Von MP3-Plärern und Gnadenspendern Kennwort „Plattenspieler“ Als ich neulich in die Stadt gefahren bin, um meinen Lieblingscousin besuchen zu gehen, wurde ich von der Vierjährigen und damit jüngeren seiner beiden Töchter kurz hinter der Wohnungstür mit dem wohl griesgrämigsten Gesicht ihres kurzen Lebens nicht einmal ignoriert. „Rumms!“, knallte da auch schon die Tür zum Kinderzimmer und ich, der ich die Kleine bislang nur als strahlende Ausgeburt der reinsten Freude erlebt hatte, drehte ich mich schon ein wenig verwundert zu meinem Cousin. Der zog mit einem schiefen Lächeln lediglich die Schultern nach oben und meinte: „Am besten nicht anreden. Die kommt schon wieder zu sich.“ Nachdem ich den Rest der Familie begrüßt hatte, wurde ich aufgeklärt. Die Kleine hatte sich zu Weihnachten von ihrer Oma – meiner Tante – einen „MP3-Plärer“ gewünscht. Nun ist meine Tante in technischen Dingen ungefähr so bewandert wie ihre Schwester, was ich auch nur gerecht finde, da sich dieses Defizit meiner Mutter meist in großem Zeit- bzw. Nervenaufwand meinerseits niederschlägt. Also ist die liebe Tante in den nächsten Elektronikmarkt, hat dort den Wunsch der Enkeltochter phonetisch korrekt wiedergegeben und für große Erheiterung beim Fachpersonal gesorgt. Sodann wurde sie aber nicht etwa mit einem billigen Gerät zum reinen Abspielen digitaler Musikstücke nach Hause geschickt, flugs hat man ihr dort ein Geschenk aufgeschwatzt, mit dem das Mädchen sicher noch viel mehr Freude haben würde. Einem ausgewachsenen I-pod. Wie schnell kleine Kinder ihre frisch ausgepackten Geschenke an ältere Familienmitglieder verlieren, haben mich meine großen Brüder schon vor vielen Weihnachtsfeiertagen gelehrt, und so ähnlich muss es meiner Großcousine auch ergangen sein, denn ihr Vater hat sich nach einer kurzen Schelte in Richtung der eigenen Mutter, ob des unnötig teuren Geschenks, erst einmal selbst von dessen Fähigkeiten überzeugen müssen, Verbindung zum Hauseigenen W-LAN inklusive. Als er seinen Töchtern schließlich zeigte, wie sie auf diese Weise sogar Trickfilme anschauen könnten, hat er weder damit gerechnet, wie gut die beiden aufpassen würden, noch hat er anschließend daran gedacht, die Internetverbindung wieder zu trennen, wodurch das gemeinsame Trickfilmschauen vor dem Kindergarten für die beiden tagelang zur beliebten Morgenbeschäftigung geworden ist. Bis zu jenem Zeitpunkt, der kurz vor meinem Eintreffen gelegen haben muss. Der I-Pod wurde eingezogen und die Kleine mit dem Versprechen, einen reinen „MP3-Plärer“ als Ersatz zu besorgen leider keinen Millimeter weit beruhigt. Natürlich verstand ich beide Seiten. Meinen Cousin, da mir klar ist, wie erschreckend wenige Mausklicks man heutzutage selbst auf den harmlosesten Videoportalen von jugendgefährdenden Inhalten entfernt ist. Genauso verstand ich aber auch seine Tochter, da ich mich als Kind der Zweiprogrammseinheitsbreiepoche noch zu gut daran zurück erinnern kann, wie viel in diesem Alter selbst der kleinste Schritt in Richtung unlimitierter Fernsehunterhaltung bedeuten kann. Haben wir damals, in den Sommerferien nicht jeden Tag um Regen in Wien gebetet, damit das Schlechtwetterprogramm ausgestrahlt wurde? Von diesen Erinnerungen motiviert stand ich kurz davor, der älteren und weniger beleidigten meiner beiden Großcousinen ein paar Geschichten aus der Zeit von
Viertelan- und Sendeschlüssen zu erzählen, als es an der Wohnungstür läutete und meine Tante davor stand. Sie war zufällig vorbei gekommen und freute sich, mich zu sehen. „Wie geht’s dir, Paul?“ „Gut.“, antwortete ich und konnte mir ein „Ich habe gehört, du hast den Kindern einen MP3-Plärer geschenkt?“ nicht verkneifen. Die Tante verzog nur kurz die Mundwinkel und antwortete dann lächelnd: „Ja, aber nach einem Gnadenspender für dich suche ich immer noch vergebens.“ Mein Cousin begann hinter mir lauthals zu lachen. Seine Tochter sah ihn fragend an, und eh ich noch etwas einwenden konnte begann er, ihr die peinlichste Geschichte meines Lebens in schillerndsten Farben so vollkommen übertrieben zu erzählen, dass ich diese Gelegenheit gerne nützen möchte, um einiges klar zu stellen. „Ha!“, hab ich mir damals nämlich gedacht, als die Englischlehrerin ihre neue Idee präsentierte. Ha! Endlich einmal eine Aufgabe, die mir geradezu auf meinen intellektuellen Leib geschneidert war. Jeder sollte sich ein englisches Lied aussuchen, es übersetzen und den Text so gut er konnte interpretieren. Im Überschwang der Begeisterung habe ich nicht einmal richtig bemerkt, dass ich meine Hand schon gehoben hatte, um mich als Erster freiwillig zu melden. Mein Banknachbar hat nur den Kopf geschüttelt und machte mir dadurch Eines klar: Jetzt durfte ich mich unter keinen Umständen blamieren, also ja kein banales Lied wählen, kein „Love, love me do.“ Es musste komplex sein, hintergründig, tiefgreifend und vor allem beeindruckend. Unter diesen Kriterien gestaltete sich die Auswahl natürlich nicht gerade einfach. Ich habe mehr als zwei Dutzend Lieder angespielt und wieder verworfen. Stundenlang Radio gehört und es dann ganz zufällig gefunden, als ich auf einer Janis Joplin Kassette eigentlich nach „Me and Bobby McGee“ gesucht habe. Laut und a capella und einfach perfekt! Liebe auf den ersten Akkord. Dass ich davon nur eine überspielte Aufnahme besaß und den Text daher nach dem Gehör aufschreiben musste, bedeutete zwar zusätzliche Arbeit, weckte aber meinen sportlichen Ehrgeiz. Also einen Block geschnappt und los! Schon während des Mitschreibens begann ich zu interpretieren. Die Sängerin bat Gott eindringlich um etwas, das mit Gnade zu tun hatte. Worum genau, dazu brauchte ich beim Zurückspulen allerdings mein Wörterbuch. Aha, einen Spender. Das machte doch sofort Sinn. „Mercy-Dispence“ Ein Gnadenspender! Ich war begeistert. Was für ein wunderschöner Gedanke! Das passte auch perfekt in die psychedelische Hippiezeit der brüderlichen und sonstigen Liebe. Ein großer gelber Gnadenspender, der irgendwo auf dem Gipfel eines sanft bewaldeten Hügels auf einer Lichtung thronte, um den bunte Schmetterlinge friedlich kreisten und zu dem es Ströme von Verzweifelten in letzter Hoffnung zog. Aus einem Lexikon schrieb ich mir noch Janis Joplins Lebensdaten ab. Ja, sie war früh gestorben, aber was bedeutete schon so ein Tod? Wer würde nicht ohne zu zögern 40 Jahre eines Lebens in Mittelmäßigkeit opfern, wenn er dafür seiner Nachwelt einen Gnadenspender hinterlassen konnte? Dieses Stück Musik würde ewig leben. Am nächsten Tag hatten wir Englisch erst nach der großen Pause. Ich brannte vor Erwartung. Mein Vortrag würde wie immer perfekt sein, aber erst musste die Zeit
noch durch Geschichte und zwei Stunden Mathematik kriechen. Als es so weit war, versuchte ich mir die Vorfreude nicht anmerken zu lassen. „Oh, Lord. Won’t you buy me a Mercy-dispence!“ Ich spielte das Lied absichtlich zu laut, nickte, las den Text, dann die Übersetzung, um die Klasse schließlich an meiner gewagten Interpretation teilhaben zu lassen. Während des Vortrags war ich viel zu aufgeregt, um auf die Reaktionen meiner Mitschüler zu achten und sah erst in die Runde, als ich geendet hatte, bereit, jetzt ihre wohlverdienten Ovationen entgegen zu nehmen. Die vereinzelten Zeichen zögernden Wohlwollens waren bei weitem nicht, womit ich gerechnet hatte. Alle schienen sie vor mir zurück zu weichen, mein Banknachbar hatte seinen Blick starr in Richtung Klassentür gerichtet, in manchen Bänken wurde getuschelt und die Lehrerin kämpfte einen aussichtslosen Kampf mit ihrer Gesichtsmuskulatur. Sie wollte mich nicht bloßstellen, aber diese Aufgabe wurde ihr schnell abgenommen. Fritz lachte auf und neben ihm hob Alex schließlich die Hand. „Alex?“, fragte die Lehrerin. „Ich weiß nicht. Aber, singt sie da nicht eher von einem Auto? Von einem MercedesBenz?“ Die Lehrerin nickte still und warf mir einen zutiefst mitleidigen Blick zu. Der Alex sollte sich im nächsten Monat bei einem Fahrradunfall die linke Elle zertrümmern und ich gönnte ihm jeden einzelnen Splitter im Unterarm. In jenem Moment jedoch, war es an den anderen, in meinen Wunden zu bohren. „Mach ja nichts Paul, du hast dich eben verhört.“ – „Das kann doch jedem einmal passieren.“ Alles alte Wunden, von denen ich neulich, im Vorzimmer der Wohnung meines ehemaligen Lieblingscousins bemerkte, dass sie wohl nie ganz verheilen werden. Nachdem alle ausgelacht hatten, hat mir meine Tante schließlich den Arm auf die Schulter gelegt und gemeint, „So, Neff-you, manchmal fällt der Apfel nicht so weit vom Tantenstamm. Nicht wahr?“