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K3 Literaturpreis 2012 Beitrag 18 Codewort: "820PWS23"

Wind der Vorsehung David bekam allmählich Kopfschmerzen vom Versuch, mit einem Auge nach vor zur Bühne zu blicken und mit dem anderen unauffällig in Viktorias Dekolleté. David und Viktoria befanden sich im städtischen Kulturzentrum und besuchten die Lesung eines ortsansässigen Soziologie-Professors, der sich nun auch als Autor verschrobener erotischer Kurzgeschichten versuchte. Es war David und Viktorias allererste Verabredung, und David, von Haus aus schüchtern, hatte gedacht, der Besuch einer erotisch angehauchten Lesung spiele ihm vielleicht in die Hände. Woran er nicht gedacht hatte, war die Gefahr einer Überdosierung. Viktorias anmutig wogender Busen, gepaart mit dem verbal-erotischen Stimulus des vorlesenden Professors, führten zu einer Versteifung in Davids Körpermitte, was ihm, in seiner engen Jeans, Bauchschmerzen verursachte, zusätzlich zu seinen vom Schielen her rührenden Kopfschmerzen. Er beugte sich auf seinem Stuhl nach vor, um die Spannung in der Körpermitte zu reduzieren. Das half, aber er spürte, dass sich aus den Bauchschmerzen früher oder später Blähungen entwickeln würden. Blähungen! Beim ersten Date! Viktoria, von der erotisch knisternden Atmosphäre im Kulturzentrum selbst nicht gänzlich unberührt, warf bei einer besonders saftigen Passage des Textes David einen kurzen Blick zu und lächelte errötend, als sich ihre Blicke trafen. Wohlerzogen lächelte David zurück. Dabei war ihm zunehmend weniger nach Lachen zumute. Nur ganz knapp nicht des ins Dekolleté-Schielens überführt und bereits von erstem Darmsausen geplagt, wünschte er sich mittlerweile weg von hier, weg vom Kulturzentrum, weg sogar von Viktoria, heim, heim auf seine Couch, in seine schlabbrige Jogginghose, wo er sich hinlegen, sich ausstrecken und ALLEM freien Lauf lassen konnte. Monatelang, dachte David frustriert, hatte er sich nach Viktorias Nähe gesehnt und sich nach ihr verzehrt. Nun sollte er ihre Nähe auch in vollen Zügen genießen dürfen. Aber wie sollte das gehen, so angespannt wie er war? Jetzt hat mich David, dachte Viktoria frustriert, ENDLICH zu einem Date eingeladen, schielt mir ins Dekolleté und ist offensichtlich stark angespannt, wann greift er mir denn nun endlich mal ans Knie? *** Eine halbe Stunde später, die Lesung ist vorüber, stehen die beiden vor dem Kulturzentrum in der windig-warmen Frühlingsluft. Warme Luft bewegt sich auch in David und was Viktoria womöglich als verlegenes Lächeln Davids deutet, sind in Wirklichkeit schmerzverzerrte Grimassen. -1-


820PWS23 Noch bevor sie den Vorschlag machen kann, irgendwohin was trinken zu gehen, bietet David an, sie nach Hause zu begleiten. Er muss schleunigst weg von hier. Weg von ihr. Weg, bevor seine inneren Dämme bersten, wenn nicht gar Därme, und sich seine Träume einer gemeinsamen Zeit mit Viktoria in Luft auflösen. Viktoria versucht, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Sie hatte sich den weiteren Verlauf des Abends anders vorgestellt. Aber dann erscheint es ihr auch wieder logisch und konsequent: Davids Schüchternheit ist kein Geheimnis und in gewisser Weise gefällt ihr ja gerade seine überlegte, zurückhaltende Art. Sie nickt also, fasst sich jedoch ein Herz und hängt sich, gleichsam, um dem Abend noch eine verbindliche Note zu verleihen, bei ihm ein. David fühlt sich dem Ziel seiner Träume nahe. Er spürt ein tiefes, schmerzvoll-schönes Ziehen im Herzen. Und gleichzeitig ein Schieben im Mastdarm! Es tut mir leid, Viktoria, presst er hervor, aber mir ist ganz komisch, ich muss schnell weg, ich erkläre es dir morgen. Er will davon hasten, aber Viktoria, noch immer eingehängt und entschlossen, ein weiteres Zeichen zu setzen, hält ihn fest, holt mit der freien Hand ein Blatt Papier und einen Stift hervor, schreibt ihm ihre Telefonnummer auf. Dann schmiegt sie ihr Gesicht kurz an seines, küsst ihn zart auf die Wange, haucht ihm einen Abschiedsgruß ins Ohr und schiebt den kleinen Zettel in seine Jeans. Diese letzte Berührung an seiner Leiste ist zu viel für ihn. Davids Körper erschaudert. Und erschaudert. Und es passiert! Und passiert. Und passiert. Mit lautem Dröhnen verlässt ihn ein endlos scheinender, schallender Wind. David reißt sich gewaltsam los, den Blick abgewandt, und stürzt fort. Irrt stundenlang, mit immer wieder errötendem Kopf, durch die nächtliche Stadt, bevor im Morgengrauen sein Entschluss fest steht: Nie wieder kann, darf und wird er Viktoria sehen, auch wenn er sich nichts sehnlicher wünscht. Die Schmach ist zu groß, die Peinlichkeit zu enorm, eine erneute Begegnung unvorstellbar! *** Nach nur wenigen Stunden unruhigen Schlafes sitzt David im großen Hörsaal der Universität. Seine Niedergeschlagenheit, der Schlafmangel, die Kopfschmerzen, die seit gestern Abend sein ständiger Begleiter sind, machen es ihm schwer, den Worten des Vortragenden zu folgen. "Platon aber sah in der Kunst eine Gefahr. Weshalb wohl?“ Professor König blickt fragend in den großen Hörsaal, gibt aber gleich selbst die Antwort. „Weil Dichter Geschichten erfinden und nachahmen, dieses Nachgeahmte aber nicht die Wahrheit ist und deshal…" Ein dröhnender Furz unterbricht Professor König mitten im Satz. Es wird im andächtig stillen Hörsaal noch stiller. Kein Hauch regt sich. Niemand atmet. Kein Stift kratzt über Papier. Schließlich räuspert sich Professor König vernehmlich. Alle Anwesenden sind gespannt, was er wohl sagen wird. Er sagt: "Sie müssen verzeihen, aber was ich durch diesen Wind soeben an Ansehen

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820PWS23 bei Ihnen eingebüßt habe, habe ich an Wohlbefinden gewonnen!" und setzt dann unbekümmert seine Philosophie-Vorlesung fort. David sitzt noch einige Momente wie vom Donner gerührt in der Bank. Er hat das Gefühl, an einem wichtigen Wendepunkt in seinem Leben angelangt zu sein. Nicht der Hauch der Geschichte hat ihn umweht, sondern der Wind der Vorsehung. Ein plötzlicher Ruck geht durch seinen langen, schmächtigen Körper. Er weiß genau, was er zu tun hat, eilt aus dem Hörsaal, bereut zum ersten Mal, dass er kein Mobiltelefon besitzt. Mit weiten, ausladenden Schritten und offenem Mund hastet er über den Campus zur nächsten Telefonzelle. Holt dort aufgeregt den Zettel mit Viktorias Telefonnummer aus seiner zerknitterten Jeans. Liest, drückt die Tasten des öffentlichen Telefons und lacht plötzlich laut auf: Ein eruptives Aufregungslachen, ein Verlegenheitslachen, ein Lachen durchmischt mit seiner Angst vor der eigenen Courage.

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