Lehrenden, die sich „in erniedrigendem Ton“, „überheblich“ und mit „schmerzenden Worten“ an die Schülerinnen wenden (Jesen­ ská 1996b: 32f.; 15.7.1915). Im Kontext ihrer späteren widerständigen Haltung im Nationalsozialismus ist von Bedeutung, dass sie, ähnlich wie im Fall der psychiatrischen Anstalt, nicht dem praktischen Realismus (oder Rationalismus) der Unterordnung und Anpassung an die mehrheitlich legitimierten Normen folgte, obwohl sie es versuchte. Sie entwickelte dagegen eigene Vorstellungen von Erziehung und suchte einen emotionalen Halt bei ihrer Lehrerin Albína Honzáková. Bildung gepaart mit literarischem Talent ermöglichten ihr später nach der Rückkehr aus Wien eine journalistische Karriere als Redakteurin bei der liberalen Zeitung „Národní listy“ (‚Nationale Blätter’). Nach der Trennung von Ernst Pollak heiratete Milena Jesenská 1927 den bekannten Architekten Jaromír Krej­

car. Beide waren in den Kreisen der tschechischen Avantgarde des „Devětsil“ engagiert. Diese bedeutende Vereinigung von Künstlerinnen und Künstlern bekannte sich zum Marxismus, wurde aber schon 1923 von der Kommunistischen Partei angegriffen. Die Liebesbeziehung mit Jaromír Krej­car und diese Phase ihres Lebens verglich sie später mit einem Tanz. Eine schwere Krankheit kurz vor der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter beendete diese glückliche Phase. Die Tochter Jana-Honza kam gesund zur Welt, aber Milena Jesenská blieb für mehrere Jahre durch Krankheit und schmerzlindernde Behandlung mit Morphium belastet. Sie verlor ihre Tätigkeit als Redakteurin. Jaromír Krejcar ging, wie viele überzeugte Aktivisten und Aktivistinnen, in die Sowjetunion, um als Architekt zum Aufbau des ersten kommunisti-

Auch später in Wien verkehrte Milena Jesenská in literarischen Kreisen, die sich besonders im „Café Central“ trafen. Foto: privat

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schen Staates beizutragen. Die Ehe, die schon von Destruktivität gezeichnet war, zerfiel.

Politischer Widerstand Zwischen 1933 und 1936 arbeitete Milena Jesenská vor allem in der Redaktion der Partei-Illustrierten „Svět práce“ (‚Welt der Arbeit’) und schrieb auch für die kommunistische Kulturwochenzeitschrift „Tvorba“ (‚Das Schaffen’). Jana Černá erinnert in ihrer Biografie von Milena Jesen­ ská an deren Mutter als eine leidenschaftliche Kommunistin. Milena Jesen­ská, schon in den Jahren davor durch persönliche Beziehungen zum Grafen Franz Xaver Schaffgotsch, zu Alice Rühle-Gerstel und deren Mann Otto Rühle mit kommunistischen und sozialistischen Ideen in Verbindung gekommen, hoffte wie Tausende Menschen, die Idee der Gerechtigkeit und eine Zukunft ohne Herrschaft und Ausbeutung bald verwirklichen zu können. Die Praxis entwickelte sich jedoch in eine andere Richtung. Jaromír Krejcar kehrte desillusioniert aus der Sowjetunion zurück. Und auch in Prager Parteikreisen mehrten sich die Er-

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fahrungen von Denunziation, ideologischer Verdummung, Hierarchisierung und Totalisierung. Der auf dem XII. Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale 1932 in Moskau eingeleiteten Ideologisierung des Marxismus folgten Diffamierungen und Ausschlüsse aus der KPČ aller derjenigen, die sich der Gleichschaltung nicht anpassten. Milena Jesenská, die die Redaktion der Zeitschrift „Tvorba“ leitete, wurde von ihrem Posten entfernt, da sie die Glaubwürdigkeit der Schauprozesse im Jahr 1936 in Frage stellte. Die ebenso diffamierten und exkludierten Parteioppositionellen Josef Guttmann und Záviš Kalandra verkehrten bei ihr und Evžen Klinger, ihrem neuen Lebensgefährten und Funktionär der Slowakischen Kommunistischen Partei, und setzten ihre politischen Debatten fort. Milena Jesenská allerdings geriet in eine existentielle Krise. Mit dem Wandel ihres Verhältnisses zum Kommunismus begann ihre politisch und moralisch motivierte widerständige Praxis. Wie kann dieser gewagte Widerspruch, vollzogen im Bewusstsein der Folgen – der sicheren existentiellen Not und einer beruflichen Sackgasse – interpretiert werden?

Über-menschlicher Widerstand Zuweilen spricht man über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus aus einer Erwartung heraus, als ob alle anständigen Menschen sich mit ihrem Handeln dem Bösen hätten widersetzen müssen. Schon Theodor Adorno hat deutlich gemacht, dass das, was Böse ist, sich einer sicheren Einschätzung aus der jeweils aktuellen kollektiven Perspektive entzieht: „Zu unterstellen, daß man jemals zweifelsfrei und unproblematisch wüßte, was das Gute ist, das selber ist, könnte man sagen, bereits der Anfang des Bösen.“ (Adorno 2001, 28. Vorlesung

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Joachim von Zedtwitz (1910-2001), der gemeinsam mit Milena Jesenská Antifaschisten und Juden zur Flucht verhalf. Foto: privat, mit freundlicher Genehmigung der Familie von Zedtwitz.

v. 25.2.1965: 365) Auch Zygmunt Baumann macht klar, dass im Fall des Sieges des Nationalsozialismus, „kraft seiner Autorität befunden worden [wäre], im Holocaust seien keine fundamentalen/natürlichen Gesetze mißachtet und kein Verbrechen gegen Gott und die Menschlichkeit begangen worden. Früher oder später hätte vermutlich das Zwangsarbeitssystem zur Disposition gestanden, wobei man die Entscheidung sicherlich nach rationalen Kriterien getroffen hätte.“ (Baumann 2002, Dialektik der Ordnung: 21) Aus der damaligen Perspektive der Mehrheitsnorm war keineswegs selbstverständlich, den Nationalsozialismus mit dem „Bösen“ in einen direkten Zusammenhang zu setzen. Als einer patriotisch sozialisierten Tschechin konnte es Milena Jesenská nicht schwer fallen, die Besetzung der Tschechoslowakei durch die Wehrmacht zu verurteilen. Außergewöhnlich ist, dass sie sich weder durch die nationalistische Ideologie vereinnahmen, noch durch opportunistische Pragmatik überzeugen ließ und dass sie nach eigenständigem Urteil handelte. So wie sie sich für politische Flüchtlinge einsetzte, wie sie – entgegen der kommunistischen Ideologie – zur parteiübergreifenden anti-

faschistischen Kooperation aufrief, so hat sie nach der Besetzung Prags den Angriff politisch verurteilt, aber nicht im Sinne einer nationalen Ideologie missbraucht. In diesem Verständnis schrieb sie z.B. 1937 über die Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland: „Es sind fremde Menschen, sie sprechen eine fremde Sprache, und sie kommen aus einem fremden Land. Aber eines haben wir gemeinsam: beim Wort Hakenkreuz zieht sich uns das Herz mit den gleichen Gefühlen zusammen.“ (Jesenská 1996a: 159; 27.10.1937) Die Besetzung Prags durch die Wehrmacht am 15. März 1939 war eine nationale Tragödie, deren Ausmaß durch die Appeasement-Politik Englands und Frankreichs noch vergrößert wurde. Obwohl Milena Jesenská ahnte, dass ein Überleben in Prag wenig wahrscheinlich war, zögerte sie mit der Ausreise. Evžen Klinger, dessen Flucht Milena organisiert hatte, schrieb am 21. August 1939 von London an William und Stefanie Schlamm, dass er für Milena ein Visum nach England besorgt habe. Aber „Milena will solange nicht gehen, bis sie zu Hause irgendwie arbeiten kann.“ (Klinger, 21.8.1939) Milena Jesenská wollte auch nach der Besetzung Prags die Zeitschrift „Přítomnost“ erhalten. Trotz Kontrollen des Presse-Bevollmächtigten und mit der Gestapo im Rücken gelang es ihr, mehrdeutige Texte zu veröffentlichen, was sowohl anstrengend als auch gefährlich war. Der Chefredakteur Ferdinand Peroutka wurde gleich nach dem Einmarsch der Nazis verhaftet. Nach seiner Entlassung war er kaum mehr arbeitsfähig. Milena Jesenská, die praktisch die Redak­

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Jenseits von Furcht: Milena Jesenská

Auch nach der Besetzung Prags im März 1939 wollte Milena Jesenská die Zeitschrift „Přítomnost“ erhalten, doch diese wurde im August 1939 eingestellt. Heute existiert sie wieder in neuem Gewand.

tion übernommen hatte, wurde oft zum Presseamt vorgeladen und regelrecht verhört. In einer politisch depressiven und materiell dramatischen Situation sah sie ihre subjektive Verantwortung auch darin, dass sie bedrohten Menschen, vor allem Antifaschisten und Juden, zur Flucht aus dem Land verhalf. Zusammen mit Joachim von Zedtwitz organisierte sie deren Reisen bis zur polnischen Grenze, wo die Flüchtenden von Grenzführern abgeholt und über die Grenze gebracht wurden. Walter Tschuppik, der Herausgeber des „Prager Montag”, und Rudolf Keller, der Herausgeber des „Prager Tagblatts”, einer großen deutschsprachigen Zeitung, die stark von jüdischen Intellektuellen und deutschen Emigranten und Emigrantinnen geprägt war, gelangten auf diese Weise in die Freiheit und konnten weiter emigrieren. Nach der Einstellung von „Přítomnost“ im August 1939 hat Milena Jesenská für die Un-

dikamenten und Informationsaustausch untereinander, denen, die am stärksten von der Vernichtung bedroht waren, immer wieder zu helfen. Auf diese Weise trug Milena Jesenská zur Rettung mehrerer Frauen bei. Und auch hier waren die Strategien – Tarnung, Lüge, Fälschung der Karteien – Strategien, die Leben retteten.

Widerständige Haltung als biografische Entwicklung

tergrundzeitung „V boj“ (‚In den Kampf’) geschrieben und das „illegale“ Blatt verbreitet. Bei diesen Aktivitäten wurde sie verhaftet und nach Ravensbrück überführt. Von Ravensbrück kehrte Milena Jesenská nicht mehr zurück. Sie starb dort am 17. Mai 1944. Auch hier, an diesem vom Tod gezeichneten Ort, setzte sie ihre widerständige Praxis fort, eingebunden in ein HelferinnenNetzwerk. Die Häftlingsärztinnen und Krankenschwestern entwickelten Vorgehensweisen, die es ihnen ermöglichten, mit Hilfe von fingierten Temperaturkurven, gestohlenen Me-

In Ravensbrück versuchte Milena Jesenská eine würdige Haltung trotz der zutiefst entwürdigenden Praktiken der KZ-Aufseher/-innen und der Präsenz des Todes durchzusetzen. Diese Haltung zeigte sich darin, dass sie die allgegenwärtige Gefahr des Todes immer wieder in Kauf nahm, z.B. wenn sie vom Lagerarzt mit seinem Stöckchen berührt wurde und das Stöckchen „mitsamt Sonntags langem Arm zur Seite [schleuderte]“. (BuberNeumann 1996: 237f.) Margarete Buber-Neumann, die von Stalin an die Nationalsozialisten ausgeliefert worden war, verfasste ein Dokument ihrer außergewöhnlichen Freundschaft mit Milena Jesenská an diesem Ort der Vernichtung. Der Ort deckte den Glauben an die Menschlichkeit zum Teil als Naivität auf. Mit diesem Dokument bewies Margarete Buber-Neumann jedoch, dass Menschlichkeit unter dramatisch schweren Bedingungen möglich, aber nicht selbstverständlich und womöglich nicht zufällig ist, sondern sich biografisch unter bestimmten Voraussetzungen konstituiert.

Aus dem Konzentrationslager Ravensbrück kehrte Milena Jesenská nicht mehr zurück. Sie starb dort am 17. Mai 1944. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1985-0417-15/ CC-BY-SA

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Die Quintessenz dieser biografischen Entwicklung schloss Franz Kafka in der Metapher eines (dekonstruktiven) Blicks, mit der er seine Interpretation von Milena Jesenskás Reflexivität 1920 zum Ausdruck brachte: „Du hast einen durchdringenden Blick, das wäre aber nicht viel, […] aber Du hast den Mut dieses Blicks und vor allem die Kraft noch weiterzusehn über diesen Blick hinaus; dieses Weitersehn ist die Hauptsache und das kannst Du.“ (Kafka 1995, Briefe an Milena: 74) Kafkas Eischätzung erscheint besonders im Kontext der Überlegungen von Silvia Salvesen zur widerständigen Haltung in Ravensbrück plausibel. Silvia Salvesen analysiert als ehemalige Gefangene die Bedingungen für widerständiges Handeln im Konzentrationslager und betont dabei die Fähigkeit zur Reflexion und Empathie. Von tausend Frauen waren es etwa fünfzig, die mehr zu leisten vermochten, als um das eigene Überleben zu kämpfen: „[…] diejenigen, die trotz Not und Elend, Schmutz und Ungeziefer, Krankheit und Tortur sowie Hunger und täglich mit dem Tod vor Augen, es dennoch schafften, sich über all das zu erheben.

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Das Gebäude in der KouřímskáStraße 6, in dem Milena Jesenská zuletzt gewohnt hat.

das es ihr nicht einfach gemacht hat, geholt. •

Foto: privat

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– Ihre Handlungen wurden durch ihren Herzensreichtum dirigiert. Sie gebrauchten ihre Intelligenz, um selbst unter solchen Umständen das Unmögliche möglich zu machen und ihre Energie in positive Kraft für ihre Kameradinnen umzusetzen.“ (Salvesen1992: 46f – Herv.: L.D.) Dies scheint Milena Jesenskás Eigenschaften sehr treffend zu erfassen. Neben der physischen Kraft, die für ihre widerständige Praxis notwendig war, hat Milena Jesenská deutlich gemacht, dass Menschlichkeit mit reflexiver Weltaneignung zu tun hat. Im Kontext einer konkreten historischpolitischen und kulturellen kollektiven Entwicklung verlieh sie ihrem Handeln eine Bedeutung, die sich von den mehrheitlich getragenen rationalen Entscheidungen absetzte. Den Sinn für ihr Handeln hat sie aus einer tiefen Verwobenheit zwischen scharfer Reflexion, Empathie, ihrer politischen Überzeugung von der Möglichkeit einer gerechteren Welt, für die sie gekämpft hat, und der Liebe zum Leben,

literatur

Buber-Neumann, Margarete (1996): Milena, Kafkas Freundin. Ein Lebensbild, mit einem Nachwort v. Gudrun Bouchard, Frankfurt a. M.: Ullstein. Jesenská, Milena (1996a): Alles ist Leben. Feuilletons und Reportagen 1919-1939, hg. u. mit einer biogr. Skizze vers. v. Dorothea Rein, Frankfurt a. M.: Neue Kritik. Jesenská, Milena (1996b): „Ich hätte zu antworten tage- und nächtelang“. Die Briefe von Milena, hg. v. Alena Wagnerová, Mannheim: Bollmann. Klinger, Evžen: unveröffentlichter Brief an Willi und Steffi Schlamm v.: 21.8.1939, Deutsches Exilarchiv (1933-1945) der Deutschen Bibliothek, Frankfurt a. M. Salvesen, Sylvia (1992): Tilgi – Men Glem Ikke / Vergebt – doch vergesst nicht, Weimar, Sammlung MGR/ StBG. – 2000/434. Bestände aus den Sammlungen der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.

Lucyna Darowska: Widerstand und Biografie. Die widerständige Praxis der Prager Journalistin Milena Jesenská gegen den Nationalsozialismus, Bielefeld: transcript (2012)

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[ Kurz berichtet ]

50 Jahre Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Justus-Liebig-Universität Gießen Jubiläumssymposium unter Leitung von Prof. Dr. Johannes Kruse

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sychische und psychosomatische Störungen sind heute in aller Munde. Burnout, Depression und psychosomatische Beschwerden sind der Grund Nummer eins bei vorzeitigen Berentungen in Deutschland. Seit 50 Jahren widmet sich die Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Gießen der Forschung und Behandlung dieser Störungen. Ihr 50-jähriges Bestehen feierte sie im Sommer 2012 mit einem Symposium zum Thema „Psychosomatische Medizin und Psychotherapie gestern – heute – morgen“. Im Jahr 1962 wurde Prof. Dr. Horst-Eberhard Richter zum Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie ernannt und baute später das Zentrum für Psychosomatische Medizin zusammen mit Prof. Dr. Dieter Beckmann auf. Horst-Eberhard Richter baute den Lehrstuhl und die Klinik zu einer der größten und bedeutendsten psychosomatischen Abteilungen in Deutschland aus. Die analytische Paar- und Familientherapie, die Familienforschung, psychosomatische Forschungsansätze, die Entwicklung des Gießen-Tests mit Prof. Dr. Elmar Brähler, die kulturwissenschaftlichen Arbeiten und das soziale Engagement, unter anderem für die Friedenbewegung, prägten diese Zeit. Von 1992 bis 2008 übernahm Prof. Dr. Christian Reimer die Professur und die Klinik. Er baute die Klinik weiter aus und integrierte stärker die klinische Psychosomatik. Die Lebensqualität in Gesundheitsberufen, Depression, Suizidalität, aber auch die Selbstpsychologie wurden in Gießen durch ihn vorangetrieben. Nach einer kommissarischen Übergangszeit unter der Leitung von Prof. Dr. Uwe Gieler übernahm Prof. Dr. Johannes Kruse im Jahr 2009 die Klinik. Sie wurde erweitert und umfasst jetzt 45 Behandlungsplätze. Sie schließt nun eine Tagesklinik mit ein und verfügt über eine große psychosomatische Ambulanz sowie einen Konsil- und Liaisondienst. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte wurden ergänzt um die Themen Diabe-

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Prof. Dr. Horst-Eberhard Richter, der erste Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie, hier mit seinen Mitarbeitern in Foto: Archiv den 60er Jahren. tes mellitus, Psychotraumatologie, somatoforme Schmerzstörung und Versorgungsforschung. Die Klinik ist einerseits als Psychosomatik der Region für die allgemeine wohnortnahe psychotherapeutische und psychosomatische Versorgung von Patienten mit psychischen und psychosomatischen Störungen verantwortlich, andererseits bietet sie spezifische Behandlungsangebote überregional an, insbesondere in der Psychodermatologie und in der Behandlung von chronischen funktionellen Schmerzstörungen. Die Gießener Psychosomatische Klinik hat schon seit Beginn den Anspruch gehabt, die Entwicklung der psychosomatischen Medizin und Psychotherapie in Deutschland mit zu prägen. An der Entwicklung der Gießener Psychosomatik kann man einen Großteil der psychosomatischen Theorieentwicklung, der empirischen Forschungen und der klinischer Versorgung ablesen. Die Gießener Psychosomatik hat wesentlich dazu beigetragen, dass die psychosomatische Medizin, aber auch die medizinische Psychologie und die medizinische Soziologie 1972 in die Approbationsordnung als eigene Fachgebiete aufgenommen wurden.

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Soziale Krisen und soziale Kräfte Wie Namibia mit den AIDS-Waisen umgeht Von Michaela Fink, Julia Erb und Reimer Gronemeyer

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Soziale Krisen und soziale Kräfte

„Wir befinden uns heute in der Mitte von Nirgendwo. Wo wir hingehen, das wissen wir nicht. Wo wir herkommen, dahin können wir nicht zurück.“ Die AIDS-Epidemie und die daraus resultierende AIDS-Waisen-Krise ist in Afrika ein entscheidender Faktor

Agnes Tom Gründerin des „Baby Haven“ Waisenhaus in Katutura, Namibia

für gesellschaftliche Umbruchprozesse. Experten schätzen, dass gegenwärtig über 15 Millionen Kinder und Jugendliche im Alter bis zu 17 Jahren im Sub-Saharischen Afrika einen Elternteil oder beide Eltern durch die Immunschwäche verloren haben. Am Institut für Soziologie der Universität Gießen widmet sich seit März 2012 ein dreiköpfiges Forscherteam der Frage nach den sozialen Folgen der AIDS-WaisenKrise im Südlichen Afrika. Am Beispiel Namibias wird der gesellschaftliche Umgang mit dieser Krise untersucht. Geleitet wird das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierte Projekt „Soziale Krisen und soziale Kräfte“ (2012-2015) von dem Soziologen Prof. Reimer Gronemeyer, zum Team gehören Michaela Fink und Julia Erb.

Kinder im Baby Haven

Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012

D

ie Zerstörung sozialer Zusammenhänge, eine zunehmend klaffende Schere zwischen Arm und Reich, die hohe Verbreitung von HIV/AIDS: Namibia, das seit 1990 unabhängige Land im Südlichen Afrika, hat mit einer Fülle von Problemen zu kämpfen. 13,1% der Bevölkerung im Alter von 15 bis 49 Jahren sind HIV-positiv. Eine der Konsequenzen ist die große Zahl von AIDS-Waisen, die im Land leben. Namibia weist die weltweit höchste Selbstmordrate auf – und das dürfte nicht zuletzt mit der Epidemie und ihren Folgen zusammenhängen. Das Land ist 22 Jahre nach seiner Unabhängigkeit und nach dem Ende des Befreiungskrieges von einem sozialen Frieden weit entfernt. Der Afrikanist Henning Melber zieht ein bitteres Resümé: „Es vergeht keine Woche, in der nicht Föten aus der Kanalisation gezogen oder anderswo entdeckt werden. Auch baby dumping, bei dem Neugeborene von ihren Müttern einfach durch Aussetzung entsorgt werden und meist nicht überleben, gehört als fest stehender Begriff mittlerweile ebenso zum Alltagswortschatz wie street kids und sugar daddies. Kinder haben inzwischen oft noch nicht einmal das Teenageralter erreicht, bevor sie aus purer Not zum Verkauf ihres Körpers auf der Straße oder andernorts gezwungen werden. (…) Von dem Ausmaß an krimineller Aggression auch in Form von Mord und Körperverletzung und dem

Missbrauch von Frauen, die vom Kleinkind bis zur Großmutter vergewaltigt, gedemütigt und misshandelt werden, ganz zu schweigen.“ (afrika süd, Nr. 2, März/April 2012) Es ist anzunehmen, dass insbesondere die Waisen gefährdet sind, Opfer von Missbrauch und Gewalt zu werden. Und das hat mit einem dramatischen sozialen Umbruch zu tun. Bislang wurden die meisten Waisen von ihren erweiterten Familien aufgenommen. Durch die Vielzahl der Erkrankten, Verstorbenen und Verwaisten geraten die familialen Strukturen gegenwärtig immer deutlicher an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Darüberhinaus werden die Familienzusammenhänge durch Modernisierungsprozesse wie Arbeitsmigration, Landflucht und Urbanisierung erschüttert. Die sozialen Verwüstungen sind nicht zu übersehen. Dennoch wird im Umgang mit der AIDS-Waisen-Krise nach wie vor etwas von dem sozialen Reichtum sichtbar, der sich auf die Kraft der Familie, die Nachbarschaft und die Subsistenzwirtschaft gründet. In dem Projekt „Soziale Krisen und Soziale Kräfte“ wird gefragt, welche Antworten in Namibia auf die wachsende Zahl von AIDS-Waisen gefunden werden. Wir untersuchen mit Hilfe zahlreicher Interviews die Übergänge, die sich aus dem Wandel von einem traditionellen zu einem modernisierten Afrika ergeben: Wie verändert sich in Zeiten von AIDS und Modernisierung die Großfamilie, die ja traditionell

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Fink, Erb, Gronemeyer

Dem Forscherteam kommen langjährige, intensive Kontakte nach Namibia zugute, die aus früheren Forschungsarbeiten von Prof. Grone­meyer resultieren, und auch aus der Tätigkeit des Vereins „Pallium“. Dieser ist aus einem früheren DFG-Forschungsprojekt zu HIV/AIDS im Südlichen Afrika hervorgegangen und unterstützt seit 2004 Hilfsprojekte für AIDS-Waisen in Namibia finanziell und durch Vermittlung von Praktikantinnen und Praktikanten (www.pallium-ev.com).

die zentrale Instanz sozialer Sicherung gewesen ist? Wir untersuchen traditionell-familiale, administrative, projektorientierte, nachbarschaftliche und zivilgesellschaftlich orientierte Ansätze, die als Reaktion auf die AIDSWaisen-Krise erkennbar sind. Dabei interessiert uns die Frage nach dem innovativen Potenzial, das mit der Krise verbunden ist. Denn es ist schon jetzt erkennbar, dass die zivilgesellschaftliche Herausforderung, die diese Krise

bedeutet, auch neue soziale Kräfte, neue soziale Milieus und Unterstützungsnetze entstehen lässt. Wir verankern unsere Forschung darüberhinaus in einem breiteren Kontext, indem wir versuchen, den Wandel der Familienstrukturen zu beschreiben und den erkennbar veränderten Umgang mit Kindern. Der Vergleich zwischen Stadt und Land, zwischen traditionell und modern spielt dabei eine zentrale Rolle. Ob-

Namibia – die AIDS-Waisen-Krise in Zahlen Bei einer Gesamtbevölkerung von 2,3 Millionen Menschen leben in Namibia nach Schätzungen von Experten 70.000 Kinder und Jugendliche, die einen Elternteil oder beide Eltern durch AIDS verloren haben. Insgesamt wird von 110.000 Waisen ausgegangen. In der Regel werden die Halb- und Vollwaisen zusammen gezählt mit gefährdeten und notleidenden Kindern, den OVC (orphans and vulnerable children). 250.000 OVC (0 bis 18 Jahre) werden in Namibia gezählt. Das entspricht einem Bevölkerungsanteil von über 10 %. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums erreichen externe – staatliche und zivilgesellschaftliche – Unterstützungsangebote knapp 20 % der OVC.

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Großmutter Kathrina lebt in einem kleinen Wellblechhaus in Havana (Katutura) in Namibia.

wohl die Anzahl der Waisen in Namibia hoch ist, scheinen alte und neue Sozialisationsformen recht gut zu funktionieren – verstörte oder verhaltensauffällige Kinder fallen keineswegs ins Auge. In diesem Zusammenhang untersuchen wir, was im Umgang mit den Kindern dort im Vergleich mit Europa anders ist. Eine systematische kulturvergleichende Anthropologie der Kindheit sprengt zwar den Rahmen des Projektes. Aber vor dem Hintergrund zunehmend problematischer und oft misslingender Sozialisationsbemühungen bei uns ist es spannend und eventuell hilfreich wahrzunehmen, was im Umgang mit Kindern, speziell mit Waisen, in Namibia so anders ist. Das Phänomen ADHS zum Beispiel, die Auf-

Justus-Liebig-Universität Gießen


Soziale Krisen und soziale Kräfte

Havana, ein Stadtteil von Katutura

merksamkeitsstörung, mit der wir es gegenwärtig in den westlichen Gesellschaften zu tun haben, ist im afrikanischen Kontext weitgehend unbekannt. Warum ist das so? Sind AIDS-Waisen traumatisierte Kinder, wie wir es bei uns in vergleichbarer Situation wohl annehmen würden? Es scheint so, als ob namibische Kinder emotional und was ihre Versorgung betrifft weitaus weniger an ihre leiblichen Eltern gebunden sind, als das bei uns der Fall ist. Ein namibisches Waisenkind kann durchaus gut in eine Großfamilie eingebettet sein. Das Projekt setzt es sich zum Ziel, am Ende auch die Ergebnisse vor Ort zurückzugeben: Wir gehen davon aus, dass die Untersuchung herauszustellen imstande sein wird, welche staatlichen und zivilgesellschaftlichen Modelle im

Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012

Umgang mit dem Thema AIDS-Waisen förderlich sind – und welche Aufgaben die (deutsche) Entwicklungszusammenarbeit in diesem Kontext wahrnehmen könnte und sollte. Wenn man den Versuch macht, erste Ergebnisse, die fast noch Hypothesen sind, zu formulieren, dann kann man sagen: • Es gibt drastische und folgenreiche Unterschiede zwischen Sozialisationskonzepten in Namibia und Europa. „Erziehung“ ist in Namibia nicht elternspezifisch, sondern eingebettet in den Kontext der Großfamilie. Mut-

ter können Viele sein, vor allem alle Schwestern der Mutter werden auch „meme“, Mutter, genannt. Jeder, der da ist, der Zeit hat, der hinschaut, ist zuständig. • Das hat für AIDS-Waisen unübersehbare Folgen: Wenn ein Kind aus der Großfamilie herausfällt, verliert es gewissermaßen seine „Bodenhaftung.“ Waisenhäuser sind aus diesem Grund in Namibia – wie wohl generell im südafrikanischen Kontext – eine problematische, nur als äußerste Notlösung verstandene Einrichtung. Erst die gegenwärtige Krise beschädigt das Modell Großfamilie, die schwächer wird. Daraus erwachsen zunehmend Beispiele für Vernachlässigung und Misshandlung.

Wasserzapfsäule. Mit einer Chipkarte kann man dort Wasser holen

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Fink, Erb, Gronemeyer

Die schwierige Alltagssituation und die schnellen Veränderungen werden an diesen Konkretionen deutlich: Mirjam ist AIDS-Waise. Sie lebt bei ihrer Großmutter Kathrina in Havana. Havana ist ein Teil des ehemaligen Township Katutura bei Windhoek, was soviel bedeutet, wie „der Ort, an

dem wir nicht leben wollen“. Katutura entstand während der südafrikanischen Apartheidspolitik in den 1950er Jahren, als die schwarze Bevölkerung in die Außenbezirke der Hauptstadt zwangsweise umgesiedelt wurde. Die illegalen Siedlungen in Katutura wachsen gegenwärtig mit dramati-

Die Autoren Michaela Fink, Jahrgang 1973, Dr. phil., ist Soziologin und Lehrbeauftragte an der Universität Gießen. Mitarbeit in wissenschaftlichen Forschungsprojekten zur Hospizbewegung und zu HIV/AIDS und AIDS-Waisen im Südlichen Afrika. Seit 2004 ist sie Vorstandsmitglied von „Pallium – Forschung und Hilfe für soziale Projekte e.V.“. Von 2006 bis 2012 Aufbau und Koordination des Ambulanten Kinderhospizdienstes Gießen unter der Trägerschaft des Deutschen Kinderhospizvereins e.V. Julia Erb, Jahrgang 1981, M.A., ist Kunstpädagogin und Soziologin. Seit 2006 ist sie aktiv im Bildungs- und Kulturaustausch mit dem südlichen Afrika, insbesondere bei der Planung und Realisierung von Ausstellungen zu sozio- und interkulturellen Themen (www. tropes-on-display. org), seit 2008 kunstpädagogische und künstlerische Projektarbeit. Sie ist Herausgeberin der Zeitschrift „Palaver. Kleine Schriften zu den Tropen hier und anderswo“. Reimer Gronemeyer, Jahrgang 1939, Dr. theol. und Dr. rer.soc., Professor für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. In den letzten Jahren vor allem Forschungsprojekte zum Thema Hospiz und Palliative Care in Europa. Außerdem Forschungsprojekte zu den sozialen Folgen von HIV/AIDS im Südlichen Afrika und zum Thema „Saatgut und Sozialsystem in Tansania und Namibia“. Reimer Gronemeyer ist Vorsitzender des Vorstands der „Aktion-Demenz. Gemeinsam für ein besseres Leben mit Demenz“.

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scher Geschwindigkeit. Eine geregelte Arbeit finden die wenigsten Zuwanderer. Kleine informelle Geschäfte sichern vielen Bewohnern notdürftig das tägliche Überleben. Die heute elfjährige Mirjam hat die ersten vier Lebensjahre im „Baby Haven“, einem Waisenhaus in Katutura, verbracht. Ihre Mutter ist an AIDS gestorben. Nach diesen Jahren hat ihre Großmutter das Mädchen zu sich geholt. Kathrina trägt einen Kittel, der mit Knöpfen und Wäscheklammern zusammengehalten wird. Ihr kleines Wellblechhaus besteht aus einem Raum, in dem sie mit ihrer Enkelin zusammenlebt. Sehr sorgfältig sind ihre wenigen Habseligkeiten an der Seite aufgeschichtet. Auf dem Boden liegt eine Matratze. Ein wackliger Plastikstuhl wird vor die Hütte gestellt. Dort nimmt sie Platz. Wir sitzen auf Felsbrocken, von Zeit zu Zeit weht uns während des Interviews eine uringeschwängerte Brise an. Die Nachbarn sind freundlich, so sagt sie. Sie nehmen für die Hütte keine Miete. Die könnte sie auch nicht bezahlen. Weil Kathrina vor Jahrzehnten aus Südafrika eingewandert ist, hat sie keine namibischen Papiere, bekommt also nicht die Rente in Höhe von umgerechnet 50 Euro, die eigentlich allen über 60-jährigen Namibiern zusteht. So kann sie sich nur über Wasser halten, indem sie Wäsche für benachbarte Familien wäscht. Das bringt im Monat etwa 20 Euro, von denen sie mit Mirjam lebt. Davon kann sie einen Sack Maismehl kaufen, die beiden essen dann den ganzen Monat lang aus diesem Sack Mehl, mit dem Brei gemacht wird. Fleisch gibt es nie dazu, hin und wieder etwas Zucker oder Tee. In zehn Meter Entfernung steht die Wasserzapfsäule. Mit einer Chipkarte kann man dort Wasser holen – wenn die Karte aufgeladen ist. Die Hütten hier haben keinen eigenen Wasseranschluss, auch keine Elektrizität. Die

Justus-Liebig-Universität Gießen


Soziale Krisen und soziale Kräfte

„Baby Haven“-Gründerin Agnes Tom und ihre Tochter Lulu Tom, die Managerin.

Großmutter hat keine solche Karte, sie bekommt Wasser von den Nachbarn, zum Kochen und zum Wäschewaschen. Um Feuerholz zu finden, muss sie inzwischen sehr weit gehen, alles ist abgesammelt. Die Enkelin wächst jetzt aus den Kleidern, die sie im „Baby Haven“ geschenkt bekommen hat, heraus. Wie das alles weitergehen soll, weiß die Großmutter nicht. Nach der Schule hilft Mirjam ihrer Großmutter. Sie ist eine gute Schülerin. Morgens vor der Schule und abends gibt es oshifima, den Maisbrei. Mehr nicht. Wir fragen die Großmutter, was sie bei der Erziehung für das Wichtigste hält. Respekt vor den Älteren, das sei die Hauptsache. Gesprochen wird Afrikaans. Kein Wort der Klage oder Anklage kommt ihr über die Lippen. Die Freundlichkeit der Nachbarn, die sich auch um Mirjam kümmern, wenn sie nicht da ist, erwähnt sie immer wieder. Der „Baby Haven“ befindet sich im Katutura-Viertel Grysblock. Es ist später Abend am 19. Juli 2012. Ein Wagen hält vor dem kleinen Steinhaus. Zwei Sozialarbeiterinnen des Ministry of Gender Equality and Child Welfare bitten Lulu Tom, die Managerin des Waisenhauses, mitzukommen. Anwohner

haben gemeldet, dass auf einer nahe gelegenen Müllhalde zwei misshandelte Kinder gefunden wurden: ein Junge im Säuglingsalter und ein etwa zwei Jahre altes Mädchen. Die Kinder werden in den „Baby Haven“ gebracht, wo sie erst einmal bleiben können. Die Polizei ermittelt, die Sozialarbeiterinnen suchen nach Verwandten. Interviews und Gruppengespräche in Windhoek-Katutura, mit denen die Forschungsarbeit begonnen hat, lassen schon jetzt erkennen: Regierungsstellen – lokal und überregional – sehen die dramatischen Entwicklungen, aber es geschieht wenig. Waisen steht ein government grant in Höhe von 200 Namibischen Dollar im Monat zu (das sind ca. 20 Euro). Viele bekommen dieses Geld nicht, und es reicht auch nicht, um ein Kind zu versorgen, in die Schule zu schicken etc. Da, wo es ankommt, bricht es nicht selten das

gemeinschaftliche Wirtschaften auf: Die älteren Waisen beanspruchen innerhalb der Familie das Geld für sich. Das Thema HIV/AIDS ist bei uns aus der Berichterstattung verschwunden oder kommt noch seltener vor als früher. Dabei brechen die sozialen Folgen der Epidemie im Südlichen Afrika erst jetzt richtig durch. Die Großfamilie, die bisher Vieles aufgefangen hat und die wichtigste Form sozialer Sicherung war, wird von zwei Seiten her angefressen: Modernisierungsprozesse unterminieren sie von der einen Seite, die Folgen der Epidemie von der anderen. Man wird sich auf verstörende Nachrichten gefasst machen müssen und zugleich aufmerksam beobachten, welche Antworten die namibische Zivilgesellschaft auf das Thema AIDSWaisen findet. •

KONTAKT Prof. Dr. Dr. Reimer Gronemeyer, Dr. Michaela Fink, Julia Erb M.A. Justus-Liebig-Universität Karl-Glöckner-Str. 21 E, 35394 Gießen Telefon: 0641 99-23204 Michaela.Fink@sowi.uni-giessen.de

Waisenhaus „Baby Haven“, Katutura

Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012

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Mehrwert Europa Zur Finanzierung der EU-Politiken von 2014 bis 2020 Von Karin Pieper

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Justus-Liebig-Universität GieĂ&#x;en


Mehrwert Europa

Bis spätestens Mitte 2013 müssen sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) auf einen neuen Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) für den Zeitraum 2014 bis 2020 einigen. Wie bei den vorherigen Verhandlungen geht es hierbei um Milliardenbeträge und um die Aushandlung der Frage, welches Politikfeld mit welchen Summen finanziell ausgestattet wird. Mit Blick auf die andauernde Finanzkrise einiger EU-Mitgliedstaaten stellt diese Aufteilung ein „kniffliges Spiel“ dar: Einerseits geht es um die Umsetzung der Wachstumsprämisse und um den EU-weiten Solida-

E

xemplarisch beleuchtet werden der zweitgrößte Finanzposten, die EU-Strukturpolitik, die ländliche Entwicklung als Teil der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) sowie die Energie- und die Erweiterungspolitik. Dabei wird die deutsche Perspektive inklusive der Beteiligungsmöglichkeiten der deutschen Bundesländer dargestellt.

ritätsgedanken, andererseits um das mögliche Festhalten an traditionellen ausgabenstarken Politiken wie die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP). Der Aufsatz beleuchtet aus politikwissenschaftlicher Sicht die Reichweite einer Finanzaufteilung, die einer innovativen und wachstumsfördernden sowie einer solidarischen Logik folgt.

Die Europaflagge vor der ­Europäischen Zentralbank.

Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012

EU-Kohäsionspolitik: Instrument für Wachstumsförderung oder Finanzausgleich? Die Europäische Kommission hat Mitte 2011 Vorschläge für den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR), unter dem Titel „Ein Haushalt für Europa 2020“ mit einem Gesamtausgabenvolumen von rund 1.000 Mrd. Euro vorgelegt. Seitdem wird bei ausgabenträchtigen Haushaltsrubriken wie der EU-Kohäsionspolitik, für die ein Betrag von knapp 380 Mrd. Euro vorgesehen ist, über die räumliche Aufteilung und die inhaltliche Schwerpunktsetzung auf Ebene der Mitgliedstaaten, der Regionen und im Europäischen Parlament (EP) diskutiert. Seit dem Vertrag von Lissabon 2009 hat das Europäische Parlament einen Machtzuwachs erfahren: Während der MFR einstimmig im Rat unter Zustimmung der Mehrheit der EU-Abgeordneten verabschiedet werden muss, gilt für die Verabschiedung der allgemeinen Bestimmungen zur Kohäsionspolitik

nunmehr das ordentliche Gesetz­ gebungsverfahren. Somit gilt das EP neben dem Rat als gleichberechtigtes Organ der Entscheidungsfindung. Für die beteiligten Institutionen gilt es, diese Neuausrichtung der Machtverhältnisse zu berücksichtigen. Die EU-Kohäsionspolitik ist ein Politikfeld, mit dem als Ausdruck der Solidarität zwischen allen Mitgliedstaaten und Regionen bereits seit den 1970er Jahren die Entwicklung von sozioökonomisch schwachen Gebieten unterstützt wird. Ziel ist es, durch Investitionen in die Infrastruktur und Förderung von Klein- und Mittleren Unternehmen (KMU) zur wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion in der gesamten EU beizutragen. Aktuell gilt die Kohäsionspolitik als Instrument zur Umsetzung der im Jahr 2010 verabschiedeten Europa 2020-Strategie, bei der es um die Förderung der Ziele eines intelligenten, nachhaltigen und integrativen Wachstums geht (Europäische Kommission 2010). Dazu werden 35,7% der EU-Haushaltsmittel für strukturpolitische Maßnahmen im Sinne der Wachstums- und Beschäftigungsstrategie sowie zur Förderung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit eingesetzt. Rechnet man die Gelder der zweiten Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) zur Erhaltung der natürlichen Ressourcen hinzu, so ergeben sich 40% der Haushaltsmittel, die hier genauer betrachtet werden.

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Pieper

Tabelle: Mehrjähriger Finanzrahmen (EU-28), 2014-2020, aus Kommission 2012: Ein Haushalt für Europa 2020, S. 16* *Die Aktualisierung des ursprünglichen Kommissionsentwurfs aus dem Jahr 2011 berücksichtigt den beschlossenen Beitritt Kroatiens zum 1. Juli 2013 (in Mio. Euro – zu konstanten Preisen 2011) Mittel für Verpflichtungen 1. Intelligentes und integratives ­Wachstum, davon: soziale, wirtschaftliche und territoriale Kohäsion

2014

2015

2016

2017

2018

2019

2020

Summe

64.769

67.015

68.853

70.745

72.316

74.386

76.679

494.763

50.464

51.897

53.177

54.307

55.423

56.474

57.501

379.243

2. Nachhaltiges Wachstum: Natürliche Ressourcen, davon: Marktbezogene Ausgaben und ­Direktzahlungen

57.845

57.005

56.190

55.357

54.357

53.371

52.348

386.472

42.363

41.756

41.178

40.582

39.810

39.052

38.309

283.051

3. Sicherheit und Unionsbürgerschaft

2.620

2.601

2.640

2.679

2.718

2.757

2.794

18.809

4. Globales Europa

9.400

9.645

9.845

9.960

10.150

10.380

10.620

70.000

5. Verwaltung, davon: Verwaltungsausgaben der Organe

8.622 7.047

8.755 7.115

8.872 7.184

9.019 7.267

9.149 7.364

9.301 7.461

9.447 7.561

63.165 51.000

27

0

0

0

0

0

0

27

MITTEL FÜR VERPFLICHTUNGEN INSGESAMT in BNE-%

143.282

145.021

146.400

147.759

148.690

150.195

151.888

1.033.235

1,10%

1,09%

1,08%

1,08%

1,07%

1,06%

1,06%

1,08%

MITTEL FÜR ZAHLUNGEN ­INSGESAMT in BNE-%

133.976

141.175

144.126

138.776

146.870

144.321

138.356

987.599

1,03%

1,06%

1,06%

1,01%

1,06%

1,02%

0,96%

1,03%

6. Ausgleichszahlungen

Kostspielige neue Förderregionen trotz Nettozahler-Lobby? Bei den Verhandlungen zu den Finanzposten argumentiert Deutschland aus Sicht der leistungsfähigeren Mitgliedstaaten, der so genannten Nettozah­ ler: Das bedeutet, dass es im Interesse Deutschlands ist, dass das EU-Budget nicht expandiert und dass die Gelder möglichst effizient eingesetzt werden. Die deutsche Verhandlungsposition resultiert auch aus dem bei der innerdeutschen Politik vorhandenen Bewusstsein um die Staatsverschuldung des Bundes, aber auch der der Länder und Kommunen. Ein Beispiel belegt diese Problematik: So ist alleine das Bundesland Berlin mit 63 Mrd. Euro verschuldet und wird ab Ende 2019 ohne die zusätzlichen Fördergel-

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der aus dem dann auslaufenden Solidarpakt Deutsche Einheit und einer verfassungsmäßig greifenden Schuldenbremse vor ganz neuen fiskalpolitischen Herausforderungen stehen. Europäische Solidarität finanzpolitisch abzubilden fällt vor diesem Hintergrund auch dem Nettozahler Deutschland immer schwerer. Umso gewichtiger ist es auch vor dem innerdeutschen Rechtfertigungsdruck der Politik gegenüber der Öffentlichkeit, nicht nur eine möglichst hohe Mitteleffizienz auf EU-Ebene zu fordern, sondern gleichzeitig möglichst hohe Rückflüsse aus dem deutschen EU-Budget durchzusetzen. Der Weg dorthin wird jedoch differenziert betrachtet. Bei den Verhandlungen und der Festlegung der deutschen Position zur Kohäsionspolitik gab es zwischen den Bundesländern und der Bundesregie-

rung eine Diskussion zur inhaltlichen Ausrichtung der Strukturpolitik: Sozioökonomisch stärkere Bundesländer wie Baden-Württemberg oder Bayern vertraten zusammen mit der Bundesregierung bei Bundesratsstellungnahmen die Ansicht, man solle vor allem auf die Wettbewerbsfähigkeit und auf Wachstumsbranchen setzen. Das bedeutet, dass in Wettbewerbsregionen innovative und hochgradig produktive Unternehmen gefördert werden und dabei auch private Investitionen mobilisiert werden sollen. Sozioökonomisch reichere Bundesländer sprechen sich für die Wettbewerbsregionen aus, da dieser Ansatz auch Maßnahmen zur Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) und der Verstärkung von Forschung und technologischer Entwicklung beinhaltet. Die Förderung

Justus-Liebig-Universität Gießen


Mehrwert Europa 16 |

im Rahmen der Wettbewerbsregionen ermöglicht es den Bundesländern, ihren jeweiligen Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort international attraktiv auszugestalten und Investitionen und Fachkräfte anzuziehen. Andererseits gab es auf Bundesländerebene vor allem der sozioökonomisch schwächeren sowie fraktionsübergreifend im Europäischen Parlament Befürworter für die zusätzliche Einführung so genannter Übergangsregionen. Dabei handelt es sich um ein so genanntes „Sicherheitsnetz“ für Regionen deren BIP 75 bis 90% des Durchschnitts der 27 EU-Mitgliedsstaaten (EU-27) beträgt: Förderfähig sind somit die neuen Bundesländer und europaweit gesehen durch die Finanzkrise sozioökonomisch schlechter aufgestellte Regionen auch in Frankreich, Spanien und Italien. Dieser Finanztitel soll mit 40 Mrd. Euro ausgewiesen werden, was zirka 10% der für die EU-Kohäsionspolitik veranschlagten Gelder bedeutet (Europäische Kommission 2011). Zur Berechnung für diese Kategorie werden die regionalen BIP-Daten der letzten drei verfügbaren Jahre herangezogen. Für die Einführung dieser kostspieligen Förderkategorie steht aus Sicht des Europäischen Parlaments auch die Argumentation, dass Regionen die Auswirkungen der Finanzkrise schultern müssen, obwohl sie keinen Einfluss auf fiskalpolitische Entscheidungen des Nationalstaates haben. Im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens gab es im ersten Halbjahr 2012 bei den Abstimmungen positive Voten im federführenden Ausschuss und im Plenum des Europäischen Parlaments. Nach aktuellem Stand wird die Kategorie der Übergangsregionen, mit der ein fairer und transparenter Beitrag zur europaweiten Solidarität der durch die Finanzkrise betroffenen Regionen geleistet wird, in die neue Förderkulisse integriert.

Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012

Simulation der Förderfähigkeit 2014-2020 Pro-Kopf-BIP (KKS), Index EU27=100 < 75 (weniger entwickelte Regionen)

Kanarische Inseln

75 – 90 (Übergangsregionen) >= 90 (stärker entwickelte Regionen)

Guyana

Guadeloupe Martinique

La Réunion

Azoren

Madeira

© EuroGeographics Association for the administrative boundaries

In dem veränderten System von Förderregionen sollen mit Hilfe der Förderinstrumente Europäischer Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) und dem Europäischen Sozialfonds (ESF) Wachstumsimpulse gesetzt werden bei gleichzeitigem Umsetzen von Maßnahmen zum Rückgang der teilweise sehr hohen (Jugend-) Arbeitslosigkeit. Während im EU-27-Durchschnitt die Jugendarbeitslosenquote bei 23% liegt, ergibt sich für Spanien der Wert 53% (August 2012, Deutschland: 8 %, nach Eurostat 138/2012), bei steigender Tendenz in den letzten Monaten. Somit sind Investitionen in Bildung und Forschung sowie in die Weiterbildung vorgesehen sowie Maßnahmen zur KMU-Förderung z.B. durch unternehmensnahe Dienstleistungen und Netzwerkbildung in funktionierenden Wirtschaftsbereichen.

Europäische Kommission (2011): S. 16

Einen neuen Schwerpunkt bildet die Förderung von energetischer Gebäudesanierung: Voraussichtlich mindestens 20% der Mittel werden für Energieeffizienz und erneuerbare Energien veranschlagt. Zudem ist eine stärkere Fokussierung auf nachhaltige Stadtentwicklung vorgesehen. Die Zweckbindung sieht aus Sicht des Europäischen Parlaments u.a. vor, bestehende Programme zur Förderung des Kapazitätsaufbaus und Erfahrungsaustauschs zu den integrierten Maßnahmen für eine nachhaltige Stadtentwicklung zu nutzen. Mithilfe dieser Förderlinie besteht die Möglichkeit, kleinteilige Projekte im Quartiersmanagement auch in Metropolstädten mit Klimaschutzzielen und somit den

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Pieper

Zielen der Europa 2020-Strategie zu verbinden (Europäische Kommission 2011). Ein weiterer Vorteil ist, dass eine Sockelförderung für den ESF, also für beschäftigungsfördernde Programme, festgelegt ist. Dies bedeutet für die beantragenden Stellen wie lokalen Beschäftigungsinitiativen und Arbeitsvermittlungsagenturen, dass konsequent Qualifi zierungsprogramme beantragt werden müssen. In der Vergangenheit sind diese Förderprogramme z.B. in den neuen Bundesländern nicht komplett ausgeschöpft worden, da sie von den beantragenden Behörden und Instanzen teilweise als zu kompliziert angesehen wurden. Grundsätzlich geht es statt eines passiven Anspruchsdenkens der Adressaten bei diesen Programmen um Formen der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Mit dieser Sockelförderung wird nun an die Eigeninitiative der lokalen und regionalen Akteure appelliert, um die Schlagkraft von Bildungs- und Ausbildungsangeboten, also vor allem die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und die Wiedereingliederung jugendlicher Arbeitssuchender im Sinne der Europa 2020-Strategie zu verbessern. Die Zielgruppe können Existenzgründer sein, die über begleitende Coaching-Maßnahmen in Beschäftigung gebracht werden (Berliner Senatsverwaltung 2012).

novum: Grenzüberschreitender ausbau von energienetzen Eine Begründung für die letztendliche Durchsetzung der Übergangsregionen ist sicherlich die Einführung des neu-

tellandkanal, Hannover und Magdeen Finanztitels Connecting Europe burg. Facility (CEF) mit 40 Mrd. Euro von Trotz aktueller Bedenken hinsicht2014 bis 2020. Im Sinne einer Verbeslich eines gegebenenfalls zu zentraserung der Telekommunikation, Ener14 | listischen Verfahrens der Projektvergie- und Verkehrsinfrastruktur wird gabe, das über Brüssel abgewickelt ein verstärkter grenzüberschreitender werden soll, und einer möglichen VorAusbau von Energienetzen gefördert. abfestlegung von Trassen kann über Dies dient zum einen dazu, den EUdie Verdichtung eines Politikfelds wie Binnenmarkt für Energie bis 2014 zu der Energiepolitik eine sukzessive gewährleisten. Zum anderen wird mit Vergemeinschaftung entstehen: Das Infrastruktur in hoher Qualität ein Politikfeld Energiepolitik war bis zum Beitrag zu einer energieeffi zienten InVertrag von Lissabon nationalstaatdustriepolitik geleistet, erneut im Sinlich ausgerichtet und ist erst seit 2009 ne der Europa 2020-Strategie. Konkret ARCHITEKTUR DER KOHÄSIONSPOLITIK auf europäischer Ebene verankert. Ein kann die Verbesserung der Energiekooperatives 2014-2020 Vorgehen kann die Akeffi zienz und der Energieversorgungs2007-2013 teure motivieren, den europäischen sicherheit durch den Bau und die Ziele Zielvorgaben RegionenFonds Mehrwert zukategorie erkennen und somit den Modernisierung von grenzübergreivormals hochgehaltenen Souveränifenden Transport- und Verteilernetzen Konvergenz EFRE Investieren in Weniger EFRE entwickelte ESF Wachstum und tätsgedanken aufzugeben ESF zugunsten für Strom, Erdgas und Erdöl sowie der Beschäftigung Regionen eines gemeinsamen, also vergemeinInfrastruktur für die Speicherung von Konvergenz Übergangsschafteten Vorgehens. Erdgas und Erdöl und der FlüssiggasPhasing-out regionen Ein Vorläufer für strategische InInfrastruktur geleistet werden. Regionale vestitionen könnten die im Rahmen Für Deutschland ist dieser neue Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung des Wachstumspakts angedachten Finanztitel vorteilhaft, da der Staat Phasing-in EU-Projektbonds in Höhe von 4,5 geographisch zentral gelegen ist und Kohäsionsfonds Kohäsionsfonds Mrd. Euro für grenzüberschreitende somit an der Schnittstelle von vielen Regionale WettbeEFRE InfrastrukturStärker darstellen. InEFRE der PilotTranseuropäischen Netzen (TEN) in werbsfähigkeit und ESF entwickelte ESF phase, von der Europäischen Kommisden Bereichen Energie, Verkehr und Beschäftigung Regionen sion Ende Juli 2012 mit einer Laufzeit Informations- und TelekommunikatiEuropäische EFRE Europäische EFRE bis Ende 2013 genehmigt, wird die onstechnologie liegt. Zu diesen Verterritoriale territoriale Zusammenarbeit Zusammenarbeit Europäische Investitionsbank (EIB) kehrskorridoren zählt beispielsweise als zusätzliches Finanzinstrument die Binnenwasserstraße von Amsterzur Mobilisierung von Investitionen dam nach Berlin – über Enschede, BUDGET FÜR DIE KOHÄSIONSPOLITIK NACH 2013 (PREISE VON 2011) eingesetzt. Somit kommt es bei EUden Dortmund-Ems-Kanal, den Mit-

Tabellen und Schaubilder

Connecting Europe Facility für Verkehr, Energie und IKT 40 Mrd. EUR Zusätzliche Zuweisung für Regionen in äußerster Randlage und nördliche Regionen 0,9 Mrd. EUR

Kohäsionsfonds * 68,7 Mrd. EUR

Zusammenarbeit 11,7 Mrd. EUR

INSGESAMT Stärker entwickelte Regionen 53,1 Mrd. EUR

Budget für die Kohäsionspolitik nach 2013, aus: Kommission (2011): Kohäsionspolitik 2014-2020. Investieren in Wachstum und Beschäftigung, S. 14

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Connecting Eu für Verkehr, En und IKT INSGESAMT

Übergangsregionen 39,0 Mrd. EUR

Weniger entwickelte Regionen 162,6 Mrd. EUR

Justus-Liebig-Universität Gießen

* Der Kohäsi zweckgebun für die neue Facility bere


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Projektbonds zu einer Flexibilität hinsichtlich öffentlicher und privater Kofi nanzierungsinstrumente: Auf nationaler Budgetbasis nicht realisierbare Großprojekte können auf europäischer Ebene durchgeführt werden.

fokus auf territorialen Zusammenhalt seit dem Vertrag von lissabon Bis zum Vertrag von Lissabon galten der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt als die Hauptachsen der EU-Kohäsionspolitik. Seit dem Vertrag von Lissabon wird diese aktive Rolle beim Abbau von Ungleichgewichten und Entwicklungsdefi ziten um die territoriale Dimension ergänzt. Nach der Aufwertung der territorialen Zusammenarbeit

der grundsätzlich kleinteilige Ansatz der Förderprogramme, bei dem lokale und regionale Gebietskörperschaften in Querschnittspolitiken wie Umweltschutz, Kultur und Bildung zusammenarbeiten. Denkbar ist beim Austausch von Best Practise-Ansätzen, dass das deutsche Erfolgsmodell dualer Ausbildungssysteme in anderen EU-Staaten erprobt wird.

europa in der welt Einige transnationale Programme agieren an der Schnittstelle zu Staaten der Europäischen Nachbarschaftspolitik wie der Ukraine sowie mit Beitrittskandidaten wie Kroatien und Serbien. Somit wird bei Themen wie Energienetze und Umweltschutz

Ähnlich ist die Rolle der Gelder in Höhe von zirka 16 Mrd. Euro, die im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENI-Programm) eingesetzt werden. Dabei geht es um Hilfsprogramme zur wirtschaftlichen und politischen Annäherung an die EU bei gleichzeitigem Unterstreichen der demokratischen Werte und „knallharter“ kompromissloser Umsetzung von Sanktionsmaßnahmen (Wirtschaft, Visa-Einschränkungen), falls notwendig. Mitgedacht werden muss bei diesem Finanztitel der neue institutionelle Unterbau für die Koordination der EU-Außenpolitik: Der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) mit Sitz in Brüssel ist seit Anfang 2011 arbeitsfähig und setzt als Arbeitsstab der Hohen Vertreterin der Europäischen Union die externen Politikbereiche der EU wie humanitäre Hilfe, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und den Einsatz von EU-Sonderbeauftragten um.

aufbrechen von traditionen bei der Gemeinsamen agrarpolitik (GaP)? werden die drei bisherigen Förderlinien verstetigt mit einem fortge-führten Schwerpunkt zugunsten der grenzüberschreitenden Kooperation (73%). Neben der interregionalen themenorientierten Kooperation zwischen Regionen (6%), wird die transnationale, also großflächige Kooperation (21%) wie beispielsweise im Ostseeraum fortgesetzt (Europäische Kommission 2011). Um die Durchführung der Programme zu verbessern und entsprechend Verwaltungshemmnisse zu reduzieren, setzt man auf einen weiteren Ausbau des so genannten Europäischen Verbunds für Territoriale Zusammenarbeit (EVTZ). Das heißt, dass zukünftig auch Nicht-EU-Staaten wie z.B. Norwegen im Rahmen der Ostseekooperation an diesem prozeduralen Rechtsinstrument teilnehmen können. Positiv ist

Spiegel der Forschung · Nr. 2/2012

eine Solidarität über die Grenzen der EU hinweg gezeigt. Dabei wird die transnationale Kooperation der Donauanrainer auch im Rahmen des Instruments für Heranführungshilfe (IPA, zukünftig mit rund 12,5 Mrd. Euro) finanziert. Gleichzeitig leisten diese Programme einen Beitrag zur nachhaltigen Umsetzung von gutnachbarschaftlichen Beziehungen auf dem Westbalkan und der konsequenten Förderung von gutem Regierungshandeln. Dies beinhaltet die Unterstützung von effektiven Verwaltungsstrukturen, von guten Rahmenbedingungen für ausländische Direktinvestitionen sowie den Rückgang der politischen und wirtschaftlichen Korruption z.B. durch eine Kooperation im Grenzschutz und die Bekämpfung von Schmuggelaktivitäten.

Die GAP stellt mit 366 Mrd. Euro (42%) in der aktuellen Finanzperiode den größten Ausgabenbereich dar. Das Politikfeld ist in zwei Säulen aufgeteilt: Während bei der ersten Säule, die 80% der Förderungen ausmacht, gegenwärtig Subventionen in Form von Direktzahlungen und marktbezogenen Ausgaben gewährt werden, fallen unter die zweite Säule (20%) Förderprogramme im Rahmen des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER). Bei der GAP zeichnet sich eine Reform dahingehend ab, dass statt einer reinen Subventionspolitik Zuschüsse im Bereich der ersten Säule nur bei Eigeninitiative der Benefi zienten und mit Umweltauflagen gekoppelt gewährt werden. Zudem kommt es zu

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Pieper

einer Aufwertung der zweiten Säule, also den Programmen zur ländlichen Entwicklung mit 90 Mrd. Euro (gut 30%) (European Commission 2012). Der ländliche Raum umfasst 80% der EU-27. Daher wurden die „Ökologisierung“ der Direktzahlungen und vor allem die Aufwertung der zweiten Säule, also u.a. Maßnahmen zur Erhaltung der räumlichen Ausgewogenheit und Klimamaßnahmen schon seit längerem gefordert. Die Neuausrichtung scheiterte jedoch stets an der Veto­ position und dem „Juste-retourDenken“ Frankreichs: Die Franzosen möchten ihre an die EU abzuführenden Beträge durch finanzielle Rückflüsse über die GAP kompensieren. Während die französische Regierung diese Forderung grundsätzlich bestätigt, scheint eine neue Priorisierung von Zukunftsaufgaben denkbar zugunsten der umwelt- und beschäftigungspolitischen Wirksamkeit der GAP. Auch das Europäische Parlament, das seit dem Vertrag von Lissa-

bon als gleichberechtigter Partner mit dem Rat über die GAP entscheidet, hebt die große Bedeutung der zweiten Säule hervor. Es zeigt sich, dass in der anhaltenden Finanzkrise ein europaweites Umdenken möglich ist, bei dem auch traditionelle, ausgabenträchtige Titel einer Revision hin zu mehr Ressourceneffizienz unterzogen werden.

Regionen haben etwas zu sagen: Verbindungsbüros und Partnerschaftsvereinbarungen Im Vorfeld der Festlegung der Ausgabenschwerpunkte gab es eine von der Europäischen Kommission organisierte öffentliche Konsultation. Dort wurde offen unter aktiver Beteiligung von deutschen Vertretern aus Bundesländern und EP-Abgeordneten über Konzeptionen und Vorschläge auch zur EU-Kohäsionspolitik diskutiert. Zudem haben deutsche Vertreter im Ausschuss der Regionen das trans-

Die Autorin Karin Pieper, Jahrgang 1970, Studium der „Europäischen Studien“ in Osnabrück und Amsterdam. Promotion 2004 an der Universität Osnabrück als Stipendiatin eines DFG-Graduiertenkollegs zum Thema „Regionalpolitik in Ungarn und Polen. Zwei Staaten im EU-Beitrittsprozess“. Von 2005 bis 2008 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Politik, Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin; 2009 Angestellte an der Arbeitsstelle für Internationale Beziehungen und transatlantische Beziehungen am OttoSuhr-Institut der Freien Universität Berlin sowie von 2009 bis 2010 Dozentin und Koordinatorin des Jean Monnet Centre of Excellence „The EU and its Citizens“ an der Arbeitsstelle für Europäische Integration, Freie Universität Berlin. Von 2010 bis 2012 Vertretung der Professur für „Internationale Integration mit besonderem Bezug auf das Östliche Europa“ am Institut für Politikwissenschaft der Justus-LiebigUniversität Gießen.

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nationale Denken und Handeln z.B. dadurch gestärkt, dass sie sich für Kooperationsformate wie den Ostseeraum eingesetzt haben. Auch durch interregionale Regionenbüros in Brüssel, beispielsweise von Hessen, Emilia-Romagna, Aquitaine und Wielkopolska, kommt es zu einer Bündelung der Interessen und gemeinsamen Durchsetzung gegenüber u.a. der EU-Kommission und dem Europäischen Parlament. Im günstigsten Fall wird dabei ein politisches Nischenthema gefunden und inhaltlich durch regionale Expertise untermauert. Dies war bei den norddeutschen Bundesländern bei der Integrierten Meerespolitik der Fall. In diesem Fall arbeitet die Europäische Kommission die Reaktionen der Bundesländer aus Legitimationsgründen mit in ihre Ausarbeitungen ein. Denkbar sind auch Allianzen zum geplanten Rahmenprogramm für Forschung und Innovation „Horizont 2020“ (in Höhe von 80 Mrd. Euro), mit dem das Kernziel der Europa 2020-Strategie unterstrichen wird, dass die EU-Mitgliedstaaten mindestens 3% des BIP für Forschung und Entwicklung aufwenden sollen (Europäische Kommission 2010). Bei den umfassenden Finanzmitteln, die im Sinne der „geteilten Mittelverwaltung“ überwiegend dezentral umgesetzt werden, ist ein verantwortungsvoller Umgang mit den Finanzmitteln durch effektiv arbeitende Verwaltungsstrukturen auch auf der regionalen Ebene zwingend notwendig. Dazu werden möglichst zum ­1. Januar 2014 Partnerschaftsvereinbarungen zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten geschlossen. Die Verantwortung für die Investitionsschwerpunkte der EU-Förderprogramme liegt in Deutschland nicht prioritär bei der nationalen Regierung, sondern als Spezifikum eines Föderalstaates bei den Bundesländern (Senatsverwaltung Berlin 2012). Aus diesem

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Förderung von Erneuerbaren Energien/Windradentwicklung, The National Renewable Energy Centre (NAREC), Blyth, UK Foto: Henning Finck

Grund ist eine gute so genannte „Europafähigkeit“ auch der regionalen und lokalen Verwaltungsbehörden notwendig. Entsprechend qualifizierte Akteure können qualitativ hochwertige EU-Förderprogramme im Sinne einer Mehrebenen-Governance planen und durchführen. Das Europäische Parlament vertritt demzufolge den Standpunkt, dass europaweit regionale und lokale Behörden in allen Planungsphasen in den politischen Prozess einbezogen werden sollen. Zur „geteilten Mittelverantwortung“ gehört auch, dass Verwaltungsbehörden bereits bei der Planung detailliert angeben müssen, welche Ziele mit dem jeweiligen Förderprogramm erreicht werden sollen. Diese vorab festgelegten Zielmarken werden abschließend von unabhängigen Behörden geprüft. Wenn eine Förderregion z.B. EFREUnterstützung für Informations- und Kommunikationstechnologie erhält, muss abschließend die Anzahl der Personen, die Breitbandzugang mit mindestens 30 MBit/s haben, transparent gemacht werden. Ähnliches gilt z.B. für die Stadtentwicklung: Hier muss die Personenzahl mitgeteilt werden, die in Gebieten mit integrierten Stadtentwicklungsstrategien lebt. Die Ausgestaltung und Umsetzung der Kohäsionspolitik geschieht nicht zuletzt mit Blick auf die ebenfalls neu im Vertrag von Lissabon aufgenommenen Querschnittsklauseln (Art. 9 ff. AEUV) und Aspekte der Grundrechtecharta: So sind die nachhaltige Entwicklung, der Umweltschutz, soziale Aspekte, Gleichstellung von Mann und Frau sowie das Recht auf ordnungsgemäße Verwaltung festge-

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schrieben. Die Kohäsionspolitik als ausgewiesene Querschnittspolitik verschreibt sich etlicher dieser bereichsübergreifenden Grundsätze.

Einnahmen Mit Stand Herbst 2012 ist zu sagen, dass alle inhaltlichen Vorarbeiten und Quotierungen sowie mögliche geographische Geltungsbereiche auf einem noch nicht verabschiedeten EUFinanzrahmen beruhen. Der Verhandlungsmarathon, bei dem es hauptsächlich darum geht, was die einzelnen EU-Mitgliedstaaten beitragen und herausbekommen, wird sich erfahrungsgemäß noch bis in die erste Hälfte 2013 hinziehen. Erst dann kann über die inhaltlichen Verordnungsvorschläge

für die Kohäsionspolitik abgestimmt werden. Vor dem Hintergrund der Herausforderungen, die sich für alle 27 EU-Staaten aus der lang anhaltenden Finanzund Wirtschaftskrise ergeben, sowie der Durchführungsbestimmungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes wird das Einnahmesystem verhandelt. Da Deutschland als unverändert größter Nettozahler 20% zum EU-Finanzrahmen beiträgt, hat es, wie zuvor aufgezeigt, ein besonderes Interesse an einer sinnvollen Begrenzung der Gesamtausgaben. Um die Entscheidung über den Mehrjährigen Finanzrahmen zu vereinfachen, hat die Europäische Kommission als „Bonbon“ für die Nettozahler den Vorschlag vorgelegt , dass

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Pieper

der EU-Haushalt, gemessen an seinem Anteil am Bruttonationaleinkommen (BNE) der EU-Staaten nach 2014 durchschnittlich nur noch 1,08 % betragen soll (2013: 1,12 %) (European Commission 2012). Zum Vergleich: Diese von den Mitgliedstaaten abzuführenden Beträge sind nur ein Fünfzigstel von dem, was einzelne EU-Mitgliedstaaten ausgeben. Zudem schlägt die Europäische Kommission vor, die Beiträge der Mitgliedsländer u.a. durch eine neu einzuführende Finanztransaktionsteuer zu verringern. Nach Berechnungen des für Haushaltsfragen zuständigen polnischen EU-Kommissars Janusz Lewandowski werden mit Hilfe der Finanztransaktionssteuer Mehreinnahmen von jährlich 54 Mrd. Euro für den EU-Haushalt projektiert. In der aktuellen Förderperiode hatten einige Staaten Probleme mit der notwendigen Kofinanzierung von EUFörderprogrammen: Während die Kofinanzierungsquoten je nach Förderregion zwischen 50 und 85% liegen, konnte z.B. Griechenland nicht alle Gelder der Kohäsionspolitik abrufen. Um einer zukünftigen Überlastung der nationalen Haushalte vorzubeugen, wird die maximale Obergrenze pro Staat von derzeit 3,79 % auf voraussichtlich 2,5 % des BNE herabgesetzt. Insgesamt werden durch diesen Mechanismus die Nettozahler der EU entlastet und der Rahmen der Gesamtfinanzen wird begrenzt.

Solidargemeinschaft der EU-27: ja; Transfergemeinschaft: nein Bei der Neuordnung der EU-Finanzen und der damit verbundenen Investi­ tionsprioritäten geht es um globale Herausforderungen und das Besetzen von neuen Themen, die wie beispielsweise die Energiepolitik seit dem Vertrag von Lissabon auf der EU-Agenda stehen. Gleichzeitig geht es um die politische Gewichtung von Ausgabenbereichen:

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In welchem Rahmen soll eine europaweite Solidarität greifen? Deutlich wurde, dass es bei der Ausgestaltung des EU-Finanzrahmens nicht um eine Transferunion geht, also nicht um das Schaffen von starren Abhängigkeitsverhältnissen; vielmehr geht es bei der Umsetzung der EU-Ziele Wachstum und Beschäftigung um die diverse Unterstützung von Eigeninitiativen und Innovationsstrategien vor allem auf regionaler Ebene. Bei den Querschnittspolitiken steht somit die Förderung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit unter Berücksichtigung von Aspekten der wirtschaftspolitischen Steuerung im Vordergrund. Dabei werden strukturelle Differenzen, also spezifische wirtschaftliche und soziale Problemlagen sowie territoriale Besonderheiten berücksichtigt: Im ordentlichen Mitent­ scheidungsverfahren hat sich das Europäische Parlament nachhaltig für die neue Förderkategorie der Übergangsregionen eingesetzt. Spätestens im ersten Halbjahr 2013 müssen die Mitgliedstaaten unter irischer Ratspräsidentschaft eine Einigung über die Finanztitel finden. Diese einstimmige Verabschiedung des MFR ermöglicht in der EU-Kohäsionspolitik den unterzeichnenden nationalen und vor allem regionalen Behörden der Partnerschaftsvereinbarungen die konkrete Ausgestaltung der jeweiligen strategischen Investitionsschwerpunkte für die folgenden sieben Jahre auf der Grundlage von belastbaren Zahlen. Gerade bei sektoralen und territorialen Querschnittspolitiken wie der Kohäsionspolitik, der Gemeinsamen Agrarpolitik, aber auch der Energiepolitik ist es bei einem koordinierten Planungsprozess wichtig, dass die beteiligten Akteure den europäischen Mehrwert herausstellen und vermitteln. Nur dann kann das Grundanliegen der Finanzierung durch die EU begründet werden, nämlich durch die Verwirklichung von gemeinsam vereinbarten EU-Zielen einen Beitrag zur Verbesserung der Le-

bensqualitäten der Bürgerinnen und Bürger zu leisten. •

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Literatur

Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung (2012): Berlin 2020. Strategischer Rahmen für EFRE und ESF 2014 bis 2020 in Berlin. 05.06.2012 Europäische Kommission (2010): Mitteilung der Kommission: Europa 2020 – Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum, KOM(2010) 2020 endg. 03.03.2010. Brüssel. Europäische Kommission (2011): Kohäsionspolitik 2014-2020. Investieren in Wachstum und Beschäftigung. Generaldirektion Regionalpolitik. Luxemburg. European Commission (2012): Amended proposal for a Council Regulation laying down the multiannual financial framework for the years 2014-2020. COM(2012) 388 final; 2011/0177 (APP), 06.07.2012. Brüssel. Experteninterviews: geführt in den EU-Institutionen Europäisches Parlament, Europäische Kommission, Ausschuss der Regionen und in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Europäischen Union sowie in Vertretungen von Bundesländern bei der Europäischen Union; Oktober 2011, März und September 2012, Brüssel Zu den Antragsberatungen im Europäischen Parlament; vgl. Ausschussunterlagen der Ständigen Ausschüsse: http://www.europarl.europa.eu/ committees/de/parliamentary-committees.html

Kontakt Dr. Karin Pieper Justus-Liebig-Universität Institut für Politikwissenschaft 35394 Gießen Telefon: 0641/99-23110 karin.pieper@sowi.uni-giessen.de

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