Jürg von Ins
Lyriker & Ethnologe
juuergvonins.blogspot.com vonins@inschrift.ch
Referat für die
Zurich Addiction Research Conference
Dedicated to the 80th Birthday of Ambros Uchtenhagen: Roads to Innovation in Addiction Treatment – Humanism, Social Psychiatry & Research 3.-5. September 2008
“Alle Lust will Ewigkeit” Abhängigkeit aus kulturphilosophischer Sicht
PD. Dr. Jürg von Ins Lyriker und Ethnologe Studium der Kulturwissenschaft, Religionsgeschichte und Philosophie. Habilitation: Der Rhythmus des Rituals; Grundlagen einer ethnologischen Ritualsemiotik. Soeben erschienen: Ich hab kein Wort verloren (Gedichte, 2008)
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((Redemanuskript)) Abhängigkeit ist ein zentraler und positiver Grundbegriff der Religionspsychologie. Ich möchte ein paar Gedanken über die Abhängigkeit unseres Daseins und unseres Bewusstseins vortragen. Sie bildeten sich über zwei Jahrzehnte religionsethnologischer Feldforschung und entfalteten sich weiter im Dialog mit europäischen Denkern, Literaten und Künstlern. Sie bilden Teil einer vergleichenden Theologie der Götter, die ich noch nicht fertig geschrieben habe. Insbesondere werden mir dabei Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Gottfried Benn zu hellsichtigen Kommentatoren dessen, was ich in afrikanischen Ritualen als Präsenz der Götter erlebte und was ich hier, in der säkularen Welt vermisse. Am häufigsten und deutlichsten erlebte ich die Präsenz der Götter im Zug der Tanzsequenzen des Ndëpp, eines siebentägigen therapeutischen Besessenheitsrituals der Lebu am Cap Vert (Senegal). Es behandelt psychische Störungen, die oft durch das Auftreten von Göttern im Leben jener Menschen ausgelöst werden, die mit den Göttern nichts mehr zu tun haben wollen, angeblich nicht an sie glauben und ihnen nicht opfern. Oft werden die Betroffenen, die halluzinieren und wild um sich schlagen, zunächst in die Psychiatrische Klinik Fann-Dakar eingeliefert. In vielen Fällen fehlt der Familie aber das Geld dazu. Durch das Ndëpp-Ritual werden hauptsächlich zwei Dinge bewirkt: Der häusliche Opferschrein wird wieder eingerichtet, die Protagonistin zum regelmässigen Opferritual verpflichtet; und: Viele Protagonistinnen werden den Ndëpp immer wieder durchführen müssen, weil die Götter danach verlangen, in sie einzufahren, durch sie zu handeln, zu sprechen und zu tanzen. Schrittweise werden die Protagonistinnen dadurch auch zu Mitleiterinnen des Rituals. Die bewusstseinsverändernde Erfahrung wird am Hausaltar und im Kalender verortet. Zugleich ist die Besessenheit eine Bewusstseinsveränderung, an die man sich hinterher meist nicht erinnert (oder man ist jedenfalls legitimiert, das zu sagen). Das Ritual leitet die Protagonistin dazu an, sich der Übermacht, die ihr gegenüber tritt oder sich in ihr regt, zu fügen und hinzugeben. Die ukrainische Filmerin und Performancekünstlerin Maya Deren hat diese Erfahrung auf Haiti gemacht und wunderbar feinsinnig beschrieben: The singing is…inside my head. This sound will drown me! ‚Why donʼt they stop! Why donʼt they stop!ʼ I cannot wrench the leg free. I am caught in this cylinder, this well of sound…There is no way out. The white darkness moves up the veins of my leg like a swift tide rising, rising; (it) is a great force which I cannot sustain or contain, which, surely, will burst my skin. It is too much, too bright, too white for me; this is itʼs darkness. ‚Mercy!ʼ I scream within me. I hear it echoed by the voices, shrill and unearthly: ‚Erzulie!ʼ The bright darkness floods up through my body, reaches my head, engulfs me. I am sucked down and exploded upward at once. That is all.“ Maya Deren erlebte grelles Licht und Finsternis, Lust und Schmerz zugleich. Sie blieb länger als geplant in Haiti. Wie für die Protagonistinnen des Ndëpp setzte die Fähigkeit zum Verströmen im Andern auch für sie ein Zeichen der Genesung, des Aufbruchs und der Entwicklung. In Besessenheitsritualen können Alkohol und andere Rauschmittel unterschiedliche Rollen spielen. In Afrika wie in Brasilien und der Karibik nehmen die Besessenen bisweilen plötzlich grosse Mengen Branntwein zu sich, ohne Zeichen der Trunkenheit zu zeigen. Der Gott wirkt also nicht durch den Alkoholrausch, sondern verherrlicht seine Macht umgekehrt gerade dadurch, dass der Rausch ausbleibt, wenn er die Besessenen reitet. Anders verhielt es sich etwa im DionysosKult der alten Griechen. Der Wein, der bei den Symposien in Strömen floss, symbolisierte das Blut des Gottes, der durch das Ritual verehrt wurde. Doch auch hier galt es standzuhalten dank göttlichem Influx und möglichst keine Zeichen der Trunkenheit zu zeigen. Schliesslich ist Götterblut etwas mehr und etwas anderes als Wein. Und wiederum findet der Rausch durch das Ritual in heiligen Räumen und kalendarischer Zeit seinen Ort. Man pflegte deshalb am Tag danach nicht im selben Stil weiter zu trinken. Ich schwenke jetzt langsam auf die Landebahn im zeitgenössischen Europa ein. Aber etwas muss ich zum bisher Gesagten
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noch ergänzen: Die vorgestellten Beispiele zeigen nicht nur die suchthemmende Wirkung ritueller Verortung auf (die könnte ja auch leicht ins Prohibitive kippen), sondern viel wichtiger auch, dass der Mensch in der Begegnung mit seinen Göttern eine äusserste Intensität erleben kann – und ein darüber Hinausgehen: die Transzendierung des Ich. Es ist tatsächlich passiert. Das Äusserste hat sich ereignet. Aus dieser wiederkehrenden Befriedigung als Frucht der Hingabe schöpft der Mensch schrittweise eine neue, verlässlichere Identität. Dies freilich um den Preis einer nunmehr festgeschriebenen, rituell regulierten Abhängigkeit von der ‚eigenenʼ Gottheit. Sie hat ihn auserwählt, krank gemacht und geheilt; jetzt vermittelt sie ihm neue Gewissheit, dass das Leben lebbar ist. „Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich…Das Wort ‚seinʼ bedeutet im Deutschen beides: Dasein und Ihm-gehören.“ Also sprach Franz Kafka. Irgendwann aber zogen sich die Götter aus Europa zurück. Es war ein Schock. Rasender Sinnverlust. Orientierungsprobleme. Das Licht ging aus. Man lese etwa Plutarchs „Über die eingegangenen Orakel“. In diesem Zeugnis der Bestürzung schreibt der Priester am Orakel von Delphi: „Der grosse Pan ist tot.“ Der Satz sollte Friedrich Nietzsche inspirieren. Auch er als rebellischer Pfarrerssohn suchte den Göttern post festum noch einmal etwas Intensität abzutrotzen – und verzweifelte schliesslich an diesem kolossalen Unternehmen. Was will uns die Metapher vom Tod des grossen Pan, vom Tod aller Götter sagen? Das Äusserste geschieht nicht mehr; Ekstase, Rausch und Besessenheit haben in Raum und Zeit ihren Topos verloren. Die Mitte fehlt. Eine rastlose, unstillbare Lustkultur prägt daher nach Rilke das urban-säkulare Leben: „Es ist, als ob ein Trug sie täglich äffte, sie können gar nicht mehr sie selber sein; das Geld wächst an, hat alle ihre Kräfte und ist wie Ostwind gross, und sie sind klein und ausgeholt und warten, dass der Wein und alles Gift der Tier- und Menschensäfte sie reize zu vergänglichem Geschäfte.“ Geld und Substanzen ersetzen die Götter, ohne deren ordnende Leistung erbringen – und ohne den erfrischenden Wechselgang zwischen Auflösung und Neukonstellation auf einen Prozess fortgesetzter Identitätsbildung hin ausrichten zu können. Die Erfahrung des Besessenwerdens, die den Glauben an Götter voraussetzt, bringt die Zustände in eine klare Abfolge. Erst kommen Hingabe, Auflösung, Untergang, dann die Sequenz der Besessenheit – und schliesslich das Erwachen zu gestärkter Identität. Unter säkularem Vorzeichen gibt es keine solchermassen gesicherte Abfolge mehr. Der identitätsstiftende Vektor entfällt. Wir bleiben in einer polaren Welt ohne Ausgang zurück. Hier schwingt alles ewig fort. „Ein Hin und Her“ im säkularen Treibhaus. Hören Sie, wie Gottfried Benn im Spannungsfeld zwischen Ich-Auflösung und Selbstvergottung zu navigieren sucht: „Zersprengtes Ich – o aufgetrunkne Schwäre – Verwehte Fieber – süss zerborstene Wehr – : Verströme, o verströme Du – gebäre blutbäuchig das Entformte her.“ Das Entformte ist ein Götterrest; ebenso die Nacht, die Götterfinsternis, wie wir jetzt sagen dürfen, die Benn zum transzendenten Gegenüber wird, das er anfleht, ihn aus der säkularen „Nervenmythe“ zu etwas Grösserem, Verlässlicherem, Heiligem „heimzugebären“. Doch immer bleibt Benn zwei: Einer, der nicht sterben kann, und einer, der nicht geboren werden will. Diese Spannung speist unerschöpflich seine imperativische Poesie :
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„O, Nacht! Ich nahm schon Kokain und Blutverteilung ist im Gange. Das Haar wird grau, die Jahre fliehn, ich muss, ich muss im Überschwange noch einmal vorm Vergängnis blühn. O, Nacht! Ich will ja nicht so viel, ein kleines Stück Zusammenballung, ein Abendnebel, eine Wallung von Raumverdrang, von Ichgefühl. Tastkörperchen, Rotzellensaum Ein Hin und Her, und mit Gerüchen; Zerfetzt von Worte=Wolkenbrüchen – : Zu tief im Hirn, zu schmal im Traum. Die Steine flügeln an die Erde. Nach kleinen Schatten schnappt der Fisch. Nur tückisch durch das Ding=Gewerde Taumelt der Schädel=Flederwisch. O, Nacht! Ich mag dich kaum bemühn! Ein kleines Stück nur, eine Spange Von Ichgefühl – im Überschwange Noch einmal vorm Vergängnis blühn! O, Nacht, o leih mir Stirn und Haar, verfliess dich um das Tag=verblühte! Sei, die mich aus der Nervenmythe zu Kelch und Krone heimgebar. „O, still! Ich spüre kleines Rammeln: Es sternt mich an – es ist kein Spott – : Gesicht, ich: mich, einsamen Gott, sich gross um einen Donner sammeln.“ Leicht verkommt das Heilige zum Pathos und alles – die drittletzte Zeile sagt es per negationem – ist immer zugleich Spott. Das Pendeln zwischen zwei Polen lässt Gewissheit und Sinn keinen Raum. Und wie Benn tastet sich auch Friedrich Nietzsche im geheimnisvollen Schlussgedicht zu ‚Also sprach Zarathustraʼ durch die Götterfinsternis. Rastlos sind seine „höheren Menschen“ hinter allem her, was sie zu „vergänglichem Geschäfte“ reizen könnte. Die Lust will „Alles von neuem. Alles ewig, Alles verkettet, verfädelt, verliebt….“ Denn es ist eine unerfüllbare Lust, die auf endlose Wiederholungen zählt, und die dafür den Preis immer weiter ausufernden Leidens fordert. Sie wird zum selbstsüchtigen Vampir, der die Menschen entstellt. Leicht entdecken wir hinter der Maske des Glücks die Lust am Umsatz. Noch sind wir besessen, doch nunmehr im Griff tauber Kräfte ohne Namen und Antlitz, die mit uns weder reden noch singen und tanzen können. Nietzsche lässt Zarathustra sagen: „Ihr höheren Menschen, nach euch sehnt sie sich, die Lust, die unbändige, selige, - nach eurem Weh, ihr Missratenen! Nach Missratenem sehnt sich alle ewige Lust. Denn alle Lust will sich selber, drum will sie auch Herzeleid… Singt mir nun selber das Lied, dess Name ist ‚Noch ein Malʼ…:“
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„((1)) Oh Mensch! Gieb Acht! Was spricht die tiefe Mitternacht? ((2)) Ich schlief, ich schlief – , Aus tiefem Traum bin ich erwacht: – ((1))Die Welt ist tief, Und tiefer als der Tag gedacht. Tief ist ihr Weh – , ((2))Lust – tiefer noch als Herzeleid: ((1))Weh spricht: Vergeh! ((2))Doch alle Lust will Ewigkeit – , – will tiefe, tiefe Ewigkeit!“
© Jürg von Ins, 2008
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Bibliografie • Aw, Cheikh Tidjane 1969 – Sept jours, sept nuits; Film 16mm, Dakar • Benn, Gottfried 1978 Gedichte in der Fassung der Erstdrucke, Bruno Hillebrand hrsg., Fischer, Frankfurt a/M • Colli, Giorgio und Montinari, Mazzino hrsg. 1988 – Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe (KSA), 15 Bde, dtv/ de Gruyter, München • Deren, Maya 1953 – Divine Horsemen; The Living Gods of Haiti, McPherson & Co., New York • Von Ins, Jürg 2001 – Der Rhythmus des Rituals; Grundlagen einer ethnologischen Ritualsemiotik, entwickelt am Beispiel des Ndëpp der Lebu (Senegal), Reimer, Berlin • Kafka, Franz 1983 – Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlass; hrsg. Max Brod, Fischer, Frankfurt a/M • Rilke, Rainer Maria 1955 – Sämtliche Werke, Insel, Frankfurt a/M