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Sentimental journey „Danke, Schwester Anna, vielen Dank“, sage ich beim Betreten des Zimmers zu Schwester Anna, die mir ein kleines Buch in einfärbigem Papiereinband hinhält. „Wir haben es beim Putzen gefunden, zwischen Bettgestell und Matratze.“ Danke, sehr liebenswürdig, sage ich nochmals und verlasse mit schweren Gliedern und trockener Kehle das Pflegeheim. In einem winzigen Zimmer hatte hier die letzten zwei Jahre die Mutter gelebt, und nun war sie tot. In den frühen Abendstunden eines Mai-Sonntags hatte sie die gemeinsame Wirklichkeit verlassen, zurückgelassen wie eine alte Hülle. Still und ohne Aufhebens fast behutsam war sie aus der Welt gegangen, so wie es ihrem Wesen entsprach. In einem Labyrinth aus Notizen hat sie sich die letzten zwei Jahre über verschanzt und die Sprache zum Schutzbunker gemacht und nur gelegentlich herausgelugt mit einem unergründlichen Buddha-Lächeln, immer öfter einem Grottenolm gleich, blind und gedankenlos. Schwester Anna fand sie, den kleinen weißen Kopf auf gelbe Notizzettelchen gebettet, als komponierte sie einen letzten Vers ins Papier. Sie schrieb in zunehmend ver-rückten Buchstaben, mit schmalen, hoch aufgerichteten , eng aneinander gepressten Lettern, immer mehr einen Geheimschrift gleich; die geschriebene Sprache hielt ihre Gedanken am Leben. Nun war sie tot, Mama, die Mutter. Ich steige ins Auto, will losfahren, nein, doch nicht; zuerst muss ich das Buch aufblättern, ein dünnes, dichtest beschriebenes Blatt fällt heraus, Mamas Handschrift, unverkennbar, es ist ein Geburtstagsbrief an mich:

Für Valerie zum 14.5.2009 Sentimental journey Was für ein Glück Valeriechen Du flogst mir zu inmitten meiner Reise als Marienkäferchen heute während ich in Gedanken bei dir war als einziger Leuchtpunkt auf einer staubigen Straße heute - stolz denke ich: Kind, mein Kind, Melisse

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mein Gehegtes, Zuhegendes, Leuchtkäferchen, Glühwürmchen, Lichtkäferchen Perpetuum mobile des Glücks und blicke zurück ins Damals, ganz zum Anfang hin: als du als winzige Herzanlage in mir pochtest, die uns – sichtbar über den Bildschirm – mit glückswarmer, aber auch von leiser Bangigkeit versetzter Euphorie erfüllte. Dein embryonaler Schluckauf – manche Tage und Nächte hickste es so heftig in mir, dass sich dabei die Bauchdecke hob; schon damals – obwohl in der Fruchtblase gut verpackt und unsichtbar – sorgtest du dafür, dass deine Präsenz deutlich (hörbar) wahrgenommen wurde. Du liebtest Mozart und Vivaldi, ihre Musik wiegte dich ein, Wagner hingegen geriet dir zur Pein, denn du begannst dich mit Strampeln und Boxen zu wehren, uns blieb nichts anderes übrig, als baldigst aus der Oper heimzukehren. An einem milden durchsonnten Maisonntag warst du dann da, so ganz, meine ich, mit Haut und Haar. Deine blauen Augen, das Händchen um meinen Daumen, dein erster bewusster Blick – und in mir nichts als eine Woge von fundamentalem, wortfernem Glück. Gewünscht, gewollt, ersehnt, erwartet, willkommen – das war dein Ich im für dich neuen Licht der Welt. Vielzählig waren die Pfade des Glücks, stets in der Überzahl – dem Schöpfer sei Dank; unvergessliche Augenblicksbilder, unauslöschlich, unverbrüchlich ewig in mein Herz-Gedächtnis gestempelt: Melisse

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dein schlafwarmes Babykörperchen ganz nahe bei mir, wie deine Löckchen dufteten und deine Haut, von Jauchzen begleitete Loopings mit „Papsi“, dem du entgegenliefst, als er uns abends nach der Arbeit am Hilmteich traf. Weißt du noch? Das Krawattentier, der unsichtbare Otzi, dann der Schlafhund und Numi, den du später an deinen Bruder weitergabst… „Valerie und die Gute-Nacht-Schaukel“, die Wichtel und die „Busch-Oma“„Das kleine Ich“ – kostbare Vorlesestunden in trauter Eintracht schufen die Grundlage für das kostbare Humanum, das sich in dir auffalten konnte in fülliger Vielfalt. …“Valerie, die will abends nie ins Bett, will noch plaudern, will noch singen, will noch auf- und niederspringen auf dem Schaukelbrett…“, aber mit Kuscheln und Schmiegen wurdest schließlich auch du kleiner Wildfang in den Schlaf gezähmt und Morpheus`Armen anvertraut. Du in Kärnten am Brunnen sitzend, Hosenmatz, Erdbeer-Tiger, Tante Ilses Kariola-Passagier und Mehlsackerl; Kindergartenmädchen, schüchtern und zart, Laternenfest-Prinzessin, Bennis und Bastis Sandkisten- und Eichkatzerl-Freundin, burschikos und patent; Du als Bandenführerin, Lust und Schrecken der Buben, jagdlüstern, latzhosig, pferdeschwänzig, mutig und entschlossen… die ersten Musiktheatererlebnisse mit Peter Pan, dem letzten Einhorn, Nimmerland, Tinker Bell, mit Tom Sawyer und Huckleberry Finn, Mehrfachbesuche in der Oper, vernarrt warst du in die Lausbubenhymnen (samt der Darsteller bisweilen) und wahrlich enthusiasmiert. Als Schul-Künstlerin wissbegierig, schlau und findig, die Kabarett-Künstlerin espritvoll, mutig und witzig im Superlativ, genial die Wort-Künstlerin, naturgewaltig und zukunftsweisend; Der Großeltern Augenstern, von Beginn an und bist es immer noch, Großmütterlicher Augapfel, von Beginn an und bist es immer noch, Melisse

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als Lilos letzte Liebe, die dich füllig und übergroß umgibt, sodass du ein Leben lang davon wirst zehren können.

Liebestaumlerin, circend und schön, verletzt, enttäuscht und neu erstanden, wirbelnd und unerschrocken, selbstvergessen, unbedingt und bald auf großer Fahrt Tochter, Seelenfreundin, Geistesmensch Valerie, mein Herzensmensch: „Liebkose das Leben, anvertrau dich dem Wind!“ (Rose Ausländer) In Liebe, deine Mama

Die Tränen schmiegten sich wie ein Filter über meine Augen, und so verschwamm langsam das Äußere , um die Bilder zu wecken, die im Inneren drinnen wohnten, tief in der dunklen Mitte der Wahrheit. Eine Tiefenbohrung fand statt, ungeplant, und all die festen Schalen, an denen man baute und mit deren Hilfe man dem Dasein standzuhalten versuchte, zerfielen, lautlos und friedlich. Und so durften die Bilder, meine Bilder ihre Leuchtspur ziehen: Im Frühsommer saß ich oben im Kirschbaum, ein Schwellen-Wesen, wo ich pausbäckig, aber kein Kind mehr, geschmückt mit blutroten Ohrgehängen aus Herzkirschen, abwechselnd Kerne und Würmer spuckte, während ich im Schutz der Blätter geborgen erste Gedichte schrieb. Im Herbstlodern später dann lockten feist und rotgolden die Äpfel in alten Sorten, die „Ilzer Rose“, die „Schafnase“, der „Kronprinz“… An den sonntäglichen Morgenstunden verknoteten sich die schlafwarmen Gliedmaßen von uns allen, den Eltern, dem Bruder und mir, im Elternbett, wo wir knuddelten und kuschelten, bis uns der leere Magen aus den zerwühlten Kissen trieb. Fast immer, kaum anders. Über meiner Kindheit wogte ein Sonnenmeer, und ich durfte an Licht und Wärme trinken, bis ich satt war. Satt und randvoll gefüllt mit Urvertrauen. Wenn ich krank war, blieben die weißen Vorhänge zugezogen bis in die Mittagsstunden und die Forderungen der Welt draußen ausgesperrt, damit ich rasten konnte und ausruhen im vertrauten Dämmerdunkel des Zimmers. Bis dann Mama eine Hühnersuppe brachte mit Nudeln und viel Schnittlauch drin und honigschwerem Früchtetee. Wenn ich Schmerzen hatte und keine Ruhe fand, lenkten die vorgelesenen Geschichten mich vom Unwohlsein ab und meine Phantasie hin zu fernen Ländern mit unbekannten Wesen und abenteuerlichen Geschicken. Und Mamas Stimme las mir ruhig und geduldig vor von „Hörbe mit dem großen Hut“, von Pinocchio und Monty Spinneratz, vom Schutzgespenst Rosa Riedl und von Lukas, dem Lokomotivführer. Fast immer, kaum anders. Melisse

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Und dann Weihnachten. Großfamilie und Theaterdonner, kitschfreie Innigkeit und Intrigen, draußen schmutzigbraune Wiesen und wie zum Hohn Schneeflocken-Beschwörungslieder, bestmöglich lieblich und dennoch schmerzhaft mehrstimmig performed. Und dann das Wort „flennen“, das - altertümlich die Tätigkeit heftigen Weinens umschreibend -, unangefochtenes Monopol beider Großmütter während des Singens und der Bescherung war und uns Kinder immer wieder in hochnotpeinliche Berührtheiten trieb, die erst dann ein Ende fanden, wenn alle Rührseligkeit im raschelnden Papierwust erstarb. Fast immer, kaum anders. Der erste große endgültige Abschied, als der Hund starb und in seinen Bernsteinaugen für immer das Leben brach, und meine Kinderseele zerbarst vor diesem Pfeilgift-Schmerz und Nicht-verstehen-Können. Es war das Herzblut meiner Kindertränen, das in diesem einen Herbst die Erde tränkte. An den Hochsommertagen, die lang waren und lauschig und warm und deren jeder einzelne unzählige Geschichten barg, unterbrach mitunter ein fernes Flugzeug die ländliche Stille mit seinem Dröhnen. Und wenn die gespurten Streifen sich mit den Wolken verbanden, war in meinem Kopf bereits ein neues Stück Welttheater geboren. Fast immer, kaum anders. Wenn meine Augen müde waren und satt von dem Himmels-Theater-Spiel, verdöste ich mich seelenruhig unter dem Zwetschkenbaum. Die Zeit war schließlich mein Freund. Der Sommer war auch Vater-Zeit. Die Waldwanderungen mit dem Vater und einem selbstgeschnitzten Wanderstock aus Haselnussholz, aus dem herausgeschält hell mein Name leuchtete, und der biegsame Bogen mit den akkurat geraden Pfeilen, die ich im Köcher mit mir trug, um als wehrhafte Squah die Buben das Fürchten zu lehren – VaterWerk. Warm und fest war seine Hand, und sie führte mich sicher. Fast immer, kaum anders. Ich faltete den alten Brief zusammen und legte ihn zurück in Mamas Buch. Ja, über meiner Kindheit wogte ein Sonnenmeer, und ich durfte an Licht und Wärme trinken, bis ich satt war. Satt und randvoll gefüllt mit Urvertrauen. Das Schicksal meinte es gut mit mir.

Melisse

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