09_erinnerungen

Page 1

Codewort: Susi

„Ella, bitte gib mir noch eine Flasche Bier.“ „Hier, Michael. Willst du auch noch eines, Klaus?“ Klaus sah Evelyn mit einem Blick an, der deutlich machte, dass sie eine rhetorische Frage gestellt hatte, und wandte sich wieder Michael zu. „Wo waren wir stehengeblieben?“ Michael nahm einen tüchtigen Schluck Bier. „Ich habe dich nach einer lustigen Kindheitserinnerung gefragt.“ „Ja, stimmt.“ „Und?“ „Die bist du, Michael. Die Sache mit dem Haschisch.“ Evelyn blickte interessiert, die Zapfhähne der Schankanlage und ihre beiden Gäste abwechselnd musternd, Michael gequält drein. Zu oft war diese Geschichte erzählt worden, stets zum Gaudium der Zuhörer, zu oft hatte Michael sie sich anhören müssen. „Du erinnerst dich doch noch?“ fragte Klaus mit schelmischem Blick. „Ja.“ seufze Michael. „Was ist damals passiert?“ fragte Evelyn. „Also:“ setzte Michael an, wurde aber schnell von Klaus unterbrochen. „Also, Michael wollte unbedingt Haschisch probieren.“ Michael blickte gespielt beschämt zu Boden. Klaus fuhr fort. „Und da haben wir ihm Haschisch besorgt.“ Beim Aussprechen des Namens der Droge vollführte Klaus mit seinen Zeige- und Mittelfingern die Bewegung, die Anführungszeichen symbolisiert. „Ja, so war das, und es war furchtbar peinlich und so endet die Geschichte!” unterbrach Michael. Evelyn bedachte ihn mit einem Blick der ihm zu verstehen gab, dass er nicht so leicht aus der Sache herauskommen würde, und gleichzeitig Klaus bedeutete, fortzufahren. Dieser Aufforderung kam Klaus gerne nach. „Natürlich haben wir ihm kein echtes Haschisch gegeben.“ „Was habt ihr ihm dann gegeben?“ „Wir haben ihm alten Pfeifentabak in die Hand gedrückt.“ „Und den hat er geraucht?“ „Ja, anfangs hat er ihn geraucht.“ Michael konnte nicht anders, er musste lachen. „Es war geschmacklich keine Offenbarung, das angebliche Haschisch.“ “Dennoch hast du es auch gegessen.“ Nun lachten alle drei. „Was,“ fragte Evelyn, „du hast das Zeug gegessen?“ „Ja, Michael hat das Zeug gegessen!“ „Warum denn?“ „Nun, er hat es erst geraucht und gesagt ‘Ich bin schon ganz high! Ich fliege gerade über den Tisch!’ Aber dann war er offenbar doch noch nicht high genug. So ist er kurzentschlossen dazu übergegangen, den Pfeifentabak zu essen.“ Michael lachte, Evelyn schmunzelte.

1


„Jedenfalls, wir alle haben uns köstlich amüsiert.“ „Und wann habt ihr ihm reinen Wein eingeschenkt?“ „Am nächsten Tag in der Schule haben wir Michael aufgeklärt. Und ein zweites Mal herzlich gelacht!“ Wieder lachten alle drei. „Nun bist du mit einer lustigen Erinnerung aus deiner lange vergangenen Jugend dran, Michael.“ meinte Klaus. „Na ja, eine zeitlang bin ich mit dem Bus in die Schule gefahren, statt mit dem Zug. Da gab es so eine Kleine, die sich stets neben mich gesetzt hat.“ „Ach? Davon wusste ich gar nichts!“ „Klaus, lass ihn erzählen!“ „Jedenfalls, ach, diese Geschichte nimmt doch kein lustiges Ende. Nicht einmal ein gutes.“ „Erzähle sie uns trotzdem!“ Michael trank seine Flasche aus. „Ella, bitte noch ein Bier.“ Evelyn reichte es ihm. „Nein, ich erzähle euch eine viel bessere Geschichte. Seid ihr bereit? Gut. Meine Schwester und ich haben vor langer Zeit einen jungen Hasen geschenkt bekommen.“ „Von wem?“ „Von der besten Freundin meiner Schwester. Ihre Familie züchtet Hasen aus kulinarischen Beweggründen. Die Susi.“ „Welche Susi?“ „So haben wir die vermeintliche Häsin getauft.“ „Warum vermeintlich?“ „Nun, weil Susi keine Häsin war, sondern ein Rammler.“ „Wie seid ihr draufgekommen?“ „Wir haben ihr auf unserem Grundstück ein Gehege errichtet, mit Hasenhaus und Spielzeug, mit allem Drum und Dran eben. Und als Susi älter wurde, hat sie sich sehr für einen Fußball interessiert, der sich im Fundus ihrer Spielzeuge befunden hatte, wenn ihr versteht, was ich meine.“ Evelyn verstand und lachte. Klaus bat um Aufklärung. Ein Blick und die Laute ‘hehehe’, geäußert in entsprechendem Tonfall, genügten und Klaus verstand. „Was habt ihr dann mit Susi gemacht?“ fragte Evelyn. “Habt ihr sie, oder ihn, kastrieren lassen? Oder umgetauft?“ „Nein. Wir haben nichts dergleichen gemacht. Wir haben den Hasen in seinem Gehege umherhoppeln und mit dem Ball spielen lassen.“ Evelyn und Klaus lachten, Michael kicherte. „Er war ohnehin zu gross geworden, um mit ihm zu spielen oder zu kuscheln. Es hatte sich nämlich um ein Exemplar der Gattung Haushase gehandelt, und nicht um eines der Gattung Kaninchen. Und Haushasen sind keine Kuscheltiere. Sie meinen es ernst. Einmal hat er mich sogar gebissen!“ führte Michael mit Mitleid erheischender Miene aus. Evelyn und Klaus lachten schallend. „Was ist aus dem Hasen geworden?“ „Nun, meine Schwester und ich sind mit unseren Eltern nach Amerika und Hawaii geflogen, und als wir zurückgekommen sind, war der Hase weg.“

2


„Wie, weg?“ „Das Gehege war leer, an einer Stelle war die Erde unter dem Gitter aufgegraben. Da war eine Mulde, durch die der Hase bequem hätte entkommen können. Unsere Großeltern, die auf das Tier in den Wochen unserer Abwesenheit achtgegeben hatten, äußerten die Vermutung, dass sich der Hase selbst die Freiheit geschenkt hätte und wohl von einem Bussard verspeist worden wäre.“ „Das muss ja furchtbar für dich und deine Schwester gewesen sein!“ meinte Evelyn. „Nein, das war es eigentlich nicht. Wie gesagt, der Rammler war zu groß und kräftig, um mit ihm zu spielen.“ „Und der lustige Teil deiner Erzählung? Abgesehen von des Rammlers Begeisterung für Fußball?“ fragte Klaus. „Jahre danach, auf einer Familienfeier, es war schon spät und die Zungen waren gelöst, kam das Verschwinden des Hasen zur Sprache.“ „Und?“ „Unsere Großmutter meinte ‘Gut hat er geschmeckt!’“ Evelyn, Klaus und Michael lachten. „Meine Schwester und ich haben herzlich gelacht.“

3


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.