20-Eichhörnchen

Page 1

K3 Literaturpreis 2012 Beitrag 20 Codewort: "Eichhörnchen" Codewort: Eichhörnchen DIE GESCHICHTE MEINER KARRIERE

Im Gegensatz zu vielen anderen Geschichten, die mit einer Bekehrung in die eine oder andere Richtung enden, ist es das Schicksal meiner, mit einer solchen zu beginnen. Ich war 20, als ich merkte, dass sich mein Leben radikal ändern musste. Unzufrieden zurückgelassen von ausschweifenden Partys und übermäßigem Konsum, verabschiedete ich mich eines Tages von sämtlichem Begehren und stellte das Wünschen ein, da ich als Hypochonder überzeugt war, ohnehin nicht mehr lange genug zu leben, um noch an irgendeiner Sache Freude haben zu können. Und dann begriff ich, dass es im Grunde egal war, wie lange ich noch lebte, da doch letztendlich alles auf das Vergehen ausgerichtet und uns Menschen nur geholfen war, wenn wir uns als Teil eines Kreislaufs betrachteten, in dem jedes vorübergehende Ende einen weiterführenden Sinn hatte. Ich distanzierte mich stark von der Arbeit – also kündigte – und beschäftigte mich vorwiegend mit Tees, Kräutern, Gebeten und Meditation. Die Stunden des Tages füllte ich nun mit langsamen, ruhigen Bewegungen, Yoga-Übungen sowie Zubereitung und Genuss von Tee aus. Minutenlang stand ich in der Küche vor dem Teeregal und ließ meine Intuition den passenden Beutel wählen, dann meditierte ich über dem Wasser, das im Kessel langsam zu kochen begann und blickte ihm verträumt nach, wenn ich es in die Tasse goss. Anschließend konnte ich stundenlang mit dem heißen Getränk in der Hand auf dem Sofa sitzen und genießen, wie der Dampf mein Gesicht lieblich umhüllte. Ich trank keine kalten Getränke und aß keine zu stark gewürzten Speisen mehr – alles sollte nach Möglichkeit nur noch einen einzigen, kaum spürbaren Geschmack haben. Um der Langeweile der unaufhörlichen Wiederkehr interessanter Dinge zu entgehen, suchte ich die Monotonie des Ereignislosen. Es war eine andere Eintönigkeit, eine andere Art der Fadheit; eine, die meinen Körper nicht nervös erhitzte und klebrig machte, sondern eine, die ihn wohltuend kühlte. Eine, die mich nicht aufregte, sondern meine Sinne angenehm einschläferte. Ich überlegte lange Zeit, ob ich meinen Sinneswandel zum Beruf machen und also YogaLehrer, Alternativmediziner oder Besitzer eines Teeladens werden sollte. Leider schien sich eine solche Ausbeutung meines Wissens nicht mit dem Wissen selbst zu vertragen. Denn wäre dies nicht wieder ein Annehmen falscher Werte gewesen? Ein Geschäft aus der Erleuchtung zu machen? Andererseits: Wie sollte ich irgendeinen anderen Beruf ausüben? Oder sollte ich einfach auf Arbeit verzichten? War das möglich? So kam ich abermals ins Grübeln und in eine melancholische Stimmung, getrübt von der Last einer nicht getroffenen Entscheidung. Und immer häufiger hatte ich das Bedürfnis, mich gänzlich von der Welt zu verabschieden. An einem Abend hielt ich es zu Hause zwischen all meinen Tees nicht mehr aus und verließ die Wohnung, welche ich damals noch mit meinen Eltern gemeinsam bewohnte. Es war ein lauer Abend im Juni, und ich fühlte mich zum Bersten voll von einer Leere, die ich nicht zu definieren wusste. So ging ich durch die Stadt und verspürte eine traurige Ziellosigkeit, welche mich beklemmte.

1


In den Monaten davor – den Monaten meiner Erleuchtung – hatte ich richtiggehend vergessen, wie viel Leben in dieser Stadt neben mir existierte. Es gab tatsächlich Menschen, die einander kannten und trafen, Momente teilten und chaotische Gefühle austauschten. Abgegrenzt von dieser Welt, mich wie in der Isolation hinter einer trennenden Glaswand fühlend, ging ich nun durch die Straßen und atmete den Duft des Lebens anderer Menschen. Ich meinte, die Herzen und Schmetterlinge, die sie sich gegenseitig in Liebesbriefen und HandyKurzmitteilungen schickten, in meinem Bauch zu fühlen; und was sie belebte, schnürte mir die Kehle zu. Je weiter ich ging, umso schwerer fielen mir die Schritte, denn ich fühlte mich verliebt ohne Liebesobjekt, von der so lange ignorierten Möglichkeit der Empfindungen überwältigt. Und so wurde das Gefühl zu einem Gefängnis, zu einem Kerker, in dem ich gegen die Wände schlagen, aber dennoch kein befreiendes Resultat erzielen konnte. Mit meiner Besonnenheit war es nach wenigen Minuten vorbei. Ich ließ mich klopfenden Herzens vom Sommerwind anschieben, und dann hatte ich mitten in einer der belebtesten Straßen plötzlich das Bedürfnis, nach links abzubiegen, wo zufällig gerade eine Tür war, und so landete ich unvermittelt in einer Bar, ohne etwas dafür zu können. Nicht fähig, darüber zu urteilen, ob ich mich richtig oder falsch verhielt, ging ich zu der Theke und legte meine Arme darauf. Ich versuchte, die Getränkekarte zu lesen, die hinter dem Barkeeper an der Wand hing, aber da war er bereits bei mir und fragte mich nach meinem Wunsch. Da ich, so wie immer, darauf bedacht war, niemandem zur Last zu fallen und also möglichst schnell zu antworten, gleichzeitig aber auch meine Grundsätze wahren wollte, kamen die Worte kurzentschlossen aus meinem Mund: „Bitte einen Ginkgo-Tee.“ Mit einem Mal veränderte sich die Luft um mich herum spürbar, und der Raum war nicht mehr der gleiche wie davor. Nun war da eine anonyme Masse von Barbesuchern, und ich war der nicht-anonyme Mittelpunkt davon. Die Menschen lachten über meine Worte, wiederholten sie für ihre Partner, die nicht verstanden oder nicht zugehört hatten und dann noch einmal für sich selbst, um weiterhin darüber lachen zu können. So kam es, dass diese meine unüberlegten Worte an jenem Abend außergewöhnlich häufig fielen und ich unter der freundlichen Zustimmung der anderen Menschen plötzlich wuchs. Anstatt mir einen Ginkgo-Tee zu servieren, stellte der Barkeeper nun nach und nach immer mehr Biere vor mich hin, zu denen die Menschen um mich herum mich einluden. Wenn ich dann schüchtern den Kopf schüttelte, klopften sie mir begeistert auf die Schulter, nannten mich einen „komischen Kauz“ und lachten Tränen. Ich war Allgemeingut geworden, und das Gefühl war berauschend. Ich hatte nichts weiter zu tun, als mein ganz normales Empfinden zu leben, meine Sehnsucht nach einem außergewöhnlichen, gesunden Tee und meine Abneigung gegen Alkohol, und das allein reichte aus, um mich an diesem Abend zu einer populären Figur zu machen. Ich wurde geliebt – so schien es mir. Ich wurde auf einem warmen, wohltuenden Strom von Zuneigung getragen, und es war so einfach gewesen, diese zu erlangen, dass offensichtlich nur eine besondere Fähigkeit meinerseits dafür verantwortlich sein konnte. Anscheinend besaß ich ein Talent, von dem ich bis dahin nicht einmal etwas geahnt hatte. Und das so außergewöhnlich war, dass es die lebendigen Menschen

2


in dieser Bar in Sekundenschnelle auf meine unlebendige Seite ziehen konnte. Ich musste nicht einer von ihnen werden, um zu ihnen zu gehören, ja wichtiger als die anderen zu sein und im Mittelpunkt zu stehen. Meine Situation war besser, als ich mir jemals hätte träumen mögen. Wie auf Wolken schwebte ich plötzlich auf meinem unverhofft entdeckten Talent. Und schlagartig wurde mir klar, dass sich mir hiermit der Grundriss meiner Zukunft offen darlegte. Nur auf diese Art konnte ich zu Liebe und Anerkennung kommen, ohne einen Grundsatz durchbrechen zu müssen (abgesehen von dem Grundsatz, überhaupt nicht zu Liebe und Anerkennung kommen zu wollen, aber das schob ich in diesem glücklichen Moment zur Seite). Ein Mann klopfte mir auf die Schulter und sagte: „Du hast wirklich ein komödiantisches Talent – meine Freunde und ich haben Tränen gelacht!“ Und ich nickte stolz, denn er bestätigte ja nur, was ich ohnehin schon wusste. Der Abend wurde lang; und immer wieder fielen mir neue Späße ein, ohne dass ich mich deswegen hätte verstellen müssen. Irgendjemand hielt mir die zur Faust geschlossene Hand wie ein Mikrofon vor den Mund und fragte im Interviewton: „Was sind Ihre letzten Worte?“ Und ich erwiderte, dabei meine Stimme stilsicher anhebend: „Einen Ginkgo-Tee bitte!“, und das Publikum – ja, ich nannte es jetzt schon mein „Publikum“ – explodierte vor Lachen. Ich war der Star des Abends. Und nichts schien je einfacher zu erreichen und kostbarer gewesen zu sein. Als ich am frühen Morgen das Lokal verließ (ohne einen Schluck von irgendetwas getrunken zu haben), schwebte ich wie von selbst durch die Straßen. Ein Glücksempfinden trug mich nach Hause zu der Wohnung meiner Eltern, und als ich die Tür aufsperrte, meine Schuhe auszog und in mein Zimmer ging, spürte ich, wie ein neues Lebensgefühl von mir Besitz ergriffen hatte. Ich wusste nun, dass ich etwas wert war. Dass ich eine Fähigkeit hatte, die anderen fehlte. Dass ich Menschen erheitern und ihnen freudige Momente schenken konnte. Dass man mich lieben konnte. Dass ich nicht ganz umsonst auf dieser Erde war. Ich hatte einen Platz in der Welt. Glücklich und erschöpft schlief ich ein und erwachte wieder gegen Mittag. Mein erster Gedanke, als ich die Augen aufschlug, war, dass ich nicht glauben konnte, wie unbegreiflich wunderbar alles war. Sofort dachte ich an meinen Erfolg in der Bar, erinnerte mich grinsend an die heitersten Szenen und wiederholte mir im Geiste immer wieder die nettesten Worte, die mir gesagt worden waren, um meine Seele jedes Mal erneut damit zu streicheln. Federleicht schwebte ich in die Küche und machte mir den ersten Tee des Tages. Doch ich trank ihn nicht bedächtig wie sonst, sondern stürzte ihn nur nebenbei herunter, während ich bereits meinen nächsten Besuch in der Bar plante und mir Späße überlegte, mit denen ich meine neugewonnenen Freunde erheitern konnte. Den Schmäh mit dem Ginkgo-Tee wollte ich erst gegen Ende meines Besuches quasi als Zugabe noch einmal bringen. Davor wollte ich den Menschen etwas Neues bieten.

3


So ging ich in der Küche auf und ab, mit der heißen Tasse in der Hand, und fabulierte über Tees und Kräuter und ihren Witz. Und allmählich begann ich, mich von den Tees zu entfernen (da sie humoristisch doch nicht allzu viel hergaben, wie ich merkte) und erweiterte mein Programm – ja inzwischen nannte ich es „Programm“ – um andere, gesellschaftskritische Themen. Und ich musste mich sehr zurückhalten, um nicht vor Lachen über meine eigenen Witze den Tee in meiner Hand zu verschütten. Auch an diesem Abend ging ich in die Bar und spürte vom ersten Moment an, als ich den Raum betrat, dass ich wieder einmal siegen würde. Alles schien auf mich gewartet zu haben. Es waren fast genau die gleichen Menschen da wie am Tag davor (viele Gesichter erkannte ich wieder), und es erschien mir, als würde sich durch mein Erscheinen alles verändern. Als würden ihre trostlosen Leben nun endlich wieder von einem Licht erhellt. Ein Mann erkannte mich auch sofort wieder und rief, noch bevor ich die Theke erreicht hatte, durch den Raum: „Der Ginkgo-Tee-Freak ist da!“ Und alle drehten sich nach mir um. Ich war glücklich und gerührt zugleich. Nicht nur hatten sie mich also wieder erkannt, auch hatten sie mir einen liebevollen Kosenamen gegeben. Ich war ein Teil von ihnen, ich gehörte zum blühenden Leben, und nicht nur das: Ich war der Mittelpunkt, das Licht, das Zentrum, um das sich alles drehte. Endlich hatte das Leben also auch für mich begonnen. Und dann auch noch auf eine solch sinnvolle Art. Ja, im Grunde war mein Dasein ungleich sinnvoller als das der anderen, die ja nur Zuseher waren, während ich der war, den alle zu sehen begehrten. Bestimmt wurde ich schon jetzt von vielen beneidet. Und so mancher dachte in diesem Moment vielleicht sogar: „Oh, wenn ich nur so viel Mut hätte wie er, der Ginkgo-Tee-Freak. Wenn ich nur so weit kommen könnte… wenn ich mich das nur alles trauen würde.“ Ich begann gleich mit einem Witz und kam hervorragend an. Dennoch merkte ich, dass alle Anwesenden doch die ganze Zeit nur darauf warteten, dass ich mit dem Ginkgo-Tee begänne. Also ließ ich wie beiläufig eine solche Bestellung in Richtung Barkeeper fallen – und erntete einen tosenden Applaus. Gegen fünf Uhr morgens schloss die Bar. Ich hatte eine erfolgreiche Nacht hinter mir und spürte nicht die Müdigkeit, die von Begeisterung überdeckt war. Gemeinsam mit den anderen Gästen verließ ich das Lokal. Paarweise machten sich die Männer und Frauen auf den Weg nach Hause. Ich ging allein. Dies war der Beginn meiner Karriere.

4


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.