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Codewort: Schreibstube
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Das Apfelparadies meiner Kindheit
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Wenn ich an die Gerüche in meiner Kindheit denke, dann erlebe ich immer wieder ein
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Eintauchen in eine spannende Welt voll von Glücksgefühlen, ausgelöst durch den
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paradiesischen Duft von reifen, rotwangigen Äpfeln. Wie gerne setzte ich mich zum großen,
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klobigen Eichentisch auf dem Gut Berghub meines Großvaters, inmitten der „Steirischen
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Apfelstraße“ gelegen, auf dem immer eine hölzerne Obstschale mit Äpfeln der Sorten Jonathan,
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Gala oder Gloster standen, einladend, in einen dieser köstlich schmeckenden Äpfel
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hineinzubeißen, ihn einfach nur zu genießen. Aber auch ein gebratener Zimtapfel im Advent –
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ein Apfelkompott, die Apfelnockerln oder Mutters Apfelstrudel im Herbst und Winter, der Duft
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des Apfels hat sich für mein ganzes weiteres Leben in meinem Kopf, aber auch in meine Seele
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eingebrannt, unauslöschlich und für immer und ewig! Der Treffpunkt in der guten „Stub’n“ war
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erfüllt mit Leben, Lust und Lachen, manchmal allerdings auch mit stiller Trauer. Hier wurden
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viele Gespräche geführt, Besprechungen abgehalten, aber auch gefeiert, wie die Geburtstage
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oder Hochzeitstage – und leider auch für Tote gebetet. Mein geliebter Großvater hätte seine
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einzige Enkelin ja sehr gerne jeden Tag im Dirndlgewand gesehen, aber meine Mutter und
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mein Vater wollten ein modernes Mädchen, namens Franziska, die nicht verschroben wirken
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sollte! Deshalb trug ich nur zum Apfelfest das Dirndl mit der weißen Bluse, weiße Stutzen und
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Haferlschuhe. In meinem Alltag trug ich meistens eine Baseballkappe mit dem Schirm zum
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rechten Ohr gedreht, darunter die vielen blonden Locken versteckt, ein T-Shirt mit gestreiften
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Ärmeln, allein der Anblick – man kann ihn nur cool nennen; so war ich auf dem Lieblingsfoto
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meines Großvaters, das auf der altdeutschen und wunderschön gedrechselten Anrichte stand,
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abgelichtet. Auf diesem Foto hielt ich einen roten Apfel in den Händen, ganze sechs Jahre alt,
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mein Mund spitzte sich zu einer kleinen Schnute, und dieser Apfel wurde von meinen kleinen
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Fingern wie ein kostbares Kleinod umklammert, weil er von meinem eigenen ersten Apfelbaum
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stammte. Zu meiner Geburt hatte Großvater Heinrich für mich diesen Baum gepflanzt, er sollte
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der zukünftigen Erbin Glück bringen und ich war mächtig stolz, als er nach einigen Jahren seine
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ersten Früchte trug. Ich besaß nämlich einen Baum ganz für mich allein und ich konnte mit den
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Früchten machen, was ich wollte. Meistens wünschte ich mir Apfelnockerln oder einen deftigen
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Apfelschmarren – als ich ein bisschen älter war, presste ich mir meinen eigenen Apfelsaft und
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fabrizierte meinen alkoholfreien „Kinderschnaps“ aus rotwangigen Äpfeln - nur für besondere
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Gelegenheiten.
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Aber dann schlug das Schicksal zu, mein heißgeliebter Vater verliebte sich in eine andere Frau,
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meine Mutter verließ das Gut – bei Nacht und Nebel – wir führten ein ganz anderes Leben,
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bescheiden und auch ein bisschen armselig in Graz, der Hauptstadt des Bundeslandes
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Steiermark. Meine Mutter putzte und schrubbte in vornehmen Villen bis zum Umfallen, um mir Straßengler Literaturpreis
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Codewort: Schreibstube
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eine ordentliche Ausbildung zukommen zu lassen – ja, und endlich war der Tag der gekommen,
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an dem ich zur ausgebildeten Agrarlandwirtin „geschlagen“ wurde. Ich fand eine gute
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Anstellung auf und konnte mit meiner Mutter ein kleines Häuschen in Wetzelsdorf erwerben.
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Wäre es ein Märchen, dann könnte man schreiben, und wenn sie nicht gestorben sind, dann
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leben sie dort noch heute; aber das Leben ist kein Märchen und so gab es den nächsten
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Schicksalsschlag! Mein Vater, den ich
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gesprochen hatte, verunglückte tödlich. Wir wurden mit einem Telegramm überrascht: Dein
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Vater ist gestern tödlich verunglückt, sein Begräbnis findet in zwei Tagen auf unserem Gut statt!
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Ich überlegte lange, bis ich mich endlich von meiner Mutter breitschlagen ließ, dem Begräbnis
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beizuwohnen. Als ich mit meinem Geländewagen an den Apfelhainen vorüberfuhr, wurden
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Kindheitserinnerungen wach und mir wurde warm ums Herz; der Groll und das Gefühl des
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Verlassenwerdens wichen einer Heimatverbundenheit, ich kehrte in den Schoß meiner Ahnen
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zurück. Die Kleine mit den „Apfelträumen“ war wieder zu Hause, meine Mutter erhielt wieder
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den Platz in der Familie, der ihr eigentlich immer zugestanden hätte. Noch Jahre später,
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nachdem auch mein Opa bereits viele Jahre gestorben war, betrachte ich dieses Bild auf dem
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Eichentisch gerne, denn es zeigt ein kleines Mädchen, das in einem magischen Augenblick, in
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einem unvergesslichen Moment fotografiert wurde. Dieser erste Apfel von meinem eigenen
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Baum war für mich eine Köstlichkeit, die mich immer wieder an meinen Ursprung erinnert hat
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und erinnern wird. Inzwischen bin ich eine erfolgreiche Unternehmerin und leite mit meiner
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Familie unser Gut - und diesen Genussmoment auf dem Foto, den erlebe ich noch heute, wenn
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meine Angestellten die Apfelernte einfahren und der Duft mich aus der Hektik des Alltags
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heraustreten lässt, ja, dann genieße ich die Unbeschwertheit des Kindseins jedes Jahr aufs
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Neue. Das Kosten wird auch heute mit meiner Familie und meinen Mitarbeitern zelebriert, denn
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unsere Äpfel müssen frisch, saftig, steirisch sein, um mit unnachahmlichem Erfolg vermarktet
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werden zu können! Viele riesengroße Apfelhaine umgeben heute wie damals unser riesiges
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Anwesen, den Wohnsitz meiner Vorfahren, und viele weiße Blüten zeigen im Frühjahr ihre
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ganze Pracht! Soweit mein Auge reicht, ein einzigartiger und riesiger Apfelgarten, ein Tor zum
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Paradies. Es ist mein ureigenstes Avalon, denn bereits die Kelten bezeichneten in der
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Oststeiermark den Apfel als „Aval“ und das himmlische Paradies „Avalon“! Und eines weiß ich
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ganz genau: Meine Nichte empfindet den magischen Duft unserer Äpfel genauso wie ich und
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wird die Apfeltradition weiterführen und sich mit Eifer, Liebe und unternehmerischem Geist
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dieser Aufgabe widmen.
mehr als zwei Jahrzehnte weder gesehen noch
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Straßengler Literaturpreis
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