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STRASSENGLER LITERATURPREIS 2014
Sammlung aller eingereichten Texte
Die 3 Gewinner werden am 27.6.2014 Um 18.30 Uhr im Rahmen des StraĂ&#x;engler Literaturfestivals bekannt gegeben!
2 Codewort: DOMINIK
Irland - immer eine Reise wert...
Es war im Juli 2010. Patrizia, eine 25jährige Geschichte-Studentin aus Graz, hatte bereits vor zwei Jahren einen sehr interessanten Ferialjob an Land gezogen: Eine österreichische Reiseagentur suchte Studenten, die sehr gute Englischkenntnisse aufwiesen, als Reiseleiter in Irland. Patrizia war zuvor schon dreimal auf der sogenannten "Grünen Insel" gewesen, und hatte sich spontan in dieses Land verliebt. Obwohl Kenntnisse über die historischen Stätten Irlands nicht zwingend notwendig waren, stellten sie für Patrizia große Vorteile dar. Also passte diese Arbeit für sie perfekt. Für die Dauer der Anstellung stand ein Appartement in Dublin zur Verfügung. Meistens allerdings wurden Rundreisen gebucht, auf denen Patrizia mit der Reisegruppe durch Irland unterwegs war, und mit den Teilnehmern im gleichen Hotel untergebracht war.
Nun also wartete sie am Flughafen in Dublin auf eine zwanzigköpfige Schulklasse des BG Rein. Die Jugendlichen im Alter von 14 Jahren wurden von ihrem Klassenvorstand Mag. Bernd Lafer begleitet. Das Besondere an dieser einwöchigen Rundreise bestand darin, dass Patrizia mit ihren Gästen ausschließlich Englisch sprechen durfte. So war es mit dem Direktor ausgemacht. Mit einem großen Schild von "Kerry Tours" stand Patrizia am Ausgang des Flughafengebäudes, als eine große Gruppe von lärmenden Jugendlichen auf sie zukam. Freundlich begrüßte sie Bernd und die Schüler, und stellte sich mit dem Vornamen "Pat" vor. Aufgrund ihrer rotblonden Mähne, den blaugrünen Augen und den zahlreichen Sommersprossen in ihrem Gesicht, konnte man Patrizia tatsächlich für eine waschechte Irin halten. Auch Bernd war nicht darüber informiert worden, dass die Reiseleiterin eine Österreicherin war. Daher erkundigte er sich über die Route in perfektem Englisch. Nun konnte also die Rundreise beginnen.
Obwohl es Anfang Juli war, lagen die Temperaturen um die 13 Grad. Sonnenschein und immer wiederkehrende Regenfälle wechselten sich ständig ab. Dafür waren die Wiesen in allen Grünschattierungen zu sehen, und die Sträucher am Straßenrand blühten in weiß oder dunklem rosa. Auf dem Weg zum Hotel war eine kurze Stadtrundfahrt durch Dublin geplant. Danach konnten alle endlich die reservierten Zimmer beziehen. Patrizia war bei der Ausgabe der Schlüssel behilflich, und drückte Bernd eine Liste mit den wichtigsten Informationen für die geplanten Besichtigungen in die Hand. Nach dem Abendessen ließ sie die Reisegruppe alleine, und fuhr noch einmal ins Büro, um einige Prospekte für die kommende Woche zu holen. Dann übernachtete Patrizia in ihrem Appartement. Am darauffolgenden Tag stand die Besichtigung der Sehenswürdigkeiten wie Dublin Castle, St. Patrick`s Cathedral oder das Trinity College mit der Old Library auf dem Programm. Hier konnte Patrizia ihre Kenntnisse über die keltischen Ursprünge der alten Bauten einfließen lassen. Am späten Nachmittag fuhren sie weiter ins Landesinnere, und bezogen dort ihr Quartier. Nach dem Abendessen erzählte Patrizia begeistert von der Moorlandschaft der Connemara, die sie am nächsten Tag besichtigen würden. Die dunklen Seen, die von Bergketten eingeschlossen wurden, hatten stets etwas Geheimnisvolles an sich. Vor allem dann, wenn sich in den frühen Morgenstunden erst langsam die Nebelschwaden hoben, und einige wenige Sonnenstrahlen durchschimmern ließen. Die Rundreise führte sie weiter nach Süden, zum Ring of Kerry und nach Limerick. Auf dem Weg dorthin kam die Reisegruppe an beeindruckenden Königsgräbern und den berühmten Hochkreuzen vorbei, die überall auf der Insel zu sehen waren. An einem Abend erzählte Patrizia ihren jugendlichen Reisenden von den sagenumwobenen Felsen und der starken Brandung der Cliffs of Moher. Die Klippen ragten dort bis zu 200 Meter hoch, und wurden stets von zahlreichen Seevögeln besiedelt. Eigentlich hatte sie sich nicht so ein großes Interesse an ihren Geschichten erwartet. Daher war Patrizia besonders erfreut darüber, dass die Schüler meistens aufmerksam ihren Ausführungen lauschten. Auch mit Bernd, dem Klassenvorstand, verstand sie sich sehr gut. Da auf der Rundreise täglich ein neues Quartier bezogen werden musste, war er Patrizia sehr dankbar, dass sie ihm bei der Zimmereinteilung stets behilflich war. Aufgrund der mannigfaltigen Eindrücke vom ganzen Tag, war es kein Problem, die Schüler relativ früh auf ihre Zimmer zu bringen. Selbst für Patrizia und Bernd war die Fahrt anstrengend. Daher besprachen sie nach dem Abendessen kurz den Ablauf des nächsten Tages, ehe sie sich auch zurückzogen.
3 Eine der letzten Stationen ihrer Rundreise bildete The Burren. Auf dem Weg dorthin fuhren sie an saftig grünen Wiesen, die von niedrigen Steinwällen voneinander getrennt wurden, vorbei. Daneben erstreckten sich auch Karstlandschaften, die besonders berühmt für die exotische Pflanzenvielfalt waren. Das Gebiet des Burren war auch sehr bekannt für keltische Kultstätten namens Dolmen. Patrizia liebte es, über dieses Thema zu berichten. Als die Reisegruppe eine dieser Kultstätten besichtigte, war es sonnig warm. Doch plötzlich zogen einige Gewitterwolken auf. Auf dem Feld mit den Steinen herrschte nun eine eigenartige Stimmung. Einzelne Sonnenstrahlen stellten das Dolmen in ein geheimnisvolles Licht, während der Wind langsam stärker wurde. Anfangs säuselte er leise über die Ebene, und ließ Töne, die sich wie Rufe anhörten, vernehmen. Doch aus den sanften Stimmen entwickelten sich sehr bald laut kreischende Schreie. Erschrocken lief die Gruppe zum Bus, und konnte gerade noch rechtzeitig einsteigen, als ein starker Regenguss niederprasselte. Nach etwa einer halben Stunde war der Spuk wieder vorbei, und ein prächtiger Regenbogen überspannte das Gebiet. Auf der Fahrt zu ihrem Quartier hatte Patrizia eine CD mit irischer Folklore eingelegt. An den Tagen zuvor protestierten die Schüler vehement gegen diese Musik. Diesmal allerdings hatte sie wohl das Ereignis am Dolmen voll in seinen Bann gezogen. Tief beeindruckt blickten sie aus dem Fenster, und ließen sich von der Landschaft verzaubern.
Am vorletzten Tag fuhr die Reisegruppe zu den Wicklow Mountains mit den eindrucksvollen dunklen Gebirgsseen. Die Hügel wiesen braune und purpurrote Flecken auf, und die Gipfel hatten die Form wie Zuckerhüte. Danach führte sie der Weg direkt ins Hotel nach Dublin. Der Nachmittag stand den Schülern frei zur Verfügung. In der Nähe ihrer Unterkunft war ein kleiner Vergnügungspark, den die Jugendlichen mit Freuden unsicher machten. Mit dem Besuch eines Pubs und der Kostprobe eines irischen Guinness klang für die Schüler der Abend aus. Erschöpft suchten sie bereits gegen 20 Uhr ihre Zimmer auf.
Für Patrizia war nun die Arbeit beinahe erledigt. Am nächsten Tag musste sie nur noch die Reisegruppe zum Flughafen begleiten. Etwas erschöpft räumte Patrizia ihre Sachen zusammen, und wollte sich von Bernd verabschieden, und in ihr Appartement fahren. Doch Bernd hielt sie zurück, und überredete sie, mit ihm an der Bar noch einen Drink zu nehmen. Nach zwei Whiskeys wurde die Stimmung der beiden deutlich gelöster. Bernd, ein 28-jähriger, dunkelhaariger, gut aussehender Lehrer, unterrichtete seit einem Jahr Englisch und Deutsch im BG Rein. Patrizia, die vor sieben Jahren selbst dieses Gymnasium mit der Matura abgeschlossen hatte, hätte gerne nähere Details über ihre ehemalige Schule erfahren. Allerdings wusste sie nicht, ob sie Bernd darüber in Kenntnis setzen sollte. Dieser Gedanke wurde rasch verworfen, als er mit einer ganzen Flasche Whiskey auf sie zukam. Obwohl sich Patrizia vehement weigerte, noch ein weiteres Glas zu trinken, goss Bernd trotzdem ein, und bestand darauf, es in einem Zug zu leeren. Kurz darauf konnte Patrizia keinen klaren Satz mehr sprechen, und kicherte die ganze Zeit. Bernd war ebenfalls etwas benommen. Dennoch war er nüchtern genug, um mit ihr auf sein Zimmer zu gehen. Als beide am Gang standen, hatte Patrizia ihre Arme um Bernds Hals gelegt, und lehnte sich an die Türe, die er gerade zu öffnen versuchte. Mit einem Ruck schnellte die Türe auf, und Bernd landete direkt auf Patrizia, die nach hinten gefallen war. Als er in ihre Augen blickte, war es um ihn geschehen. Stürmisch küsste er Patrizia, und schleppte sie zum Bett. Langsam fiel die Tür ins Schloss. Patrizia hatte zwar einen kleinen Schwips, dennoch wusste sie genau, was sie tat. Es war wohl Liebe auf den ersten Blick gewesen. Allerdings konnten sich beide erst zum Ende der Reise ihre Gefühle gestehen.
Bernd hatte den Wecker auf 8 Uhr gestellt, und erwachte mit brummendem Schädel. Als er sich umdrehte, um das Gerassel zu beenden, starrte ihn Patrizia mit großen Augen an. Bernd lächelte und küsste sie leidenschaftlich. Patrizia konnte noch keinen klaren Gedanken fassen, und ließ Bernd gewähren. Erst als er sich zwischen ihre Schenkel zwängte, und sanft in sie eindrang, kam die Erinnerung der letzten Stunden wieder.
Für 9.30 Uhr war das Frühstück angesetzt. Die Jugendlichen waren bereits vollständig im Speisesaal eingetroffen, aber weder ihr Klassenvorstand noch die Reiseleiterin waren anwesend. Verwundert bedienten sie sich am reichhaltigen Buffet, und freuten sich bereits auf die Heimreise. Wie besprochen hatten sie eine Stunde später ihr Gepäck an der Rezeption abgegeben, und warteten ungeduldig auf ihre Begleitpersonen. Es war bereits gegen 11 Uhr, als Patrizia den Speisesaal betrat. Erleichtert kamen die Schüler auf sie zu, und fragten sie, ob sie ihren Lehrer gesehen hätte. Patrizia nickte etwas verlegen. Doch da war auch schon Bernd zur Türe hereingekommen, und entschuldigte sich für seine Verspätung. Mit gesenkten Blicken nahmen die beiden das Essen ein. Allzu gerne hätte ihn Patrizia in der Öffentlichkeit umarmt. Auch Bernd hätte liebend gerne ihre Hand gehalten. Aber sie waren sich darin einig, so zu tun, als wäre nichts zwischen ihnen vorgefallen. Danach versammelte sich die
4 gesamte Reisegruppe vor dem Hotel zum Abschiedsfoto. Patrizia versprach, dieses, zusammen mit einigen Impressionen von den Ausflügen, an Bernd zuzusenden. Dann stiegen alle in den Bus ein, und fuhren zum Flughafen. Für einen langen Abschied blieb leider keine Zeit, denn Patrizia musste in einer halben Stunde ihre nächste Reisegruppe in der Innenstadt in Empfang nehmen. Nach einem kurzen Händeschütteln, mit unterdrückten Tränen, verabschiedete sie sich von Bernd und den anderen.
Wohlbehalten kam wenige Stunden später Bernd mit seinen Schülern in Graz-Thalerhof an. Die Jugendlichen wurden bereits von ihren Eltern erwartet, und verschwanden rasch nach einem kurzen Abschied. Etwas aufgewühlt kehrte Bernd in seine Wohnung zurück, und schwor sich, mit Patrizia irgendwie in Kontakt zu bleiben. Allerdings kannte er weder ihre Adresse noch ihren Nachnamen. Aber das müsste er über die Reiseagentur in Erfahrung bringen können. Gedankenverloren blickte Bernd aus dem Fenster, und schmunzelte über die Erlebnisse der letzten Stunden.
In der Zwischenzeit hatte Patrizia ihre neuen Gäste aus Deutschland in ihrem Hotel empfangen. Danach stand die erste Führung durch die Innenstadt Dublins auf dem Programm. Beim Kiosk vor der St. Patrick`s Cathedral kauften sich einige Mitglieder der Reisegruppe Souvenirs von Irland. Doch dann fiel plötzlich eine Karte vom Ständer. Patrizia hob sie auf, und betrachtete die Vorderseite. Ein einsames Schaf auf einer grünen Wiese blickte sie an, und sagte:"Missing you!" In diesem Moment musste sie sofort an Bernd denken. Ohne zu zögern kaufte Patrizia die Karte, und widmete sich dann mit gemischten Gefühlen ihrer Reisegruppe. Am ersten Arbeitstag nach der Irland-Reise versuchte Bernd über die Reiseagentur die Daten von Patrizia zu erfahren. Allerdings war er nicht erfolgreich. "Es müsse sich um ein Missverständnis handeln, es würde keine einheimische Reiseleiterin für sie arbeiten". Das war die Antwort. Frustriert über diese Auskunft ging er in seine Klasse. Eigentlich hatte Bernd keinen Kopf für Englischunterricht, daher ließ er die Urlaubseindrücke seiner Schüler Revue passieren. Das Semester ging dem Ende zu, und Patrizia hatte noch immer nichts von sich hören lassen. Etwas enttäuscht entließ Bernd seine Klasse in die Ferien.
In der zweiten Septemberwoche begann wieder ein neues Schuljahr. Wie üblich ging der Direktor von Klasse zu Klasse, um die Schüler zu begrüßen. Die Überraschung war groß, als er diesmal nicht alleine das Zimmer von Bernds Klasse betrat. Freundlich begrüßte der Direktor die Schüler, und stellte seine Begleiterin vor. "Das ist Patrizia Moser, eine meiner besten Maturantinnen. Sie haben sich ja bereits in Irland kennengelernt. Übrigens: Dass die Führung ausschließlich in Englisch erfolgen sollte, das war meine Idee." Dann verließ der Direktor den Raum. Patrizia ging etwas verlegen auf Bernd zu, und drückte ihm ein Kuvert mit Bildern in die Hand. In der Klasse kam ein leichtes Raunen auf, als die Schüler erfahren hatten, dass Patrizia eine Österreicherin war. Aber als die Fotos ausgeteilt wurden, herrschte helle Begeisterung. Ein Bild war für Bernd übriggeblieben, und eine Karte, auf der ein Schaf abgebildet war. Patrizia war bereits im Begriff sich zu verabschieden, und warf ihm noch einen kurzen Blick zu. Doch nun zögerte Bernd nicht mehr, nahm Patrizia in seine Arme und küsste sie innig. Dann verließen beide rasch das Klassenzimmer, und waren überglücklich, sich wiedergefunden zu haben...
5 Codewort: superkleckertool
Frühstück
Frühstück im Hotel. Kaum einer denkt dabei an etwas Böses. Man stellt sich eine entspannte Gelassenheit vor, mit der ein neuer Tag beginnt. Diese ist auch da, während des Anziehens, des Runterfahrens mit dem Lift, der gemächlichen Durchschreitung des langen dunklen Ganges, an dessen Ende ein Licht scheint, das des Frühstücksraumes. Sobald man aber den Ausspeisungsort betreten hat, verfliegt diese Gelassenheit schlagartig.
Konzentration ist nun gefragt: was brauchst du alles, wo findest du es? Erfahrene drehen diese Frage längst um: Was findest du alles, kannst du es irgendwie brauchen? Aber auch sie benötigen zuerst einen Teller. Manche Hotels bieten große und kleine Teller an, wegen des knappen Platzes an den Tischen. Und man blamiert sich, wenn der kleine Teller überquillt und der Nachbar wie selbstverständlich einen großen gefunden hat, am anderen Ende der Anrichte. Manche Teller sind flach, mühselig Gefundenes und Gesammeltes rutscht hinaus und fällt hinunter, manche steilrandig wie Suppenteller, die kippen dann andauernd beim Streichen der Butter.
Der Kaffee ist unberechenbar vielgestaltig: er kann als Automat auf einen warten, der irgend einer fremden Logik folgt, nur nicht der eigenen. Knöpfe können getarnt sein, zuwenig lange gedrückt worden sein, unlogisch angeordnet oder einfach kaputt, und das Schild „kaputt“ hängt genau drei Millimeter außerhalb des verengten Blickfeldes. Oder es schmiegt sich logisch an den Behälter mit den Zuckerbriefchen. Kaffee kann auch als Kanne warten, mit einem Deckel, der aufgeschraubt, gedrückt oder gehoben werden muss, schwere Kannen müssen nicht voll sein, leichte Kannen nicht leer. Oder man sucht vergeblich nach einer Kanne, weil der Kaffee am Tisch serviert wird. Die Zuckerbriefchen können neuerdings auch stangenförmig sein, ebenso wie das Salz, man sollte wirklich lesen, was auf so einer Papierhülse steht. Ein Tipp: Eier in der Nähe des Fundortes signalisieren Salz. Echten Zucker zwischen den vielen Kunstsorten zu finden verlangt den Spürsinn von CSI-Mitarbeitern, auch lateinische Grundkenntnisse können einem mitunter weiterhelfen beim Interpretieren der Produktnamen. Das Brot, normalerweise leicht zu erspähen, ist oft als einziges Nahrungsmittel am anderen Ende des Speisesaales platziert, ein Grund hierfür nicht ersichtlich, bis man beim Zurückgehen feststellt, es wäre auch am diesigen Ende verfügbar gewesen, nur war es verdeckt von einem Riesenbehälter mit Müsli. Das Auffinden und der richtige Einsatz der Brotzange hat kurzfristig die Stimmung gehoben, aber nun beginnt die Suche nach der Butter. Sie kann als eisgekühlter Kringel vorliegen, als eingewickeltes Würfelchen oder als Schälchen mit Abzugdeckel, in letzterem Fall ist man wieder mit konkurrierenden Diätprodukten konfrontiert, die einen zum Lesen kleinstgedruckter Aufschriften zwingen. Ha, da ist sie! Tückischerweise in metallic-grün verpackt. Jetzt noch die Konfitüre. Große Gläser mit Löffeln zum freien Herauspatzen auf den Teller, weil man die Glasschälchen übersehen hat? Im schmucken Minigläschen mit störrischem Vakuumdeckel oder doch als Aludöschen mit Abzugfolie? Und wenn Letzteres, war’s nicht schon wieder Diabetikerfraß?
Hunderte Gedanken, bis man endlich die Grundausstattung Semmel, Butter, Konfitüre und Kaffe beisammen hat, ergänzt um ein Messer und einen Kaffeelöffel aus der im Vorbeigehen entdeckten Bestecklade, und auf einem Mini-Teller zu seinem Tisch balanciert, der leer ist bis auf eine reichlich informative Papierauflage, eine Leere, deren Tragweite sich erst schrittweise während des Frühstücks offenbart. Man setzt sich hin und beginnt mit der Zerschneidung des am anderen Ende des Saales erbeuteten Croissants, das Messer hat die Performance eines Brieföffners oder eines Geo-Dreiecks in derselben Aufgabe. Das Croissant windet sich und weicht aus, zerfällt in große und kleine Brösel, aber es teilt sich nicht, zerreißt nur zögerlich und an unvorhersehbarer Stelle zu einem Gebäcksfetzen, wie ihn die überlebenden Bürger nach der Plünderung Roms gelegentlich noch am Fuß einer zerschmetterten Säule angefunden haben. Und wie schon so oft fragt man sich, wie es der Nachbar geschafft hat, trotz gleich stumpfen Messers nur ein Viertel der Brösel zu erzeugen, von denen nun der eigene Tisch übersät ist. Man wischt die Brösel zusammen, etliche davon liegen nun auf der frisch angezogenen Hose, den Rest füllt man in den ohnehin schon zu kleinen Teller. Nein, das geht so nicht, man steht auf, klopft die Hose ab und holt einen
6 zweiten Teller für Brösel und Abfälle. Man windet die inzwischen erweichte Butter aus dem innen silbrigen Papier, streicht sie in das, was sich einst Croissant nannte, und die Butterhülle glotzt einen als fettiges, faltiges, in alle Himmelsrichtungen ragendes Stück Müll an, während Daumen und Zeigefinger schmierig gegeneinander gleiten und ab jetzt mit Hosenberührungsverbot belegt sind. Zweites Mal aufstehen und Serviette holen, die im Überfluss und deutlich sichtbar neben der Bestecklade gewartet hätte. Der Kaffee, den man zu Beginn der Besorgungstour dem Automaten abgerungen hat, steht noch immer unberührt und ungezuckert daneben und sollte allmählich ausgetrunken werden, sonst besteht noch die Gefahr des Umstoßens. Ein drittes Mal aufstehen, Zucker holen, man hat ihn ja schon schräg hinter dem Automaten registriert, allerdings in anderem Zusammenhang. Briefchen aufreißen, Zucker rein in den Kaffee, Löffelchen ist löblicherweise da, umrühren, einen Schluck nehmen. Den Geschmack hat man augenblicklich vergessen, denn der Vakuum-Deckel des Konfitüre-Gläschens sitzt bombenfest. Endlich gibt das Ding nach, und man beginnt, die Konfitüre in das eingebutterte Croissant zu schmieren. Der Teller kippt wegen seines steilen Randes, ein Teil der Brösel liegt wieder auf dem Tisch und der Hose. Man blickt auf eine hingewürfelte Landschaft aus Essbarem, Angebrauchtem und Müll, bevor man den ersten Bissen zu sich nimmt. Wenigstens der Kauvorgang nimmt seinen gewohnten Verlauf, kurzer süßer Geschmack vor dem Schlucken, noch einen Bissen. Man lehnt sich erleichtert zurück, stößt an die Lehne des Nachbarsessels. Ja, ein Frühstücksraum ist eben kein Gipfelkreuz mit Sicht bis ins Nachbarland. Wengstens verzichtet dieses Hotel auf jedwede Happy-Morning-Musik, der zerwühlte und zunehmend vermüllte Tisch gibt genau den Zustand wieder, in dem der Speisende sich befindet. Das Messer, bereits wegen seiner Stumpfheit in Verruf geraten, entpuppt sich zudem noch als heimtückisches Superkleckertool. Im Teller bleibt es nicht liegen, der Griff ist zu schwer, sodass es immer wieder rauskippt. Mit Butter und Konfitüreresten bewehrt, liegt es deshalb mal längs, mal quer, aber immer im Weg. Mal stoßen die Finger dran, mal der KleinfingerHandballen, und immer ist man klebrig oder schmierig hinterher. Man beendet diese teuflischen Interferenzen, indem man die Serviette opfert, um das Messer zu reinigen, und dann nochmals aufsteht, um eine weitere Serviette zum Abwischen der Finger und des angepatzten Mundes zu besorgen. Nachdem das Croissant endlich bewältigt ist, holt man noch eine gewöhnliche Semmel von der diesseitigen Brotablage, um jetzt, wo alles geübt ist, doch noch an seinen inneren Frieden zu gelangen. Man fragt nicht nach Kalorien oder Hunger oder gar Geschmack, nein, man will einfach diesen Tisch als Sieger verlassen, der nicht mehr bröselt und klebt und kein einziges Mal mehr aufstehen muss, um etwas Vergessenes zu holen. Man will die souveräne Ruhe zurück, mit der man gekommen ist, ergänzt um ein bisschen Sattheit. Aber diese Ruhe kehrt erst ein, als die indische Angestellte freundlich lächelnd und ohne ein Zeichen von Ekel die ganze Schweinerei wegräumt. Das Monster „Frühstück im Hotel“ ist endlich bezwungen, wenn auch mit fremder Hilfe. Und man könnte gleich wieder schlafen gehen, soviel Energie hat man in dieses Frühstück verpulvert. Dabei liegt noch ein ganzer, wichtiger und aufregender Tag vor einem.
7 Codewort: Hemd
Das letzte Hemd
Nachdem ich mit meiner Petersilie im Garten gesprochen hatte, an der sich die Schnecken labten, fiel es mir wieder ein. Das Gespräch, das mich so sehr berührt hatte, das Gespräch mit einer Frau, die das Leben immer als eine endlose Reise betrachtet hatte, die für jeden von uns mit derselben oder einer ähnlichen Erkenntnis enden wird. Wir saßen am Tisch unter dem Vordach ihres Hauses am Waldrand, es war an einem Spätnachmittag im Juni und sie erzählte: Als wir jung waren dachten wir, dass die Alten nur ein Thema kennen: Krankheit. Wir beobachteten sie bei Begleitgängen zum Arzt, wie sie sich mit ihren wartenden Nachbarn im Warteraum über ihre jeweiligen Leiden unterhielten, während Fische im Aquarium stumm und wahrscheinlich vollkommen ahnungslos, was das Wort Krankheit bedeuten kann, ihre Runden drehten. Auch in den kleinen Lebensmittelgeschäften, die es damals noch in den heimischen Dörfern gab, drehten sich die Gespräche, wenn sie, die Alten, dort jemanden trafen den sie kannten, immer um die eigenen Krankheiten oder die Krankheiten von den Bekannten, Verwandten und Nachbarn. Wer wann und warum und unter welchen Umständen ins Krankenhaus gekommen war. Wer wann wo und warum gestorben war. Das gleiche bei zufälligen Treffen auf der Straße, wenn dort am Samstag gekehrt wurde, oder an Baustellen, die Spaziergänger zu einer kleinen Verweilpause einluden. Oder bei Dorffesten, Geburtstagsfeiern, Tauffesten, Konfirmationen, Kommunionen, Hochzeiten und Beerdigungen. Zu Ostern, Pfingsten, Weihnachten. Wo auch immer sich die Leute getroffen haben, es war immer das gleiche Bild. Bei uns in den Dörfern. Als Kind konnte man das nicht verstehen und nahm sich auch immer wieder fest vor, so später garantiert nicht werden zu wollen. Man wusste als Kind, dass es noch andere wichtige Dinge gab und geben würde, als sich fast selbsttätig wie ein Brummkreisel um immer die gleichen Fragen zu drehen. Und dann ist man irgendwann, schleichend, auch älter geworden. Man kam in die Jahre in denen die Zipperleins begonnen haben, die kleinen gesundheitlichen Schwierigkeiten. Wo man selbst zum Arzt gehen musste um Dinge und Fragen abzuklären, sich Medikamente verschreiben zu lassen oder sich Operationen zu unterziehen. Sich in Dauerbehandlung zu begeben, sich Kuren zu unterziehen, sich mit Internisten oder Physiotherapien zu beschäftigen, oder mit Röntgenaufnahmen, CT´s und MR´s. Mit Blutabnahmen und Cholesterinwerten, mit nahendem oder schon vorhandenen Diabetes, oder einer abnehmenden Knochendichte. Man wird plötzlich konfrontiert mit Begriffen wie Mantelzelllymphom. Man hat dabei im Hinterkopf, bloß nicht zu viel mit anderen über Krankheiten reden zu wollen. Man hat im Hinterkopf, nicht so geworden sein zu wollen, wie man es von den Alten in Erinnerung hat. Aber wenn dann Besuch kommt, oder wenn man sich irgendwo trifft und man fragt interessiert den anderen danach, wie es denn geht, dann ist man schon Teil der Krankheitsdialogspirale. Und dann redet man doch darüber, obwohl man es nie wollte. Und es fallen einem selbst Geschichten ein von Personen, Bekannten oder Angehörigen, die man dann weitergibt mit auserwählten Details, die gerade gut passen, oder die nicht zu viel verraten. Es ist uns dann bewusst, dass wir gerade das tun, was wir nie tun wollten, aber wir erkennen uns in diesem Moment selbst in dieser persönlichen Gefangenschaft an und merken, dass man kaum aus ihr entfliehen kann. Es sei denn, man würde sich selbst komplett abschirmen. Aber das will man auch nicht, man braucht die anderen, braucht den Kontakt, den Austausch. Die soziale Direktberührung. Das gegenüber als realen Touchscreen, der wie ein moderner Bildschirm auf unsere Berührung reagiert. Vielleicht brauchen wir die anderen auch, um das überhaupt erst aushalten zu können, was man vielleicht gerade selbst durchmacht (natürlich: krankheitsbedingt). Wir spüren in diesen Stunden, in diesen Krankheitsgesprächen, dass das Leben endlich ist. Als Kind dachte man, das Sterben ist noch lange hin. Zuerst sterben die Alten. Und ich muss erst noch groß werden. Aber jetzt ist man groß. Man ist lebenserfahren, man ist reif. Man ist älter. Man ist krank. Und falls man selbst doch noch nicht krank ist, so kennt man jedenfalls immens viele Menschen, die es sind, die Beschwerden haben in den unterschiedlichsten Ausformungen. Von denen man eigentlich lieber gar nichts wissen will. Aber unhöflich sein möchte man auch nicht, weshalb ein interessiertes Zuhören bei allfälligen Dialogen, die die Abwesenheit von Gesundheit betreffen, unerlässlich ist. Und bei all dem spürt man, dass man dem eigenen Lebensende näher rückt, dass das Lebensende unaufhaltsam auf einen zukommt. Man könnte sagen, es wird einem bewusst, dass man aus diesem Aquarium nicht mehr aussteigen kann. Das die kleine Welt um einen herum wie gläsern werden wird.
8 In dieser Lebensphase passiert es, dass man in der Stadt in schwarz gekleidete Bekannte trifft, die schon älter sind als man selbst es ist. Ein Ehepaar mit einem Doppelpack großen traurigen Augen, die halbrund und feucht aus ihren Höhlen quellen. Die Bekannten kommen vom Marktplatz am Lend, biegen um die Ecke und stehen plötzlich vor einem. Man begrüßt sich und führt Smalltalk, darüber, dass am Markt nicht viel los sei. Man taucht für eine Nanosekunde lang in den schwarzen Abgrund der gegenüberliegenden Pupillen. Und flieht sofort durch sie hindurch. Sie fragen wie es denn ginge und man erzählt irgendetwas, was einem gerade einfällt. Und man spürt, dass die beiden gerade von einer Beerdigung kommen, dass sie sich ablenken wollten, dass sie Leben spüren wollten, dass sie mittlerweile oft auf Beerdigungen gehen. Das weiß man einfach. Man denkt, früher hätten die beiden nach einer Beerdigung vielleicht Sex gehabt, um sich vom Tod abzulenken, um zu spüren, das man selbst noch am Leben ist, aber heute gehen sie eben auf den Marktplatz. Nach Beerdigungen. Um sich selbst wieder und wieder des eigenen noch vorhandenen Lebens zu versichern. Es sind kleine Erkenntnisse über das alt werden, die man gedanklich über sich selbst und die anderen sammelt. Sie haben etwas von tektonischen Verschiebungen an sich, von kleinen Erdbeben in der Höhe von 3,5 auf der Richterskala (spürbares schwanken von höheren Gebäuden und klirren der Gläser im Schrank). Und kleinen alltäglichen Abgründen, mentale Erdspalten, in die man dann fallen könnte. Denn immer steht es einem vor Augen, dass das Treppensteigen mühsamer wird und man daher Aufzüge oder Rolltreppen zur Bewältigung von großen Höhenunterschieden bevorzugt. Das man vergesslicher wird und andere darum bittet, einen an wichtiges zu erinnern. Das man öfter sagt oder denkt, dass ein alter Mann kein D-Zug sei, wenn andere einen zur Eile antreiben wollen. Das man morgens steif aus dem Bett kriecht und glaubt alle seine Knochen zu spüren. Das man Verpackungen nicht mehr gut öffnen kann und darüber schimpft, dass die Verpackungen heutzutage Alten feindlich sind. Das man ohne Brille verloren wäre. Das man ungeduldig mit sich wird, weil man weiß, dass einem früher alles schneller von der Hand ging. Das man ein zittern der Hände an anderen beobachtet und sich fragt, wann es bei einem selbst losgehen wird. Oder wie man dann, tritt der Fall ein, diese Erscheinung schwacher Nerven am besten kaschieren kann. Das man an Orthopädiefachgeschäften die Schaufensterauslagen beäugt und sich Gedanken macht über Inkontinenz bei Männern und Frauen und wie dem im Alter zu begegnen ist. Das man ohne ein persönliches elektronisches goldenes Kalb namens I-Phone vollkommen hilflos bei entfallenen Wörtern ist, weil man Google nicht überall und spontan befragen kann und man daher mühsam im Geiste nach Umschreibungen für das fehlende Wort oder den fehlenden Namen suchen muss. Am besten so, dass es die anderen nicht gleich merken, dass der Alzheimer schon manchmal, viel zu oft, zu Besuch ist. Das man denkt, dass die psychotischen Ausbrüche der anderen, derjenigen die vielleicht eingeliefert werden, nur eine Unabhängigkeitserklärung von deren Fantasie ist. Und das es die Ärzte und Psychiater einfach nicht begreifen, weil sie nur gelernt haben wie man Symptome am besten unterdrückt anstatt aufmerksam zuzuhören. Dass man sich fragt, ob man mit der zu erwartenden Pension über die Runden kommen wird. Ob bis dahin endlich der Pflegeregress in der Steiermark abgeschafft sein wird? Dass man die anderen beobachtet (vor allem übergewichtige Menschen) und sich fragt, mit welchen Beschwerden die wohl konfrontiert sind. Die eigene (Alters-) Müdigkeit wird spürbar durch das Bedürfnis nach mittäglichen Nickerchen auf dem Sofa, auf die man nicht mehr verzichten mag. Man ertappt sich bei dem Gedanken, dass, wenn es ein DRÜBEN gibt, es schön wäre, wenn drüben ein Bett stehen würde, in das man einfach hinein fallen könnte. Man hofft darauf, dass es DRÜBEN schön kuschelig und warm sein könnte. Und das man dann keine Sorgen mehr hätte. Hoffentlich. Das man merkt, wenn ein Krebsfall mit hoher Todeswahrscheinlichkeit im Bekanntenkreis auftritt, dass Hilflosigkeit eine der schlimmsten Empfindungen sein kann. Weil sie einen fesselt und Angst auslöst. Das ein Krebsfall im Bekanntenkreis einen zu einem Fisch im Aquarium macht. Irgendwie. Man verstummt und fühlt sich wie im Glaskasten. Man sieht das außen, kann mit dem außen aber nicht mehr richtig (konkret) agieren. Man
9 kann versuchen die Bekannten oder Freunde zu trösten. Aber das ist schwer. Auch Hoffnung machen zu wollen ist angesagt, wenn man nur die richtigen Worte finden kann. Man kann versuchen zu begleiten. Oder individuelle Unterstützung, jedenfalls Gespräche anbieten. Und praktische Dinge im Alltag zu erledigen. Man versucht da zu sein. Noch ein paar Schritte auf der mehr oder weniger gemeinsamen Lebensreise miteinander, nebeneinander, hintereinander zu gehen. Ohne den Mut für das eigene Leben zu verlieren oder sich zu sehr von den manchmal zyklisch, nach- und nebeneinander auftretenden Verabschiedungen runter ziehen zu lassen. All das steht einem bevor oder man ist bereits mitten drin, in diesem Prozess vom loslassen müssen. Zu diesem Zeitpunkt lächelt man noch über ortsgebundene Begriffe wie „Siechenheim“ oder „Siechenhaus“, einem Wort vor kurzem in der Obersteiermark gehört, dem unschönen aber in sich die Wahrheit berührenden Vorläufer vom Begriff des Altenoder Pflegeheims. Wenn man großes Glück hat, kann es alten Menschen so gehen, wie einigen die ich kenne. Die sind 86 und 89 Jahre alt und marschieren noch recht munter durch die Weltgeschichte. Der eine lebt zwar im Betreuten Wohnen, hat dort aber eine eigenes geräumiges Appartment und führt ein autarkes Dasein in Zufriedenheit, wird von den eigenen Kindern mit betreut und fast täglich von ihnen besucht. Der andere lebt Zuhause mit seiner etwas jüngeren Frau, steigt täglich viele Treppenstufen, um vom Garten oder den Ausflügen wieder in die Wohnung hinauf zu gelangen. Er wandert fast täglich in den Wald, der an einem Steilhang gelegen ist und regelrecht erklommen werden muss und geht dort seiner Lieblingsbeschäftigung, dem in der Natur mit sich alleine sein nach und pflegt seine Bäume oder fällt gelegentlich welche, um im Winter die vom Ölbetrieb auf Holz umgestellte Heizung, befeuern zu können. Er baut auch noch großflächig und ohne Maschinen Kartoffeln und Gemüse an, im Feld, das ebenfalls am Steilhang gelegen ist. Er schleppt Steine und beschwert sich darüber, dass seine Hände nicht mehr zupacken können und wuchtet alleine mehrere gewichtige Grabplatten umher, die er im Garten eingelagert hat von den Grabauflösungen der nahen Verwandtschaft. Und niemand weiß, was er mit den Grabplatten eigentlich anfangen wollte. Nicht mal er selbst kann es noch sagen. Doch darüber macht er auffällige Scherze. Um sein Gehirn zu trainieren füllt er täglich Kreuzworträtselhefte aus und trinkt kleine rote Becher mit Doppelherztonikum für ein gutes Wohlbefinden. In der Wohnung gibt es unzählige Uhren an den Wänden und in den Regalen. Auch bis zu 15 Kalender können dort an verschiedenen Stellen geortet werden. Wohl weil die Zeit, die verbleibt, kostbar und messbar ist. Die Alten bei uns im Dorf, die die 70ger Grenze erfolgreich geschafft haben, führen ein gutes und selbstbestimmtes Leben mit ihren Krankheiten und dem Wissen vom nahenden Tod. Sie hoffen wahrscheinlich darauf, dass sie eines Nachts einfach in ihrem Bett einschlafen und nicht mehr aufwachen. Oder, dass sie der Schlag trifft. Der endgültige. Kurz und schmerzlos. Sie wissen, dass sie unaufhaltsam auf der letzten Etappe der Lebensreise wandern. Und sie schreiben Briefe, in denen man lesen kann, dass sie wissen, dass es dem Endspurt zugeht, dass sie zeitig die Koffer packen müssen, damit sie für die nie wiederkehrende letzte Reise gerüstet sind. Sie wünschen sich, dass der liebe Gott ihnen die Gnade gewährt und mit dem Tag X noch ein bisschen auf sich warten lässt. Und sie wissen, dass das letzte Hemd keine Taschen hat. Jetzt öffnet die Frau ihre Augen und lächelt mich an. Eine Stunde ist nun vergangen. Wissend hat sie vom Leben gesprochen. Und die Sonne senkt sich behutsam über den Wald.
10 Codewort: Fräulein Josephine Am Ende Grausig. Grausig. Grausig. Mehr fiel ihr dazu nicht ein. Obwohl, würde ihr schon, aber ihr Anstand verbot es ihr, ihrem inneren Pulverfass auch nur den geringsten Funken zu geben und somit unterdrückte sie gekonnt eine Explosion von Flüchen. Wie sie es so oft in ihrem Leben machen musste. Im Grunde war sie ja selbst schuld. Falsche Beratung und das Nichteingestehen eigener Fehler brachte sie in diese höchst unangenehme Situation. Nicht die erste, die sie aufgrund dieser beiden Fehleinschätzungen zu bewältigen hatte. Was ihr vor allem von ihren Kindern immer wieder und bei jeder Gelegenheit vorgehalten wurde. Aber sie änderte sich nicht. Warum sollte sie auch? Im letzten Lebensabschnitt angekommen, hatte sie mit so vielen Veränderungen zu kämpfen, dass sie sich selbst treu blieb, um nicht einer weiteren Veränderung Herr werden zu müssen. Aber das hier ist die absolute Krönung. Um diese erbärmliche Situation so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, wäre sie jede Wandlung sofort und bereitwillig eingegangen. Und hätte das bedeutet, sie wäre sich selbst nicht treu geblieben. Es wäre ihr völlig egal. Denn wenn sie eines nicht mochte, dann wenn sie sich hilflos und völlig nackt fühlte. Gut, das Nacktsein gefiel ihr schon. Vor allem in ihrer Studentenzeit, als sie sich für Künstler entblößte und im Mittelpunkt des Geschehens und der Begierde stand. Herrlich war das. Und Geld brachte es auch. Gänsehaut bekam sie nur, als sie an den alten, gelinde ausgedrückt übergewichtigen Herrn Rothfuss dachte, der sie fast jeden zweiten Tag als seine Muse haben wollte. Was sie nach einer einzigen Einwilligung und dem darauffolgenden Fiasko stets höflich aber bestimmt verneinte. Fast übergab sie sich und wurde sich ihrer Hilflosigkeit wieder bewusst. Hilflos, seitdem ihre Koffer spurlos verschwunden sind und zudem auch ihr in den letzten Jahren immer mehr desillusionierter Spinner und Ehemann sich in Luft aufgelöst hatte. Es hätte ihre letzte gemeinsame große Reise werden sollen. Anscheinend sollte es aber nicht sein. So romantisch ihre Beziehung auch angefangen hatte, so dramatisch würde sie wohl nun enden. Ende, ein Ende ihrer Ehe ist absehbar. Endlich, nachdem sie sich das schon seit über 30 Jahren insgeheim wünschte. Da gab es nämlich einen herben Schicksalsschlag der ihre Ehe nicht nur ins Stocken brachte, sondern vor das Aus stellte. Es war damals der Zeitpunkt gekommen als sie sich nicht mehr für seine künstlerische Arbeit auszog, er somit das künstlerische Grundinteresse an ihr verlor aber mit ihrer Schönheit weiterhin angeben wollte, sie sein Geld trotzdem brauchte und beide seither eine niemals ausgesprochene Übereinkunft ihrer Symbiose eingegangen sind. Er war seither ihr Nutztier. Kein Schwein, aber mehr als zu einem Ochsen brachte er es auch nicht. Was er brachte und haufenweise besaß war Geld. Sie liebte Geld. Mehr als Geld liebte sie nur die Dinge, die sie sich mit Geld alles leisten konnte. Sie lebte wie man so schön sagt in Saus und Graus. GRAUS. GRAUS. Sie wurde sich ihrer Situation wieder unmissverständlich bewusst und wälzte sich in den dreckigen Lacken des Bettes hin und her. Sie beruhigte sich und ließ ihren Blick im Zimmer umherschweifen. Wände, die kurz vor dem Verfall standen und von Schimmel überdeckt waren. Unerklärlich war für sie auch die Tatsache, dass im ganzen Raum unzählige vertrocknete Rosen am Boden lagen. Wer hier wohl seine Flitterwochen verbrachte? Menschen ohne Anstand, Stil und Scham wohl nur. Der wahre Grund dafür blieb ihr aber vorerst verschlossen. Ein Loch in einer der Wände, aus dem Geziefer fröhlich ein und aus spazierte, erregte ihre geballte Aufmerksamkeit. Denn sie mochte alles was am Boden und auf allen vieren herumkrabbelte nicht sonderlich. Das galt für alle nur erdenklichen Tierarten. Nur zwei Ausnahmen machte sie dabei: Erstens beim Schlürfen von hochexquisiten Austern und zweitens beim Tragen von überteuerten Pelzmäntel. Da liebte sie Tiere. Aber auch Menschen, die buchstäblich auf allen vieren daherkamen verabscheute sie aufs Letzte. Seien das Bettler, Obdachlose oder auch nur ihr alkoholkranker Bruder, der mehr Zeit im Liegen als im Stehen verbrachte. Sie schämte sich so für ihn, dass sie sich bei exklusiven Gesellschaften die meiste Zeit als Einzelkind ausgab. Nur Wenige wussten von der kümmerlichen Existenz ihres Bruders. Und das sollte auch so bleiben. Neben den schimmligen Wänden und dem Ungeziefer machte ihr noch der modrige Gestank und die Kälte zu schaffen. Als schlimmsten Missstand empfand sie aber die Enge des Raumes. Erdrückend. Wie eine Ölsardine kam sie sich vor. Sie musste kurzerhand nach Luft ringen und wälzte sich erneut im Bett hin und her. Dabei verspürte sie einen stechenden Schmerz in der Brust. Verzweifelt rief sie den Namen ihres Mannes. Verzweifelt rief sie um Hilfe. Verzweifelt schickte sie Schoßgebete gen Himmel. Nach minutenlangem Ringen ließ der Schmerz etwas nach, die Anspannung wich aus ihrem Gesicht und sie verfiel in einen tiefen Schlaf. Fräulein Josefine? Geht es Ihnen gut?, flüsterte Herr Rothfuss. Keine Antwort. Zärtlich begann er sie bei der Schulter zu streicheln. Fühlen Sie sich etwa nicht ganz wohl? Erneutes Schweigen. Lustvoll betrachtete er ihren entblößten Körper. Sollte ich Hilfe holen? Wieder Nichts. Der Künstler streichelte sie weiter zärtlich und begann sich ihr immer bedrohlicher zu nähern. Ist wirklich alles in bester Ordnung? Stille. Dann ließ er seine Hände bei den Schultern angefangen immer weiter abwärts gleiten. Bis er an ihren Hüften angekommen war und sie ihm plötzlich tief in die Augen schaute und ein unverständliches Röcheln von sich gab, gefolgt von einer Lawine ihres
11 erst kurz zuvor eingenommenen Mittagessen. Trotz dieser ungeheuren Peinlichkeit für beide Protagonisten ließen sich die beiden überhaupt nichts anmerken. Sie starrte weiterhin Löcher in die Luft und Herrn Rothfuss Begierde war ungebrochen. Er presste seine Lieben zu einem riesigen Schmatzer zusammen und begann sie leidenschaftlich auf den Mund zu küssen. Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe... Schweißgebadet und den Geschmack von Erbrochenem in Nase und Mund wachte die einstige glanzvolle Muse von zig Künstlern auf. Kein Herr Rothfuss in Sichtweite. Gott sei Dank. Diese Tatsache konnte ihre ausweglose Situation aber keineswegs kaschieren. In Gedanken noch bei dem Alptraum verweilend spürte sie plötzlich ein unangenehmes Kribbeln bei ihren Zehen. Mühsam richtete sich auf und blickte ihre runzligen Beine hinab. Was war das, was da an ihren Zehen klebte? Ihr von einem Grauen Star getrübter Blick mochte es nicht erkennen. Also musste sie das Etwas näher an ihre müden Augen führen. Sie streckte sich und mühte sich ab, konnte ihr Ziel aber nicht erreichen. Genau so wenig wie sie das Ziel ihrer Reise jemals erreichen würde. Sie streifte das Etwas mit dem anderen Fuß ab und ließ die Sache auf sich beruhen. Im Liegen zermarterte sie ihr Hirn wie sie dieser elendigen Situation entkommen könnte. Doch es wollte ihr nicht im Geringsten irgendetwas Nützliches einfallen. Somit beschloss sie ihre Handtasche zu durchwühlen. Sie betastete den Platz wo sie ihre Handtasche das letzte Mal vermutete. Ein Griff ins Leere. Noch mehr Verzweiflung machte sich bei der betagten Frau breit. Das einzige was sie in diesem gottverlassenen Raum gefunden hatte waren vertrocknete Rosen und zwei alte Goldmünzen, deren Herkunftsland und Nutzen sie nicht identifizieren konnte. Nichts Nützliches also, was ihr einen Ausweg aus dieser Situation hätte ermöglichen können. Eine letzte gemeinsame schöne Reise hatten ihre Kinder behauptet. Vielmehr eine Reise ins Verderben ist es schlussendlich geworden. Tränen kullerten ihr die Wangen hinunter. Tränen des Zorns und nicht der Trauer. Wieso musste sie nur den Vorschlag ihrer Kinder akzeptieren? Warum ließ ihr Ehemann sie nur im Stich? Warum muss ausgerechnet sie so enden? Minutenlang weinte sie und nahm nicht einmal mehr das erneute Kribbeln an ihren Zehen war. Am liebsten würde sie auf der Stelle einschlafen und nie mehr aufwachen. So wie ihre beste Freundin damals, die in einem Luxushotel während der Massage einfach so den Löffel abgab. Wie schön. Und sie musste bei einer albernen Reise bei menschenunwürdigen Verhältnissen verrotten. Im gleichen Moment entdeckte sie einen Zettel neben ihr auf dem Bett. Nach dem Grad der Zerknitterung musste der da wohl schon länger liegen. Eine Nachricht stand darauf. Gepackt von der neuen Hoffnung öffnete sie den Zettel und begann bewusst oder auch unbewusst laut zu lesen: In tiefer Trauer geben wir bekannt, dass meine liebe Gattin, unsere Mutter, Großmutter und Urgroßmutter, Frau Josefine von Witzleben am 11. Mai im 83 Lebensjahr von uns gegangen ist. Zwar stand noch viel mehr auf dem Zettel aber sie brauchte nicht weiter zu lesen. Sie war tot. Schlicht und einfach tot. Tot. Mehr gab es da für sie nicht mehr zu sagen. Sie befand sich also in ihrem eigenem Sarg und ihre letzte Reise war also die über den Jordan. Sie schämte sich ein wenig dafür, dass sie die Zeichen nicht erkannt hatte. Etwa die ganzen vertrockneten Rosen oder die beiden Münzen für den Fährmann. Und dass, das Kribbeln an ihren Zehen knabbernde Maden sind, ist ihr nun auch völlig egal. Wichtig war für sie jetzt nur, dass sie diese letzte Reise nach dieser Erkenntnis nun völlig entspannt genießen kann. Sie schloss ihre Augen und diesmal wohl für immer.
12 Codewort: Brasilien Ein Blick in den Abgrund
Tausende von Kilometern zu fliegen und dann ausgeruht und erholt aus dem Flugzeug zu steigen, dank BusinessClass, einfach genial. Nach einem köstlichen Mittagessen, das so üppig ausgefallen war, dass ich nicht einmal die Hälfte aufessen konnte, schaute ich satt und entspannt der Emsigkeit der hübschen Flugbegleiterinnen zu, die alles für die bevorstehende Landung vorbereiteten. In Gedanken war ich schon in Brasilien. Ein Freund hatte mich eingeladen ihn dort zu besuchen. Das hatte ich natürlich nur zu gerne angenommen. Ich freute mich darauf, ein mir unbekanntes Land mit einem quasi „Insider“ zu entdecken. Die Flugzeugtüren wurden geöffnet und ein heißer Luftschwall des feucht tropischen Klima kam mir entgegen. Die Hitze kroch langsam unter meine Kleider, ich genoss diese Wärme, die es nur in diesen Regionen der Erde gibt. Die Einreise verlief relativ rasch und unbürokratisch. Ich hatte meine Koffer und ging dem Ausgang entgegen. In der großen Ankunftshalle blickte ich auf die Menge der Menschen. Nach einer Weile sah ich das Gesicht meines Bekannten, der in dieser Menge auf mich wartete. Wir umarmten uns herzlich und drängten uns hinaus zu seinem Auto. Wir fuhren in Richtung Stadt. Als ich die Stadt zum ersten Mal sah, war ich enttäuscht. Riesige Hochhäuser mit schätzungsweise zwanzig und mehr Stockwerken ragten im Stil der 70er Jahre in die Höhe, prägten das Stadtbild und säumten die lange Promenade am Meer. Es sah eigentlich gleich aus, wie in den Touristenhochburgen der Oberen Adria. Was hatte ich wohl erwartet, einen Strand und die Einsamkeit wie auf den Malediven? Doch ich hatte ja drei Wochen Zeit, da hoffte ich, dass es doch mehr gab als diese Region, zumindest versprachen das die tollen Hochglanzprospekte der Reiseveranstalter. Wir kamen in seiner Wohnung an, die im einundzwanzigsten Stock eines solchen „Mega Hochhauses“ lag. Der Ausblick von dort war beeindruckend, man blickte über die Stadt und das Meer. Es war schon relativ spät und ich konnte noch den Sonnenuntergang beobachten. So nah am Äquator ging sie um diese Jahreszeit schon vor fünf Uhr am Nachmittag unter und es wurde ziemlich rasch dunkel. Die nächsten Tag e verbrachte ich mit Staunen über die Stadt, über die andere Lebensweise, vor allem begeisterte mich die Fröhlichkeit der Menschen. Überall herrschte reges Treiben und die typische Hektik einer Stadt. In manchen Lokalen wurde Samba getanzt. Alle schienen glücklich und zufrieden. Doch dass es auch eine andere Seite gab sollte ich in noch erfahren. Eines Abends gingen wir in eines der zahlreichen Speiselokale entlang der Strandpromenade. Wir entschieden uns in einer Churrascaria zu essen, das ist ein traditionelles Restaurant, in dem es vor allem gegrilltes Fleisch (Churrasco) gibt. Das gebratene oder gegrillte Fleisch wird frisch vom Grillspieß serviert. Der Kellner schneidet direkt am Tisch für den Gast mit einem sehr scharfen Messer eine gewünschte Anzahl von Fleischscheiben ab. Wir speisten bei Sonnenuntergang und 28 Grad Wärme, es war einfach herrlich. Ich war neugierig, wollte von allem probieren und langte ordentlich zu, doch meine Augen waren dann doch größer als mein Hunger und mein Teller war letztendlich noch voll mit halb gegessenen Speisen, es blieb ziemlich viel übrig. Satt blickte ich mich um und sah den Kindern zu, die schon die ganze Zeit am Rande der Promenade auf der anderen Straßenseite gegenüber dem Restaurant herumlungerten. Sie waren leicht bekleidet und barfuß, was bei diesen Temperaturen natürlich nicht so ungewöhnlich war. Immer wieder sahen sie zu uns herüber. Ich wunderte mich, dass Kinder in dem Alter, ich schätzte sie zwischen fünf und zwölf Jahre, um diese Zeit noch alleine draußen sein durften. Doch ich dachte mir nichts Weiteres dabei. Wir blieben noch sitzen bis keine Gäste mehr im Lokal waren. Irgendwann gegen Mitternacht verließen wir das Lokal und spazierten hinaus auf die Promenade. Plötzlich war ein eine lauter Pfiff zu hören… die Kinder, die zuvor am Straßenrand gesessen hatten, liefen wie auf Kommando an uns vorbei. Erschrocken drehte ich mich um, um zu sehen, was jetzt wohl passiert war und wo die Kinder denn plötzlich so eilig hinliefen. Was ich dann sah, sollte sich in meinem Gehirn für immer einprägen. Die nachfolgende Szene werde ich den Rest meines Lebens nicht vergessen... Ich sah gerade noch, wie der Wirt unseres Lokals den Kindern zuwinkte und blieb erstaunt stehen. Eines der kleineren Kinder fiel durch die Hast auf den Asphalt, ein größeres Kind blieb stehen, half ihm auf und zog es an der Hand in Richtung des Restaurants mit. Die Kinder stürmten auf die Tische zu und griffen gierig nach den Resten unseres Essens und dem, was noch von den anderen Gästen übrig geblieben war und verschlangen es. Ich war zutiefst erschüttert und beschämt zugleich. Ich konnte nicht fassen, was sich da gerade vor meinen Augen abspielte. Ich kannte natürlich Bilder aus Afrika von halbverhungerten Kindern, Bilder von Kindern, die auf Müllbergen lebten. Ich war schon in einigen armen Ländern gewesen. Doch noch nie war ich so nah mit Hunger in diesem Ausmaß konfrontiert worden. Wie im Film lief meine Welt des Überflusses, in der ich aufgewachsen war und lebte, vor meinem geistigen Auge ab. Eine Welt, in der es für jeden von uns mehr als genug zu essen gab. In der wir Speisen wegwarfen, nur weil sie gerade
13 nicht dem aktuellen Geschmack entsprachen. Ich dachte an uns und unsere Kinder, die in diesem Wohlstand aufwachsen ohne jemals auch nur eine Stunde ihres Lebens ein richtiges Hungergefühl gehabt zu haben. Wie im Trance beobachtete ich, wie die Kinder die Speisereste verzerrten ohne zu achten, was sie gerade aßen oder wie es schmeckte. Wie arm mussten sie wohl sein, dass selbst die Einheimischen Mitleid mit Ihnen hatte. Ich war zutiefst erschüttert! Das Entsetzen schnürte meine Kehle zu und mein Herz brannte vor Mitleid. Wie hypnotisiert starrte ich auf die Kinder, die mich mit vollem Mund aus ihren großen dunkeln Augen anblickten. Wie sollte ich diesen Anblick je wieder vergessen? In dem Augenblick wurde mir auch Ihr verwahrloster Zustand bewusst. Sie trugen zerschlissene Kleider und waren schmutzig. Wo und vor allem wie lebten diese Kinder? Wo und wer waren ihre Eltern? Was sollte jemals aus ihnen werden? Welche Perspektiven hatten sie? Mein Bekannter, der diese Szene natürlich auch mitbekommen hatte erklärte mir, dass die Kinder aus den „Favelas“, den Armen- und Elendsvierteln stammten. Er erklärte mir auch, wie diese Menschen dort lebten. Ich hörte tief berührt zu. Mein Bekannter packte mich am Arm um mich von dieser herzzerreißenden Szene weg zu ziehen. Ich nahm ab diesem Zeitpunkt meiner Reise, dieses Land und ihre Menschen mit anderen Augen wahr. Dieser Blick auf etwas, was man normalerweise nicht sehen dürfte, sollte mein Weltbild verändern…
14
Codewort: 2407
Einer der auszog, das Lieben zu lernen Einst, vor vielen vielen Jahren lebte in der römischen Stadt Cicero, am Fuße des Bergs Merkur, ein junger, braun gebrannter, jedoch ein wenig übergewichtiger Frosch namens Nero. Da Nero nicht viele Freunde hatte, war er ziemlich einsam und unglücklich. Und tagein, tagaus streifte er umher auf der Suche nach seiner Traum-Fröschin. Doch keine Fröschin die er traf entsprach seinen hohen Erwartungen. Alle waren entweder zu klein oder zu groß, zu dick oder zu dünn, zu grün oder zu braun, zu klug oder zu blöd..., und an allen schwabbelte Nero nur achselzuckend vorüber. Eines Abends wurde ihm schließlich bewusst, dass er wohl unfähig war, zu lieben. Und das machte ihn sehr traurig. Denn er wollte lieben können. Und er wollte wie all die anderen Frösche mit einer Fröschin an seiner Seite glücklich werden. Darum beschloss er, auf Reisen zu gehen. Er packte alle notwendigen Dinge in einen kleinen Rucksack und zog aus, das Lieben zu lernen. Nero hüpfte viele Tage und Nächte, durchschwamm Flüsse und Bäche, bestieg Berggipfel, und sprang immer weiter und weiter. Jedem dem er begegnete stellte er dieselbe Frage: „Bist du bereit, mich das Lieben zu lehren?“ So begegnete er einer kleinen Eidechse die auf der Suche nach ihren Eltern war, einer trampenden FroschUrlaubsfamilie, zwei japanischen Touristenkröten, einer skatenden Weinbergschnecke und zahlreichen umherziehenden Singlefröschen, wie zum Beispiel Lavinia, einer alten runzeligen Froschwitwe. „Bist du bereit mich das Lieben zu lehren?“ fragte Nero auch sie woraufhin Lavinia jedoch kalt zu lachen begann. „Sei froh, Kleiner,“ sagte sie, „wenn du die Kunst des Liebens nicht beherrschst!“ Sie holte einen kleinen Spiegel und einen Lippenstift aus ihrer Handtasche und malte sich ihr breites Maul knallrot. Dann platschte sie fort ohne Nero auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen. „Was meinst du damit?“ quakte Nero ihr nach. Doch da war Lavinia bereits in den nächsten Tümpel gesprungen und untergetaucht. Enttäuscht blieb Nero zurück. Wie schade, dachte er, dass er nicht endlich einer netten hübschen Froschdame begegnete, sie lieben lernte und heiratete. Happy end. Er seufzte und hüpfte müde und lustlos ein paar Meter weiter. Als ihn ein klirrendes, schleifendes Geräusch aufhorchen ließ. Überrascht sah er nicht weit von sich entfernt den Froschchirurgen Turnus unter einer Plane sitzen wie er gerade emsig damit beschäftigt war, seine Messer und Skalpelle zu schärfen. Vor ihm war eine kleine Theke errichtet auf der zahlreiche Instrumente und Flaschen standen. Und im Hintergrund erkannte Nero eine weiße Liege. Er näherte sich dem Arzt interessiert. „Guten Tag, werter Chirurg,“ sagte er. „Was treibt dich in diese Gegend?“ Turnus quakte erbitternd. „Ach,“ jammerte er, „ich warte auf Kundschaft. Niemand will sich mehr verschönern lassen. Es ist zum Schenkelausreißen!“ Er betrachtete Nero nachdenklich. „Und was ist mit dir?“ „Ich bin auf der Suche nach der Liebe,“ antwortete Nero, „kannst du mir vielleicht helfen?“ Sofort erschien ein Lächeln auf Turnus´ Lippen. „Ich bin sicher, ich kann,“ meinte er nachdrücklich und rieb zwei Skalpelle mit kräftigem Druck aneinander. Ein böses Funkeln erschien in seinen Augen. Doch Nero bemerkte es nicht, viel zu groß war seine Freude endlich jemanden gefunden zu haben, der ihn nicht sofort abwies. „Ja?“ fragte er deshalb voller Begeisterung und Turnus nickte. „Vor allem dein Bauch hätte eine dringende Behandlung notwendig,“ meinte er. „Und...“ „Mein Bauch?“ unterbrach Nero ihn aufgebracht. „Sieh dich doch einmal an. Bei dir schwabbelt es ja so richtig. Und dann willst du mir erzählen, ich sei fett!“ „Auch deine Schenkel sind nicht besonders straff, mein Lieber,“ sprach Turnus unbeirrt weiter, „hier und dort etwas Fett absaugen, und alles wäre gleich viel ästhetischer. Deiner Schwimmhaut-Zellulitis wäre damit übrigens auch gleich geholfen.“
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Nero war völlig außer sich. „Ich habe keine Schwimmhaut-Zellulitis!“ schrie er. „Und außerdem will ich mich nicht umoperieren lassen. So etwas mache ich nicht!“ Beleidigt hüpfte er weg. „Aber wie wäre es dann wenigstens mit einem Po-Lifting?“ quakte Turnus ihm nach. „Das gibt’s gerade im Sonderangebot.“ Nero schüttelte den Kopf. Er war zutiefst gekränkt. Doch Turnus ließ nicht so schnell locker. „Wunder dich dann nur nicht, wenn deine Suche erfolglos bleibt, mein Lieber,“ quakte er. Er zündete sich eine Zigarre an und lehnte sich lässig in seinem Stuhl zurück, während Nero es eilig hatte weg zu kommen. Obwohl er es sich nicht anmerken ließ, hatten ihn Turnus Worte stark getroffen. Vielleicht hatte der Arzt ja tatsächlich Recht. Was, wenn er nun wirklich hässlich war? Er blieb kurz stehen und betrachtete seine Hände. Nein, er hatte keine Schwimmhaut-Zellulitis. Im Gegenteil, seine Hände waren wunderbar geschmeidig. Wieso machte er sich überhaupt Gedanken darüber, was der Arzt gesagt hatte? Traurig sprang er weiter. Ob er wohl jemals seine Traum-Fröschin finden würde? Er seufzte tief. Die Landschaft um ihn herum war nun ziemlich einsam geworden. Immer weniger Lebewesen begegneten ihm und langsam wurde auch der bisher ebene Weg auf dem er unterwegs war zunehmend hügeliger und steiniger. Ab und zu hopste noch ein einsamer Wanderfrosch über den Weg, jedoch meistens war er alleine. Eines Tages endete der Weg plötzlich an einer großen hölzernen Tür die in einen Hügel hinein führte. Nero stellte überrascht fest, dass in die Tür ein Satz eingraviert war: Quo silvis? stand in roter Schrift darauf. Wohin hüpfst du? Er überlegte. Sollte er es wagen, die Tür zu öffnen? Da hörte er unmittelbar hinter sich ein bekanntes Geräusch. Erschrocken drehte er sich um und erblickte – wie befürchtet – den Froschchirurgen wie er, zwei scharfe Skalpelle im Maul, gierig auf ihn zu schnellte. Doch er war nicht sehr schnell, denn bei jedem Sprung klatschte sein fetter Bauch schwerfällig auf den Grund was ein seltsames Geräusch erzeugte: Plop, plop. Binnen Sekunden war Nero klar, dass er nun nur zwei Möglichkeiten hatte. Entweder er würde möglichst rasch durch diese geheimnisvolle Tür gehen, oder er musste sich Turnus erneut stellen. Und er wusste genau, dass er das nicht wollte. Also sprang er so schwungvoll er konnte zur Türschnalle hinauf. Doch das war schwieriger als vermutet, da diese ganz besonders hoch oben war. Er benötigte drei Anläufe bis er es endlich schaffte, die Tür zu öffnen und durchzuschlüpfen. Schwarz. Das war das erste was er mitbekam nachdem die Tür hinter ihm wieder zugefallen war. Dunkle schwarze Nacht. Nero hasste die Nacht. Während er sich verärgert weiter tastete, gewöhnten sich seine Augen langsam an die dämmrige Umgebung. Er befand sich in einer Art Höhle. Hier und da drang ein wenig Licht durch Felsspalten, doch wirklich hell war es nirgends. Überall tropfte es was unheimliche Geräusche verursachte. Außerdem war es ziemlich kalt und Nero begann langsam zu frieren. In vorsichtigen Sprüngen bewegte er sich vorwärts und hoffte, dass er möglichst bald zu einem Ausgang kommen würde. Und tatsächlich sah er auf einmal eine weitere Tür. Erfreut hüpfte Nero darauf zu. Als er direkt davor hockte erkannte er, dass auch in diese eine Inschrift eingeritzt war: Nosce te ipsum, las er. Erkenne dich selbst. Nero schüttelte den Kopf. Als ob er sich nicht kennen würde! Er setzte zum Sprung an. Hoffentlich führte diese Tür wieder ans Tageslicht. Diesmal gelang es ihm gleich beim ersten Versuch, die Tür zu öffnen, jedoch war der Spalt zwischen Tür und Wand nun so eng, dass er kaum durch passte. Mühsam quetschte er sich auf die andere Seite. Die Enttäuschung war groß als dahinter wieder nur düsterer Raum erschien. Genervt, aber auch mit einer gewissen Neugierde sah er sich um. Hier war es ein wenig heller, da es mehr Felsspalten gab durch die einzelne Sonnenstrahlen durchdrangen. Dennoch war es überall ziemlich feucht und unangenehm kalt. Außerdem roch es modrig. Nero rümpfte die Nase. Wie hatte er nur jemals auf die dumme Idee kommen können, von Zuhause fort zu gehen?
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Er hopste ein Stück weiter. Langsam konnte er die Müdigkeit vom vielen Hüpfen spüren. Und auch sein Magen begann zu knurren. Zum Glück hatte er eine Jause dabei. Plop, plop, schallte es plötzlich von den Wänden. Schon wieder der Chirurg. Wütend zwang sich Nero ein wenig schneller zu hüpfen. Wurde er diesen lästigen Verfolger denn nie los? Doch nach wenigen Sprüngen stand er vor einem weiteren Problem. Denn hier teilte sich der Weg auf einmal in zwei unterschiedliche Richtungen. Welche sollte er wählen? Unentschlossen blickte er zuerst in die eine, dann in die andere Richtung. Keine erschien ihm besser oder schlechter als die andere. Plop, plop, ertönte es wieder und Nero beschloss ganz einfach den Weg nach links zu nehmen. Schnell hastete er weiter. Auf keinem Fall wollte er dem fanatischen Chirurgen erneut begegnen! Es wurde immer kälter und Nero zitterte bereits am ganzen Körper. Immer wieder rutschte er auf dem glitschigen Boden aus weshalb er schon zahlreiche Schürfwunden hatte. Doch sobald er kurz eine Pause einlegte, hörte er wieder: Plop, plop. Der Chirurg war ihm dicht auf den Fersen. Als Nero schließlich zu einer weiteren Weggabelung kam, verließ ihn die Kraft endgültig. Wie sollte er jemals wieder aus diesem Labyrinth herausfinden? War er nun dazu verdammt, in dieser düsteren Höhle elendig zugrunde zu gehen? Er konnte einfach nicht mehr und hockte sich müde und ausgebrannt auf einen Stein. Was hatte er nur falsch gemacht im Leben, dass er so sterben sollte? Traurig packte er sein mitgebrachtes Butter-Insektenbrot aus und biss hinein. Es schmeckte gut, doch Nero wusste, dass es vielleicht das letzte war, was er jemals zu fressen haben würde, darum konnte er sich nur mäßig daran erfreuen. Inzwischen war auch das ewige Plop verstummt. Offenbar brauchte der Chirurg ebenfalls eine Pause wofür Nero sehr dankbar war. Er legte sich erschöpft zurück und schlief binnen Sekunden ein. Doch auch im Schlaf verfolgte ihn ein dumpfes, stetiges Plop, plop weshalb er sehr unruhig schlief und bald wieder erwachte. In der Höhle war es nun vollkommen finster. Wahrscheinlich war es draußen Nacht geworden. Was sollte er anderes tun als zu versuchen, wieder einzuschlafen? Doch immer wieder wurde er durch irgendwelche Geräusche aus dem Schlaf gerissen und es erschien ihm endlos, bis die ersten Sonnenstrahlen durch die Felsspalten drangen und es ein wenig heller wurde. Müde, hungrig, dreckig und halb erfroren machte er sich erneut auf die Suche nach einem Ausgang. Doch es lagen noch viele Weggabelungen vor ihm bis endlich eine weitere Tür zum Vorschein kam. Erleichtert hüpfte er darauf zu und setzte voller Hoffnung zum Sprung an. Plop, plop. „Kleiner hässlicher Frosch!“ ertönte es von hinten und vor Schreck verfehlte Nero die Schnalle und schlug mit dem Kopf gegen die Tür. Nero prallte heftig am Boden auf und ein beißender Schmerz durchfuhr ihn. Doch nun durfte er nicht aufgeben. Tapfer sprang er erneut. „Es tut auch gar nicht weh, ich versprech´s dir. Nur ein kurzer Schlag auf den Kopf und...“ Der restliche Satz ging in dem Quietschen der sich öffnenden Tür unter. Hektisch schlüpfte Nero durch den engen Spalt während Turnus auf der anderen Seite gegen die Tür platschte. Er versuchte sich ebenfalls durch den Spalt zu quetschen, doch sein dicker Bauch war ihm dabei im Weg und er steckte fest. Schnell nutzte Nero den Vorsprung aus und hüpfte weiter. „Nur ein kleines, winziges, mickriges Gesichtslifting,“ rief ihm der Chirurg nach, doch Nero ignorierte ihn. Die Umgebung hatte sich auch nach dieser Tür kaum geändert. Noch hatte er jedoch keine Zeit, enttäuscht zu sein. Viel zu groß war seine Angst, dass der Chirurg sich doch noch irgendwie durch die Tür quetschte und ihn einholte! Als er nach wenigen Metern bereits wieder vor einer Tür, der vierten mittlerweile, ankam quakte er genervt auf. Würde das nun ewig so weitergehen? Gab es denn nirgendwo einen Ausgang? Dennoch, was blieb ihm anderes übrig als auch diese Tür wieder zu öffnen? Wie vermutet waren dahinter dieselbe Düsternis und dasselbe nasse kalte Klima wie zuvor.
17 Nero hüpfte erschöpft weiter. Er wusste, dass er nicht mehr lange durchhalten würde. Außerdem bildeten sich bereits Blasen auf seinen Händen und Füßen und jeder Sprung schmerzte ihn. Plop, plop. Das all zu bekannte Geräusch erklang erneut. Der Chirurg verfolgte ihn also nach wie vor und Nero hüpfte wütend, trotz seines Schmerzes, ein wenig schneller. Der Weg war anstrengend und steinig und Nero war müde. Dennoch gab er nicht auf. So leicht würde er sich nicht geschlagen geben. Platsch, platsch hopste Nero. Plop, plop hopste der Chirurg hinterher. Bis endlich eine weitere Tür erschien. Ein Sonnenstrahl schien genau auf die Inschrift die eingeritzt war: Per astera ad astra. Auf steinigem Weg zum Erfolg. Na hoffentlich würde sich der Erfolg bald einstellen, dachte Nero. Er setzte zum Sprung an, rutschte jedoch auf dem glitschigen Boden aus und prallte mit dem Kopf gegen einen Stein. Doing... fiel Nero in ein tiefes schwarzes Loch. Schnipp schnapp, ritsch ratsch, klirr klirr..., war das erste was Nero hörte als er wieder zu sich kam. Und er sah den dicken schwabbeligen Chirurgen der sich über ihn beugte während er seine Skalpelle erneut schärfte. Sofort war Nero wieder hellwach und sprang auf die Beine. „Stopp!“ schrie er. „Ich will das nicht!“ Er holte aus und schlug dem Arzt direkt aufs Doppelkinn. Turnus taumelte und fiel dann wie ein Klotz zu Boden. „Ich lass mich doch nicht von dir aufschneiden,“ quakte Nero, sprang in die Höhe und öffnete die Tür. Hektisch zwängte er sich durch den Spalt auf die andere Seite und wollte weiter hüpfen als er erneut gegen einen harten Gegenstand prallte. Verwirrt blickte Nero nach oben und erkannte, dass sich gleich hinter der fünften Tür noch eine weitere Tür befand. Er sprang er hoch um auch diese zu öffnen. Nun war er jedoch wirklich am Ende seiner Kräfte angelangt. Keuchend platschte er auf der anderen Seite angekommen auf den Boden und blieb reglos liegen. Sein Herz pochte. Seine Schenkel schmerzten. Seine Hände und Füße waren aufgerissen und blutig. Er wollte nur noch schlafen. Tief und fest schlafen und lieber sterben als noch einen Sprung weiter hopsen zu müssen. Doch was würde passieren, wenn der Chirurg ihn so antraf? Würde er ihn gar gewaltsam mitschleppen und operieren; so wie er es bereits versucht hatte? Neros Blick fiel auf den Satz der in diese Tür eingeritzt war. Errare ranum est. Irren ist fröschlich. Doch Nero war unfähig sich zu bewegen. Er war so erschöpft, dass er nicht einmal genau erkennen konnte aus welcher Entfernung das Plop kam. Auf einmal war ihm alles egal. Selbst der Chirurg. Alles wonach er sich sehnte war Ruhe. Erst das Klirren und Wetzen der Skalpelle belebte Nero wieder. Wollte er jetzt wirklich aufgeben? Jetzt, wo er schon so weit gekommen war? Doch wohin würde ihn sein Weg führen? Er wusste es nicht. Und dennoch hatte er plötzlich das Gefühl, dass er weiter musste. Er musste einfach durchhalten. Mit neu gesammelter Kraft erhob er sich wieder und hüpfte schwerfällig, aber zielstrebig weiter. Licht. Endlich wurde es heller. Immer mehr Felsspalten waren in dem Höhlengestein zu erkennen und es wurde stetig wärmer. Mit dieser Veränderung wurde auch Neros Mut neu geweckt. Sollte er jetzt endlich den Ausgang erreicht haben? Schon war die siebte Tür in Sichtweite. Nero strahlte. „Bitte bitte, es muss einfach der Ausgang sein,“ flehte er. Auch der Chirurg hatte die Lichtveränderung offensichtlich wahrgenommen, denn er hatte ebenso im Tempo angezogen und war Nero mehr als knapp auf den Fersen. Nero gelangte endlich zur Tür. Wieder war ein Spruch eingraviert. Veni, vidi, vici, stand auf dieser Tür. Ich kam, ich sah, ich siegte.
18 Und mit allerletzter Kraft sprang Nero zur Türschnalle, verfehlte sie, rutschte ab und hielt sich nur noch mit einer Schwimmhaut fest. In dem Moment kann Turnus heran gehüpft und hockte sich – die Skalpelle auf ihn gerichtet – unter die Türschnalle. „Ich habe den Eindruck, du läufst vor mir davon,“ quakte er höhnisch grinsend, „und langsam beginne ich das persönlich zu nehmen!“ „Achtung, ich falle gleich!“ Nero konnte sich kaum noch halten. Doch der Anblick der Skalpelle die gefährlich im hereinfallenden Licht glitzerten ließ ihn neue Kraft schöpfen. „Ich habe es dir ja gleich gesagt. Mit schlanken Schenkeln und einem knackigen Po würde so etwas gar nicht passieren!“ Da rutschte Nero ab. Gerade gelang es ihm noch, den Skalpellen auszuweichen die Turnus drohend in die Höhe hielt. Dann hörte er ein dumpfes Platsch. Er war genau auf dem Kopf des Chirurgen gelandet. Und dieser lag nun flach wie ein Bettvorleger auf dem Boden. Nero – der weich auf den Speckfalten des Arztes zu liegen gekommen war – stand schnell auf, hüpfte zur Türschnalle und öffnete die Tür in die Freiheit. Zuerst konnte er gar nichts sehen. Die Sonne schien grell und blendete ihn stark, so dass er nur hinter vorgehaltener Hand ein wenig durchblinzeln konnte. Erst nach und nach gewöhnten sich seine Augen an das grelle Licht und er sah sich um. Überall waren Blütenmeere in allen Farben und Variationen. In der Luft wimmelte es nur so vor Insekten – genügend Nahrung für ein gesamtes Leben. Und alle paar Meter befand sich ein herrlicher Tümpel. Doch nicht nur das. In einem milchig weißen Teich nur wenige Meter vor ihm badete inmitten von zart rosa Seerosen die schönste Fröschin die er je gesehen hatte. Gut, vielleicht war sie nicht wirklich eine Schönheit, denn ihre Haut war ein wenig krustig, ihr Doppelkinn stach hervor, doch für ihn war sie eine Königin und ab diesem Moment hatte er ausschließlich Augen für sie, die große Liebe seines Lebens. Penate war gerade dabei, ihre Haut mit einer Bürste zu schruppen, als ihr Blick in seine Richtung fiel. Sie sahen sich an und im Bruchteil einer Sekunde war es auch um sie geschehen. Nero wusste, er würde seine Traum-Fröschin nie wieder gehen lassen und ab diesem Zeitpunkt für immer beschützen. In dem Moment hörte er erneut das bekannte Plop, plop, verbunden mit einem Ächzen und Stöhnen. Der Chirurg hatte sich offenbar wieder aufgerafft und wankte nun hinkend und blutend durch die Tür. „Jetzt krieg ich dich,“ quakte er schwerfällig und humpelte zu ihm. „Du entkommst mir nicht!“ Schützend wollte sich Nero vor Penate hocken, doch diese stieß ihn sanft zur Seite und nahm stattdessen seine Hand. In stiller Vereinbarung packten sie den Chirurgen bei den Händen und zerrten ihn wieder zurück auf die andere Seite der Tür. Dann nahmen sie alle Kraft zusammen und stemmten ihre Körper gegen die Tür bis diese mit einem lauten knarrenden Geräusch zufiel. Für immer. Nero wusste, er hatte die Liebe gefunden. Plop, plop hüpften sie beide in den Teich!
19 Codewort: Sabwaltmontene Unser 2. Frühling in Montenegro
Während ich diese Zeilen schreibe, sitz ich auf einem riesigen Kühl-Akku. Einer Wespenallergikerin wie mir sei es anzuraten, sich besser nicht auf eine dieser Genossinnen zu setzen u sich heftigst stechen zu lassen. Ein ungewolltes Abenteuer, zuhause. Gewollte Abenteuer, davon wollen wir auf Reisen „MEER“
Kotor 2008. Das Kreuzfahrtschiff, mit dem wir eine Adria-Kreuzfahrt machen, kann wegen starkem Wind nicht anlegen. Zum Glück ist Dubrovnik einen ganzen langen Tag Reisestation, und so mieten wir spontan ein Auto, und fahren an der Küste in dieses bezaubernde Städtchen. Dubrovnik, diese wunderschöne Stadt, die jede 2. kroatische Postkarte wohl ziert, kennen wir schon etwas und versprechen ihr, am Abend auf einen ausgedehnten Stadtspaziergang zurückzukommen. Gegen 21h werden wir wieder an Bord gehen. Montenegro begeistert uns gleich nach der Grenze, und mühsam zu fahrende Straßen, bringen uns in eine „andere Welt“. KOTOR. Bereits hinter dem Stadteingang tauchen wir in eine andere Welt ein. Hier liegt etwas in der Luft, vor allem fliegen Tauben in der Luft. Enge, verspielte Gassen, die sich an schönen Plätzen wieder öffnen, beeindrucken uns. Kotor – irgendwann sehen wir uns wieder!
Kotor 2014 „An die Adria? Um diese Zeit? Kann man da schon baden? Im Frühling?“ Diese und ähnliche Stimmen waren in unserem Umfeld zu hören, als wir von unseren aktuellen Urlaubsplänen erzählen. Wir hatten uns im Vorjahr ein altes Wohnmobil gekauft und freuten uns auf die erste große Ausfahrt nach dem Winter. Unsere Buben, 3 und 5 Jahre alt, sind große Reisefans, und freuen sich sehr auf den Urlaub. Auch die lange Anfahrt macht den beiden Spaß, beim REISEN ist ja der WEG (auch) das ZIEL. Doch diesmal haben wir ein konkretes Ziel im Auge – Montenegro. Der Routenplan spricht von knapp 1000km, die langsam zu fahrenden Straßen in Dalmatien und Montenegro, machen eine Tour daraus, die wir auf 3 Tage aufteilen und dabei insgesamt 17h fahrend verbringen. Wir sitzen recht angenehm in unserem 2.Wohnzimmer, nur das dieses auf 4 Rädern ist. Unangenehm ist sitzen nur auf einer zustechenden Wespe, und zur Abkühlung auf einem Kühlakku zu sitzen bringt auch (nur) ein ungewolltes Abenteuer. Die wahren Abenteuer kommen nicht am Serviertablett ins eigene Heim, und stimmt das wirklich – der Himmel ist überall gleich blau?
„Hat man sich nicht ringsum vom Meer umgeben gesehen, so hat man keinen Begriff von Welt und von seinem Verhältnis zur Welt“ (Johann Wolfgang von Goethe)
20 Meine Zitatebücher sind Reisebegleiter so wie Schlumpfine und Papa Schlumpf wohl unsere Kinder in Zukunft auf Reisen begleiten werden. Unsere anderen Plüschtiere haben schon viel von der Welt gesehen.
KOTOR ja, das Parken ist recht einfach- mit einem PKW. Wir mit unserem langen Vehikel – dem Wohnmobil – halten etwas länger Ausschau, doch das Suchen bringt auch die Sicht auf ein Kreuzfahrtschiff näher, und zudem sehen wir einen originellen Cabrio-Bus. Das Kennzeichen spricht Bände „OPEN 1“ ja, offen war zum Glück auch ein großer Parkplatz, der nicht nur PKW willkommen hieß. Die Sicht auf Regen ignorierten wir, an Kotor konnten wir nicht einfach nur „vorbeifahren“ Durch eine Palmen-Allee kamen wir zum Eingangstor in die Stadt (KO TOR), und da war es wieder: das zauberhafte Gefühl, das wir in 6 Jahren nicht vergessen hatten. Es lag etwas in der Luft, und ja, auch viele Tauben flogen wieder in der Luft. Weder dreckig noch steril, der Architekturstudent an meiner Seite ist begeistert über die Schönheiten der sympathischen Stadt. Autos gibt es hier nicht. Als ein Klein-Laster durch einen gemauerten Durchgang fährt, rumpelt es, ordentlich noch dazu, doch niemand, außer mir, nimmt davon Notiz. „Shared Space“ wird hier in Montenegro wohl anders als im übrigen Europa verstanden. Hektik scheint ein Fremdwort zu sein. Freundlichkeit nicht. Es ist alles wunderbar und wir fühlen uns sofort wohl. Wir schlendern umher und machen spontan Rast in einem netten Stadtgasthaus mit „Gastgarten“. Selten war ich so entspannt. Das Essen war köstlich und ich hätte noch Stunden einfach nur dasitzend verbringen können. Wer mich Energiebündel kennt, dem sei erlaubt, an dieser Stelle lauthals aufzulachen. Lauthals auflachen, ja, das tat unser jüngerer Sohn als er am Platz mit seinem fünfjährigen Bruder umherlief. Die Tauben verfolgend und unermüdlich über den Platz laufend. Diese Lebensfreude eines Dreijährigen beindruckte Spaziergänger gleichermaßen wie uns Eltern. Auch wir lassen uns davon anstecken. Ja, der Zauber von Kotor hatte sich wohl schon auf die ganze Familie übertragen. Diese Freude und den Stolz können unsere Kinder nun mit ihrem Souvenir, einem T-Shirt mit Aufschrift, in die Welt hinaustragen. „MONTENEGRO MEANS A LOT FOR US” Unsere Reise ging weiter. Sveti Stefan, oh, welche entzückende Halbinsel. Der Ausblick ist bezaubernd und wir riechen es hier besonders: warme Meeres-Luft am späten Nachmittag. Oh, wir freuen uns auf die nächsten Tage hier in Montenegro. Schon fast vergessen ist der Regen der letzten Tage. Dass es bis nach Ada Bojana bei Ulcinj noch ein schönes Stück zu fahren ist bringt uns ein wenig zu schnaufen. Die Kinder entschließen sich ob Müdigkeit doch etwas zu schlafen. Wir wundern uns über freilaufende Hunde in den Straßen und diese Verwunderung erreicht einen Höhepunkt als vier freilaufende K ü h e links der Straße entlang laufen sehen und irgendwann überholen. 40km/h ist oftmals die Höchstgeschwindigkeit auf Montenegro’s Straßen. Ja wenn man diesen Stundenschritt schafft, dann hat man hier viel geschafft. Doch wie erwähnte ich eingangs, Reisen gehört ja zum Ziel.
Frühabends erreichen wir unseren gewünschten Campingplatz und selten waren wir bei einer Ankunft so verzückt. 100 Camping-Autos oder Zelte kann der Platz beherbergen, und vor Ort waren es definitiv nur 9!
21 Freiheit! Meer! Wärme! Ich kann meine Freude nicht in Worte fassen. Der 2. Frühling in Montenegro beginnt spätestens hier am Meer, mit einem grandiosen Ambiente. In der ersten Reihe gab es noch gut Platz und vor uns waren nur Sand(strand) und das unendlich weite schöne Meer. Ja, wir sind angekommen. Gut angekommen. Sehr gut sogar. Gestärkt von Kotor und seinem Flair, gab es hier noch die fulminante Draufgabe. Wir waren im Urlaubsparadies. Unsere Söhne hatten den Strand für sich alleine und das sympathische Restaurant gehörte uns später beim Abendessen auch fast alleine. Nix los? Ja! und es war PRIMA! Am nächsten Tag machen wir bei aufziehenden Wolken einen ausgedehnten Spaziergang am Strand. Ein Eis zu kaufen war das Ziel und ich verrate es vorab – manchmal erreicht man seine Ziele nicht (gleich) Dafür gab es eine tolle Entdeckungstour, auf der ich nur auf herrenlose Dinge, die angeschwemmt wurden und am Boden herumliegen liegen, verzichten könnte. Ein herrenloser Badeschuh? danke, nicht meine Größe. Spaß muss sein- und den hatten unsere Buben zu 200 Prozent. Gatschanzug? JA! Der konnte sich hier mal richtig beweisen! Bei fast strömenden Regen traten wir den Rückweg an. Das Wetter kann man sich nicht aussuchen, auch hier in Montenegro nicht. Die Stimmung schon, die Unternehmungen auch. Die nasse Umgebung suggerierte „Ab in die Gummistiefel Sabine“ Ich sah es positiv, kamen diese Zebra-Treter auch mal zum Einsatz! Hey, wir waren am SAFARI-Beach! ist doch super, wenn Frau da mal ihre „Zebra-Gummistiefel“ ausführen kann. Während bei strömenden Regen im Gasthaus eine Hochzeit mit 200 Gästen gefeiert wurde, machten wir es uns bei Nudeln mit Tomatensauce im Wohnmobil gemütlich. „Badewetter“ liebe Bekannte!?! Haben wir ja eh, seid unbesorgt zuhause… Der nächste Tag war wie aus dem Bilderbuch. Da kann man oft das Blau des Meeres von dem des Himmels nicht wirklich unterscheiden. Wie hier. Die Kinder spielen am Strand. Wie wahrscheinlich vermutet, sind wir vier nicht die klassischen Meer-Urlauber. Das glaubt dir eh keiner wennst am 23. April an die Adria fährst. So haben wir an diesem typischen Sommer-Sonne-Strand-Tag unsere Räder abgeladen und uns auf eine Radtour begeben. Unser Ziel war, richtig geraten, ein EIS. Wir Eltern hatten dazu die Stadt ULCINJ, 8-10km entfernt, im Auge. Aufziehende Wolken verunsicherten mich ein wenig, doch einen Plan B kann man immer noch improvisieren wenn es soweit ist. Sorgen machen ist ja wie im Schaukelstuhl sitzen, dabei kommt man nicht voran! (Zitat von Glenn Turner) Es war Sonntag. Wirklich? Beim Campen und generell auf Reisen ist man sich ja oft des Wochentags nicht mehr sicher. Hier war pures Leben: Die Geschäfte waren geöffnet, viele Menschen saßen in den Straßencafes, und die kleine Stadt war zugeparkt mit Autos. Mit dem Wohnmobil hätten wir hier keine Chance gehabt zu parken. Noch dazu bei dieser originellen Parkweise: Hier wird auf Längsstellplätzen schräg zur Straße geparkt. Permanent.! Ausnahmen bestätigen die Regel? Das mag anderswo gelten. Nirgends haben wir eine Parkordnung so ignoriert gesehen wie hier in Ulcinj. Nicht mal die dazugehörige Tafel hätte ich jemals wo wahrgenommen. Ein Sohnemann bei Papa am Kindersitz, der Kleinere hinter mir, ebenso in einem Kindersitz. Ein gewöhnliches Bild sonntags, eine Familie beim Radausflug. Hätte ich meinen wollen. Doch hier: überraschende Blicke wenn wir wo vorbeikommen, Leute, die auf uns zeigen, lachen, uns ansprechen. Kinder die sich nicht sattsehen können an Fahrrad, Kindersitz und unseren Helmen? Es dauerte ein Eis und (viele) weitere Blicke, als ich es zu begreifen beginne. Die Leute haben scheinbar so etwas noch nie gesehen. Als wir bergauf treten, wird sogar applaudiert. Eine Familie am Rad? Wir waren in der ganzen Stadt die Einzigen am „Draht-Esel“. Als wir Richtung Ada Bojana zum Campingplatz die Stadt hinter uns gelassen hatten, winkte uns ein älterer Mann auf einem FAHRRAD zu! Über Hunderte Meter freute er sich über diese Begegnung und auch ich war freudig überrascht. Nie freute ich mich mehr einem anderen Radfahrer zu begegnen wie hier am Weg nach Ada Bojana. Die Fahrt verlief regenfrei, ja sogar sehr sonnig und als wir unseren Traumplatz wieder erreicht hatten, waren wir bestens gelaunt. Die Kinder packten ihre Sandspielsachen aus und binnen weniger Minuten sahen die Beiden so aus, als seien sie der Sandstrand in Person.
22 Wie viele Sandkörner können nach etlichen Boden-Umdrehungen in voller Freude, auf einem Kinderkörper picken? Egal! „Let them be children“ Wenn nicht hier, wo dann. Gerade gibt es eine hervorragende Gelegenheit die Kinder einfach Kinder sein zu lassen. Sie hatten Spaß und wir, wir holten uns ein Buch, setzten uns mit unseren Campingsesseln in die Wiese und hatten sie im Blickfeld, ca. 5 Meter vor uns, am menschenleeren Strand. „Graz im Dunkeln“, Walter las einen Krimi, und ich verschlang mal wieder eines meiner geliebten Zitatebücher. Stundenlang ließen wir einfach den Tag geschehen bis später Ada Bojana ins Dunkel tauchte. Die Sonne brannte. Wir brennen auch- für Montenegro. Auch eine Sonnenbrille braucht wohl mal Schatten, unser jüngerer Sohn hat seine vermutlich im Sand liegen gelassen. Oder vergraben? Dass er uns einen Tag vor dem Muttertag den Vorschlag macht, wir könnten ja hinfahren und Nachschau halten, wissen wir an diesem Sonn(en)tag noch nicht. Wir sind uns aber jetzt schon sicher – bei uns allen vier wird Montenegro einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Den Abend lassen wir im Gasthaus am Platz ausklingen und freuen uns erneut über den netten Kellner, der hier „Mann für alles“ ist. Ob Anmeldung, Hochzeitsvorbereitung, kochen, Gästebetreuung oder die Ausgabe von Klopapier. Er managt alles. Manchmal zählt nur eines, dass man das Papier in Rollen sieht. Zur rechten Zeit am richtigen Ort. Ob Klopapier, oder Urlaubsort. Im Leben zählt immer nur der Moment. Und hier, waren es viele, schöne Momente. Die Nacht brachte Regen und so erleichterte sie uns Montag früh die Entscheidung unserem Ursprungsplan treu zu bleiben und nun zurückzufahren nach Kroatien. Es ging weiter nach Dalmatien, in die Kvarner Bucht, und nach Istrien. Seit jeher ist Kroatien unsere 2.Heimat. Doch in Zukunft wird sie sich den Stockerlplatz in unserem Urlaubsranking teilen müssen, manchmal vielleicht sogar abgeben. Wie beim beim Europäischen Songcontest. Manchmal gewinnt der oder das Ungewöhnliche. Manchmal versteht man deine Wege nicht. Doch am Ziel ist (SUN-)RISE und Freedom for all. Nette Nachbarn, eine besondere Radtour, Entdeckungstour am Strand, Sonne, das Rauschen des Meeres. Wie sagte unser Nachbar, ein Grazer, der in Berlin lebt und Halbgrieche ist. „Die Griechen sagen: Das Meer braucht man nicht zum baden. Das Meer braucht man für die Seele“. Kotor. Ulcinj.MONTENEGRO. Eure Straßen sind holprig. Euer Strand im April noch nicht perfekt zusammengeräumt. Touristen, noch dazu am Fahrrad, bringen euch noch zum Staunen. Was zählt ist letztlich nur eines: Euer Meer, ist „mehr“ Kotor, Safari Beach, ADA BOJANA; Ulcinj. Montenegro: Wenn das Paradies Namen hat, dann gehören diese Namen für uns ab sofort dazu. „,Montenegro means a lot for us” Wir kommen wieder. Vielleicht mit dem Schiff, vielleicht mit dem Auto, oder dem Wohnmobil. Womöglich mit dem Fahrrad. Im Stundenschnitt wird es spätestens bei der Anreise ab Dubrovnik sowieso keinen großen Unterschied machen. Der Weg ist das Ziel. Montenegro ist das Wunsch-Ziel. Kennwort: Bandgymnastik Those who go, those who stay Sie hielt das eine Ende des Bandes. Es war rosa. Ein Er stand bei der Dampfertreppe, der Ozeanriese war noch ein echter Dampfer mit zwei massigen Schornsteinen. New York, Abschied von einem Jahr in Amerika. Kein
23 lebenswichtiger Er. So ein bisserl halt. Denn sie fuhr ja heim, oder glaubte dorthin zu fahren, woher sie gekommen war. Mit Zwischenstopp in Paris, beim Vater der Schwägerin. ss United States. Nicht mehr zu zählen, wie oft sie vorher oder nachher das Ende eines Bandes gehalten hatte. Und Schiff, Zug oder Auto waren weggefahren … In ihrer Kindheit hatte es Reisen nicht wirklich gegeben. Nachkriegszeit. Die Kinder wurden in einen alten Militärjeep gepackt, zusammen mit Salatkisten, Mehl, Zucker, Erdäpfeln und der Oma – und so ging es zu einer Hütte auf der Alm. Da gab es ein Zimmer mit Stockbetten, einen Brunnen und ein Plumpsklo. Bei jedem Baum wurde einem anderen Kind schlecht. Zwischen Hansenhütten und Margarethenhütten gab es einen sogenannten Speibsee. Zum Wochenende kam die Mutter mit einem Rucksack voll Äpfeln und Marmelade, manchmal mit dem Packlwagen. Der hatte kein Fenster. Zwischendurch ging man zum Teschwirt zum Telefonieren. Drinnen und draußen wurde an einer Kurbel gedreht, alle Kinder drängten sich in die Zelle, zwei Hörer gab es und man wusste ohnehin nicht, was man sagen sollte … der Vater war sozusagen verreist und saß irgendwo, zumindest bei Nacht. Die Kinder verstanden Bahnhof. Dann kam die erste wirkliche Reise nach Grado, mit einem gewaltigen Lederkoffer für alle gemeinsam. Hitze, Sonnenbrand , das Zimmer bei der Gräfin, die durch die Pension kraulte, Waschbecken und Klo am Gang, denn es gab zum Baden das Meer. Angst vor den Krabben, die Tintenfische zu Mittag nannten sie Gummiringerln. Sie genierte sich wegen der selbstgenähten Strandhoserln mit Rüschen. Der angehäkelte Badeanzug hatte Frösche drauf und kratzte. In Venedig mussten sie immer nur gehen, damit die Mutter den Hintergrund filmen konnte, Erinnerungen an die Mutter mit langen blauen Shorts, weißem Gürtel und Fazoletto und die Bewunderung, weil sie Italienisch konnte, aus ihrer Zeit als Kindermädchen in einem Haushalt in Udine. Die Maturareise hatten sie durch Österreich gemacht, gemeinsam mit zwei Lehrerinnen in Jugendherbergen geschlafen, zum ersten Mal gab es den Unterschied zu den Reichen und Schönen. Sie hatte einen Conny-Rock bekommen, mit bunten Trägern und Streifen und versteckte den Latz im Gürtel, weil er so kindisch aussah … Das Band schlingt sich, dreht Wellen, Schrauben – Erinnerung wickelt sich um Arme und Beine. Zur ersten Reise allein hatte man sie nach Hamburg geschickt, zur Gartenausstellung, aber eigentlich sollte sie den jungen Erben einer befreundeten Installationsfirma kennenlernen. Die Müdigkeit übermannte sie schon bei der Hafenrundfahrt, Wahltante und Onkel standen immer sehr früh auf. Das Interesse am Betrieb hielt sich in Grenzen, die beiden Wunschkandidaten spielten ziemlich lustlos mit einander Federball und sahen den Schiffen in Schulau zu. Nachher schickte man einander noch artig Grüße … Jahrelang lebte sie aus dem Koffer. Untermietszimmer ohne Waschmaschine und Dusche, Wochenenden daheim. Die Provinz war nicht mehr die selbstverständliche Umgebung und sie war dort und da unterwegs. Nachschauen bei Mutter und Großmutter. Das Rad rollte. Zum Englischlernen fuhr sie als Au-pair Mädchen nach Jersey in einen Haushalt mit zwei Buben. Der Vater war ein Besatzungsfreund ihrer Tante gewesen und war, mit Frau, nachher noch zu Besuch gekommen. Man kannte sich sozusagen. Geschäftsmann im Tuchhandel. Sie verbrachte Stehabende an einer Hotelbar mit seinen Freunden, verpatzte die Salzburger Nockerln, die sie so lange daheim geübt hatte, und plagte sich mit Äpfeln und fertigem Strudelteig herum. Warum es dort keine einfachen Semmelbröseln gab? Eine zweite Au-pair Stelle in London, bei einem Mädchen , fast hätte sie einmal mit dieser Pamy nicht rechtzeitig heimgefunden. Sie zerhackte die ersten Kohlsprossen, weil sie sie nicht kannte , aber die Mehlspeis schaffte sie inzwischen …Bewunderung für die ältere Tochter, die in Oxford studierte, fürs British Council prädestiniert. Sie hörten nächtelang Wagner-Platten … Es folgten eine langjährige Freundschaft und Besuche in Rom … Schlangen, Pendel, Kreisschwünge – das Erinnerungsband fließt zur Reise über den großen Teich. Sie war immer noch neugierig und naiv, hatte viel Zufallsglück, dass sie jemand aus einem anderen Familienprogramm in New York aufnahm, dass sie irgendwie doch noch mit Greyhound in den Mittelwesten kam, dass sie sich vor dem Uni-Jahr durch Kiwanis an den Alltag gewöhnen konnte. Liebe hatte auch dazugehört und der Katzenjammer danach. Es war nichts passiert. Sie war durch halb Amerika gefahren, hatte sich immer wieder am Bekannten festgehakt, der Studentin, die sie von einem Ferienaustausch von daheim kannte, dem Auslandspartner vom Sohn von einer Freundin der Mutter –
24 die Fahrtroute hatte letztlich die alte Dame programmiert, für die sie während des Jahres gearbeitet hatte. YMCA Reservierungen, Nachtfahrten, verschlafene Verbindungen, irgendwann einmal nichts mehr aufnehmen können, Fotos, mit denen sie noch nach Jahren wenig verband und die immer mehr verblassten, alles hinein packen wollen in einen Sommer. Du kannst auch einen Sessel lieben, hatte ihr ein chinesischer Kollege verraten, Hauptsache du liebst. Das Leben war auch ohne sie weitergegangen. Die Altvordern waren älter geworden, Platzwechsel. Sie hätten mehr Zuwendung gebraucht und keine Reisegeschichten. Man sieht den Schub, wenn man weg war. Das Band dreht sich, formt Spiralen. Mit dem Beruf hatte sie die Erinnerung in die andere Hand genommen. Kaum merklich war die große Wende da. Sie wollte nicht mehr wegreisen, sondern ankommen. Die Freundinnen fuhren schon mit den Nachttöpfen ins Kinderhotel und sie war noch mit dem Zelt unterwegs. Auf der Luftmatratze aus Gummi. Die Eltern hofften, dass es endlich der richtige Mann war. Er war es nicht. Die Reisen wurden zum Vorwand, Schülerbetreuung und Kurs in England, Landeskundeausbildung, die ersten Kulturreisen, hinauf und hinunter, wie man so schön in der Geografie sagt, Besuche – schließlich war sie ja mobil, unabhängig, sollte oder wollte noch etwas sehen. Wollte sie? Auf der Flucht vor wem? Sie sah die Menschen in den Reisegruppen und die sahen auch nicht mehr als sie. Die Zeit der Traumreisen. Unerfüllte Wünsche. Manche ruderten mit den Schamanen, lagen für viel Geld in Olivenhainen und sollten sich Gletscher vorstellen oder Stufen, oder Wälder, in denen sie auf den Bären trafen. Auch zu Beauty and the Beast gehören zwei Seiten. Und sie hatte das Biest in sich selbst kennen gelernt. Sie verreiste zur Operation und sie fuhr allein. Man fragte aus Höflichkeit: Warst du gerade auf Reisen? Während die Altersgenossen die Weltreisen planten, sah sie, dass der kleine Prinz den Sessel nur ein Stück verrücken musste und es war immer Sonnenuntergang. Der neue Pass musste ein Bild ohne Brillen haben und ohne Lächeln. Fremd und blind sah sie in die Welt, verschreckt und verloren. Mit heruntergezogenen Mundwinkelfalten. Man sollte sie jederzeit erkennen können … Sie reiste zur Kur oder immer ins selbe Apartment mit Freunden. Sie ließ sich reisen, andere planten, sie war müde. Sie ließ sich leben. Man fuhr weg, damit man wusste, wie gut man es zu Hause hatte und um sich unterwegs Geschichten zu erzählen, Schnurren aus seinem Leben. Man hatte sich verabschiedet und Tote gesehen, man würde Reisegefährten nicht mehr begegnen und wusste, dass auch der goldene Wagen weiterrollen würde, mit oder ohne Schwager vorn. Rückziehwurf, das Band schraubt sich in die Vergangenheit. Die Erinnerung mogelt ein bisschen, setzt schräg an. Der Bändertanz war schon lange nicht mehr elegant und schwungvoll. Sie war gestolpert, still gesessen, gelegen. Und auf einmal waren sie da, die Seniorenreisen, bei denen sie sich zuerst jung vorkam, weil alle so beige waren, wie mit den Staubmänteln von früher, und sich an das Buffet drängten wie der Eisenbahnhofrat, der noch die Frühstücksreste für die ganze Familie im Nylonsackerl mitnahm. Der Vordermann schwärmte, wie ergeben die Mädchen in Thailand gewesen waren und seine Frau erzählte von seinem letzten Herzinfarkt. Bei Tisch glaubte man sich in einem Diagnosezentrum. Mit jedem Bier wurden die Männer erfolgreicher und mutiger als Veteranen nach dem Mittagschlaf. Vom Leben Beschädigte und aufgedonnerte alte Wachteln. Warum war ihr Auge so böse?- Oh Herr, ich danke dir, dass ich nicht bin wie jene dort… - aus Angst? Und dann hatte sie selbst Angst vor dem Einpacken und ob sie es noch schaffen würde. Sie holte den Koffer schon eine Woche früher vom Kasten und zählte akribisch Unterhosen und Medikamente ab. Die Hotels sahen alle gleich aus und das machte es leichter. Sie brauchte Hilfe mit dem Gepäck und beim Ein- und Aussteigen am Trittbrett. Manchmal fragte sie sich, warum sie sich das noch antat. Zur Abwechslung reicht auch ein Konditoreibesuch in Fernitz. Wer reist, erzeugt schließlich CO₂. Niemand würde mehr die alten Dias anschauen wollen und ordnen. Kirchen, Kreuzgänge, Ruinen, Felsklippen – ab dem Achtziger hatte ein Bekannter jeden Berg mit Überzeugung Wilder Kaiser genannt. Als Souvenirs kaufte sie schon lange nur noch ess- und trinkbare Geschenke. Die anderen brachten auch nichts mehr mit. Jeder hatte ohnehin schon zu viel. Aber kaufen und verkaufen wollten doch alle. Selbst die Reise ohne Wiederkehr.
25 Die Bandgymnastik betrieb man jetzt mir Glasfiberstab, hochelastisch, konisch, zum professionellen Krafttraining oder als Theraband gegen den Bauch. Für die Wirbelsäule klang besser. Man konnte sie sogar online bestellen, in verschiedenen Stärken. Wie die vorgedruckten Erinnerungsbücher an Oma und Opa, wo man die Antworten nur noch einsetzen musste und ein Foto einscannen. - Es waren nicht ihre Bänder … Möbius-Schleife. Altrosa. Nach 40 Jahren ein zittriger Luftpostbrief: Please forward. Wo bist du? In den Staaten tragen auch alte Frauen Pink.
26 Kennwort „Rollschuhe“ Geschichten aus dem Hinterwald Ich habe bei Gott schon bessere Bars gesehen. Auf allen Kontinenten dieser Erde. Gestern erst – oder vorgestern? Bei dem Jetlag bring ich schon alles durcheinander. - Nein, gestern! Gestern war es, da hab ich in der VIP Lounge des Flughafens von Sao Paulo ein paar Caipirinhas gekippt. Tolle Bar. Schweres Holz und schwarzes Leder, dazu dezente Musik und eine Bedienung, bei der die Trinkgelddollars gerne tief geflogen sind. Wirklich allererste Sahne! Okay, vielleicht minus meines Barnachbarn. Optisch? Großgrundbesitzer in einer Cowboyadjustierung, für die man sich sogar im tiefsten Texas hätte schämen müssen. Und akustisch? Kleinstadtfriseur mit Marathonläuferlunge: „Where are you from, amigo? Austria? Ah, and I see, you like our caipirinhas! Good, yes? Do you know what that name means in portuguese? Redneck! Funny, isn't it? Ja, sehr lustig. Hinterwäldler also. Danke auch für die Info, Sheriff. – Ich hab mich dann an einen freien Tisch gesetzt und die klimatisierte Dunkelheit genossen. Aber: Hinterwäldler? Kein Wunder, dass ich mich ausgerechnet jetzt und hier daran erinnert fühle. Nach einem Schlafarmen Nachtflug bin ich von Frankfurt nämlich gar nicht erst nach Hause gefahren. Wäre auch vollkommen sinnlos gewesen, da morgen schon die nächste Konferenz auf mich wartet, als krönender Abschluss einer dreiwöchigen Geschäftsreise, in diesem malerischen Schloss, in dessen Silhouette sich ein paar Kilometer hinter mir gerade das Abendrot so malerisch spiegelt. Habe mir 700 Kilometer Autobahn erspart und bin schon am Vortag angereist. Leider als Einziger, für den die Hotelnotbesatzung dann auch die Bar nicht extra aufgesperrt hat. Alternativen? Die Minibar in meinem Zimmer oder, „Fahren sie doch runter nach St. Katharina, ins Prinz Charles.“
Indonesien, Japan, Brasilien und jetzt also St. Katharina!
Als Reisender sollte man seine Vorurteile ja tunlichst zu Hause lassen, aber nach einer vernünftigen Bar hatte mir dieser Ort bei der Anreise kaum ausgesehen. Mehr nach schlecht gemixten Drinks im Vorhof der Landdiscohölle unter missbilligenden Blicken des Furchenadels. Das kennt man doch: „Schauts her Burschen, ein Fremder!“ Keine Spur von der unvoreingenommen Gastfreundschaft der Asiaten oder wenigstens der mitreißenden Trinkfreudigkeit eines Südamerikaners. Ich wollte schon auf mein Zimmer, als sich plötzlich Schlagermusik aus den 50ern in meine Vorstellung gedrängt hat und im Hotel zu bleiben keine Option mehr war. Dabei war es mir so lange gelungen, die Erinnerung an meine letzte Ankunft in Frankfurt zu verdrängen. Wo ich gleich hinter der Passkontrolle mein Handy wieder eingeschaltet habe, um die Nachricht meiner Schwester abzuhören: „Du Paul. Es tut mir leid, aber der Papa ist heute Nacht gestorben.“ Mein Vater stammte aus einer Gegend, die dieser hier nicht unähnlich war, aus einem kleinen Kaff, das eigentlich nicht einmal ein richtiges Kaff war, sondern nur ein streubesiedelter Graben. Der Lohrengraben. Kann mich an keinen Besuch bei den Großeltern erinnern, bei dem dort je die Sonne geschienen hätte. In seiner Jugend war ein altes Moped meines Vaters ganzer Stolz und ein erster Schritt in die weite Welt. Mit dem ist er am Wochenende oft zum Tanzen ins nächste Kaff gefahren – das diesen Titel sehr wohl verdient hatte. Und wie oft hat er uns Kindern später erzählt, dass es schon passieren konnte, dass er nach einem Tanz mit dem falschen Mädchen sein Moped im Morgengrauen an einem Baum vorm Lokal hängend vorgefunden hat. Als kleine Erinnerung, dass er als „Lohrentrottel“ sich dort keinerlei Frechheiten herauszunehmen hatte.
Ich hab mir also vom Portier meines Hotels einen Fetzen geben lassen und meine silbergraue S-Klasse erst einmal richtig aufpoliert, ehe ich - fast die gesamte Breite der schnurgeraden Platanenallee einnehmend – hierher gefahren bin. Das Fenster herunter gekurbelt, den Ellenbogen aufgelegt, hab ich urplötzlich verstanden, warum mich meine Schwester damals zweimal gefragt hat, ob ich die alte Motorradjacke meines Vaters nicht doch mitnehmen wollte.
27 Nun stehe ich am Ortsrand, vor einem ziemlich abstrakten Portrait des englischen Thronfolgers und schiebe meinen Nostalgieanfall auf den verdammten Jetlag. Aufgepasst! Gleich wird der Sohn des Lohrentrottels ein bisschen Flair der weiten Welt in diese Bude bringen. - Was eine einzige Generation nicht alles verändern kann! Ich trete ein und muss sagen, wenn ich auch schon auf allen Kontinenten dieser Erde bessere Bars besucht habe, es hätte schlimmer kommen können. Intakte Großstadteinrichtung, maximal die Erinnerung an kalten Rauch und bis auf den einen Typen, den es wohl in jeder Bar gibt und den man eigentlich schon dem Mobiliar zurechnen müsste, bin ich der Erste. Weltmännisch stelle ich mich an den Tresen. „Guten Abend. Was darf es sein?“ „Caipirinha.“, sage ich, ohne es mir überlegt zu haben und warte, ob sich der Hinterwald-Keeper angesprochen fühlt. Aber der spricht offenbar kein Portugiesisch und nickt nur, um sich sogleich den Limetten zuzuwenden. Ich beobachte, ob er von den Vierteln auch brav die Ecken abschneidet, was man unbedingt machen sollte, damit das Ganze später nicht bitter wird. So habe ich es zumindest gestern gelernt, nachdem ich doch tatsächlich eine halbe Minute alleine an meinem Tisch sitzen durfte. Und dass man sich, wenn man sich schon so gut auskennt wie ein großgrundbesitzender Cowboy, den Drink sowieso am besten mit dem Eis in einem Extraglas servieren lässt, denn dann müssen die das andere Glas mit Zuckerrohrschnapps vollfüllen. „Muito Cachaça, you understand?“ Wie heißt es so schön? Reisen bildet. – Wozu auch immer. Auf dieser Seite des Atlantiks bleiben die Ecken natürlich dran und ich kann mir auch schwer vorstellen, dass es einen großen Unterschied machen würde. Der Barkeeper greift derweil unter den Tresen und holt eine Flasche herauf. Pitu, was auch sonst? - „You have to ask for 'O Espirito Das Minas' – the Spirit of Minas – Minas Gerais, that's the best. Absolutely.“ Ich habe die Frage schon auf den Lippen und drehe mich doch wortlos um. Vergebliche Liebesmüh. Immerhin kein Wodka. Und nach Russland muss ich ja auch bald einmal.
Die Bar könnte dunkler sein, die Musik ein wenig leiser und etwas weniger … hinterwäldlerisch. „Bitte sehr. Wohl bekomm’s!“ Ich drehe mich zurück, nicke, lehne mich mit dem Rücken gegen die Bar und nippe. - Hätte wirklich schlimmer kommen können.
Der ganze Abend hätte schlimmer kommen können. Ich nehme noch ein paarmal das Gleiche. Finde trotz anfänglicher Schwierigkeiten zwischen all den Hinterwäldlerlimetten dann doch noch den Geschmack von Copa Cabana und Ipanema. Fange irgendwann an, zur Verwirrung meines Barkeepers „noch einen Lohrentrottel“ zu bestellen und mich den ersten weiblichen Gästen näher vorzustellen. „Gestern war ich noch in Brasilien. Da machen die vielleicht eine Caipirinha, das sage ich euch.“ An Tanzen wollen meine Beine da schon lange nicht mehr denken, aber ich kann noch zu gut in den Gesichtern der männlichen Begleitungen lesen, als dass die Situation eskalieren würde. War eh eine ganz dumme Idee. Muss mich ja ausschlafen für die Konferenz morgen, vor allem, wenn ich an meinen Jetlag denke. Also zahle ich und verneine die Frage des Barkeepers, ob ich mit dem eigenen Auto gekommen sei. Weiß schon, aus welcher Richtung dieser Wind weht. Ein Abschleppseil angehängt und mit einem Hinterwäldlertraktor ist selbst der schwerste Großstadtwagen hurtig hochgezogen. Aber nicht mit mir. „Caipirinhas!“, sage ich mit einer gebieterischen Geste in die Runde. „Gehabt euch wohl.“
Die Nachtluft ist erfrischend und kalt. Mein Benz steht, wo ich ihn erwarten durfte. Schade irgendwie. Aber auch so hab ich mich meinem Vater schon lange nicht mehr so nahe gefühlt. Schnell gehe ich weiter. Kann ja im nächsten Urlaub mal wieder in den Lohrengraben fahren. Als anthropologische Feldstudie sozusagen.
28 Die Erde schwankt, das Türschloss will sich vor mir verstecken. Irgendwann drücke ich dann mehr aus Versehen auf die Taste an meinem Schlüssel. Haha, Sieg der modernen Technik! Wie hat mein Vater sein Moped damals eigentlich immer wieder vom Baum runter gekriegt? Hätte ihn danach fragen sollen. - Als ich es noch gekonnt habe. Ich steige ein und starre auf das Armaturenbrett. Die Melancholienadel liegt auf 180. Jetlag x Alkohol = Weltschmerz². Aber warum auch, hätte ich diese abgeschundene Lederjacke mitnehmen sollen? Wird ja ohnehin nie jemanden geben, den ich mit den alten Geschichten nerven kann: „Schau her, die hat einmal deinem Großvater gehört.“ - Und das ist auch gut so. Weltschmerz …. Komisches Wort …. Aber kann es vielleicht sein, dass der Welt Schmerz zunimmt, je mehr man von ihr gesehen hat? … Kann es sein, dass ich mir auf meiner Reise einen fernöstlichen Philosophievirus eingefangen habe? Und kann es sein, dass dieses seichte Brummen doch nicht aus meinem Kopf kommt? Tatsächlich! Aus irgendeinem Grund läuft auf einmal mein Motor. Lao-Tse flüstert mir zärtlich ins Ohr: „Wird schon seine Richtigkeit haben.“ Also gebe ich Gas. Heul!!!!! Schon gut, beruhige ich den Wolf, sogar bei einer Automatik muss man erst einen Gang einlegen. Aber jetzt fahre ich. Nach links. Die Tür meldet sich mit einem Schlag gegen meine Schulter geschlossen. – Wie interessant! Ich war überrascht zu hören, dass die Brasilianer zu den weltweit führenden Rodeo-Nationen gehören. Und da gibt es auch keine Sicherheitsgurte. Jippie-ei-eeeee!
Gleich hinter dem Ortsschild von St. Caipirinha beginnt ein grüner Platanenschlauch. Sonderprüfung! Woran erinnert mich das nur? Und warum sehe ich da schon wieder meinen Vater? Älter jetzt. Ach ja, richtig, die Rutsche in unserem Freibad. Für mich und meine fünf Jahre viel zu hoch, zu steil und erst recht zu grün. Aber das hat er alles nicht gelten lassen. Ist mit mir raufgegangen und hat mir nachher sogar ein Eis mit drei Kugeln gekauft. - Ob meine Schwester seine Jacke immer noch hat? Der Schlauch wird enger und grüner - thermodynamisches Paradoxon! Später bin ich mit meinen Freunden oft um die Wette gerutscht. In allen Verrenkungen. Vielleicht kann ich ja heute Gernots alten Rekord brechen. Einen Versuch ist es allemal wert. Um richtig Tempo zu machen muss ich mich nur zurück legen und die Hände hinter dem Kopf verschränken. Schau her, Papa!
Mein rechter Fuß streckt sich durch. Schade irgendwie, es wäre ein perfekter Abend gewesen, hätte er für mein Auto in einem Baum geendet.
29 Codewort: Meeresluft (Ohne Titel) Mein Blick wandert in die Ferne, hin zur der Stelle, an der das Meer und der Horizont ineinander übergehen, gar den Eindruck erwecken, als wollten sie eng ineinander verschlungen die letzten Stunden dieses frühsommerlichen Tages genießen. Der Wind pfeift mit sachter Eleganz durch mein Haar und lässt in mir das Gefühl aufleben, alles für einen Moment vergessen zu können. Ich lehne mich zurück und lausche den Schreien der Möwen, die sanft über die ruhigen Wellen des Ozeans gleiten.
Mein letzter Besuch dieses Ortes ist mittlerweile nahezu 40 Jahre her und doch spüre ich, wie sich erneut dieses vertraute Gefühl in mir auftut. Ein Gefühl, das es mir ermöglicht, tief in mich zu gehen, nur die noch frisch-kühle Luft des Ozeans zu inhalieren und in Gedanken zu versinken. Plötzlich sehe ich einen kleinen Jungen. Einen Jungen, der fröhlich strahlend und voll Unbeschwertheit den Strand entlang läuft und seine Fußabdrücke im feuchten Sand hinterlässt, ehe sie von einer sanften Welle in die Weiten des Ozeans hinausgetragen werden. Er erfreut sich an den immer wieder aufkommenden Windböen, die es für seinen kleinen Körper beinahe unmöglich machen, nicht umgeweht zu werden.
Die scheinbar nie enden wollende Ruhe und die Stille, die diesen Ort so besonders machen, waren es, die mich dazu bewogen, abermals hierher zu kommen. Der Wind streift wiederholt meine Haare und der salzige Duft der Meeresluft steigt mir in die Nase. Seit geraumer Zeit stelle ich mir nun schon die Frage, was ein Leben lebenswert macht. Bislang blieb mir die Antwort darauf verwehrt, doch tief in mir drinnen spüre ich, ihr so nah wie noch nie zu sein.
Ich erinnere mich noch gut an die Blicke meiner Kollegen, die mich mit Mitleid getrieft durchbohrten, als ich ihnen meine Entscheidung verkündete, ehe sie ihre Augen wieder auf die Aktienkurse richteten und ihre namhaften Armbanduhren, die den Wert eines Kleinwagens in ihren winzigen Zifferblättern trugen, zurechtrückten. Es mag grotesk wirken, wenn ein Mann, der erfolgreich mit beiden Beinen im Berufsleben steht, die Äußerung tätigt, ein Loch in sich füllen zu müssen, doch genau dieses Gefühl breitete sich zu damaligem Zeitpunkt in mir aus. Als mein Blick wieder den immer dunkler werdenden Horizont streift, sehe ich erneut den kleinen Jungen, der immer noch freudestrahlend über den Strand und die Dünen läuft, und den Eindruck erweckt, nur im Hier und Jetzt zu leben. Ich beobachte ihn und ein Gefühl von Wärme kommt in mir hoch.
„Du hast alles. Ein Haus mitsamt modernster Technologie, eine führende Position, eine Jacht im Hafen einer der hochkarätigsten Städte der Welt und noch dazu jede Menge Geld, was dich alles zu einem reichen Mann macht.“. Es sind Worte, deren Inhalt nicht anzuzweifeln ist und doch wirken sie auf mich wie eine erdrückende Wucht, die es mir schwer macht, zu atmen. Vielleicht war es ein Fehler, über jene Worte meiner Kollegen zu reflektieren, doch irgendetwas in mir sagt mir, dass ich mich irre.
Die Möwen, die ihre Bahnen gerade in dynamischen Zügen um den sich rund hundert Meter vom Strand entfernt befindlichen Leuchtturm drehen, erinnern mich an die Bewegungen des kleinen Buben, dessen Gesicht ich noch nicht erhaschen konnte. Obwohl er bereits mehrere Male dem nassen Sand zum Opfer gefallen ist, lässt er sich nicht entmutigen und läuft weiterhin freudestrahlend den Strand, der Zuflucht für tiefblaue Wellen, die mit ruhigem Rauschen die Schönheit der Natur widerspiegeln, bietet, entlang.
30 Mich wieder im Hier und Jetzt befindend, lasse ich meinen Blick über die Dünen schweifen, deren Schatten sich aufgrund der nun bald untergehenden Sonne immer weiter in die Länge ziehen. Zum ersten Mal seit geraumer Zeit kann ich sagen, wieder Sinnhaftigkeit hinter meinem Tun zu sehen. Das letzte Jahr, geprägt von Reisen rund um den Globus führend, hat das Loch in mir wieder kleiner werden lassen. Es war richtig, meine Jacht und mein Haus zu verkaufen, meinen Koffer zu packen und in die große weite Welt hinaus zuwandern. Eine Welt, deren Schönheit mein Inneres prägte und ein Licht in mir erweckte, das mich auch an dunklen Tagen sicher durch das Leben leiten wird.
Abermals sehe ich den kleinen Kerl vor mir und plötzlich weiß ich, dass es eine gute Entscheidung war, diesen Ort als letztes Ziel meiner Reise zu wählen. Ich erhasche einen Blick auf sein Gesicht, ehe mir klar wird, dass die haselnussbraunen, voll Lebensenergie strahlenden Augen, in die ich blicke, meine eigenen sind. Augen, die vor rund 40 Jahren bei jedem Tun strahlten und glitzerten. Ein Glitzern, das im Laufe meines Lebens als Geschäftsmann wirtschaftlichen Rezessionen, Aufschwüngen und Stagnationen zum Opfer fiel und langsam verblasste ehe es komplett verschwand. Auf einmal wird mir die Antwort auf die schier unbeantwortbare Frage, deren Inhalt mich seit Jahren quält, klar. Es ist nicht der Reichtum, der uns glücklich macht, sondern die Unbeschwertheit und die Tatsache, das Leben einfach zu leben.
Die Sonne ist mittlerweile in einem nachtblau schimmernden Teppich verschwunden und schön langsam wird der Wind, der dem Schilf majestätische Bewegungen einhauchen lässt, von einer frischen Brise zur kühlen Nachtluft. Ich stehe auf, meine Gedanken sind auf den ersten Blick verloren und wirr und doch ist mir eines klar: Der kleine Jüngling hat mir geholfen, die Frage, die mich zeitlebens malträtierte, zu beantworten.
Ich ziehe meine Schuhe aus, laufe an die Stelle des Strandes, an der Meer und Sand sich küssen, blicke in den tiefblauen Sternenhimmel und beginne zu laufen. Zu laufen, wie es bereits der unbeschwerte kleine Junge vor 40 Jahren tat.
31 Codewort: Fohnsdorf Heimaten Ich laufe durch die kleine Stadt. Bin Urenkelin, Enkelin und werdende Mutter. Für mein Kind möchte ich die Vergangenheit konservieren. Zuvor muss ich sie zusammensetzen. Sammle Puzzleteile und ordne sie nach Zugehörigkeit. Himmel, Wiese, Wolken. Lege die blauen Teile zu den blauen, die grünen zu den grünen. Suche nach meiner Großmutter. Wie warst du als Kind?, frage ich sie. Wie als junge Erwachsene? Und wie war das mit meinem Großvater? Ich rufe meinen Vater an. „Wie haben sich deine Eltern kennen gelernt?“, frage ich ihn. Er lacht mich aus. Ob ich nichts Besseres zu tun hätte. „In fünf Wochen ziehst du nach Sarajevo, hör doch endlich auf, in der Vergangenheit zu wühlen.“ Ich presse meine Lippen aufeinander. Dass es seine und Magdas Schuld sei, will ich in den Hörer schreien. Dass er keine Ahnung habe, wie sich das anfühlt, wenn du dein halbes Leben lang Heimweh hast. Wie eine Pflanze haben sie mich umgetopft. Haben an mir gezerrt und nicht darauf geachtet, dass da was reißt. Wenn du die Wurzeln einer Pflanze verletzt, hilft die beste Erde nichts. Ich atme ein und atme aus. Bleibe stumm. Er würde es ohnehin nicht verstehen.
Ich klettere in den Bus und steige zwischen Wiesen und Feldern aus. Rieche die Kühe, die hier einmal gegrast haben. Das ist es, was ich mitnehmen will. Was ich verstehen will, bevor ich gehe. Das, was hier war. Warum ist mein Vater Hals über Kopf von hier weg? Und warum hat er sich eines nachts ins Auto gesetzt und ist mit mir hierher gefahren, um mich seiner Mutter, die er so verachtet hat, in die Arme zu legen?
Ich gehe durch den Ort. Am Ende der Gasse ein leer stehendes Wohnhaus. Die Holzverschläge neben der Schachtsiedlung sind morsch. Die Planken herausgerissen, liegen zersplittert in der Sonne. Dazwischen eine alte Couch, Schaumstoff quillt hervor. Ein alter Herd, darüber gemauerte Vorsprünge, Matratzen darauf. Ich schicke meinem Vater ein mms. Er ruft zurück. Dass das keine Wohnungen gewesen seien sondern eine Art Abstellkammer, sagt er. „Aber hier drin liegen Matratzen. Und einen Herd habe ich gesehen“, beharre ich. Holzverschläge. Schmale Türen. Eine Breite von zwei Metern, die Länge etwa drei. „Ich sag dir doch, da drinnen hat niemand gewohnt. So arm waren die Bergwerksleute nicht. Im Sommer haben sie dort gegrillt, deswegen die Küchenzeilen.“ “Aber die Pritschen, die Matratzen”, beharre ich, die ich meinem Vater nicht glaube. Das, was ich hier sehe, spricht gegen seine Erinnerung, ist mit seinen Erklärungen nicht logisch kombinierbar. Wo liegt die Wahrheit, frage ich mich, und dass vielleicht Therese Bescheid weiß.
Hinter den Holzschuppen die Ruine des Wohnhauses, in dem die Eltern meines Großvaters gewohnt hatten. Bergarbeiterwohnungen. Die Fensterscheiben sind zerbrochen, die Türen hängen aus den Angeln. Warum reißen sie die das alles nicht nieder? Gegenüber die neuen Reihenhäuser. Pastellfarben in Grün, Gelb und Blau. Ein junges Mädchen geht die Straße entlang. Pinkfarbenes T-Shirt mit silberfarbener Kitty darauf. Enge blaue Jeans. Babyspeckröllchen über dem Hosenbund. In den Ohren Stöpsel, ihre Finger tippen eine Nachricht ins iPhone. Vielleicht aber tippt sie sich auch zum nächsten Lied durch. Oder postet etwas auf Facebook.
32 Dass ich hier nicht hätte leben wollen, als Vierzehnjährige, denke ich.
Meine Großmutter ist in Judenburg aufgewachsen. Zwischen Judenburg und Fohnsdorf liegen Welten. Und zwischen Fohnsdorf und dem Haus meiner Großeltern lag noch eine Welt, das im Sommer abgeerntete Feld, über das wir ins Dorf gehen mussten. Damals gab es die Verbindungsstraße noch nicht. Die Erde war rissig und staubig. Mit meinen kleinen Füßen stolperte ich hinter meiner Großmutter her, wenn sie den Feldweg verließ, um auf direktem Weg beim Sparmarkt rauszukommen. Das abgeerntete Feld als Symbol einer Ehe, denke ich jetzt. Dass es auch zwischen meinen Großeltern lag. Trocken, mit harten Furchen, unüberwindbar. Meine Großmutter hasste die Einöde, den Schmutz, das Ärmliche. Den Kuhdung und den Kohleschweiß, der aus den Arbeitern tropfte, schwarz wie das arabische Öl, das dann auch Schuld an der Abwertung des Fohnsdorfer Rohstoffes war.
1976, zwei Tage vor seinem Tod, soll mein Großvater seiner Schwägerin und ihrem Mann ein Stück Kohle unter die Nase gehalten haben. „Und das soll auf einmal nichts mehr Wert sein?“ Dass sie die Verzweiflung, die an jenem Nachmittag in seinem Blick gelegen hat, nie vergessen wird, sagt Tante Therese.
Ich habe meinen Großvater nie kennen gelernt. Zwei Jahre bevor ich zur Welt kam, verunglückte Martin Köhler im Stollen. Mit den Hunten die abschüssige Strecke hinunter, die Absperrung im Rücken. Mit vollem Tempo gegen den Schranken, die Hunte hinterdrein. Genickbruch. Zwei Jahre später schloss man das Bergwerk. Hunderte Bergarbeiter arbeitslos. Frühpensioniert. Die Existenzberechtigung eines ganzen Landstriches ausgelöscht. Als mich mein Vater 1978 vom Rücksitz seines weißen Ford hob und meiner Großmutter in die Arme legte, waren die meisten schon weggezogen. Nur die Kühe gab es noch hinter dem Gartenzaun. Die standen da und kauten teilnahmslos vor sich hin. Sahen meinem Vater mit ihren dummen braunen Augen dabei zu, wie er seiner Mutter das Kind in die Arme legte, wieder ins Auto stieg und losfuhr, zurück nach Wien zu seiner achtzehnjährigen Frau, die sich hatte überreden lassen, ihr Kind der Obhut der Schwiegermutter zu überlassen. Gegen den Willen der eigenen Eltern, die sie und das Enkelkind lieber in ihrem Haus gehabt hätten.
Ich stehe vor dem Haus. Sehe auf das Gemüsebeet. Muss an Sana denken. Wie sie über die fremden Wörter gelacht hat. Bohnscharln, Möhrln, Röhrlsalat. Sehe meine Großmutter und mich die Kartoffeln aus der Erde ziehen. Wie wir auf unsere Hinterteile fallen und lachen. Damals hatte meine Großmutter bereits den Mann und den älteren Sohn verloren. Drei ihrer Geschwister lebten in Kanada, die Tochter in Graz, der zweite Sohn in Wien. Nur Therese war ihr geblieben. Therese und die kleine Enkeltochter, die man ihr in die Arme gelegt hatte. Mit siebenundvierzig Jahren hatte meine Großmutter plötzlich wieder ein Kind. Gab ihm das Fläschchen und legte ihm die Hüftschalen an. Trug es herum. Vom Haus über die Felder bis nach Fohnsdorf und wieder zurück. Im Kinderwagen der Einkauf, der hoppelte über die Furchen. Mit dem Kind im Bus nach Judenburg zur Mutter, die sie die letzten Jahre versorgte. Danach in die Konditorei, wo sie mich stolz der Schwester reichte. Die steckte mir mit dem langen Löffel Schlagobers in den Mund. Danach fuhr meine Großmutter wieder mit dem Bus nach Hause. Das Kind die ganze Nacht herumtragen, weil es die Zähne bekommt. Ganz allein in dem Haus mit dem Enkelkind, dem sie das große Messer gegen die Stirn drückt, nachdem es über die Treppen gefallen ist. Das Kind weint, hat Angst, die Großmutter will die Beule wegschneiden.
33 Das Kind wird größer. Kann jetzt gehen und redet den ganzen Tag. Sitzt am Küchentisch und zeichnet. Sitzt in der Wiese und klebt ausgeschnittene Bildchen in ein altes Schulheft. Hüpft mit dem großen orangen Ball, den es an den Hörnern hält. Setzt sich auf den Zaun und streichelt die Kuh zwischen den Hörnern. Drückt die Nase gegen das Weiche zwischen den Nüstern. „Um Himmels Willen, komm runter da!“ ruft die Großmutter. Läuft über die Wiese, hebt das Kind vom Zaun, weg von dem Tier, das ihr mit den spitzen Hörnern unheimlich ist. Das Kind wird drei. Wird vier. Am Geburtstag kommen die Verwandten. Die Mutter des Kindes. Das Kind bläst die Kerzen aus. Die Onkel und Tanten und die Mutter klatschen. Die Onkel und Tanten gehen, die Mutter des Kindes bleibt. Das Kind steht auf der Hollywoodschaukel und tanzt im neuen Ballettkleid, das die Großmutter genäht hat. „Auf ein Wort“, sagt die Mutter und geht mit der Großmutter ins Haus. Als sie wieder herauskommen, hat die Großmutter rotgeweinte Augen. Die Mutter fährt mit dem Nachbarn zum Bahnhof. Die Großmutter belegt Brote und trägt das Kind in die Badewanne. Braust es ab, seift es ein. Das Kind steckt sich den Daumen in den Mund und umarmt die graue Stoffmaus. Die Großmutter streicht ihm über das Haar.
Zwei Wochen später sitzt das Kind im Zug. „Wohin fahren wir?“, fragt es die Frau, zu der die Großmutter „deine Mutti“ sagt. „Nach Hause.“ Das Kind versteht nicht. Von zu Hause kommen sie doch. Am Abend weint es. Es will zur Großmutter. Die andere Großmutter (sie ist dicker und weicher und reicht nach Niveacreme) streicht dem Kind über den Kopf. „Aber schau, hier hast du es doch auch schön. Hast du schon die Nilpferde auf deiner Tapete gesehen?“ Die junge Frau sitzt beim Wohnzimmertisch und weint. „Sie wird sich schon eingewöhnen“, sagt die Nivea-Großmutter. Das Kind hört den Satz durch die angelehnte Tür. Weiß nicht, was das heißt: Eingewöhnen. Das Kind umarmt die graue Stoffmaus und hält die Zipfel der Bettdecke. Fragt sich, wann es wieder nach Hause darf. Zu den Kühen und der Hollywoodschaukel. Der Polster ist nass und kalt. Als das Kind aufwacht, liegt es noch immer im fremden Bett.
34 Codewort: Tourismus. Tour – is –mus(s)!? Während ich mein lichthungriges Gesicht in einem lauschigen Gastgarten der Sonne entgegenstreckte, konnte ich an einer angeregten Unterhaltung teilhaben. Zwei österreichische Filme wurden von ein paar eifrigen Studenten einer kritischen Betrachtung unterzogen. Der eine Film („Poppitz“) handelte von einer Familie die einen All-inclusive-Urlaub verbrachte. Die männliche Hauptfigur mimte den typisch kleinkarierten Pauschal-Urlauber. Diese Feststellung entlockte mir ein Schmunzeln, denn die Ausstrahlung der Komödie bereitete mir einen unvergesslichen Fernsehabend. Meine drei Generationen starke Familie versammelte sich vor dem Bildschirm um sich köstlich zu amüsieren. Waren sich doch alle einig, dass im Film-Quartett unsere Nachbarsfamilie zu erkennen war. Diese rühmte sich mit ihren beeindruckenden Reisen in ferne Länder. Mit Poolanlage, Speisesaal und einigen wenigen Strandfotos waren die Urlaubserlebnisse und Fotomotive schlicht gehalten. Die Destination als Scheinwelt entpuppte sich als märchenhafter Streifzug, für dessen Erschwinglichkeit die verbleibende Zeit des Jahres schweißtreibend geschuftet wurde. Zugleich stellte ich mir den Hauptdarsteller der Episode als Aussteiger in seiner gegenwärtigen Lebenswelt vor. Satirisch präsentierte sich mir das Bild eines Dauer-Campers im eigenen Garten. Seine Fernseh-Rollen als Klischee-Verfechter verliehen seiner komplementären Lebenshaltung eine pikante Note. Wie ein Spielfilm spulte sich die Entdeckungsreise in die verborgenen Winkel dieser Persönlichkeit vor meinem inneren Auge ab: Ausleben wonach einem gerade ist. Ohne selbst auferlegte Restriktionen aufgrund gesellschaftlicher Regeln. Währenddessen lieferte mir die Diskussion der Hochschüler einen weiteren Impuls, der mich an einer spannenden Expedition einiger Wissenschaftler vom schwarzen Kontinent durch das mit Riten behaftete Österreich teilhaben lies. Der zweite Film, „Das Fest des Huhns“, begleitete afrikanische Forscher die sich auf Entdeckungsreise durch das geheimnisvolle Land am Strome begeben haben. Dabei beobachteten sie die heimischen „Ureinwohner“ im Stile der naturnahen Universum-Dokumentationen. Sie entlarvten ländliche Bräuche als besondere Kulturphänomene. Das traditionelle Zeltfest wurde als gottesfürchtige Stätte interpretiert und dem schmackhaften Grillhendl der Status des Opfersymboles (anstelle des Lammes) verliehen. Reisen als Suche nach religiösen Paradigmen. Pilgern als Urform touristischer Entwicklung. Als Ziel und Höhepunkt einer Ortsveränderung einen heiligen Platz aufsuchen. Die Hoffnung auf Gebetserhörung in einem bestimmten Anliegen mit sich tragen. Auf die Genesung von einer körperlichen Krankheit bzw. einem emotionalen Leiden vertrauen. Die Fremde entdecken und Anregungen für die eigene Lebenswelt mitnehmen. Als Alchemist seine Spuren ziehen. Wieviel Zeit ist bereits verstrichen, seit ich mich letztmals mit der Kultur meines Ziellandes konfrontiert habe? Wann habe ich zuletzt Begegnungen mit der lokalen Bevölkerung gesucht? Mich auf Erzählungen, Träume und Probleme politischer oder auch individueller Schöpfung eingelassen? War ich doch stets nur daran interessiert, dem alltäglichen Stress zu entkommen und einige Momente der Distanz zu meiner wahrgenommenen Realität zu erhaschen. Wann habe ich zuletzt eine offene Unterhaltung mit dem Nachbarn geführt? Mir wirklich Zeit für ihn genommen? Mich auf ein Gespräch eingelassen, in dem die vordergründigen Ego-Themen erst gar nicht aufgegriffen wurden? Eine brennende Sehnsucht entfachte sich in meinem Körper, die mich prompt dazu verführte, den bevorstehenden Sommerurlaub in heimischen Gefilden verbringen zu wollen. Eine angenehme Wärme machte sich breit. Das gewonnene Bewusstsein bewirkte eine Leichtigkeit und Freiheit von jeglichem Zwang. Herrliche Bilder vom Genuss der Landschaft, gesellige Abende mit vertrauten Menschen, ganz tief eintauchen in die alltägliche Wirklichkeit. Plötzlich riss mich der aufgeregte Kuss meiner Liebsten aus meinen Tagträumen. Die erfolgreiche Beute ihrer Einkaufstour zur Vorbereitung auf den nächsten Urlaub zauberte ihr ein siegessicheres Lächeln ins Gesicht. Was
35 darauf folgen musste war unvermeidlich – dasselbe Prozedere wie jedes Jahr: Kofferpacken für den Familienurlaub am Hausmeisterstrand von Lignano …
36 CODEWORT: R O S E SAMSTAG
Ich bin Helga und die Geschichte, die ich erzählen will, das muss ich zugeben, ist reichlich sonderbar, doch es soll sich lieber ein jeder selbst seinen Reim darauf machen. Seit ihrer Reise war sie verändert. Nicht, dass sie vorher durchschnittlich gewesen wäre, nein, sie hatte schon ihre kleinen Eigenarten, mochte dies und jenes nicht, bevorzugte manches besonders und machte oft Dinge, worüber die Nachbarn den Kopf schüttelten oder über sie lächeln mussten. An Sonntagen zum Beispiel, vorausgesetzt es war warmes und schönes Wetter, konnte man sie um Punkt neun Uhr sehen, wie sie in ihrem zartblauen, seidenen, bodenlangen Morgenmantel mit dem Mülleimer durch die Grünanlage der Wohnhäuser zur Sammelstelle spazierte. An den Füßen trug sie schimmernde, zartblaue, mit Marabufedern geschmückte Satinpantoffel. Jeder Schritt wie hingehaucht, leicht, ätherisch und die Federn an den Füßen erweckten den Eindruck, als schwebe sie über dem Boden. Wie eine Elfe kam sie daher, eine Elfe mit Mülleimer und die Leute tuschelten hinter ihrem Rücken. Wie auch immer, so wurde es mir erzählt.
Freitagnachmittag war ihr Einkaufstag. Um Punkt sechzehn Uhr verließ sie, fein zurecht gemacht, das Haus und wir trafen uns einige Male beim Kaufmann, sie im schlichten grauen Kostüm, immer mit Hütchen, dazu eine elegante Bügelhandtasche und Lederhandschuhe in der gleichen Farbe, meistens beige oder dunkelblau. Für viele sah sie ein wenig aus wie die englische Königin, auch wenn sie beim Heimkommen in jeder Hand ein volles Einkaufsnetz mit Lebensmitteln trug. Ein Mal im Monat bat sie mich, sie zu begleiten, was ich gerne tat, denn da benutzten wir mein Auto und fuhren ins Einkaufszentrum. Doch stets sorgte sie mit ihrer altmodischen, ein wenig rührenden, dennoch vornehmen Aufmachung dafür, dass man sich verstohlen und unauffällig nach ihr umdrehte.
Samstag war mein Tag. Da besuchte ich sie um fünfzehn Uhr zum Kaffeetrinken und Kuchenessen und wenn das Wetter es erlaubte, gingen wir danach in den nahen Schlosspark und blieben dort bis zum Abend. Es war angenehm mit ihr auf einer Bank zu sitzen, besonders im Sommer, zu plaudern oder zu schweigen, Eichkätzchen zu beobachten, den Amseln zuzuhören. Ich begleitete sie dann immer nach Hause. Sie bewohnte ein Zweizimmer-Appartement im vierten Stock eines Mehrfamilienhauses. Bis vor zwei Jahren lebte sie hier mit ihrem Sohn, dann heiratete er und zog weg. Ab und zu besuchte er sie, doch immer allein, ohne seine Frau. Warum, habe ich nicht erfahren können. Sie selbst war nie verheiratet gewesen und blieb auch jetzt allein. Sie genoss es, endlich mehr Platz für sich zu haben, sich ausbreiten zu können. Sie brauche Raum, sagte sie und ihre Freiheit, endlich ihre Freiheit.
Es war ungefähr die Zeit ihrer und meiner Pensionierung. Wir waren beide im selben Krankenhaus angestellt und haben uns im Laufe der Jahre angefreundet, aber so richtig geöffnet hat sie sich mir gegenüber niemals. Immer hatte ich das Gefühl, dass sie ihre Geheimnisse sorgsam hütete, wie kostbare Schätze, an denen sie sich alleine erfreuen wolle. Und wenn sie mir doch einmal etwas aus ihrem Leben erzählte, in groben Linien nur, oberflächlich, und ich es gerne genauer wissen wollte, nach Details fragte, blieb sie mir die Antworten schuldig, wechselte das Thema oder schwieg. Männergeschichten gab es keine, solange wir uns kannten. Ich habe jedenfalls nichts derartiges bemerkt. Ja, dann und wann eine flüchtige Bekanntschaft, ein, zwei Treffen in einem Café oder auch einmal eine Einladung zum Abendessen oder ins Kino. Sie sprach nur ansatzweise darüber, so ganz nebenbei, wie man von einer unbedeutenden oder unangenehmen Sache redet. Wieder eine Enttäuschung mehr, schien mir. „Weißt du, Helga“, sagte sie eines Tages zu mir, „es ist schon sehr schön, unabhängig zu sein, sich nicht um jemanden sorgen zu müssen, niemanden fragen zu müssen, ob man dies oder jenes tun dürfe, ob dies oder jenes recht wäre. Es ist schon schön, tun und lassen zu können, was man will.“
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Und bald kam die Idee mit der Reise. Mit ihrer Pensionierung und dem Auszug des Sohnes aus der Wohnung war sie offensichtlich in einen ganz neuen Lebensabschnitt getreten. „Ich werde eine Reise machen“, eröffnete sie mir eines Tages bei Kaffee und Kuchen und begeistert zeigte sie mir den Reiseführer, den sie sich gekauft hatte. Sie schlug das Buch auf, blätterte nach vor und zurück und fing an zu erzählen, was sie alles vor hätte, welche Route sie nehmen, welche Städte sie sich ansehen würde und dass sie natürlich einige Tage in der Wüste bleiben wolle. Sie redete sich warm, sprach von ihren Plänen und Vorhaben, sodass ihre Wangen rosig wurden und ihre Augen zu leuchten begannen. Ihre Reisevorbereitungen waren wirklich gründlich und gewissenhaft und jeden Samstag hatte ich das Gefühl, dass sie tiefer und tiefer in ihr Unterfangen, ihr Reiseland versank. Einige Hotels waren bereits gebucht, aber einige Reisepassagen blieben ungeplant. Es soll ja auch noch spannend bleiben, meinte sie. Am Tag der Abreise war sie sehr ruhig. Ich brachte sie mit dem Auto zum Flughafen, wünschte ihr alles Gute und sah dem Flugzeug nach. Da sie mir auch die Daten ihrer Rückkehr gegeben hatte, holte ich sie nach drei Wochen wieder ab und brachte sie nach Hause.
Schon im ersten Moment unseres Wiedersehens bemerkte ich, dass sie sich verändert hatte. Was jetzt anders war, konnte ich nicht genau sagen. Aber vor allem waren es ihre Augen. Ich hatte den Eindruck, dass von ganz hinten, am Grunde ihrer Augen, ein ständiges Flackern zuckte und wenn sie mich ansah, hatte ich immer das Gefühl, sie schaut nicht mich an, sondern durch mich hindurch, sieht etwas ganz anderes, ist eigentlich nicht richtig hier, sieht vielleicht die Bilder ihrer Reise, immer und immer wieder, erlebt alles noch einmal und um ihren Mund tanzte ein geheimnisvolles, fremdes Lächeln. Als ich sie dann samstags besuchte und an der Wohnungstür klingelte, wurde diese fast im selben Moment aufgerissen und ein vor Freude strahlendes Gesicht leuchtete im dunklen Flur. Sie hatte anscheinend hinter der Tür bereits voll Ungeduld auf mich gewartet. Sie ließ mich nicht weitergehen, hielt mich an der Hand fest. Sie wollte es spannend machen und hüpfte dabei vor Aufregung wie ein Kind. Ich wunderte mich, wie jung diese alte Frau sein konnte! Langsam öffnete sie das Wohnzimmer, ließ mich vorgehen und sah mich dabei mit erwartungsvollen Augen an. Welch ein Anblick! Über den ganzen Boden des Zimmers waren die unterschiedlichsten Dinge ausgebreitet, sodass kaum mehr Platz zum Gehen blieb. Ich war sprachlos. „Das habe ich alles mitgebracht“, sagte sie stolz. Ich nahm auf einem Stuhl Platz, sie setzte sich auf den Boden und begann zu erzählen. Jedes Ding hatte seine Geschichte und war mit einer besonderen Begebenheit verknüpft. Kissenhüllen, in landestypischen Mustern, wie sie erklärte, Silberarmreifen, Rosenwasser, ein blau bemalter Keramikteller, die Amethystdruse, ein Hämatit in dunkelgrauem Silberglanz, alles nahm sie liebevoll in die Hände und erzählte. „Das ist eine Tajin, das typische Kochgeschirr“, sagte sie und hob ein braunes, kegeliges Tongefäß in die Höhe. „Das darin gekochte Essen heißt genau so, doch schmeckt es überall ein wenig anders, je nach Fleisch, je nach Gemüse, aber immer köstlich.“ „Und das ist mein Duft, der mich ein Leben lang gesucht und nun endlich gefunden hat.“ Sie hob den Tajindeckel und ein betörender Geruch legte sich augenblicklich über den Raum. „Ambra“, sagte sie, „kostbar wie Gold“. Dann schwieg sie. Auf dem Boden des Gefäßes lag ein orangebrauner Würfel mit glatten, ein wenig speckig anmutenden Flächen. Ich wagte mich kaum zu rühren, so hatte ich sie noch nie erlebt. Sie schien weit weg zu sein und ich wollte sie nicht stören. Doch plötzlich war sie wieder da und machte einfach weiter.
38 „Und das ist die Teekanne einer Nomadenfrau, aus der wir gemeinsam Minzentee getrunken haben.“ Sie hob das Kännchen hoch und zeigte das Eingießen aus großer Höhe und tat so, als würde sie trinken. Sie war nicht mehr zu bremsen. Sie erzählte, sprang auf und setzte sich wieder. Ihr Gesicht hatte einen Ausdruck, den ich nicht kannte, noch nie gesehen hatte. Ihre Augen, ihr Mund, ihre Wangen in einem Licht glühender Leidenschaft, wie verzaubert. „Und das ist ein Stück vom Himmel über der Wüste und heißt Gandora.“ Sie nahm einen tiefblauen, goldgelb bestickten Kaftan auf, legte ihn an ihren Körper und drehte sich ein langes Tuch der gleichen Farbe mit eigenartigen, gelben Zeichen um den Kopf. „Ein Schesch mit den Freiheitssymbolen der Berber“, fügte sie hinzu. „Uns das ist Sand aus der Wüste.“ Sie hob eine klare Glasflasche hoch, die mit Sand gefüllt war und ließ ihn hin und herrieseln. „Und hier eine Sandrose.“ In ihrer Hand lag ein blütenförmiges Steingebilde im selben Farbton. Nun ging es Schlag auf Schlag, aber ich muss zugeben, dass die Farben, das Blau des Kaftans, das Goldgelb seiner Stickerei, das Goldbraun des Wüstensandes und der Sandrose, der dunkle Silberglanz des Hämatit, auch mich gefangen nahmen. „Du musst dir aber vorstellen“, erklärte sie, „dass die Farben der Dünen vom Morgen bis zur Nacht sich ständig vielfach verändern, ein wahres Schauspiel, ohnegleichen.“ Da fiel ihr Blick auf den Teppich, den sie noch nicht erwähnt hatte. Sie ging hinüber und ließ sich langsam darauf nieder. Er war nicht groß, gerade so, dass sie genug Platz zum Sitzen fand. „Und das ist mein Teppich“, sagte sie leise und streichelte ihn zärtlich. „Siehst du die Häuser hier, die Dörfer, die Wüste, die schlafenden Dromedare in der Oase, die Nomadenzelte?“ Ich muss ehrlich sagen, ich sah nichts davon. Für mich war es nur ein Teppich in bunten Farben, auf dem sie saß und ich hörte ihr zu und beobachtete sie, wie sie in liebevoller Hingabe mit beiden Händen über seine Oberfläche strich, dabei redete und immer leiser und leiser wurde. An den nächsten beiden Samstagen lagen die Dinge immer noch über den Fußboden verstreut und unser Gesprächsthema war wieder ihre Reise. Nicht dass es mich gelangweilt hätte, hatte sie doch ständig neue, spannende Geschichten, aber was mir besonders auffiel, war ihr eigenartiger Umgang mit dem Teppich, ihr Flüstern, das wie Kosen klang, wie eine Beschwörung, wie ein Liebeszauber. Am darauffolgenden Samstag stand ich vor verschlossener Tür. Sie reagierte weder auf Klingeln noch auf Klopfen. Ich wunderte mich, da Verlässlichkeit eine ihrer Stärken war und ich daher Schlimmes befürchten musste. Ich konnte mir ihre unangekündigte Abwesenheit einfach nicht erklären. Auch über Telefon war sie nicht zu erreichen und ich machte mir ernsthafte Sorgen. Da sie mir vor einiger Zeit für alle Fälle einen Reserveschlüssel überlassen hatte, ging ich sogleich am nächsten Tag wieder zu ihrer Wohnung und öffnete die Tür. Ich durchsuchte alle Räume, konnte sie aber nirgends finden. Überall die gewohnte Ordnung, jedoch sie war weg. Im Wohnzimmer war alles wie immer. Die Dinge, die sie von ihrer Reise mitgebracht hatte, befanden sich noch unverändert am Boden. Nur der Tajindeckel lag neben dem Tontopf und es roch nach Ambra. Der Teppich allerdings war ebenfalls weg.
39 Codewort: Haare Prag, Haare Das Menschengewirr des Bahnhofes. Er ließ seine Augen durch die Menge schweifen, Trauben von Leuten, die gerade angekommen waren oder im Begriff waren, abzufahren. Je größer der Bahnhof, desto besser, das hatte er recht bald gelernt. Wie oft stieß man schließlich in Wald am Schoberpass auf eine Ausreißerin, ein junges Mädchen, das nichts als weg wollte, oder auch nur eine Touristin? Natürlich, sollte das Wunder einmal geschehen, so verspräche es bestimmt eine intensive Erfahrung, aber es wäre ein Glücksfall. Und auf Glück konnte er sich nicht verlassen. Wer konnte schon von einer Begegnung alle zwei, drei Jahre leben, wer konnte sich mit einem Mädchen dann und wann zufriedengeben? Nein, er brauchte sie ständig und unaufhörlich, sodass er nicht dazu imstande, nein, nicht dazu bereit war, sein Schicksal dem Zufall zu überlassen. Natürlich wäre das ehrlicher gewesen, aber konnte er sich wirklich einer derartigen Eigenschaft rühmen? Hatte ihn nicht vielmehr die Absenz dieser und verwandter Wesenszüge hierher gebracht, an den Bahnhof Wien Meidling, wo er die kommenden und gehenden, hastenden Menschentrauben beobachtete, auf der Suche nach der einen, die durch ihre suchenden Schritte den Strom der Massen behindern würde, nach der einen, die nicht auf dem Weg zur Arbeit oder zur Uni war, die die zurückzulegende Strecke nicht schon derart auswendig kannte, dass sich ein gewisser Zynismus ihrer bemächtigt hatte… ein Zynismus, der stets dazu geeignet war, ihn in die Flucht zu schlagen. Er war jetzt besser darin, wie ein Löwe die schwächste Gazelle in nur wenigen Blicken ausfindig zu machen, seit dem Reinfall mit Budapest. So einen Fehltritt konnte er sich nicht noch einmal erlauben, oder sollte er etwa in einem Zustand der permanenten Entmutigung im Sumpf seines Verlangens alleine vor sich hinvegetieren, wie damals in Ungarn, als er drei Tage am selben Ort verharrte, nur um wieder auf die Beine zu kommen und neuen Mut zu fassen? Schlimm waren sie gewesen, die Tage der orientierungslosen Stagnation, und in seinem Hinterkopf hatte das dumpfe Gefühl Einzug gehalten, dass es im Falle einer neuerlichen Niederlage nur länger dauern würde, sich wieder herzustellen. Er war keiner jener, für die Misserfolg jemals Routine wurde. Nicht in dem Leben, das er jetzt führte. Er überließ sich seinen unzensierten Gedanken an Niederlagen und Charakterstärken, den stetigen Menschenstrom nebenbei im Auge behaltend. Dies hier war ihm Routine, dieses Harren und Vorbereiten, ganz wie ein Arzt seine Bestecke wohl fein säuberlich auf dem Tisch aufzureihen pflegte, in einer bestimmten Reihenfolge, die sich nur selten änderte. Er hatte sich neben dem Eingang positioniert, in sicherem Abstand zu dem großen Bildschirm, der die Abfahrten anzeigte, denn diesem würde sie sicherlich ihre Aufmerksamkeit schenken, wenn sie erst kam. Es war das Beste, nicht zu früh aufzufallen, das hatte ihn nicht nur Budapest gelehrt. Vor der Zugfahrt sollte sie ihn gar nicht zu Gesicht bekommen, hier am Bahnhof gab es schließlich noch ein Entrinnen, ein Anders-Entscheiden, ein Zaudern oder so-ein-komisches-Gefühl-haben. Er fühlte seine Ungeduld steigen, musste sich zusammenreißen, um dem Impuls zu widerstehen, auf- und abzugehen. Konzentrier dich, wies er sein Gehirn an. Vor Jahren hatte er seine Katze beobachtet, die stundenlang bewegungslos vor einem Maulwurfshügel gesessen hatte, jeden Muskel angespannt… und dann ging auf einmal alles ganz schnell, zu schnell, als dass er imstande gewesen wäre, zu sehen, was eigentlich vor sich ging. Nur an die anschließende Flucht der Katze, im Maul etwas schwarzes Pelziges, dessen erinnerte er sich. Wie lange war das nun her? Er mochte dreizehn gewesen sein…. zwölf Jahre. Zwölf Jahre, die er dazu hätte nützen sollen, der Katze ähnlicher zu werden… und doch ergriff ihn oft eine Ungeduld, derer er nicht Herr zu werden vermochte. Möglicherweise war das der Unterschied zwischen Tieren und Menschen, der Grund, warum Menschen den Vierbeinern nicht mehr das Wasser zu reichen vermochten, was die Jagd betraf. Obschon er sich nicht sicher war, ob er noch letzterer Kategorie zuzuordnen sei, jetzt, wo er schon so vieles verloren hatte… und doch, unter dem Strich, ein Gewinn. Es war eine Art Verschmelzung auf Raten, und um den Erfolg zu gewährleisten, suchte er sich nun – spätestens seit Budapest – nur die menschlichsten, lebendigsten Geschöpfe aus, die die Bahnhöfe der europäischen Metropolen hergaben. Da! Da war sie. Unwillkürlich richtete er sich auf, senkte jedoch gleichzeitig den Blick. Er konnte sie nicht allzu offenkundig anstarren. Nicht, dass sie es bemerkt hätte. Vom sie umgebenden Menschengewimmel überwältigt, hatte sie gerade eine betagte Dame mit ihrem Koffer angerempelt, ein älteres Modell, das noch in der Hand getragen und nicht gezogen wurde. Während sie sich, rot bis unter die Haarspitzen, auf rührende Art und Weise der Alten annahm und gar nicht genug der entschuldigenden Worte stammeln konnte, hatte er Zeit, sie unter seinen halb gesenkten Lidern ausgiebig zu mustern und sich eine erste Beurteilung zu erlauben. Sie war noch nicht viel gereist. Vielleicht war es sogar ihre erste Reise, abgesehen vom jährlichen Campingausflug mit ihren Eltern und den jüngeren Geschwistern, denen sie sich auch im Urlaub stets aufopfernd zu widmen gepflegt hatte, sodass die Mutter nichts tun musste, als auf dem Liegestuhl zu ruhen und die malerische Szene am Seeufer selbszufrieden zu beobachten. Er kannte derartige Familien vom Sehen, hatte er doch am selben Seeufer gesessen und doch ganz anders seine Ferien verbracht. Dabei wären diese Familien
40 bestimmt liebenswürdig genug gewesen, ihn für die paar Wochen zu adoptieren, schienen sie doch die personifizierte Herzlichkeit zu sein – wenn sie ihn in ihrem gemeinschaftlichen Frohlocken nur bemerkt hätten, wie er, immer im Blickfeld der Großmutter, ins trübe Wasser starrte und die Gespräche mit Frau Wieland, die hinter seinem Rücken stattfanden, auszublenden versuchte. Wie es ihr denn ginge. Die Gicht sei im Laufe des letzten Jahres auch nicht besser geworden, trotz der Medikamente. Im Gegenteil, der kalte Winter habe das Seine dazu beigetragen. Aber wenigstens jetzt sei es nicht so schwül, das helfe schon etwas. Letztes Jahr sei es im Freien ja kaum auszuhalten gewesen, immer wieder seien ihr die Füße geschwollen, sodass sie sich schließlich die paar Schritte bis zum Ufer kaum auf den Beinen halten konnte. Und die Großmutter, der dieselbe Wegstrecke auch ihn diesem Jahr Probleme bereitete, brummelte und, wie er, ohne sich umzudrehen wusste, nickte leidend. Und der Junge? Ach, der. Immer dasselbe. Man gebe sich ja Mühe, aber… Sie hatte sich inzwischen von der alten Dame verabschiedet, die nun zwar einigermaßen versöhnt, doch prinzipiell indigniert an ihm vorbei Richtung Ausgang schritt. Wo die Alte in aller Herrgottsfrühe hinwollte, im ersten Berufsverkehr. Der beste Zeitpunkt für sein Vorhaben, wie er mittlerweile wusste. Natürlich waren schon einige Pendler unterwegs, die ihm in die Quere kamen und erhöhte Aufmerksamkeit nötig machten. Doch der richtige Ansturm würde erst später kommen, in einer Stunde etwa, wenn wirklich jeder zur Arbeit musste und zu allem Überfluss noch Schulkinder zwischen den Erwachsenen umherrannten. Um diese frühe Stunde jedoch waren die meisten Reisenden unterwegs, zumindest jene, die die Fahrt erst antraten. So auch sie, wie sie sich nun anschickte, in Richtung des Fahrkartenschalters zu stolpern. Er folgte, erst langsam, dann schneller, bedacht darauf, sich hinter ihr einzureihen. Sie war viel niedlicher als die Letzte, und so unschuldig in allem, was sie tat. Gerade fiel ihr die Geldbörse, die sie erst umständlich aus der prall gefüllten Umhängetasche gekramt hatte, aus der Hand und zu Boden. Er konnte nicht umhin, zu lächeln. Was würde sie tun? Gegenstände fallen lassen? Mit den Fingern auf Oberflächen trommeln? Das letzte Mädchen war ja weniger charmant gewesen. Er schob sich die Brille höher auf die Nase. Und erst das vorangegangene… aber nun ging es endlich voran. Es trennte ihn nur eine Person von ihr, wie vorgesehen, ein junger, groß geratener Mann mit einem ebenso gigantischen Rucksack, von dem Trinkflasche und Isoliermatte baumelten. Manche reisten ja, um sich selbst zu finden. Er besah sich angewidert die schmutzigen Turnschuhe, die wohl auch keinen Platz mehr im Inneren des Rucksacks gefunden hatten und folglich ebenso baumelten, in einem Abstand von dem Mundstück der Trinkflasche, der viel zu klein anmutete – wenigstens für seinen Geschmack. Er tastete nach seinem Portemonnaie. Jetzt trat sie endlich an den Schalter. Ob sie auch im Begriff war, sich selbst zu finden? Ihre erste Reise alleine. Wo sie es wohl anstellen wollte? Sicher nicht in Budapest. Rom vielleicht, oder eine kleine, sichere Stadt, als Testlauf. Marburg, zum Beispiel. „Prag“, hörte er sie sagen. Na eben. Sie hatte doch Geschmack. Er hätte es wissen müssen. Und doch war er unzufrieden. Gerade mal fünf Stunden Fahrt. Da musste er sich anstrengen. Venedig wäre einfacher gewesen, wenngleich er auch froh war, sich nicht den Rückenschmerzen einer mindestens achtstündigen Zugfahrt aussetzen zu müssen. Prag also. Sie würde sich inmitten seiner Renaissance- und Barockbauten selbst finden. Wenn sie das tat, wirkte es weniger beleidigend als bei dem Hünen vor ihm, dessen Schuhe nun gefährlich nahe an seinem Gesicht schwangen. Ja, manche reisten um sich zu finden. Andere reisten, um sich zu verlieren. Manche fanden sich, andere verloren sich inmitten der Barockbauten. Andere wiederum taten es schon im Zug. Er schob die Brille auf die Nase zurück und machte einen Schritt vorwärts. Beinahe hätte er sie im Gewühl verloren. Aber da war sie, auf dem Trittbrett des in die Jahre gekommenen Waggons versuchte sie gerade, ihren Koffer an sich vorbei in den Zug zu bugsieren. Jetzt bloß nicht helfen. Keinen guten Eindruck machen. Das war schon in Budapest danebengegangen. Das gemeinsame Auflesen ihrer verstreuten Dokumente vom schmutzigen Bahnsteig, es war alles viel zu sehr Hollywood gewesen. Sein gewinnendes Lächeln, sein Mund bereits geöffnet, um das Gespräch zu beginnen. Und dann dieser Blick. Über die Schulter zurück, als sie an ihm Vorbeihastete. Komm mir bloß nicht nach. Freak. Und das Ticket schon in der Tasche. An das andere Ende des Zuges also, und stets die Angst, ihr beim Toilettengang zu begegnen. Nein, mit Zynismus konnte er nichts anfangen. Da musste er sich immerzu fragen, was sie wussten, über ihn, darüber, wer er war, wen er zu verlieren und was er zu gewinnen trachtete. „I-i-ist hi-ier f-frei?“ brachte er schließlich, fünf Minuten später hervor, als er sichergehen konnte, dass die meisten Abteile von zumindest einer Person besetzt sein würden. Kaum ihr freundliches, doch schüchternes Nicken abwartend, hob er die große schwarze Sporttasche auf die Gepäckablage, schob die Brille zurück auf die Nase und setzte sich ihr gegenüber. Ein leicht verlegenes Lächeln war nun völlig legitim. Sie erwiderte es und strich sich die braunen Locken aus dem Gesicht. Ihre Naturfarbe. Mädchen aus solchen Familien färbten selten, sondern fühlten sich stets angenommen, wie sie waren. Er stand wieder auf, um das Kreuzworträtsel aus der Tasche zu holen. Wenn er an das letzte Mädchen dachte, blond mit dunkelbraunem Nachwuchs. Diese Färberei störte schon sehr, vor allem, wenn sie nicht ordentlich gemacht wurde. Aber er hatte sich mit ihr zufriedengeben müssen. Und so schlecht war es ja nicht gewesen. Er schob die Brille auf die Nase zurück und setzte sich wieder.
41 Stadt in den Niederlanden, vier Buchstaben. Er klickte mit dem Kugelschreiber. Wie er wohl ein Gespräch anfangen sollte? Nebenfluss der Donau, drei Buchstaben. Klick. Vielleicht der Reiseführer. Stadt in Norddeutschland. Klick. Er konnte ihn ausleihen, wenn sie damit fertig war. Klick. Ja, so könnte es gehen. Er schob die Brille auf die Nase zurück und nahm sich das Rätsel vor. Sie hatte schließlich gerade erst mit ihrer Lektüre angefangen. Land in Südeuropa, sieben Buchstaben. Klick. Fluss in Russland, fünf Buchstaben. Klick, klick. Sie sah vom Reiseführer auf, strich die Haare hinters Ohr. „Oh. Entsch-schuldig-gung.“ Er räusperte sich verlegen. Sie lächelte und wandte den Blick wieder nach unten. Jetzt oder nie. Bei einer derart kurzen Zugfahrt zählte schließlich jede Minute. „H-höchs-st-ter B-berg P-p-port-tugals. F-fünf B-buchstab-ben.“ Er räusperte sich, als ihr Blick ihn wieder traf, der Funke Mitleid, sichtbar nur für den Bruchteil einer Sekunde, und doch, wie immer, unweigerlich präsent. Dann schüttelte sie entschuldigend den Kopf. Er strich sich probehalber die blonden Haare aus dem Gesicht. Er würde sie wachsen lassen müssen, so wollte das noch nicht klappen. Er räusperte sich und klickte mit dem Stift. Schob die Brille auf die Nase hinauf. „W-wollen wir t-t-tauschen?“ fragte er und hielt ihr das Rätsel hin. Strich die Haare zurück. Unwillkürlich imitierte sie die Geste. Er lächelte. „Prag, Haare“ würde er später in sein Notizbuch schreiben, direkt unter „Wien, Brille“. Viereinhalb Stunden später war zwischen ihnen alles geklärt. Es war diesmal leichter gegangen als etwa in Berlin. Das war eine ungeheure Anstrengung gewesen, und wofür das Ganze? Er zuckte mit dem rechten Auge. Strich sich vergleichshalber das Haar hinters Ohr. Viel charmanter. Lange würde es wohl nicht mehr dauern. Er hatte ihr Süßes angeboten („K-kekse?“), hatte sich mir ihr über die drittgrößte Stadt Deutschlands beraten. Ein gekochtes Ei gegen eine Banane eingetauscht und ihr ein Kartenspiel beigebracht. Eselsohren in ihren Reiseführer gemacht, sodass sie die wichtigsten Sehenswürdigkeiten leicht wieder finden konnte. Es war schließlich nicht sein erstes Mal in Prag, ließ er sie wissen. Mittlerweile wusste sie auch, was er wollte – oder glaubte es doch zu wissen. Und tatsächlich erwog sie es. Er war wenig überrascht. Er räusperte sich kaum hörbar. Sie hatte schließlich ein großes Herz. In solcherlei Gedanken versunken schob er die Brille auf die Nase zurück. Das Mitleid hatte wohl den Ausschlag gegeben. Ihm sollte es recht sein. Auch wenn die Reise ein Erfolg gewesen war, die Zugfahrt würde nicht genügen. Sein Auge zuckte. Er schob sich eine noch fiktive Strähne aus der Stirn. Ein wenig länger würde er wohl noch brauchen, und wenn es nur ein paar Minuten wären. „Wo w-wirst du w-wohnen?“ fragte er. Räusperte sich. Er könne ihr den Weg zeigen. Schließlich komme er öfters nach Prag. Sie zögerte und strich sich die ewig widerspenstige Locke hinter das Ohr. Ganz sicher war sie sich noch nicht. Er konnte nicht umhin, zu bemerken, wie sie ihre Finger abwinkelte, den kleinen Finger leicht gespreizt. Der Zug verlangsamte sein Tempo, ein grauer Bahnsteig wurde sichtbar. Er stand auf, schob die Brille zurück und hob bedächtig erst seine Tasche, dann ihren Koffer von der Gepäckablage. Damit war es beschlossen. Wie ein ergebenes Lamm trottete sie hinter ihm her, auch das ihr erstes Mal, gleichzeitig geschmeichelt, dass er sie offenbar erwählt hatte. Was war schon dabei? Er war schließlich so harmlos… es wäre eine gute Tat. Er führte sie souverän aus dem Bahnhof. „H-hier lang.“ Noch zweimal hatte er Gelegenheit, zu beobachten, wie sie das Haar aus dem Gesicht strich, immer auf der linken Seite, mit leicht weggestrecktem Finger. Der Weg war nicht allzu weit, die Straße entlang, dann zweimal rechts und ein paar hundert Meter. Hotel Chopin. Er blieb vor dem Gebäude stehen, räusperte sich. Setzte ihren Koffer ab, zuckte mit dem rechten Auge. Strich sich die linke Schläfe. Sie starrte auf ihren Koffer, wusste nicht, wie sie es sagen sollte. „Danke.“ Strich sich ein letztes Mal die Strähne hinter das Ohr. „Willst du-?“ „Ich wünsche dir noch einen angenehmen Aufenthalt!“ entgegnete er mit einem breiten Lächeln, wandte sich um und ging beschwingten Schrittes die Straße hinunter, ihren entgeisterten Blick im Rücken wohl spürend. Strich sich das Haar nach hinten. Räusperte sich.
42 Codewort: Estebaliz Fifis letzte Reise Als Robert von Mühlhoff, der millionenschwere Begründer der Mühlhoffwerke unerwartet starb, ahnte sein Notar Dr. Häusler, dass Unannehmlichkeiten auf ihn zukommen würden. Der exzentrische von Mühlhoff war nicht gerade dafür bekannt gewesen, ein einfacher Zeitgenosse zu sein. Doch wie Häuslers Mutter schon zu sagen pflegte, lag in jedem Unglück auch Glück verborgen und der Notar war ein Mann, der sein Glück zu schmieden wusste. Drei Augenpaare starrten Herrn Dr. Häusler nach dem Verlesen des Testaments entrüstet an. Instinktiv zog er die Schultern ein. Die Stimmung unterkühlt zu nennen wäre vermutlich nicht einmal einem eingefleischten Optimisten eingefallen. Der Notar wagte es nicht, sich zu bewegen. Er hatte Angst, die Welt würde in einer Kakophonie aus Schimpfwörtern explodieren. Die Frauen vor ihm hatten diesen Blick, den seine Gattin Grete aufsetze, wenn er den Hochzeitstag vergaß. Mit den Jahren hatte er zwar gelernt damit umzugehen, aber die hier waren zu dritt und sein Berufsethos war das einzige, das ihn davon abhielt, sich unter einem Vorwand aus dem Büro zu schleichen. Folglich hielt er den Atem an und wartete ab, was als nächstes geschehen würde. „Das ist so typisch für ihn!“, entwich es Ricarda, die direkt vor dem Notar Platz genommen hatte. „Was hat er sich nur dabei gedacht? Der ist doch vollkommen irre! Sorry… war.“ „Sprich nicht so über deinen Großvater.“ Sarah, die rechts neben ihrer Tochter saß drehte sich zu ihr und bekreuzigte sich rasch. „Es gehört sich nicht, schlecht über die Toten zu sprechen.“ Dr. Häusler gestattete es sich, auszuatmen - das Schlimmste schien überstanden. Doch dann fiel sein Blick auf Beatrice, die schwarzgekleidete Witwe des Verstorbenen: sie presste die Lippen aufeinander – so sehr, dass sie an den Rändern bläulich anliefen. Die Sehnen an ihrem Hals traten deutlich hervor und alles in allem ähnelte sie im Moment eher einer Marionette als einer Frau aus Fleisch und Blut. Dank seiner jahrelangen Erfahrung mit Hinterbliebenen glaubte der Notar zu wissen, dass es sich hier um einen schweren Fall von verdrängter Trauer handelte, doch die Worte, die der ehemaligen Sekretärin von Mühlhoffs nun entfuhren, lehrten Dr. Häusler, dass es mit seiner Menschenkenntnis nicht weit her sein konnte: „Nur über meine Leiche!“, zischte die Frau, die kaum älter war als Ricarda. „Das kannst du gerne haben!“, folgte auch prompt Sarahs Antwort. „Ja, das würde dir so passen! Du hast mich sowieso nie leiden können!“ „Als ob Opas Tod so ungelegen für dich kommt!“ schnauzte Ricarda zurück. „Schlampe!“, konterte Beatrice und konzentrierte sich auf einen Punkt in der rechten oberen Ecke des Büros. „Wage es nicht, meine Tochter eine Schlampe zu nennen, du räudiges Miststück!“ „Du glaubst doch wohl selbst nicht, dass ich auch nur ein Wort aus dem Mund dieser Kuh ernst nehme, Mama.“ Eisiges Schweigen folgte. Dr. Häuslers Augen weiteten sich, als ihm die Tragweite des Testaments bewusst wurde. Im Großen und Ganzen bestand der letzte Wille des Verstorbenen darin, dass die drei Frauen seine Asche ins Schwarze Meer streuen sollten. Einzige Auflage: die Reise musste im eigenen PKW unternommen werden. Eine Anfechtung des Testaments würde zur Folge haben, dass über die Laufzeit des danach folgenden Prozesses jeden Monat eine sechsstellige Summe als Spende an eine karitative Einrichtung floss. Den Frauen blieb also nur eine Wahl: entweder sie beugten sich dem Wunsch des Patriarchen oder sie verzichteten auf ihr Erbe. Etwas im Inneren des Notars sagte ihm, dass sich Robert von Mühlhoff im Himmel gerade köstlich bei einem Glas Rotwein amüsierte. Zwei Wochen später „Steig ein, Mama.“ Ricardas Stimme hatte in der letzten halben Stunde einen gefährlichen Unterton angenommen. Sie lächelte ihre Mutter an und erinnerte Sarah dabei eher an einen Haifisch als das süße Mädchen, das sie groß gezogen hatte. „Wir haben das doch besprochen, oder? Bevor wir auf die Millionen verzichten…“ „Ich weiß nicht“, Sarah schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, ob ich das kann. Sieh mal, Rumänien! Im Auto! Als ob das noch nicht genug wäre. Nein, müssen wir auch noch diese blöde Schnepfe und Roberts Asche mitnehmen! Ich kann mir einen schöneren Urlaub vorstellen.“ In all den Jahren hatte sich Ricarda nie daran gewöhnen können, dass ihre Mutter ihren eigenen Vater nur mit dem Vornamen anredete. Gott allein wusste, was zwischen den beiden vorgefallen war. Ricarda gegenüber hatten sie sich niemals gestritten, doch sie spürte, dass hinter den oberflächlichen Floskeln ein stiller Krieg tobte, in den sich das Mädchen nicht einmischen wollte. „Mama, wenn du das hinter dich gebracht hast, kannst du dir jahrelang Urlaub in der Karibik leisten, wenn du willst. Was red‘ ich da - du kannst dir dort ein Haus kaufen. Dazu musst du nur einmal die Zähne zusammen beißen – niemand zwingt dich dazu, mit ihr zu sprechen.“ „Das wär ja noch schöner!“, unterbrach Sarah ihre Tochter. „Außerdem“, fuhr Ricarda fort, „ich denke, auf eine gewisse Art und Weise hat sie Opa doch gut getan.
43 Nach Omas Tod war er immer so deprimiert und traurig. Beatrice hat wohl wieder seine Lebensgeister geweckt. Immerhin hat er durch sie Lust aufs Reisen bekommen. Sie sind nach Paris geflogen und haben Urlaub auf Mauritius gemacht. Ich kann mich noch gut an seine strahlenden Augen erinnern, als er davon erzählt hat.“ „Irgendwie musste sie ja unser Erbe verprassen, das geht eben nur mit einem gewissen Einsatz!“ „Ach, Blödsinn. Er hat sie doch freiwillig geheiratet. Ach, ich hab’s dem alten Schwerenöter irgendwie gegönnt.“ Ricarda hatte ihre Lippen zu einem breiten Grinsen verzogen, doch ihre Augen lächelten nicht mit. Sarah musterte ihre Tochter argwöhnisch. Solch ein Benehmen und solche Aussagen kannte sie gar nicht von ihrer Tochter – erst recht nicht, wenn es um Beatrice ging. Ricarda hasste das Luder mindestens genauso sehr wie sie selbst es tat. „Sag mal, bei der Testamentseröffnung hat das aber noch ganz anders geklungen?“ „Na und?!? Jetzt hör auf zu spinnen und setz‘ dich verdammt noch mal in den Wagen. Wir fahren an das gottverdammte Schwarze Meer, damit wir die beschissene Asche dieses Vollidioten den ich meinen Großvater nennen durfte reinkippen können und du bist bis dahin verdammt nochmal still!“ Perplex hob Sarah ihre Tasche mit steifen Bewegungen an, ging ans hintere Ende des Wagens, öffnete den Kofferraum und legte ihren Seesack hinein. Sie schloss den Kofferraum mit einem leisen Klicken, öffnete die Autotür und ließ sich sanft auf den Beifahrersitz gleiten. „Na endlich“, knurrte Ricarda, als sie den Wagen startete und rückwärts aus der Einfahrt fuhr. Als sie beim von Mühlhoff‘schen Familienanwesen ankamen stöckelte Beatrice bereits in fünfzehn Zentimeter hohen Absätzen und Minirock die Einfahrt entlang. Sie zog einen pinken, mit Strass besetzten Trolley hinter sich her und spielte mit ihrer blonden Mähne. Wenn jemand ein Klischee bedienen konnte, dann sie. Am Auto angekommen, öffnete sie mit spitzen Fingern die Beifahrertür. „Steig aus.“ Sarah sah sie verdattert an. „Wie bitte?“ „Steig aus oder ich steige nicht ein“, näselte sie gelangweilt. „Auf der Rückbank ist genügend Platz für dich“, mischte sich Ricarda ein. „Natürlich…“, lächelte die Blondine gekonnt. „…in dem Fall kann ich aber leider nicht mit euch kommen. Mir wird auf Rückbänken immer so schnell schlecht.“ Sarah zog eine Augenbraue in die Höhe und unterdrückte die spitze Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag. Stattdessen sah sie ihre Tochter um Unterstützung heischend an. Ricarda blickte jedoch zu Boden und meinte stockend: „Mama… könntest du dich… vielleicht… nach hinten…?“ Jetzt lag es an Sarah, einen Wutausbruch so gut es ging zu unterdrücken. Sie spürte, wie das Blut ihr in den Kopf stieg und stieß zischend Luft aus. Schließlich kapitulierte sie und hebelte sich wütend aus dem Beifahrersitz. Kopfschüttelnd und mit angespanntem Kiefer nahm sie auf der Rückbank Platz. Was bewog Ricarda nur dazu, sich so unterwürfig zu benehmen? „Na dann, fehlt nur noch der Herr Notar.“ Ricarda legte den Gang ein und fuhr schweigend zum Bahnhof, wo Herr Dr. Häusler bereits auf sie wartete. Robert von Mühlhoff hatte in seinem Testament festgehalten, dass jemand belegen musste, dass die drei auf Hilfsmittel verzichteten. Der Familienanwalt schien hierfür prädestiniert und so begleitete er die Frauen als außenstehender Beobachter. Außerdem verwahrte er die Urne bei sich – jemand musste protokollieren, dass die Asche ordnungsgemäß ins Schwarze Meer gestreut wurde. Ihr Weg führte das ungleiche Quartett über die Autobahn nach Budapest. Die Fahrt verlief ohne große Schwierigkeiten, da kaum jemand sprach. Dr. Häusler versuchte zwar, ein wenig belanglose Konversation zu betreiben, seine Bemühungen fruchteten jedoch nur in kargen Antworten, die dem Begriff „Smalltalk“ alle Ehre machten. Als sie über die Stadtautobahn nach Budapest einfuhren, schwiegen alle ehrfürchtig. Inzwischen war es Abend geworden und vor ihnen breitete sich das Lichtermeer einer der schönsten Metropolen Europas aus. Ricarda musste Acht geben, nicht auf den Verkehr um sie herum zu vergessen, so sehr faszinierte sie der Ausblick. Selbst Beatrice schien überwältigt. Sie beschlossen spontan, den darauffolgenden Tag in Budapest zu verbringen. Es hatte ihnen ja niemand ein Zeitlimit gesetzt und Dr. Häusler hatte dafür Sorge zu tragen, dass ihre Auslagen bezahlt wurden. Tags darauf verarbeitete die trauernde Witwe - begleitet von einem so ernst dreinblickenden Herrn Dr. Häusler, dass sein Gesichtsausdruck schon fast wieder komisch aussah - ihren Kummer in den Boutiquen der Stadt und transformierte ihre Trauer in modische Tops, High-Heels, Jeans und Miniröcke. Währenddessen überquerten Sarah und Ricarda die Kettenbrücke und erklommen den Gellértberg. Oben setzen sie sich auf eine der dort bereit gestellten Bänke. Ricarda bewunderte die Statue, doch als sie herausfand, dass die Statue für Ungarn – ähnlich der New Yorker Statue of Liberty – ein Symbol der Freiheit darstellte, traten ihr Tränen in die Augen. Sarah umarmte ihre Tochter schweigend. So standen sie einige Minuten lang, bis der für Budapest so typische kalte Wind aufkam und sie fröstelnd dazu zwang, den Rückweg anzutreten. Am Abend setzten sie ihre Reise in Richtung Arad fort. Wer jemals auf ungarischen Autobahnen gefahren ist, weiß, dass es sicherer ist, in der Nacht zu fahren als am Tag. Abgesehen davon, dass weniger Verkehr herrscht,
44 fahren die Autofahrer einfach gemäßigter, sprich, sie halten sich an das Tempolimit. Drei Stunden später überquerten sie die Grenze zu Rumänien. Ricarda, die noch nie zuvor in Rumänien gewesen war, hatte sich das Land in etwa wie Ungarn vorgestellt, doch schon an der Grenze zeigte sich, dass sie Unrecht hatte. Im Scheinwerferlicht machte sie große Ziegelbauten im Rohzustand aus, die an kalifornische Villen erinnerten. Dr. Häusler, der aus Rücksicht auf den Frieden im hinteren Teil des Autos sitzen geblieben war, folgte Ricardas erstauntem Blick und meinte ihre Gedanken zu lesen. „Unglaublich, nicht wahr?“ Die wohlige Stille im Inneren des Autos wurde durch seine Frage zerrissen. „Sie hätten nie geglaubt, dass Menschen, die bei uns ein solch schlechtes Image genießen wie die Rumänen dazu fähig sind, solche Gebäude zu errichten, nicht wahr? Das dachten sie doch gerade, oder?“ Ricarda runzelte die Stirn. Dr. Häusler wirkte verändert, wie ausgewechselt, seit sie die Grenze passiert hatten. Im Rückspiegel sah sie, wie seine Hände zitterten, als er sich durch das schüttere Haar fuhr. Ricarda unterdrückte ein vages Unwohlsein und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Ihr nächster Halt hieß Sibiu und das bedeutete noch mehr als drei weitere Stunden Fahrt auf unbekannten Straßen. Eine halbe Ewigkeit später kamen sie in Sibiu an. Viel war im Scheinwerferlicht nicht von der Stadt zu erkennen. Herr Dr. Häusler überraschte Ricarda damit, dass er ihr den Weg zum Hotel ansagte als das Navigationsgerät ausfiel. Die junge Frau wunderte sich einen Moment über seine Ortskenntnis, schob es dann aber auf die ausgezeichnete Recherche, die er bislang für sie erledigt hatte. Wer sonst hätte ihr von den Bedingungen auf Ungarns Straßen erzählen können? Ricarda stellte den Wagen auf dem Parkplatz ab, weckte ihre Mutter und sie gingen in Richtung Hotel. Sie klingelte an der Rezeption und schreckte den etwas verstört wirkenden Nachtportier aus dem Schlaf. Ricarda erklärte ihm auf Englisch, dass sie mindestens drei Zimmer benötigten. Herr Dr. Häusler überraschte sie erneut, da er sie plötzlich ein wenig unsanft zur Seite stieß und zuerst stockend, doch dann immer schneller auf Rumänisch auf den Angestellten einredete. Es folgte Gelächter und einige vage Gesten bis der Portier zwei Schlüssel von einem Brett an der Wand holte. „Only two left.“, grinste er verstohlen. Sarah sah ihre Tochter müde an. Sie konnte sich beim Besten Willen nicht vorstellen, ein Zimmer mit Beatrice zu teilen. Doch erneut überraschte sie Dr. Häusler, indem er Beatrice den Schlüssel aushändigte und lächelnd meinte: „Geht ihr nur auf die Zimmer und ruht euch aus, ich möchte mich noch ein wenig mit meinem neuen Freund hier unterhalten.“ Am nächsten Tag erfasste Sarah ein Gefühl der Unruhe. Sie waren spät aufgestanden und Ricarda hatte schlechte Witze über ihre Schlafgewohnheit gemacht. „Kaum sind wir in Transsilvanien angelangt, schon verhalten wir uns wie die Vampire. Die Sonne wird bald untergehen und wir erwachen.“ Sarah hatte trotzdem gelacht. Sie hatten sich angezogen und waren nach unten gegangen. Im Speisesaal trafen sie auf eine quietschfidele Beatrice, die schier an Dr. Häuslers Lippen zu hängen schien. Ricarda und ihre Mutter tauschten vielsagende Blicke aus. Sie nickten dem Notar zu, der zumindest den Anstand hatte, rot anzulaufen und ignorierten Beatrice so gut es eben ging. Eine Stunde später saßen sie wieder im Auto. Als sie etwa 120 Kilometer durch die Karpaten in Richtung Küste gefahren waren, erklärte der Notar, dass er sich erleichtern müsse. Kurze Zeit später deutete er auf einen Forstweg der von der gewundenen Straße weg direkt in die Berge führte. Als sie etwa fünf Minuten lang über den holprigen Weg geschaukelt waren, hielt Ricarda an, drehte sich nach dem Notar um und blickte in die Mündung eines Schalldämpfers. Sie schluckte schwer während ihr der Schweiß ausbrach. Etwas in ihrem Inneren kicherte hysterisch los. „Heb‘ die Hände dorthin wo ich sie sehen kann und dreh dich um.“ Sarah war vom Stoppen des Autos munter geworden und betrachtete verschlafen die unwirkliche Szene. Ein Zucken ging durch ihren Körper als sie realisierte, was gerade eben geschah und sie versuchte so unauffällig wie möglich näher an die Glock zu rücken, die der Notar in der Hand hielt. „Versuch’s nicht mal, Schlampe!“ Beatrice hatte ihrerseits eine Waffe gezogen und drückte sie nun an Ricardas Schläfe, die ein leises Wimmern ausstieß. Dr. Häusler drehte sich zur Seite und hielt seine Waffe nun auf Sarah gerichtet. „Sowas nenn‘ ich ein gelungenes Schachmatt.“ Der Notar grinste entrückt. „Sie sind doch wahnsinnig!“, entfuhr es Sarah. „Man wird Sie suchen und finden!“ Beatrice lächelte spitz. „Ich bitte dich. Wir sind nicht so blöd, euch hier und heute zu töten. Wir gehören doch alle zu den Opfern einer schrecklichen Entführung.“ Die letzten Worte säuselte Beatrice in einem eigenartig gelangweilten Singsang. „Ihr seid doch verrückt! Das… das ist doch der helle Wahnsinn!“ „Na, das ist doch das schöne“, konterte Beatrice. „‘Die Entführer‘ kidnappen uns alle vier und schrauben das Lösegeld immer weiter in die Höhe. Ihr seid… wie nennt man das nochmal? Collateral damage?
45 Keine Angst, meine Süßen – wir werden nach dieser traumatischen Erfahrung natürlich ausgiebig um euch trauern.“ Ricarda wimmerte erneut, diesmal etwas lauter. „Da kriegst du keinen Ton mehr raus, was?“, Beatrice lächelte verzückt. „Warum?“ Beatrice fühlte Ricardas Frage mehr als dass sie sie hörte. „Warum? Mein Gott! Und ich soll hier die Wahnsinnige sein! Nun, vielleicht… möchtest du übernehmen, mein Schatz?“ „Aber zu gern, Liebste. Robert hat meinen Vater und mich behandelt wie seine persönlichen Fußabtreter. Nicht ein Wort des Dankes ist über seine Lippen gekommen. Wie sehr ich ihn gehasst habe, dieses präpotente Arschloch. Meinen Vater hat er, nachdem er mir die Kanzlei übergeben hat, nicht einmal mehr auf der Straße gegrüßt, geschweige denn zu Veranstaltungen eingeladen. Hinter vorgehaltener Hand hat er ihn als den Trottel aus Siebenbürgen verlacht! Es hat ihm das Herz gebrochen. Als ich sah, wie er immer mehr verkümmerte, schwor ich Rache. An dem Tag, als ich Beatrice kennenlernte, wusste ich, dass meine Zeit gekommen war. Ich hab sie in das Büro eures Vaters als Sekretärin eingeschleust. Sie hat die Medikamente für seine Frau besorgt und die Dosis einfach ein wenig erhöht. Nach dem Tod seiner Frau hat Beatrice den Alten getröstet und eines Tages konnte er nicht mehr wiederstehen. Den Rest kennt ihr ja – nun, bis auf das winzige Detail, dass sie eines nachts schlicht und einfach Roberts Herztabletten versteckt hat.“ „Ihr könnt euch nicht vorstellen, was es für eine Befriedigung war, den alten Sack endlich verrecken zu sehen.“ Beatrice verzog die Mundwinkel nach unten. Sarah konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten und schluchzte verzweifelt vor sich hin. Ricarda wimmerte erneut. Diesmal noch lauter, drängender. Beatrice musterte sie argwöhnisch. „Sag mal, was…“, doch weiter kam sie nicht, denn ihr Geliebter unterbrach sie. „Schatz, rühr dich nicht.“ „Warum, was ist denn?“ Sie folgte seinem erschrockenen Blick auf ihre Brust, auf der mehrere rote Punkte tanzten und stellte danach mit Erschrecken fest, dass sich ähnliche Punkte auch auf seiner Stirn ein Stelldichein gaben. Eine Woche später standen Ricarda und ihre Mutter am Schwarzen Meer und sahen sich den Sonnenuntergang an. Sie waren bis nach Constanta gefahren, da Sarah der Ort an dem die Donau ins Schwarze Meer mündet perfekt erschien, um ihrem Vater die letzte Ehre zu erweisen. Sie wanderten den Strand entlang und gelangten zu einer kleinen Halbinsel auf der ein Leuchtturm stand. Sarah hatte sich bei den Behörden die Erlaubnis eingeholt, die Überreste ihres Vaters ins Meer zu streuen. Bevor sie es tat, sah sie ihre Tochter lange an: „Du hast es die ganze Zeit über gewusst, oder? Und du hast dein Leben aufs Spiel gesetzt – wofür?“ „Für die Freiheit, Mama. Dr. Häusler hat jahrelang Gelder veruntreut und durch Großvaters Tod wäre alles aufgeflogen. Opa hatte ihn schon länger im Verdacht, konnte es aber nie beweisen. Darum hat er bei einem unabhängigen Notar ein Testament hinterlassen und zwei Briefe. Einen, der an einen Vertrauten Opas beim Morddezernat ging und einen an mich adressierten, falls er überraschend sterben sollte.“ „Aber warum hat er den Brief nicht an mich geschickt?“ Schon als sie die Frage stellte, wusste Sarah die Antwort: „Ich hätte ihn nicht geöffnet.“ Ricarda nickte und blickte verlegen auf ihre Schuhe, bevor sie fortfuhr: „Opa hatte Beatrice schon länger in Verdacht, aber der alte Schwerenöter hat das Beste aus der Situation herausgeholt. Er hatte ein gröberes Herzproblem und wusste, dass er in Kürze abtreten musste. Es hat ihm einen Heidenspaß gemacht, Beatrice mit Altmännersachen zu quälen, wie er seine Wehwehchen nannte. Sie konnte ihren Ekel kaum verbergen.“ Unweigerlich musste Sarah grinsen. „Und das Testament?“ „Naja, Opa wurde nicht verbrannt. Wir sollten das nur glauben. Übrigens genauso wie der Notar und Beatrice. Sie sollten die perfekte Gelegenheit bekommen uns aus dem Weg zu räumen.“ „Das heißt aber dann… das bedeutet, dass er selbst aus dem Grab heraus mit uns gespielt hat als seien wir Marionetten.“ Der alte Groll stieg wieder in Sarah hoch und Ricarda hoffte, dass ihre Mutter ihrem Großvater eines Tages verzeihen konnte. „Nein, das ist nicht wahr. Ich wusste doch Bescheid.“ „Ja, aber…“ „… du hättest genauso gut Bescheid wissen können“, fiel Ricarda ihr ins Wort. Sarah hob beschwichtigend die Hände. „Ist ja gut, ist ja gut. Bleibt nur noch eine Frage offen: wer ist in der Urne?“ Ricarda lächelte verschmitzt. „Kannst du dich noch an diese bescheuerte Töle erinnern, die Beatrice Tag und Nacht in ihrer Handtasche herumgezerrt hat? Der Chihuahua, der schließlich vor ein paar Monaten an Herzverfettung gestorben ist?“ Sarah sah sie ungläubig an: „Das ist Fifi?“ „Naja, jedenfalls das, was von ihm übrig ist.“
46 Codewort: Zeit Reise aus der Zeit
„Hallo, Mutter!“ beugte er sich über das Bett und drückte ihr zärtlich einen Kuss auf die faltige Stirn. Sie schaute ihn mit großen Augen an. Doch kein freudiges Lächeln erhellte ihre Züge, kein vertrauliches Nicken erwiderte seinen Gruß. Bloß Verwunderung spiegelte ihr Gesicht. Verwunderung und distanziertes Fremdsein. Nachdenklich neigte sie ihren Kopf zur Seite und schien zu überlegen, wer denn das sein könne, der sie da besuchte und sich diese Vertrautheit herausnahm. Noch zeigte sich kein Erkennen. Dann, allmählich, wärmte sich ihr Blick, verzog sich ihr Mund zu einem zaghaften Lächeln, kehrte Freude in ihre Züge ein und stammelte sie schwach „schön, dass du gekommen bist!“ Doch bald schon erstarb ihr Lächeln, sanken die Mundwinkel herab und schob sich abweisende Stille zwischen sie. Nach einer Weile seufzte sie und hauchte wehmütig „wo warst du denn so lange? Warum hast du mich denn so lange allein gelassen?“ „Aber ich war doch erst gestern bei dir“, entgegnete er geduldig. Ungläubig runzelte sie ihre Stirn. „Gestern?“ Matt sank ihr Kopf zurück. Ihr Blick ging durch ihn hindurch und verlor sich in einer von den Zimmerwänden nicht mehr verdeckten Weite und verharrte in einer anscheinend freundvolleren Ferne. Nur zögerlich kehrte er dann wieder zurück, als müsste er sich erst mühsam davon befreien. „Warum sagst du so etwas? Das stimmt doch gar nicht.“ Und mit tränenfeuchten Augen setzte sie hinzu „du warst so lange fort. Viel zu lange! Ich habe mir so große Sorgen gemacht!“ „Aber Mutter, ich komme dich doch jeden Tag besuchen, auch gestern und vorgestern, so wie heute“, versuchte er es erneut. Wieder Stille. Doch es war keine freundliche Stille, nicht beruhigend und tröstlich, sondern vorwurfsvoll, wie so oft. Doch plötzlich, hoffnungsfroh, fuhr sie auf „hast du denn unsere Kinder schon gesehen?“ Er schien über ihre Reaktion nicht erstaunt zu sein. Geduldig antwortete er „aber dein Kind bin doch ich! Ich bin dein Sohn, und mein Bruder ist weit fort!“ Ungläubig blieb ihr Blick an seinem Gesicht haften, als wüsste sie nicht, ob er es ernst gemeint oder bloß einen Scherz gemacht hatte. Dann, mit dem Versuch eines schelmischen Lächelns, als spiele sie sein Spiel mit, entrang sie sich „was du bloß immer für Späße machst! Da stehen ja die Buben!“ und schaute dabei zur Seite, den imaginären Kindern freundlich zunickend, die zu ihr gekommen schienen, sie in ihrer Traumwelt zu besuchen.
Sie erkannte ihren Sohn schon lange nicht mehr. Erst waren es nur kurze Phasen gewesen, bloß Erinnerungslücken, die sich auftaten, doch nicht andauerten. Mit der Zeit jedoch blieb das Wiedererkennen immer länger aus. Inzwischen war ihr sein Gesicht oft, allzu oft fremd, und selbst an besseren Tagen schien es für sie nur mehr wie ein Stichwort zu sein für weitere Assoziationen, war seine Ähnlichkeit mit dem längst verstorbenen Mann bloß noch Auslöser von Erinnerungen, ein Startsignal für eine weite Reise, eine Reise in ein Zwischenreich von Erinnerungen und Träumen, worin ihr Mann ihr wieder gegenwärtig wurde und das für sie eine Realität besaß, die nur ihr geschenkt und vorbehalten blieb. Längst Vergangenes vermengte sich dann mit Aktuellem. Umstehende wurden ihr zu einstigen Freunden oder Widersachern. Erinnerungen tauchten auf und formten sich trügerisch zu glückhaft Erlebtem, doch allzu oft auch zu quälenden Trugbildern.
47 Wenn sie schon durch ihre Visionen dem trüben Alltag entrückt war, hätte es ihr der Sohn vergönnt, wenn sie sich in ihrer eigenen Welt wenigstens hätte wohlfühlen können. Freude, ja selbst Glück sollten doch zu dem wohlfeilen Tarif des Imaginären nicht allzu schwer zu bekommen sein. Doch ihr Schicksal erwies sich als knausrig und launenhaft. Ihre Visionen waren nur selten gnädig, ihre Trugbilder nur selten beglückend, und allzu oft fand er ihr Kissen durchtränkt von kummervollen Tränen. Tatsächlich wandte sie sich ihm nun auch jetzt plötzlich mit verfinstertem Gesicht zu. Verflüchtigt hatte sich der Anflug von Schelmerei, die jähe Freude des vermeintlichen Wiedererkennens. Mühsam stemmte sie sich aus dem Kissen hoch und immer wieder durch Schluchzen unterbrochen, bröckelte es von ihren Lippen. „Viel zu lange hast du mich allein gelassen, hörst du? Viel zu lange! Wer weiß, was du in der Zwischenzeit alles gemacht hast! Ganz vergessen hast du mich schon, ganz vergessen, obwohl ich dir doch immer eine gute Frau gewesen bin!“ Was nützte es, wenn er beteuerte, er sei nicht ihr Mann, er sei doch ihr Sohn! Er habe sie doch gar nicht alleine gelassen. Er sei doch auch jetzt da, so wie gestern und vorgestern und all die Tage davor. Doch wirkungslos berannten seine Beteuerungen den Schutzwall ihrer Einbildung. Vergebens blieben seine Beschwörungen, erfolglos sein verzweifeltes Bemühen, sie zu überzeugen. Nur manchmal gelang es ihm kurz, nur allzu kurz, sie zurückzuholen in die Gegenwart. Dann flackerte in ihr zweifelndes Erkennen auf, blickte sie ihn liebevoll und mit mütterlichem Stolz an. Glücklich, ihn an ihrer Seite zu sehen, drückte sie ihm dann vertrauensvoll und innig seine Hand und nannte ihn lächelnd und mit glückstrahlenden Augen ihren Sohn. Doch bald, ach, nur allzu bald, machte sie sich wieder auf die Reise heraus aus der Zeit, die Gegenwart zurücklassend und in ihre eigene Welt eintauchend, in der die Zeit nicht mehr von den Fesseln der Gesetzmäßigkeit gebändigt und nicht mehr der zwanghaften Abfolge von Ursache und Wirkung unterworfen war. Eine Reise in eine Welt, in der wie in einem Zerrspiegel Jahre und Jahrzehnte zu Tagen gestaucht und kurze Episoden zu Jahren zerdehnt waren, in der Kalender und Uhren ihre Bedeutung verloren hatten, eine Reise in eine Welt, in der sich Erinnerungen und Traumbilder zu einem dichten Visionengespinnst verwoben, das ihren Geist wie ein Kokon umhüllte und von der Gegenwart abschirmte. Täglich führte sie ihre Reise weiter weg, Stunde für Stunde, Tag für Tag, Woche für Woche, auf einem Weg ohne Aussicht auf Wiederkehr, der sie immer tiefer hinein führte in den Kokon ihrer eigenen den anderen verborgenen Welt.
Erschöpft hatte sie ihren Kopf wieder in ihr Kissen gebettet. Die Tränen waren ihr versiegt, der Atem hatte sich beruhigt. Stille war wieder eingekehrt. Doch diesmal schien es eine freundliche, eine aufmunternde Stille zu sein. Denn nach einer Weile ließ sie ihre Augen mit neu belebtem Interesse umherschweifen und blickte plötzlich wieder zu ihm, als wäre das eben Erlebte nie gewesen, als wäre sie sich seiner erst jetzt bewusst geworden. Lächelnd im vermeintlichen Erkennen seufzte sie auf, erleichtert, erfreut, ja beglückt, und ihn mit schwacher Stimme begrüßend streckte sie ihm mit einer lange versagt gebliebenen Vertrautheit die kraftlos gewordene Hand hin. „Wie schön, dass du gekommen bist“, mühte sie hervor, „du warst mir immer ein guter Mann“. Und nach einer Pause, „erinnerst du dich noch, wie wir uns kennengelernt haben? Wie wunderschön und aufregend es war, als wir uns das erste Mal getroffen haben und wie verliebt wir waren, damals?“ „Ja“, entgegnete er mit zugeschnürter Kehle. Liebevoll streichelte er ihr über das schütter gewordene Haar und würgte mit versagender Stimme hervor „ja, mein Liebling, es war wunderschön. Wir waren sehr verliebt, damals“. Sie aber strahlte ihn glücktrunken an und bemerkte gar nicht, wie ihrem Sohn die Tränen über die Wangen liefen.
48 Codewort: Fazila Fazila Ihre Bewegungen liefen schon wie von alleine ab. Tische abwischen, Theke einräumen, Kaffeemaschine anstellen, Sessel zurechtrücken. Es war 5:30 Uhr in der Früh. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen – bedacht darauf dabei nicht ihre Schminke zu verwischen. Genervt warf sie den Putzfetzen in die Abwasch und sah einer Horde vorbeistürmender Asiaten nach, die gerade gelandet war. Einige holten sich einen Kaffee zum Mitnehmen bei ihr. Hinzusetzen, dazu hatte nie jemand Zeit. Das Leben läuft immer schneller ab, Pausen haben keinen Platz mehr darin. Sie erlebte dies tagtäglich und das Gefühl beschaffte ihr Unbehagen, sie wurde zunehmend unzufriedener. Es war nicht so, dass sie ihren Job in dem kleinen Flughafencafé nicht mochte, es machte sie bloß nicht glücklich. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie beinahe erschrak, als sie ein Mädchen, es durfte etwa zehn Jahre alt gewesen sein, an einem der Tische sitzen sah. Es trug ein strahlendweißes Kleid mit roten Punkten und lachte sie an, mit einem Lachen, dass sie alles andere vergessen ließ. Noch nie hatte sie hier einen Menschen so glücklich gesehen. „Hey Kleine, wo sind denn deine Eltern?“ Das Mädchen strahlte sie weiter an, ohne zu antworten. Sie versuchte es jetzt mit: „Bekommst du etwas?“ Keine Antwort. Stattdessen grinste die Kleine noch etwas breiter, sogar ihre schokoladenfarbene Haut schien vor Freude zu strahlen. Schön langsam wurde sie ungeduldig: „Na hör mal, eine Antwort wär doch-“ „Ich habe alles was ich brauche, danke. Es ging mir nie besser“ flüsterte sie auf einmal. „Das ist... das ist wunderbar, ja wirklich, aber-“ „Alles in Ordnung mit Ihnen?“ fragte plötzlich eine Männerstimme von hinten. Wie der Blitz für sie herum und sah ihn erstaunt und fragend an. „Ja klar, aber“ – sie deutete hinter sich, aber das Mädchen war verschwunden. „Seltsam“ murmelte sie. „Kaffee, bitte“ orderte der Herr ein wenig schroff. Sie erfüllte ihm den Wunsch wortlos. Er bezahlte und ging. Aber nicht, ohne ihr zuvor noch einen kritischen, vielleicht auch mitleidvollen Blick zuzuwerfen. Das konnte sie nicht genau sagen, für Trinkgeld war das Mitleid jedenfalls nicht ausreichend gewesen. Darüber ärgerte sie sich schon gar nicht mehr. Und nachdem eine Gruppe Amerikaner vorbeigekommen war um Kaffee und Jause zu kaufen hatte sie den Vorfall auch schon wieder vergessen.
Als etwas später schon wieder jemand an einem der kleinen Tische saß stutze sie. Das war ihr noch nie passiert. Es war ein Mann, sie schätzte ihn so um die Dreißig. Sie kannte ihn, zumindest kannte sie Leute wie ihn. Er war einer dieser Businessmen, die ständig irgendwo hinflogen. Sie tranken alle einen doppelten Espresso, in der Annahme, damit die doppelte Leistung erbringen zu können. Sie hielt dies für Utopie. Diese Männer bestellten immer so, als wäre sie ein Automat, auf dem man nur eine Taste zu drücken brauchte. Heute jedoch wirkte dieser hier anders. Müde. Seine Krawatte hatte er aufgezogen, die Ärmel seines Hemdes aufgestülpt, seine Haare waren zerzaust und es sprießte ihm einen Dreitagebart. „Doppelter Espresso?“ fragte sie, vielleicht etwas zu schroff. Er blickte sie verschwommen an. „Nein... nein“ wiederholte er „ich hätte gerne einen Fruchtsaft... ja, das hätte ich gern. Marille, bitte.“ Sie nickte. Als sie ihm seine Bestellung servierte, begann er auf einmal zu sprechen. Sie wusste nicht ob er mit sich selbst redete, oder mit ihr. Da kein anderer Kunde zugegen war blieb sie stehen. Es nervte sie zwar, jedoch fand sie es höflicher zumindest so zu tun, als interessiere es sie, was er zu sagen hatte.
49 „Fünf Jahre ist es her, dass ich das erste Mal auf den Philippinen war. In Cebu. Eine der größten Inseln im pazifischen Ozean. mit einer unglaublichen Anziehungskraft auf Touristen. Dort ragen die prächtigsten Wolkenkratzer-Hotels in den Himmel. Wer das Geld hat, lebt dort wie die Götter auf dem Olymp. „Ich bin Architekt und habe für einen Boss gearbeitet, der genau diese Hotelprojekte plant und umsetzt. Es sollte ein weiteres Luxushotel gebaut werden und ich sollte es entwerfen. Also reiste ich nach Cebu, Man empfing mich dort mit zahlreichen Geschenken und man tischte mir die edelsten Speisen auf. Die Arbeit lief prächtig. Ich wusste, ich würde mir nach diesem Auftrag nie wieder Sorgen um Geld machen müssen. Ich war überzeugt, generell nie wieder Sorgen haben zu müssen. Ich würde reich werden und könnte mir die Welt kaufen, wenn ich das wollte. Allein dieser Gedanke befriedigte mich so, dass es mir sogar egal war, als meine Freundin mich verließ weil ich keine Zeit mehr für sie hatte. Sie hatte ja Recht, ich hatte weder Zeit, noch Platz für sie in meinem Leben. Immerhin verbrachte ich die meiste Zeit auf den Philippinen“ er atmete tief ein und zog dabei eine vielsagende, schmerzhafte Grimasse. „Eines Tages“ fuhr er fort „habe ich einen Ausflug mit meinem Leihauto gemacht. Ich habe die Zeit übersehen und mein Navi ging kaputt. Ich fuhr stundenlang planlos durch die Gegend, bis ich schließlich aufgab und beschloss, die Nacht im Auto zu verbringen. Ich hatte keine Ahnung wo ich war, im Scheinwerferlicht konnte ich nichts als eine endlose Weite erkennen. Erdhügel und provisorisch zusammengebaute Hütten. Ich vermutete, dass hier wohl schon lange niemand mehr gewesen war. Am nächsten Morgen wurde ich von aufgeregten Schreien geweckt. Jemand rüttelte an meinem Wagen. Ich war ganz benommen, als ich erwachte. Ich traute meinen Augen nicht. Da waren hunderte von Menschen, hauptsächlich Kinder. Sie lebten hier mitten im Müll. Die Erdhügel waren keine Erdhügel, sondern Müllberge. Die Hütten waren aus Schrottresten zusammengebaut, die Menschen hier wohnten darin. Plötzlich hörte ich ein donnerndes Geräusch und sah einen Bulldozer mit voller Geschwindigkeit heranfahren. Er beachtete die Menschen hier gar nicht, fuhr Hütten nieder, ohne Rücksicht. Da, vor mir saß ein kleines Mädchen, es war vielleicht fünf Jahre alt, es spielte im Dreck. und der Bulldozer steuerte geradewegs auf sie zu. Ich sprang aus meinem Auto und riss die Kleine an mich. Ein paar Augenblicke später machte der Bulldozer eben diese Stelle dem Erdboden gleich. Ich war fassungslos. Nur ein paar Kilometer weiter lockt man Touristen mit den luxuriösesten Angeboten und hier leben – nein, sterben - die Einheimischen im Dreck. Es sind rund dreitausend Menschen, die hier in den Hütten aus Abfall leben, um für einen Hungerlohn die letzten Reste recycelbarer Materialien herauszuklauben. Glühende Hitze versengt ihnen dabei die Haut, Kinder werden in brennenden Müllbergen schwer verletzt und überall steigt hochgiftiger Qualm in die Luft, der ihre Lungen nach und nach zersetzt. Die Kleine in meinen Armen hatte zuerst geweint, doch nun hatte sie sich an mich geschmiegt und atmete ganz ruhig. Sie hatte Gefallen an meinem Lederarmband gefunden. Ich setzte sie auf den Boden, öffnete den Verschluss des Armbandes und reichte es ihr. Noch nie zuvor habe ich einen Menschen so dankbar und glücklich gesehen, wie dieses kleine Mädchen. Sie strahlte, wie die Sonne. Ich fragte nach ihrem Namen. „Fazila“ antwortete sie mit heller Stimme. „Wir werden und wieder sehen kleine Fazila und ich werde dich hier rausholen, versprochen“ stammelte ich in brüchigem Cebuano. Ich wusste nicht, ob sie mich verstanden hatte, aber sie sah mich mit ihren großen Augen an und drückte sich dann ganz fest an meine Brust. Noch am selben Tag habe ich meinen Job gekündigt. Als ich unter der Dusche stand war mir zum Weinen zu Mute. Dieses Erlebnis hatte mir die Augen geöffnet. Und ich wusste, dass meine Tränen nichts bewirkten, also beschloss ich zu Handeln. In den folgenden Jahren habe ich eine Hilfsorganisation auf die Beine gestellt, die die armen Leute mit Nahrung versorgt und um höhere Löhne kämpft. Ich lernte immer mehr über die Müllkinder von Cebu. Fast alle waren Waisen und kaum eines erreichte das Erwachsenenalter. Als ich selbst wieder auf die Mülldeponie zurücklehrte waren bereits zwei Jahre vergangen. Doch was ich da erlebte, werde ich niemals vergessen: Kaum war ich aus dem Auto ausgestiegen, da kam schon ein Mädchen auf mich zugelaufen. Es lachte schon von Weitem, als es mich sah. Sie musste so sieben Jahre alt gewesen sein.
50 Einen Meter vor mir blieb sie stehen, sie strahlte mich an und streckte mir ihren Arm entgegen. Auf dem Ärmchen baumelte ein, von der enormen Hitze vergilbtes Lederarmband – mein Lederarmband. „Fazila?“ fragte ich. Sie quiekte vor Entzücken los und warf sich an mich. In diesem Moment erinnerte ich mich an mein Versprechen sie hier rauszuholen. Und ich beschloss das Mädchen, das mir nur durch diese zwei Begegnungen so sehr ans Herz gewachsen war wie nie ein Mensch zuvor zu adoptieren. Denn auch sie hatte keine Familie mehr, sie war ganz allein. Ich wollte ihre Familie sein. Denn so sicher ich war, dass sie mich brauchte, so war es nichts gegen die Sicherheit, dass ich sie brauchte. Sie, Fazila, das Mädchen mit dem glücklichsten Lachen der Welt. Ich wollte ihr ein Leben fern von Müll und Gift bieten. Von da an reiste ich regelmäßig nach Cebu. Lebte dort tageweise mit den Menschen im Müll, erlebte ihren Horroralltag. Für die reichen Leute existieren die Menschen hier offiziell gar nicht. Dies zeigt sich auf grausamste Art und Weise darin, dass etwa vierzig Kinder pro Jahr von den Bulldozern einfach überrollt werden. Die Menschen – kann man sie überhaupt Menschen nennen? – die in den Bulldozern sitzen, tun so, als wären hier alle unsichtbar. Sie regen nicht eine Miene, wenn sie wieder einmal ein Kind zu Tode fahren. Ich fühlte mich wie in meinem schlimmsten Albtraum. Ich wollte diese Ungerechtigkeit stoppen, doch es lag nicht in meiner Macht. Ich tat, was ich konnte, es fühlte sich nie so an, als wäre es genug. Nicht einmal annähernd. Dazu kämpfte ich um das Adoptionsrecht für Fazila. Es war ein harter Kampf, in dem ich weder auf Unterstützung noch auf Verständnis stieß. Doch letztendlich hatte ich es geschafft. Drei Jahre hat es gedauert, doch ich hatte es geschafft! Darum bin ich vor zwei Tagen wieder nach Cebu geflogen. Ich habe ihr hier in meiner Wohnung ein Zimmer eingerichtet und ein frisches Kleid für die Reise mitgebracht. Als ich dort ankam, fiel mir mein Mädchen in die Arme. Es war ein besonders heißer Tag. Ich konnte die Hitze in der Luft flimmern sehen. Sie wälzte sich wie eine zähe Flüssigkeit und erschwerte mir den Atem. Sie weinte Freudentränen, als sie erfuhr, dass sie nun endlich mit mir kommen dürfe. Ich überreichte ihr das neue Kleid. Sie empfing es mit Jubelgesang und lief in die Hütte um sich umzuziehen. Ich wartete im Wagen auf sie, denn wir mussten los. Unser Flug-“ „Heee!!! Wirdma do bedient a, oda wos is los?“ schnautzte sie ein bestialisch nach Alkohol stinkender, heruntergekommener Typ an. Sie erschrak. So sehr war sie von der Erzählung des Mannes gebannt gewesen. „Natürlich“ stammelte sie „was darf’s denn sein?“ „A Bier, aba schnö!!!“ Sie musste die Luft anhalten, um den Gestank einigermaßen ertragen zu können. Sie reichte ihm die Flasche, er gab ihr das Geld „passt scho so“ blaffte er sie an und ging. Schnell lief sie zurück zu dem Herrn, der gerade aufgestanden das Geld für seinen Saft, den er nicht einmal angerührt hatte auf den Tisch gelegt hatte und gehen wollte. Sie fragte ihn: „Und wo ist denn Fazila jetzt? Stellen Sie sie mir vor?“ Ihr war eigentlich nicht ganz klar, warum er ihr all das erzählt hatte. Sein Blick wurde schlagartig tieftraurig, seine Augen weiteten sich und füllten sich mit Tränen. „Nachdem sie sich umgezogen hatte kam sie aus der Hütte gelaufen und...“ er stockte, rang mit der Luft und mit dem Worten. „Der Bulldozer“ presste er heraus „hat sie einfach niedergefahren. Einfach so. Mein Mädchen. Und sie sah so hübsch aus. Ihre schokoladenfarbene Haut in dem strahlendweißen Kleid mit den roten Punkten.“ Jetzt stieg es ihr heiß auf, Schwindel überfiel sie. Tränen quollen nun auch aus ihren Augen und sie fiel dem Fremden einfach um den Hals und schluchzte: Es geht ihr gut, ich weiß es, es ging ihr nie besser!“ „ - Sie hat es mir gesagt“ dachte sie bei sich.
51 Codewort: Folgendes Stellen Sie sich Folgendes vor
Felix macht es. Gerlinde und Konstantin machen es auch. Und seit die Familie Großschädel ein Auto hat, machen sie es auch. Ich glaube, so ziemlich jeder macht es. Der eine gern‘, der andere weniger gern‘. Und obwohl wir uns immer über die positiven Aspekte und schönen Seiten unterhalten, über die Ruhe, die Gelassenheit und die entspannten Stunden sprechen, haben wir in Wirklichkeit nicht nur Gutes in unseren Köpfen, wenn es um das Folgende geht: Urlaub. In der beinharten Realität sieht die Sache dann schon etwas anders aus. Gestresste, hochrote Köpfe schleppen Taschen zum Auto unter Verwendung nicht jugendfreier Wörter bei gefühlten 50 Grad mitten im August. Man könnte jetzt natürlich damit argumentieren, dass man ja nicht unbedingt zu dieser heißen Jahreszeit in Urlaub fahren muss. Also drehen wir die Uhr einfach 5 Monate nach vor: Gestresste, hochrote Köpfe schleppen Taschen UND Ski zum Auto unter Verwendung ganz und gar nicht jugendfreier Wörter bei minus 10 Grad mitten Im Jänner. Es ändert sich wenig! Kennen Sie folgende Phrasen? „Sind wir schon da?“ „Das Autoeinräumen ist mein Job! Weg da!“ „Nie hilft mir jemand bei Autoeinräumen!“ „Du? Den Reisepass hast eh du ein’packt, oder?“ Es gäbe noch so vieles. An dieser Stelle die Liste in ihrem Geiste ergänzen… Aber genug der Schwarzmalerei. Natürlich handelt es sich hierbei um: 1) 2) 3) 4)
Trifft immer zu Trifft meistens zu Trifft selten zu Trifft nie zu
Zutreffendes bitte ankreuzen! Urlaub kann auch schön sein. Einfach nur schön. Ruhige Momente mit der Familie oder eben endlich einmal ohne Familie, ein weißer Strand, eine weiße Piste und so weiter. Es gibt unendlich viele Formen und die verschiedensten Vorstellungen, was für uns Erholung bzw. Urlaub ist. Der eine liegt gerne den ganzen Tag am Strand, will nichts hören und nichts sehen - außer sein kühles Blondes. Der andere will eben genau alles höre und alles sehen. Für ihn steht Urlaub nicht zwingend im Zusammenhang mit Erholung und Nichtstun, er möchte viel mehr einfach nur weg, ausbrechen und die Welt sehen. Natürlich wurden hier die beiden Extrema aufgezeigt, aber im Prinzip spielen sich die Urlaubsvorstellungen der gesamten Menschheit in diesem Rahmen ab. Ich selbst würde mich vermutlich zu dem zweiten Typus zählen, wobei ich das kühle Blonde eigentlich auch gerne hätte. Vermutlich gehöre ich zu einem „Urlaubs-Mischtyp“. Mal so, mal so! Fragen Sie sich doch selbst, zu welchem Typen Sie gehören. William Shakespeare hat einmal gesagt: „Wenn das ganze Jahr lang Urlaub wäre, wäre das Vergnügen so langweilig wie die Arbeit.“ Und damit hat er vollkommen Recht. Ich glaube, man kann das Phänomen Urlaub erst so richtig genießen, wenn einem die Arbeit bis zum Hals steht, wenn man einfach raus möchte aus den vier Wänden oder wo auch immer man sich den ganzen Tag aufhält. Das Gefühl der Enge steht dem Gefühl der Freiheit gegenüber und genau das macht es aus. Dafür nehmen wir auch die rauchenden Köpfe und familiären Diskussionen in Kauf. Nicht umsonst schließen wir manchmal einfach die Augen und malen in unseren Köpfen eine imaginative Urlaubswelt. Stellen Sie sich Folgendes vor…
52 Codewort: Lumin Durch die Augen des Herzens
Phil erwachte durch das gleichmäßige Ticken der Küchenuhr. Langsam rückte die Welt der Träume in den Hintergrund und es blieb das ihm so vertraute Gefühl von Leichtigkeit und unerklärlichem Mysterium. Er dehnte und streckte sich, machte ein bisschen Yoga und meditierte über seinem Atem. Die viele Lektüre der letzten Zeit über Yoga, Hinduismus, Buddhismus, Tantra und Taoismus und die ihnen eigenen Weisheitslehren und heiligen Schriften hatte zu einer merklichen Veränderung in seinem Lebensstil geführt. Was sich vor allem in einem Mehr an Achtsamkeit sich selbst gegenüber äußerte. Sport, Yoga, Meditation, gesündere gehaltvollere Ernährung, mehr Zeit in der Natur, vor allem allein und vielleicht die wichtigste Erkenntnis aus diesen Weisheitsschätzen des Ostens: Wisse, wer du bist. Tat vam asi, sieh das alles bist du, wie die Hindus es nennen. Alles ist gewebt aus dem selben Stoff, durchdrungen von der einen Lebenskraft. Gott, Allah, Tao, Prana, Chi, alles Wörter die ein Phänomen bezeichnen, das wir wahrnehmen, aber nicht beschreiben können, weil es zur Erfahrung des Mysteriums Leben gehört, das sich in seiner subjektiven Natur jeder adäquaten Beschreibung durch Worte entzieht. Er verließ das Haus ohne Frühstück und machte sich auf den Weg zur Straßenbahnhaltestelle. Er hatte Frühschicht, was zu dieser Jahreszeit bedeutete, dass er das große Glück hatte, der Sonne bei ihrem täglichen Sieg über die Dunkelheit der Nacht beizuwohnen. Seine Seele labte sich an diesem grandiosen Schauspiel und tief in diesen Anblick versunken, kam er an die Haltestelle. Er musste sich zusammen nehmen um nicht laut los zu lachen. Es war lebendige Satire, ein Witz erzählt vom großen Komödianten Leben. Alle standen sie, brave Bürger die sie waren, mit verschlafenen Gesichtern aufgereiht an der Haltestelle. Die Pointe an diesem Witz, den das Leben gerade nur ihm erzählte, war, dass sie alle gen Westen blickten. Hinter ihnen explodierte der Himmel in den Ehrfurcht gebietentsten Farben und Formen, zeigte schillernd wie freudvoll das Leben ist, aber sie sehen nicht hin. Es wirkte wie eine Karikatur auf die Misere unsere Tage. Wunder geschehen und wir sehen nicht hin, sind zu beschäftigt damit diejenigen zu sein, die man von uns erwartet zu sein. Brav erzogen und ergeben in unser Schicksal. Mit einem Schmunzeln im Gesicht und mit etwas Abstand blieb Phil stehen, sah noch eine Weile dieser lebendigen Metapher zu, lauschte noch den Lobliedern der Vögel, als dann die Straßenbahn kam und sie alle, zahm wie von der Hand gezogenes Mastvieh, sich ihre Plätze suchten. Die Straßenbahnfahrt, die ihm früher mehr notwendig, als nötig war, war ihm nun Feldarbeit in seinen Forschungen über das menschliche Bewusstsein und hatte ihn schon zu mancher Lebensweisheit und Einsicht geführt. „Jeden Tag, so dachte er, „fahren wir mit derselben Gleichgültigkeit zu unserer 8 Stunden Sklavenschicht, teilen denselben Raum und dieselbe Zeit mit so vielen verschiedenen uns an sich so ähnlichen Menschen, begegnen uns, aber erkennen uns nicht. Schauen zu Boden, aus dem Fenster, auf unsere Smartphones, schirmen uns ab vor der Unausweichlichkeit echter Begegnung mit Stöpseln in den Ohren, tun alles Nötige um einander Auszuweichen. Würden wir einander wahrhaft begegnen, uns erkennen, müssten wir zwangsläufig alle Mauern, die wir gegen die Welt gebaut haben, niederreißen und müssten uns eingestehen, dass die Welt nicht per se schlecht ist und dass, die Wut, die Angst, der Zorn und das Misstrauen, das wir spüren, aus unserem Inneren kommt. Echte Begegnung: 2 unsterbliche Seelen die einander erkennen. Namasté. Wenn die Liebe die ich für mich empfinde, dieselbe ist mit der ich mein Gegenüber erfahre, dann bröckelt der Mörtel in den Mauern des Egos.“ In derlei Gedanken und Überlegungen verstrickt stieg Phil bei seiner Haltestelle aus und ging leichten Schrittes in Richtung der Backstube seines Vertrauens. Köstliche Topfentascherl! „Zuckergebäck am Morgen“, dachte er, „Hildegard von Bingen würde sich im Grab umdrehen.“ Aber er konnte den Leckereien dieses Begnadeten und Herzensguten Menschen einfach nicht widerstehen. Nach dem obligatorischen Morgen-Small-Talk und dem Austausch barer Münze gegen ein bisschen Himmel ging er getrieben vom Knurren seines Magens zu seiner Arbeitstelle. Die Schiebetür zum Shop öffnete, er lächelte ein „guten Morgen“ an seine Kollegen und ging in den Aufenthaltsraum zum wohl meist gebrauchten Arbeitsgerät in jedem österreichischem Betrieb. Der Kaffeemaschine. Vor kurzem hatte er im Radio gehört, dass eine Tasse Kaffee am Morgen das Nervensystem ausreichend stimuliert um uns den ganzen Tag auf einem moderaten Stresslevel zu halten. „Nicht zu viel Stress und nicht zu wenig“, sinnierte er, „genau richtig damit die Drohne fleißig und verantwortungsbewusst ihre Arbeit verrichtet.“ Hämisch grinsend gönnte er sich seine Dosis der Volksdroge Koffein. Legalität oder Illegalität einer Substanz waren, so wusste er durch eigene Erfahrung, nichts
53 als politische Willkür. So schön und erstrebenswert die Vorstellung einer drogenfreien Gesellschaft auch sein mag, ist sie letztlich in unserer Zeit gerade durch Verbote nicht zu erreichen. Das Beharren auf einer Bestrafungspolitik ist eine Träumerei, eine gedankliche Masturbation gutmeinender Moralisten. Der Mensch erweitert sein Bewusstsein mit Hilfsmitteln seit er die Steppen und Wälder dieses Planeten bevölkert. „Narrische Schwammerl“, Peyote Kakteen und das südamerikanische Ayahuasca um die Pforten der Wahrnehmung zu öffnen, Cocablätter, Ephedrakraut, Tabak, Kaffee, schwarzer oder grüner Tee um die Synapsen in Schwung zu bringen, Hanf und Mohn um Schmerzen zu stillen. Nicht die Droge ist gefährlich, der Umgang den der Mensch damit hat ist es. Kennt man seinen eigenen Schatten nicht, seine eigene Dunkelheit, wird der Gebrauch schnell Missbrauch. Man kaschiert und verschleiert dann mit dem Rausch die Dinge, derer man sich nicht bewusst sein will. Begräbt sie unter einer dicken Schicht rauschhafter Dissoziation. Die Uhr sagte Arbeitsbeginn, gerade als er seinen letzten Bissen dieser topfenen Köstlichkeit mit einem Schluck Milchkaffee herunter spülte. Er ging über die Treppe vom Aufenthaltsraum zur Verkaufstheke und stieß in zwei seiner Kollegen die gerade in eine hitzige Diskussion verwickelt zu sein schienen. „Was bedeutet schon Besitz?“, fragte Max mehr rhetorisch und wischte sich eine Strähne seines grün gefärbten Irokesen aus der Stirn, der zusammen mit den 14-Loch Stiefeln und der Bomberjacke ein harmonisches Ganzes bildete. „Ist es gerecht, dass wenige viel haben und viele wenig? Wo bleibt die Gleichheit und die Brüderlichkeit unter all der Freiheit? Macht mich viel Geld gleicher als andere?“ Rene unterbrach seinen philosophischen Monolog, weil das Wort Geld in ihm eine Erinnerung triggerte. „Geld! Hör mir auf mit Geld! Ich hab mir gestern auf Youtube einen Bericht über das weltweite Bankenkartell angetan. Und über diese Schlangen, diese Gierigen, die Geld, das an sich etwas Neutrales und Virtuelles ist, benutzen um auch noch das Letzte aus dem Elend der Welt zu pressen, gibt es nichts Nettes zu sagen. Es ist wie ein Schlag ins Gesicht, wenn man bedenkt, dass einige Wenige auf dem Rücken Vieler ihr Vermögen um noch ein, zwei Nullen erweitern. Eine Milliarde, 10, 100! Was ist der Unterschied? Gottlose gierige Ar…!“ Den Rest verkniff er sich, weil gerade ihr Werkstättenleiter um die Ecke bog. Rene und Max waren, wie Phil, Gestrandete im Auffangbecken eines AMS-Beschäftigungsprojekts. 9 Monate geregeltes Malochen für arbeitsentwöhnte Jugendliche. Mit Mitte 20 waren sie keine Jugendlichen mehr, aber man sah ihnen, und das galt auch in gewisser Weise, für alle anderen Mitgestrandeten, etwas Unreifes noch nicht Ausgegorenes an. Alle waren sie Unikate, Prototypen des Lebens, die, hundert Jahre zu früh geboren, Dinge vom wollten die es noch gar nicht gab und dadurch an die Ecken und Ränder der Gesellschaft kamen. Seit Phil am ersten Tag auf dem Kalender einer Reifenfirma, der gegenüber der Verkaufstheke hing, das delphische „Erkenne dich selbst“ las, wusste er, dass das Leben ihm hier einen Spiegel vorhielt. Jedes Mal, wenn er sich in Gedanken über seine Kollegen erging, über ihre Unreife, über ihre allzu leichtfertigen Vorurteile, über ihre Unsicherheiten und Verblendungen, kam die schmerzliche Erkenntnis wie ein Blitz durch sein Bewusstsein. Nicht an ihnen mochte er die Unreife, die Vorurteile und die Unsicherheiten nicht, an sich selbst mochte er sie nicht. Nicht sie waren Unreif und Unsicher, er war es. Das Leben ist hart, aber herzlich zu seinen Auserwählten und so kam es, dass die Arbeit die er zu verrichten hatte, gemessen mit dem was er verdiente, ein Kinderspiel war. Die Tage vergingen meist im Flug, die körperliche Arbeit beschränkte sich auf das Putzen und Nachfüllen der Regale und wenn nichts zu tun war, was oft vorkam, durfte er seine Bücher oder Zeitung lesen. Ein Geschenk des Himmels, wie er es nannte. Und weil es ihm so sehr Geschenk war, fühlte er sich verpflichtet, nicht nur in der Arbeit sein Bestes zu geben, sondern auch den Menschen gegenüber. Er sah es als eine Übung in Demut und Mitgefühl. Es geschah oft, dass durch das offene Ohr das er für Geschichten des Lebens hatte und durch seine mitfühlende nicht verurteilende Art, die intimsten Geschichten hörte, und manchmal von völlig Fremden ihm die tiefsten Leiden geklagt wurden. Eine seiner Kolleginnen kam zur zweiten Schicht und wirkte beim Betreten des Shops schon wie ein Häufchen Elend. Er wusste, dass es unausweichlich war, wusste dass die nächste halbe Stunde geprägt sein wird vom Klagelied des verminderten Selbstwerts, aber er tat es trotzdem, fragte und war der Sprengsatz für den kontrollierten Abgang der Selbstmitleid Lawine. „Wie geht´s?“, lächelte er ihr entgegen. „Beschissen. Gestern haben mir meine Eltern gedroht, dass sie mich auf die Strasse setzten, wenn ich nicht bald einen Job bekomme, oder zumindest studieren gehe“, sagte sie mit bebender Stimme. Man konnte die aufgestauten Konflikte mit den Eltern in der Luft um sie herum richtig spüren. Sie war eine wunderbare Frau, jung, in voller Blüte, mit einem Allgemeinwissen wie ein Lexikon, aber durch zu behütende Eltern und den Wunsch dazu zu gehören, zu sehr orientiert an der Meinung anderer über sie, wodurch in ihrem Inneren der Same des Selbstwerts nie zum Keimen kam. „Du hast doch die Matura? Wieso gehst du nicht studieren? Wär sicher besser als 40 Stunden Sklavenarbeit die Woche“, warf Phil ein. „Aber was soll ich denn studieren? Ich kann ja nix, ich glaub es wär das Beste, wenn ich einfach abhau!“, jammerte sie mit einem Blick der zugleich hilfesuchend und trotzig war „Weglaufen hat noch nie etwas gelöst!“, entgegnete Phil. „Du liebst doch Englisch, du hast sogar Tolkien im Original gelesen, wär das nix?“
54 „Ja, Englisch hab ich mir auch schon überlegt“, sagte sie und blickte auf ihre Schuhe, wie ein schüchternes Kind. Er erkannte plötzlich, dass sich alle Demütigungen und Erfahrungen der Abkapselung, die sie je in ihrem Leben erfahren hatte, in diesem Augenblick manifestierten. Jedes Mal, wenn sie Ermutigung gebraucht hätte und Erniedrigung erfahren hatte, jedes Mal, wenn diese kalte Welt, ihr Zuneigung und Liebe verwährt hatte, jedes Mal, wenn jemand in seiner Unbewusstheit seine Wut oder Angst an sie weitergab, zog sich ein kleiner Teil von ihr zurück und ließ sie unvollständig und unbewusst ihrer eigenen Fähigkeiten. Umso mehr er diese karmischen Zusammenhänge verstand, umso mehr wurde ihm klar wie wichtig es ist, sich jedes seiner Worte bewusst zu sein. Ein unbewusstes Wort zur falschen Zeit und man legt die Weichen für eine falsche Selbstwahrnehmung, die zu allen möglichen Unglücken führen kann. Er sah in diesem Moment der Erkenntnis förmlich vor seinem inneren Auge, wie jede Generation ihr Leid und ihre Unbewusstheit an die Nächste weitergab. Sah Väter wie sie ihren Söhnen Leid zufügten, weil ihnen von ihren Vätern Leid angetan wurde und diese von ihren Vätern misshandelt wurden, usw. Die einzige Möglichkeit diese Kette zu durchbrechen, und das wusste Phil, war sich selbst zum Endpunkt zu erklären. Jedes Wort, jeder Gedanke musste auf die Waagschale gelegt werden, und musste die drei Pforten der Bewusstheit durchschreiten (Ist es wahr? Ist es nötig? Ist es nett?), bevor es das Licht der Welt erblicken durfte. Es ging noch eine Weile hin und her und mit jeder Ermutigung und mit jedem Tropfen seiner spezial Medizin (schlechte Wortwitze über die man selbst am lautesten lacht), wurde das Jammern weniger und man konnte hie und da ein Lächeln auf ihrem Gesicht aufblitzen sehn. Der Tag verging ohne weitere gravierende Vorkommnisse und als die Uhr Feierabend schlug machte sich bei Phil die Vorfreude auf den bevorstehenden Abend breit. „Freitag, Tag der Freya“, dachte er am Weg zur Haltestelle. Wie treffend für einen Tag an dem unsere Kultur sich selbst so rauschhaft zelebriert, die Fesseln gesellschaftlicher Zwänge aufgibt, sich frei tanzt und trinkt, für ein ekstatisches Erleben ihrer selbst. Eine Erfahrung der eigenen Schönheit, jenseits von Angst und Schuld. Er fuhr nach Hause, duschte, aß eine Kleinigkeit und machte sich aufgeregt, wie ein Schuljunge am letzten Tag vor den Ferien, auf zu einem kreativen Freitagsmeeting. Was nichts anderes bedeutete, als gute Freunde, Bier, Joints und Techno. Eine Mischung die einen auch noch die letzten Sorgen vergessen lässt. „Gute Freunde sind das Fundament eines glücklichen Lebens“, philosophierte er in Gedanken am Weg zur Wohnung des Freundes wo das Meeting stattfand. Immer, wenn Phil in seiner Vergangenheit der Sonne zu nah kam, waren es seine Freunde, die ihm wieder halfen die Balance zu finden. Manchmal durch Ermahnung, manchmal durch liebevolle Zuwendung und manchmal einfach dadurch das sie ihn von seinem hohen Ross stießen und seine Zweifel und Sorgen nicht gelten ließen, sie mit einem gehörigen Lachen für nichtig erklärten. Großartige Menschen waren es, die er seine Freunde nennen durfte, dachte er stolz. Juristen, Journalisten, Philosophen, Ärzte, Musiker, Dichter, begnadete Sportler und Lebenskünstler, Freigeister und Querdenker. Menschen, die gern am Leben waren und durstig das Wasser des Lebens tranken, um zu wachsen, und um der Welt ihren eigenen Stempel aufzudrücken. Etwas, das hatte er an seinen Freunden und an den Leuten die er „seinen Stamm“ nannte, beobachtet, war neu an ihnen, war neu im Vergleich zu der generellen Auffassung von Leben, die noch die Generation unserer Väter oder Großväter teilte. Wir haben keinen Krieg erlebt und werden alles in unserer Macht stehende tun um weiteres Leid durch politische Unvernunft zu verhindern. Wir sind so gut gebildet und haben freien Zugang zu jedweder Information, so dass wir manipulative Machtstrukturen erkennen und uns nicht mehr vom Blendwerk der Falschinformation täuschen lassen und unsere eigene Meinung bilden. Wir sind politisch, gehören aber keiner Partei an. Wir sind spirituell, folgen aber keiner Religion. Wir lieben unser Land und unsere Kultur, sind aber offen für alles Neue. Wir feiern uns selbst, sind aber keine Narzissten. Wir wissen um die Vorzüge des Wohlstands, verkaufen aber unsere Ideale nicht. Wir setzten auf Fortschritt, vergessen aber unsere Wurzeln nicht. Wir sind eine Generation, die vom Leben alles will, aber nicht um jeden Preis. Wir sind die, die gelernt haben aus den Fehlern der Vergangenheit und nicht eher ruhen können bis diese Welt endlich frei und gerecht ist, und geeint im Namen der Brüderlichkeit. Wir sind keine Heiligen, haben aber verstanden, dass Individuation ein universeller Prozess in einem subjektiven Rahmen ist und für niemanden gleich gilt. „Wie lange wird es wohl noch dauern bis zum Paradies auf Erden?“, überlegte er und dachte dabei an die Worte von Max Planck. „Eine neue Wahrheit setzt sich nicht durch, indem ihre Gegner belehrt werden, sondern vielmehr dadurch, dass sie aussterben und die neue heranwachsende Generation gleich mit der Wahrheit vertraut ist.“ Er kam an die Haustür, läutete und als er beim Surren des Türöffners zur Klinke griff, las er auf einem Sticker, der in Kopfhöhe auf der Hauswand klebte, in schwarzen Lettern auf weißem Grund, wie als Antwort auf seine stille Frage, „Life is a Journey“.
55 Codewort: Berta Reise durch die Erinnerung Fragte man Berta, meine Cousine, nach ihrer Passion, ihrer größten Sehnsucht, ja, Erfüllung ihres Lebens, würde sie ohne zu zögern „reisen“ angeben. Nun ist es ja so, dass es für den gelernten Mittelstandseuropäer ja geradezu eine heilige Pflicht geworden ist, sich möglichst oft in möglichst ferne Länder zu begeben. Ein Statussymbol, gewiss. Aber weit mehr als das. Man kann sich der uneingeschränkten Bewunderung sicher sein, wenn man beiläufig ins Gespräch einflicht, dass man im Vorjahr auf den Komoren, aber im Vergleich mit den Seychellen, ja, doch… Und schon entspinnt sich eine ebenso angeregte wie inhaltslose Unterhaltung, da alle schon Da -und Dortgewesenen genau die gleiche Packagetour mit ebendemselben All -inclusive- Badeurlaub gebucht und konsumiert hatten. Dennoch haftet diesen Nichtsdem- Zufall- überlassenden Ausbrüchen aus der ganz persönlichen kleinen Seifenblase der Duft von Abenteuer an, von Weltläufigkeit, von Aufgeschlossenheit, ja Verwegenheit gar. Anscheinend hat der Aufbruch in die Welt, den früher nur Wenige wagten und oft tatsächlich mit dem Leben bezahlten, nichts von seinem geheimnisvollen Glanz verloren. Wobei die Menschen in früheren Zeiten nicht wussten, wie und wann und ob sie ihr Ziel erreichen würden und was sie dort erwartete. Das kann man heute ja vorab schon alles abklären und googlen. Wie jedoch die wirtschaftliche und politische Situation in ihren Sehnsuchtsdestinationen aussieht, wie die Menschen dort leben, wie der gesellschaftliche Konsens dort ausschaut, davon haben die modernen „Reisenden“ interessanterweise kaum mehr Ahnung als ihre Gefährten zu Beginn der Neuzeit. Manchmal ist gar nicht ganz klar, in welchem Pool man jetzt genau steht mit der Bacardi- Cola in der Hand. Um aber zu Berta zurückzukommen. Berta ist nicht reich. Sie arbeitet hart, um sich die Erfüllung ihrer Träume leisten zu können. Verständlicherweise will sie etwas haben für ihr Geld. So beginnt Etappe eins. (Ich vergaß zu erwähnen, dass so eine Reise in drei Etappen abläuft). Bereits im Spätherbst, wenn die feuchtkalten Nebeltage aufs Gemüt und die Heizkostenrechnung zu drücken beginnen, führt Bertas liebster Weg ins Reisebüro oder besser in alle Reisebüros, die in ihrer kleinen Stadt aufzufinden sind. Denn mehr als zwei, drei Kataloge nimmt man ja nicht mit. Zumindest nicht auf einmal. Schon in diesen bunt und fröhlich bebilderten Räumen kommt es zu den erfreulichsten Gesprächen mit anderen vor den Unbilden unseres Klimas Schutzsuchenden und Berta geht beflügelt nach Hause, wo sie dann die langen Winterabende mit dem Durchschmökern der Kataloge verbringt, gestärkt von einem Glas Wein oder einer Schale Kakao. Reiseberichte im Fernsehen runden die Suche ab, sie will ja nicht unbedarft in fernen Ländern unterwegs sein. Seit Berta das Internet entdeckt hat, muss sie des Öfteren zum Chiropraktiker, da das Vergleichen der Hotels und Anlagen und das Verfolgen der Links, das den User in einen schwindelerregenden Strudel von Möglichkeiten hineinreißt, sie viele Stunden an den PC fesselt. Aber was wiegt ein schmerzender Halswirbel gegen ein glückliches Gemüt. Bis ins Frühjahr hinein werden dann vier oder fünf Ziele in die engere Auswahl gezogen, shortlisted sozusagen. Selbstverständlich bilden diese Wunsch-und Traumreisen, diese Qual-der-Wahlziele, diese Sehnsuchtsorte den Mittelpunkt jeden Zusammentreffens. Es besteht so nie eine Verlegenheit bezüglich Gesprächstoffs. Ich persönlich habe ja ein äußerst ambivalentes Verhältnis zum Reisen. Berichten zu lauschen stößt bei mir durchaus auf Interesse, weckt auch hin und wieder Neugier in mir und unvorsichtigerweise lasse ich mich doch wieder zu diesem gesellschaftlichen“ Must“ überreden. Obwohl ich weiß, was folgt. Es ist immer das Gleiche und dennoch bin ich jedesmal überrumpelt von meinen nicht-kognitiven Kräften. Wo andere Menschen Vorfreude empfinden, wenn sie auf Reisen gehen, wächst in mir die Panik proportional zum Herannahen des Abreisetermins. Alle möglichen Szenarien, die ein Stornieren der Reise erforderlich machen, bauen sich verlockend vor mir auf. Sei es eine Unwetterwarnung im Umkreis von 200 km unseres Zieles, sei es, dass mich plötzlicher Zahnschmerz befällt (der genauso jäh wieder verschwindet) oder jegliche Art körperlicher oder seelischer Unbilden. Kurz vor unserer jüngsten Reise, als meine betagte Mutter über Unpässlichkeit klagte, keimte freudige Hoffnung in mir auf. Nicht, dass ich den Tod der alten Dame herbeisehnte, aber so ein Begräbnis ist doch ein triftiger Grund, Eigeninteressen –wie Urlaubsreisen – hintanzustellen. Nun, ich ließ mich von Bertas Enthusiasmus breitschlagen. Möglicherweise hegte ich die Hoffnung, das eine derart glühend Begeisterte etwas von dem Gefühl auf mich übertragen könnte.
56 Wir entschieden uns für eine Individualreise mit dem PKW.( Ich gestehe, dass ich eine Scheißangst davor habe, mich in eine dieser Blechbüchsen zu zwängen und dann stundenlang 10 000 m über der Erde auf den Absturz zu warten). Berta und Hugo, ihr Angetrauter, kannten diese Art des Reisens noch nicht und wir konnten uns für Ferienanlagen nicht erwärmen. Wir wählten als Ziel die Bretagne, die wir in drei Tagesreisen ansteuern wollten und von einem Ferienhaus aus uns nach Lust und Laune der Kultur, der Landschaft oder dem Dolce-far-niente widmen wollten. Schon der Morgen der Abreise begann mit einer Überraschung. Berta war unpässlich, hatte Kopfschmerzen. Schlecht geschlafen. Ich hatte vollstes Verständnis für sie, ja, ich war ihr dankbar, dass sie uns eine Pause gönnte von ihrer tendenziös penetranten Guten Laune. Fühlte ich mich doch selbst, als ob ich in die Fremde ziehen müsste mit ungewissem Ausgang. Doch ich war das gewohnt, machte gute Miene, ging es tapfer an. Ich wusste, mit jedem Kilometer würde meine Anspannung geringer werden. Berta döste mit Paracetamol versehen vor sich hin. Für diesen ersten Tag hatten wir uns eine recht lange Strecke vorgenommen, um einmal ein gutes Stück hinter uns zu bringen. Jause und Getränke waren griffbereit. Berta litt. Geduldig drehte Hugo die Klimaanlage im Fünf-Minuten-Takt hinauf und hinunter,wechselte den Radiosender, hielt stündlich für eine Clopause. Zugegeben, unser mitgebrachtes Wasser hatte inzwischen die Temperatur eines Thermalbeckens und der Kaffee an der einen oder anderen Raststätte jene, die unser Wasser wünschenswerter Weise hätte haben sollen. Ich weiß: wer auf Reisen geht, muss mit Überraschungen rechnen. Bisweilen auch mit unliebsamen. Nicht umsonst nannten die Menschen früher die Fremde „ellende“. Nun, von dem sind wir ja heute weit entfernt. Zumindest in Mitteleuropa. Dennoch kann einen so ein kalter Kaffee ganz schön aus der Fassung bringen. Endlich in Annecy angelangt, irrten wir noch eine ganze Weile umher, ehe wir unser Quartier fanden (das war noch vor Navis Zeit- obwohl , das gäbe eine schöne eigene Geschichte). Berta begab sich erschöpft ins viel zu weiche Bett im viel zu kleinen Zimmer. Erleichtert gaben wir drei Übriggebliebenen uns dem Urlaubsfeeling hin, genossen (ein viel zu zähes) Steak und tranken (viel zu warmen) Rotwein in einer (viel zu lauten) Kaschemme, waren überdreht und ausgelassen vor Müdigkeit (und viel zu viel Wein). Wir hofften inständig, dass sich Bertas Urlaubsfreude einstellen würde, sobald wir die anstrengende Anreise hinter uns hätten, aber es sollte nichts daraus werden. Das Ferienhaus, das mir charmant erschien, unterzog sie zuallererst einer peinlichen Reinigung, außerdem war es zu alt und zu hellhörig. Die wunderschönen Strände enttäuschten, da sie nicht zum Baden einluden, weil das Wasser a) zu kalt und b) meist nicht da war (Tidenhub), wenn man es brauchen wollte. Auch die Sonne hätte auf Teneriffa sicher mehr hergegeben. Womöglich käme Berta nach drei Wochen ohne Bräune heim und müsste sich dumme Witze anhören. Überhaupt verbrachte Berta den Großteil des Urlaubs damit, Vergleiche anzustellen und in ihrer Erinnerung gab es immer einen Ort, der interessanter, ein Steak, das zarter, eine Unterkunft, die eleganter, einen Kaffee, der cremiger gewesen war. Irgendwann hörten wir auf, Berta zuzuhören und erlebten einen abwechslungsreichen und unterhaltsamen Urlaub. Auf der Heimreise klagte sie, dass sie noch nie derartige Strapazen im Urlaub auf sich hatte nehmen müssen und dass sie jetzt mindestens noch zwei Wochen Erholung nötig hätte, die sie jedoch nicht bekommen könne, da die Arbeit gleich wieder losginge. Wir hatten irgendwie ein schlechtes Gewissen, ihr all das zugemutet zu haben. Glücklicherweise vergingen nach dieser Reise ungefähr zwei Monate, bis es ein Wiedersehen gab mit Berta und Hugo. Die Fotos und Urlaubsfilme waren fertiggestellt und entwickelt und anhand derselben wollten wir unser Abenteuer noch einmal Revue passieren lassen. Ich war ein wenig verwundert gewesen, dass Berta auf dieses After-Holiday- Review drängte. Ich hatte mir auch schon einige Sätze überlegt, um sie ein wenig über diesen verpatzten Versuch hinwegzutrösten. Doch Berta war bester Laune, sprühend und funkelnd vor Energie, Gastgeberin at her best. Meine Verwunderung nahm zu, als sie nach einem Willkommenstrunk sogleich ihre Urlaubsfotos hervorholte, unendliche an der Zahl, die leichter zu verkraften waren, da wir zumindest wussten, wovon sie erzählten. Ansatzweise wussten. Keine Wolke schien diesen Urlaubshimmel getrübt zu haben. Als ich in einer Erholungs- und Clopause zaghaft anmerkte, dass meines Empfindens nach diese Reise für sie doch eher enttäuschend und belastend gewesen sei, sah sie mich mit einer derartigen Verständnislosigkeit an, als hätte ich ihr gerade eine absonderliche sexuelle Orientierung angedichtet. Hugo zwinkerte, fein lächelnd, in meine Richtung. „Du solltest Berta hören, wie sie unseren Bekannten von dieser phantastischen Erfahrung erzählt. Das absolute Highlight ihres bisherigen Reiselebens. Alle wollen ihren nächsten Urlaub in der Bretagne verbringen.“
57 Ich war verwirrt, hielt jedoch an mich. Während wir dann noch als Draufgabe den Videofilm meines Mannes betrachteten, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die schönen Bilder, allesamt wie aus dem Katalog, wir, stets fröhlich winkend, lächelnd, plantschend, Cocktails schlürfend. Berta hatte alles Widrige, Mühselige, alle Stolpersteine, die das Dasein wie uns zum Trotz bereit hält, rückstandslos aus ihrem Gedächtnis gestrichen und ihre Erinnerung mit goldenem Lack aufpoliert. Mir fiel sogleich ein Spruch von Gabriel Garcia Marquez ein, den ich unlängst gelesen hatte: “Nicht, was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.“ Berta stand in großer literarischer Tradition. Ich war ehrlich ein wenig neidisch auf sie. Jedenfalls stand Phase drei nichts mehr im Wege. Fotos entwickeln, in unzählige Alben kleben. Neuerdings hatte Berta gelernt, Fotobücher mithilfe des PCs zu erstellen – Berta ist eine sehr fortschrittliche und tatkräftige Frau. Das eröffnet neue, ungeahnte Möglichkeiten, die Erinnerung zu modifizieren, euphemistisch zu modellieren, es entstehen regelrechte Kunstwerke, die dann den staunenden Freunden und Besuchern vorgeführt werden. Diese Phase füllt die Wochen und Monate vollkommen aus , bis die Tage wieder empfindlich kürzer werden und der Gang ins Reisebüro den Kreis wieder schließt. Nach dem Urlaub ist vor dem Urlaub. Als Berta bei unserem Weihnachtsurlaub die Sprache auf einen weiteren gemeinsamen Urlaub brachte, erschrak ich allerdings. Glücklicherweise hatte mein Mann die Geistesgegenwart und meinte, wir hätten schon mit anderen Freunden etwas ausgemacht (die erst gefunden sein wollen). Wir wollen lieber die alte Berta, die wir kennen, die begeisterte Weltenbummlerin, die von ihren Reisen lebt und zehrt das ganze lange Jahr bis auf diese zwei, drei lästigen Wochen im Sommer.
58 Codewort: Reiseberta Das „Rundum – sorglos – Paket“ Wir sind uns doch alle einig, dass Urlaub wichtig ist. Wichtig für unser Seelenleben, wichtig zur Entspannung. Weg von daheim, dem Alltag entfliehen, neue Eindrücke sammeln. Den Tag miteinander leben und erleben, dem öden Nebeneinander den Kampf ansagen. Weg von Handys, die unsere wichtigen Gespräche unterbrechen und weg von Zwangsbesuchen bei den Verwandten, die diese Gespräche erst gar nicht aufkommen lassen. Der Satz „Müssen wir schon wieder bei deiner Mutter essen?“, kommt in weiter Ferne nicht aufs Tablett. Keine Besuche von Freunden, die sich stundenlang bedienen lassen, einen gut über den Durst trinken und letztendlich einen Riesenberg an schmutzigem Geschirr – und ansonsten nur einen schlechten Eindruck hinterlassen. Weg von zu Hause, wo der Garten nach Aufmerksamkeit schreit- wie wir alle wissen, sprechen die Pflanzen ja zu uns – und auch das Innenleben unseres Wohnbereichs nach liebevollen Streicheleinheiten mit dem Staubtuch dürstet. Wo die Gourmetküche zur Schnellküche und Liebe schleichend zu Hass wird. Die Werbewirtschaft hat für diese Fälle des ganz normalen Familienwahnsinns eine gut wirksame Masche im Ärmel. Sie zeigt uns Bilder, sie lässt uns an imaginären Gesprächen teilhaben. Auf riesigen Plakaten, in Prospekten – und natürlich im Fernsehen können wir Paare im Urlaub betrachten. Absolut entspannte Paare im Urlaub. Sie lächeln sich liebevoll und innig über Rotweinkantern zu, schweigend ins Gespräch vertieft. Wenn der Mann doch etwas sagt, hängt die Frau verzückt an seinen Lippen, die makellos weiße Zähne entblößen. Als I Tüpfelchen sehen sie großartig aus, mit einer dezenten, wunderschönen Bräune, die durch diese strahlendweißen Zähne und ein leichtes, weiße Accessoire so richtig zur Geltung kommt. Und dann kommen die Kinder ins Bild, diese wunderhübschen entzückenden Gestalten, die einträchtig mit strahlenden Gesichtern zu ihren Eltern gelaufen kommen. Ein Mädchen, ein Junge, wie in scheinbar jeder österreichischen Durchschnittsfamilie. Das Mädchen trät ein helles Kleidchen, blütenrein und ihre perfekt gelegten Löckchen unterstreichend, der Junge freche Bermudas und ein schelmisches Lächeln im Gesicht. Sie küssen liebevoll ihre Eltern, um sich danach sofort wieder ihrem Sandburgenbau am nahegelegenen Sandstrand zu widmen. Die Burg sieht aus, als würden sie bereits seit drei Tagen ohne Unterbrechung daran arbeiten. Wie in scheinbar jeder österreichischen Durchschnittsfamilie. Wenn man gerade Hausarbeit verrichtet und das sieht, ist man versucht, zu glauben, zu hoffen, zu buchen. Man sieht das glückliche Ende des Alltagshorrors in greifbare Nähe gerückt und entscheidet sich. Die einen für den Urlaub im In-, die anderen für den im Ausland. Die einen für die Strandidylle mit Lächeln und Rotwein, die anderen für Familienhotel mit Kinderbetreuung und ebenfalls Lächeln und Rotwein. In jedem Fall entscheidet man sich für das „Rundum Sorglos Paket“. Eherettung und Kindererziehung inbegriffen. Ist doch das Familienidyll bereits am Bröckeln, Arbeit und Stress fordern und ein Termin beim Eheberater scheint unausweichlich. Die liebevollen, begehrenden Blicke vom Beziehungsbeginn sind müden, leeren Blicken gewichen. Das „Ich liebe dich“ – früher sehnsüchtig gehaucht, kommt stereotyp oder gar nicht mehr über die Lippen. Die Menschen, gefangen im Hamsterrad der Zeit, schauen nicht mehr links, nicht mehr rechts. Sie laufen weiter in ihrem ganz persönlichen Rad. Wundern sich, ärgern sich, machen auch nicht vor Schuldzuweisungen halt. Und buchen. Sie buchen den versprochenen Traumurlaub. Rotweinkanter und innigen Blick inklusive. Zurück kommen sie als quasi geschieden Leute. Quasi, weil sie im Traumurlaub keinen Scheidungsrichter finden konnten. Gelogen hat die Werbung dennoch nicht. Es gibt sie tatsächlich, diese glücklichen Menschen mit ihren innigen Blicken und dem traumhaften Lächeln. Gelogen wurde also nicht. Nur ein kleiner Nachsatz „Über Risiken und Nebenwirkungen sprechen Sie bitte mit ihrem Arzt oder Paartherapeuten“, wurde vergessen.
59 Denn vor einem solchen Lächeln und Blick sollte intensiv an der Beziehung gearbeitet werden. Der Urlaub arbeitet nicht für sie! Ganz im Gegenteil: Da aus dem gewohnten Umfeld herausgeholt, kann es passieren, dass sich ungeliebte und der Partnerschaft abträgliche Verhaltensmuster intensivieren, weil sie entweder erschwert durchzuführen sind oder aber in viel leichtere, plausiblere Bahnen geführt werden. Die Mutter, die zu Hause ständig an ihren Kindern herumzippelt, wird im Urlaub nicht damit aufhören, nur weil es eine Kinderbetreuung gibt. Sie wird möglicherweise komplizierte Wege finden, sich weiterhin vermeintlich unentbehrlich zu machen, um danach wieder froh seufzen zu können:“ Ich bin zu gut für diese Welt und alle nützen das aus.“ Der Mann, der zu Hause gerne ein Gläschen zu viel trinkt, wird im Urlaub gleich noch ein Glaserl mehr trinken, um die „wohlverdiente Ruhe“ so richtig zu genießen. Man gönnt sich ja sonst nichts! Choleriker regen sich furchtbar über jedes Haar in der Suppe und nicht vorhandene Fehler auf und Kinder, die als „lästig“ gelten, werden auch den „Rundum- sorglos –Kiddy-Club“ meiden und weiterhin an ihren Eltern kleben. Paare, die keinen Sex mehr haben, werden im Urlaub von Kopfschmerzen und Durchfällen geplagt und jene, welche unter Gesprächsproblemen leiden, haben nach dem zweistündigen Griechenlandflug einen jetlag, der sich bis zum Rückflug zieht. Wohin die Reise also auch geht, wir kommen zwangsläufig bei uns selber an. Das alles ist in der Werbung nicht enthalten. Muss es auch nicht. In Eigenverantwortung haben wir uns in unsere jeweiligen Situationen katapultiert, in Eigenverantwortung können wir diese verändern. In kleinen Schritten. Leerlauf statt Vollgas, Gespräche statt Fernseher, Lachen statt sturer Ernsthaftigkeit. Ich- Botschaften statt Schuldzuweisungen. Akzeptanz, Freiheit und Respekt statt eingezwängter Angst. Ab und an innehalten und einfach – nichts!- tun. Um wieder zu erkennen, was man denn eigentlich gerne tun möchte. Nicht muss. Möchte! Wieder bei sich selbst anzukommen, ohne weit gereist zu sein. Dann darf man auch reisen. Dann sollte man reisen! Dann ist das Reisen eine wunderbare, bereichernde Angelegenheit. Kerzenschein, Rotweinkanter und inniger Blick inklusive.
60 Codewort: Davinci Pokhara
Der Tag ging fast schon zur Neige, als wir in Pokhara ankamen. Verspätete Monsunregen der vergangenen Tage hatten den Boden noch einmal so stark aufgeweicht, dass die Minibusse die Bergstraßen wie auf Schmierseife hinauf- und hinunterschlitterten und es höchstwahrscheinlich nur der üblichen Überbesetzung zu verdanken war, dass die Wägen tiefer in der Spur lagen und es zu keinen Unfällen kam. Gleich bei der Ankunft wurde der Bus von einer Unzahl von Menschen gestürmt, sicherlich waren die Sitze wie üblich mehrfach vergeben worden und jeder versuchte sofort und rasch vor den anderen einen zu ergattern. Wir wurden mit Sack und Pack kräftig hinausgedrängt und konnten das deutschsprachige Pärchen, das sich zweier unsrer Sitze bemächtigte, gerade noch nach ihrem Quartier fragen. "Birendra." Er Dreadlocksknoten über der Stirn, sie mit bunten Seidenschals kaum bekleidet. "Vierte Straße links, dann zweites Haus rechts. Wir haben auch ein Willkommensgeschenk hinterlassen", riefen sie uns durch das Fenster etwas schläfrig zu und grinsten. Wir fanden das Häuschen in einem hübschen kleinen Garten. Wir fanden auch die klebrig-dunkelbraunen Kugeln auf der Fensterbank. Wenn auch vielleicht beste Mustang-Qualität, so reizte uns Sinnerweiterndes ganz und gar nicht. Wir ließen es dort liegen. Hinter dem Haus der See. Als wir am nächsten Morgen auf der Suche nach einem Frühstück das Ufer entlanggingen, kamen Kinder auf uns zugelaufen und streckten uns Hände voller kleiner, gelber Pilze entgegen: "Mushrooms, very cheap!" – "Gute Idee", meinte Marie und kaufte ein paar Handvoll. "Da machen wir uns Omelettes. Mit Butter und Brot und etwas Wein haben wir gleich ein Mittagsmahl." Zum Weintrinken kamen wir nicht mehr. Gleich nach den letzten Bissen hielten uns gewaltige Farbrauschzustände umklammert. Furiose, gigantische Regenbögen mit flammenzackigen Rändern fauchten von rechts und von links, kämpften mit Farb-Flashes von hinten, von vorne, von unten und oben. Bei Marie und Ulla wirbelten sie bis zum Abend. Sie lachten, als ich leichenblass am Frühstückstisch erschien. "Na und?" – "Noch immer", brachte ich gequält heraus, "die Zacken", und verschwand nach einigen Schluck Tee gleich auf mein Zimmer. Ulla riet mir zu Valium und besorgte es mir auch. Am nächsten Tag war dann der Spuk vorbei. Und mit ihm meine Angst, den Farbenrauschpiratensender unter meiner Schädeldecke nicht mehr loszuwerden. Die Angst, das Zickzackspektakel fortan in meinem Hirn zu haben. Die Angst, dass grelle Lanzen in Grün, in Violett und Rot und Gelb und Blau auch weiterhin mein Denken torpedieren. Noch immer ein bisschen angeschlagen, schickte ich Ulla und Marie alleine auf Erkundungstour. Ich ging zum See, setzte mich ans Ufer und gab mich ganz dem Anblick einer prächtigweißen Stute hin, die in einiger Entfernung am Wasserrand friedlich graste. Der See lag tief und schwer in dunklem Grün, in dem sich die Gipfel der Himalaya-Ausläufer spiegelten. Man hatte uns gesagt, dass das Wasser nicht zum Baden sei. Ein Parasit. Ob dies auch der Grund war, wieso die weiße Stute nach ein paar Stunden plötzlich angeschlagen wirkte und einen aufgedunsenen Bauch zu haben schien? Dass ihr am frühen Nachmittag plötzlich die Hinterbeine einknickten und sie zur Seite kippte? Kaum lag sie dann im Gras, glitt ein erster Geier mit mächtig ausladenden Schwingen vom Himmel, ließ sich neben der Stute nieder, riss ihr die Bauchdecke auf. Sie lebte noch, als ein zweiter, ein dritter, eine ganze Geiersippe ihr mit scharfen Schnäbeln Hautfetzen in Bändern vom Körper riss. Sie schien sich selbst dann noch zu bewegen, als sie ihr die Weichteile heraushackten. Ein grausig-faszinierendes Spektakel, das mich so lange in Bann hielt, bis der letzte Geier mit weit ausgebreiteten Flügeln und blutigen Knochen in den Krallen gegen den Himalaya zog.
61 Nur der kahle, fleisch- und augenlose Schädel, Teile des Skeletts und Teile des einst weißen Fells blieben am Ufer zurück.
62 Codewort: Natur Abenteuerreise zu den Braunbären nach Finnland Seit ich denken kann sind Bären meine Lieblingstiere, der Teddybär, die Bären im Zoo, die Bären in Fernsehdokumentationen, in Filmen. Geschichten, Büchern. Nachdem im Jahre 2006 der junge Braunbär Bruno alias JJ1 in Bayern erschossen wurde, beschloss ich Bärenschützerin zu werden, verfasste das Kinder- und Jugendbuch Bruno, der Bär, um ihn ein Denkmal zu setzen. Danach fasste ich einen Plan: mir diese Braunbären ganz nah und in freier Natur anzusehen. Ich begann zu recherchieren und eine Reise zu den Braunbären Kareliens in Finnland an der russsischen Grenze zu planen. Ort Zeitpunkt und Flug wurden organisiert und ich trat meine erste Reise zu den schönen Tieren an. Spannung, große Ewartungen und Freude, diesen starken großen Braunbären bald gegenüberzustehen zu dürfen, kribbelten in meinem ganzen Körper und hielten mich ganz fest in Bann. Die Reise begann in Graz, führte über Frankfurt nach Helsinki, stieg dort in ein Kleinflugzeug um und wurde zu einem kleinen Flughafen geflogen. Dort erwartete mich ein Mitarbeiter des Bärencamps ¨C ein Wildhüter. Nach einer intensiven Einführung und Verhaltenslehre gegenüber dieser scheuen sehr sensiblen Tierart, ging ich in Begleitung des Wildhüters am nächsten Tag am späten Nachmittag los. Wir gingen fast eine Stunde hinein in die Wildnis - dorthin wo die Bären noch frei leben dürfen. Mein Guide erklärte mir vieles, zeigte mir die Fährte und die Losungen der Tiere. Ich wurde zu einem Hyde gebracht- nahe eines kleinen Seeufers. Der Begleiter verabschiedete sich und warnte mich davor ja nicht aus dem kleinen Holzverbau, welcher mitten in der Wldnis stand herauszugehen, nicht zu husten zu reden noch sonstige Geräusche zu machen. Denn dann würde ich die scheuen Tiere verscheuchen. Mein Herz klopfte und ich wurde immer aufgeregter. Zwei Stunden war ich nun schon im Versteck und nichts regte sich. Stille Stille überall. Ab und zu ein Vogel der sich auf einen kahlen Ast setzte ¡K. nichts sonst. Nach etwa drei Stunden, ¡K..eine Bewegung aus dem nahen Wald, von fern sah es aus als ginge da jemand hin und her- dann der Moment der Momente der mein Herz ganz schnell und freudig schlagen ließ. Er trat auf die Lichtung. Der erste Braunbär meines Lebens, in freier Natur, stellte sich meinen bewundernden und liebevollen Blicken. Juhu, wollte ich schreien, tat ich natürlich nicht..Der Bär ging den See entlang fraß, schaute um sich, ganz vorsichtig - seine Snne immer hellwach nach allen Richtungen blickend. Dann drehte er sich um -ich dachte mir nein bitte nicht, nicht weglaufen, denn ich war vom Anblick wie erstarrt. Als würde er mich spüren, ging er nun ganz langsam und leise auf den Ort zu an dem mein Versteck war. War er etwa neugierig geworden? War es der fremde Geruch?.....Bis zum Hals klopfte mein Herz. Er näherte sich und kam ganz nah an mein Versteck heran. Ich war unglaublich aufgeregt und sah beim kleinen Fensterchen welches nur einen Vorhang hatte hinaus, schob ganz vorsichtig den Vorhang zur Seite, hörte nichts, sah nichts, ich streckte meinen Kopf etwas ins Freie. Und dann ¡K.......stand er vor mir , höchstens zwei Meter von mir entfernt. Ich war so überrumpelt, dass mir der Atem wegblieb, doch seinen Atemzug spürte ich. Ja, jetzt war dieser Augenblick gekommen. Aug in Aug mit den für mich schönsten Tieren der Welt. Er schaute mich an- stellte sich auf die Hinterbeine, richtete sich ganz groß auf und sah mir direkt in die Augen. Ich war fasziniert , lächelte ihn an und hauchte leise: “Du bist schön ,stark und unglaublich lieb, danke, dass ich dir begegnen darf.“ Seine bernsteinfarbigen Augen blickten geradewegs in meine. Ich wusste es sofort - dies ist unser Augenblick. Gütig, ja so war sein Blick. Gütig und neugierig. Langsam stellte er sich wieder auf alle Viere, ging noch einen Schritt auf mein Versteck zu und trottete gemächlich am Fensterchen vorbei ¨C sodass ich ihn hätte angreifen können. Doch der Respekt und die Vernunft hielten mich davon ab. Zufrieden brummelnd ging er von dannen. Da ich die Nacht über im Versteck bleiben mußte, sah ich im Mondlicht dieses Abends noch viele Bären die spielten, rauften, sich am Gras und den Preiselbeeren labten und eine Mutter mit drei Jungen. Einige dieser Gesellen/Gesellinnen gingen auch sehr nah an meinem Versteck vorbei. Ein Erlebnis war schöner als das andere. Doch dieser erste Bär der sich mir näherte, kam nicht wieder und ich sehnte mich danach ihm doch noch einmal zu begegnen. Doch als der Morgen graute und die Bären verschwanden ¨C sie sind hauptsächlich nachtaktiv, wurde ich vom Guide geholt. Voller Enthusiasmus erzählte ich diesem Finnen mein Erlebnis ¨C nichtsahnend dass in Kürze eine höchst wundersame Begegnung stattfinden würde.
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Nachdem mich der Wildhüter aus meinem Versteck geholt hatte ging ich mit ihm zu meinem Quartier des Bärencamps zurück um einige Stunden zu schlafen. Am späten Nachmittag machte ich mich auf um Preiselbeeren (Cranberry) zu pflücken. Die Wälder dort waren voll mit diesen herrlichen Früchten ¨C die ja auch die Braunbären liebend gerne fressen. Stundenlang pflückte ich diese herrlich dunkelroten Beeren. Ab und zu kam mir schon der Gedanke, was tun, wenn plötzlich ein Braunbär vor mir auftauchen würde- doch ich besann mich auf die Worte des Guides: Immer Geräusche zu machen, ein Liedchen zu trällern, mit einem Stöckchen Holz auf Bäume klopfen ¨C also sich einfach bemerkbar zu machen. Nun dämmerte es schon und ich wußte es ist höchste Zeit zurückzugehen. Ich richtete mich auf und hörte ein Knacken- einige Meter vor mir trat ein Bär aus dem Gebüsch. Nein, dachte ich mir was nun? Ich war sehr erschrocken- denn damit hatte ich nicht gerechnet. Ich blieb reglos stehen. Der Bär richtete sich auf, witterte mich, atmete laut und brummte. Starr blieb ich stehen - davonlaufen durfte ich nicht, also blieb ich erstmal starr stehen und dann begann ich langsam rückwärts zu gehen und ließ ihn nicht aus den Augen. Es zuckte mir durch den Kopf ¨C so und wenn er nun zum Angriff übergeht? Dann werde ich mich tot stellen. Mich hinlegen und die Hände über meinen Kopf legen. Er schaute zu mir und ich sah seinen Blick ¨C es war der Bär von gestern. Er schnaubte und ließ mich nicht aus den Augen. Ich hatte großen Respekt und ich geb es auch zu -etwas Angst, dennoch lächelte ich ihn an und flüsterte leis:“Hallo mein Freund Bär“ und hielt seinem Blick stand. Dann ging er in die Vierbeinstellung, drehte sich um und trottete davon -blickte nochmals zu mir zurück, grummelte, schnaubte, ging gemächlich seinen Weg weiter und labte sich an den Beeren. Nachdem er aus meinem Blickfeld verschwunden war, ging ich raschen Schrittes in das Bärencamp zurück. Überglücklich, diesem schönen Wildtier ein zweites Mal begegnet zu sein ¨C und vor allem, dass er ein freundlicher Geselle war, dem ich begegnen durfte. Denn es ist so wie bei uns Menschen. Es gibt unter den Braunbären: Draufgänger, Angreifer, Schlaue, Zaghafte, sehr Scheue aber auch sehr Behutsame. Ich hatte anscheinend das Glück auf meiner Reise ins Land der Braunbären, einem sehr behutsamen Bären zweimal begegnet zu sein. Dafür danke ich!!!
64 Codewort: Ankommen Ganz sicher ankommen Frankreich. Ganz sicher. Vor ihrem geistigen Auge malte C sich aus, wie sie in einem französischen Städtchen – sicher irgendwas mit „Saint“ – samstags über den Gemüsemarkt schlendern würde. Um abends mit diesen schwarzgelockten, dunkeläugigen Jungs bei Vin rouge über Sartre zu diskutieren. Ob C nach sechs Monaten vor lauter „Üs“ und „Ös“ diesen Schmollmund á la Amélie bekommen würde? Nachdenklich strich sie sich über die Lippen, während sie versuchte, Professor Peltins Kommentare zu entschlüsseln. Ein rotes Meer über Cs in französische Form gebrachten Gedanken zu den Kommunalwahlen in Paris. „Jeder Satz muss anders beginnen“, „falsche Zeitform“ oder auch einmal ein simples „Non!“ Wieso tat man sich das an? Auch diese Frage würde nach sechs Monaten in Frankreich wohl ein Ende haben, wenn C mit fließendem Französisch im Gepäck aus ihrem Auslandssemester nach Hause zurückkehren würde. Schmollmund inklusive. Ostküste. Ganz sicher. C sah sich schon in Miami an der Strandpromenade spazieren. Hauptsache warm, denn C hasste Kälte und Schnee. Konnte man nichts machen, wenn einen diese Franzosen nicht haben wollten. Und so eine Kurve im Lebenslauf –Studium der französischen Sprache/Auslandssemester in den USA – würde sicher für Würze in späteren Bewerbungsgesprächen sorgen. „EU-Sanktionen“ – C schnaubte an ihrem Schreibtisch, an dem sie sich durch Einreisebestimmungen und Visa-Anträge quälte. Immerhin: Die Amerikaner wussten meistens nicht einmal, wo Österreich genau lag und konnten daher wohl auch keine Sanktionen erteilen. Auf ihrer letzten USA-Reise war C mit der Frage „Austria? Is this the country next to Pakistan?“ konfrontiert worden. Überhaupt, was ging es sie an, wenn ihre Mitbürger eine fragwürdige Partei an die Spitze wählten und ihr Heimatland international im Winkerl stehen musste? Und was hatte das mit ihrem eigenen Auslandssemester zu tun? Auch diese Fragen würden sich in Wohlgefallen auflösen. Spätestens, wenn sie von der Ostküste der USA zurückkehren würde. Neuseeland. Ganz sicher. So ein Auslandssemester an der Westküste der USA konnte einem ganz schöne Kontakte weltweit bringen. Für so ein amerikanisches Dörfchen mit 8.000 Einwohnern – davon 7.000 Studenten – eigentlich gar nicht schlecht. Als sie sich mit ihrer neuseeländischen Studienkollegin R Anfang Mai durch den Schneesturm in Richtung Supermarkt gekämpft hatte, hatte R endlich eine Einladung ins Land der Kiwis ausgesprochen. Vermutlich trug auch die kalte Luft der Rocky Mountains dazu bei, dass sich C bereits von einem Fjord zum nächsten schippern, mit Delfinen schwimmen und über heidekrautbewachsene Hügel wandern sah – was C jetzt brauchte, war Natur. Bloß keine Wolkenkratzer und Menschenmassen. Neuseeland würde auch sprachlich kein Problem darstellen, denn nach sechs Monaten USA würde C fließend zurechtkommen. Wohingegen sie jeden Gedanken an die französische Sprache verdrängte. C zählte in der French Class, die sie alibimäßig an ihrer amerikanischen Universität besuchte, zu den besten Studenten, doch empfand sie dies als keine große Leistung: Derzeit war der Stoff der sechsten Klasse einer österreichischen AHS dran. Aber diese Sorgen würden sich in Luft auflösen, wenn C in Kürze neuseeländischen Boden betreten würde. Peru. Ganz sicher. Aber zuerst musste C diese Schriftzeichen entziffern lernen – konnte ja nicht sein, dass sie nicht einmal das Wort für „Toilette“ kannte. Immerhin herrschte jetzt Gleichstand zwischen ihren Französischund Englischkenntnissen, denn keine der beiden Sprachen half ihr hier weiter. Dass die Japaner gleich drei verschiedene Schriftsysteme verwendeten, machte die Sache auch nicht einfacher. Genauso wenig wie die Tatsache, dass sie aus Gründen der Höflichkeit jede Frage mit „Hai“ („Ja“) beantworteten – auch wenn die Antwort eigentlich „Nein“ lauten müsste. Auf Cs Frage, ob der Weg links oder rechts zu ihrem Hotel führte, war zwei Mal ein gelächeltes „Hai“ gekommen. C war in Tokio gelandet und damit der Einladung ihrer Studienkollegin H gefolgt, die hier mittlerweile als Englischlehrerin arbeitete. R hatte am Ende des gemeinsamen Auslandssemesters etwas von „troubles at home“ gemurmelt und war nach Hause auf die Südhalbkugel verschwunden – mit Cs Reiseplänen im Gepäck. Während sich C mit tausenden einkaufenden Japanern über einen der diagonalen Zebrastreifen Tokios schob, malte sie sich bereits aus, wie sie durch das Sonnentor in Machu Picchu schreiten würde. Peru stand schon länger auf ihrer Liste. Beim Gedanken, dass sie schon bald ein echtes Weltkulturerbe betreten würde, rückte die Peinlichkeit mit den Toilettenschuhen bereits weiter in die Ferne. C hatte vergessen, ihre Toilettenschuhe beim Verlassen des stillen Örtchens auszuziehen und war mit den hellrosa Schlappen an den Füßen an ihren Restauranttisch zurück gekehrt. Die Reaktionen der japanischen Gäste reichten von echtem Entsetzen bis hin zu unverhohlener Belustigung. Wo war hier die berühmte japanische Höflichkeit geblieben? Egal, wenn C einmal in Peru war, würden die Toilettenschuhe Vergangenheit sein. Costa Rica. Ganz sicher. C saß im Flugzeug mit Kurs auf die Dominikanische Republik und freute sich auf das Dschungelabenteuer. Wer brauchte schon Peru? Zu teuer, außerdem hatte sie kein Permit für Machu Picchu
65 ergattert. Welche Tiere würde sie in Costa Rica wohl aus nächster Nähe sehen? Ozelot? Nasenbär? Tapir? Und Papageien! „Meine Damen und Herren, wir müssen leider bei der nächsten Möglichkeit notlanden“ meldete sich plötzlich eine Stimme aus dem Lautsprecher. „Da ein Passagier wiederholt auf der Toilette geraucht hat und dies ein zu großes Sicherheitsrisiko darstellt, werden wir bei der nächsten Gelegenheit landen. Stellen Sie sich auf Puerto Rico oder die Bermudas ein.“ Nach einer Schrecksekunde, die das Wort „notlanden“ ausgelöst hatte – warum neigten Piloten immer zu solch einer dramatischen Wortwahl? – lehnte C sich zurück, das erste Mal seit gefühlten Jahren. Die Titelstory des Bordmagazins im Netz auf der Rückenlehne ihres Vordermannes lautete „From here you can go anywhere“. Ganz sicher.
66 Kennwort: Smaragd Jakobs große Reise Jakob Sumann hatte lange gewartet, ehe er den befreundeten Internisten aufsuchte, denn er war heilfroh, wenn er einen weiten Bogen um Krankenhäuser und sonstige ärztliche Einrichtungen machen konnte. Als seine Beschwerden aber immer schlimmer wurden, hatte er nicht länger gezögert und einen Termin vereinbart. Obwohl er mittlerweile 75 Jahre alt war, hatte er in seinem Leben höchstens fünf Mal einen Arzt benötigt und sich fast immer bester Gesundheit erfreut. Neben offensichtlich guten Genen war dieser für ihn durchaus erfreuliche Zustand vermutlich auch darin begründet, dass er immer danach trachtete, sich gesund zu ernähren, auf regelmäßige Bewegung in der frischen Luft achtete und dem Alkohol nur mäßig zusprach. Ein nicht unwesentlicher Vorzug war überdies, dass er mit einem außergewöhnlich heiteren Wesen gesegnet war und selbst schwierigen Situationen positive Seiten abgewinnen konnte. Seine größte Erfüllung fand Jakob jedoch zweifellos in seiner Liebe zu Annette, mit der er 51 Jahre sehr glücklich verheiratet gewesen war, bis jener schicksalhafte Tag kam, an dem in einem Bruchteil von Sekunden ihre innige Gemeinschaft auf schreckliche Weise endete. Ein betrunkener und mit weit überhöhter Geschwindigkeit fahrender PKW- Lenker hatte Annette beim Betreten eines Schutzweges im Ortsgebiet erfasst und dabei tödlich verletzt. Das war vor drei Jahren gewesen und Jakobs einzige und zugleich schlimmste Tragödie seines Lebens. Seither war alles anders. Kurzfristig hatte er danach ernsthaft überlegt, sein weltliches Dasein ebenfalls zu beenden, denn der seelische Schmerz über den Tod seiner geliebten Frau brachte ihn fast um den Verstand. Lohnte sich ein Leben ohne Annette überhaupt noch? überlegte er. Gottseidank konnte er sich in dieser schweren Zeit auf seine Kinder, hilfsbereite Nachbarn und viele gute Freunde verlassen, die sich in rührender Weise um ihn kümmerten. Generell war die Anteilnahme unter der Bevölkerung für den auf so grausame Weise zum Witwer gewordenen Mann sehr groß, denn Jakob und Annette waren wegen ihrer angenehmen Wesensart überaus beliebt und wurden als Vorzeigepaar in der Gemeinde sehr geschätzt. Jeder im Ort kannte die Beiden. Ein weiterer Grund war, dass Jakob sich über Jahrzehnte hinweg einen hervorragenden Ruf als innovativer Tischler und insbesondere als Restaurator von wertvollen Möbelstücken erworben hatte. Klassik und Jazzliebhaber wiederum kannten ihn ebenso von den Konzerten, die er jedes Jahr gemeinsam mit seiner Frau im Ort und den Umlandgemeinden gab, in denen er am Klavier saß und Annette sowohl begleitend als auch als Solistin mit ihrer Geige brillierte. Nach dem Tod der Mutter kam ihre Tochter, die mit ihrer Familie in Kanada lebte, sofort angereist und verbrachte mehrere Wochen an der Seite ihres Vaters, auch sein vielbeschäftigter Sohn, der ein Luxushotel in Shanghai leitete, nahm sich eine Woche frei und kam mit Frau und Kindern, um seinen Vater seelisch zu unterstützen. Als seine Kinder wieder abreisten, folgten über Skype intensive Telefonkontakte mit ihnen, sowie viele Zusammenkünfte mit treuen Freunden, wobei alle Beteiligten nichts unversucht ließen, um ihn wieder aufzurichten und neuen Lebensmut zu geben. Nach Monaten lähmender Trauer nahm Jakob die bereits mehrfach vehement geäußerte Einladung seiner Tochter an und verbrachte drei Wochen bei ihr in Kanada, wobei er einige der größten Sehenswürdigkeiten des Landes besichtigte und sich besonders begeistert von der großartigen Natur zeigte. Kurz darauf besuchte er auch seinen Sohn in Shanghai und ließ bei mehreren Städtetrips das pulsierende Leben der Millionenmetropole staunend und interessiert auf sich einwirken. Da ihr Vater dadurch sichtlich wieder auflebte, sorgten seine Kinder dafür, dass sich die Zusammenkünfte mit ihm zumindest alle vier Monate wiederholten. Trotz aller neugewonnenen Eindrücke und die liebevolle Fürsorge, die ihm zuteil wurde, war es für Jakob aber eine schmerzvolle Zeit und er musste immer wieder daran denken, was Annette wenige Monate vor ihrem Tod zu ihm gesagt hatte. Es war ein schöner Herbsttag gewesen, als sie beide wie so oft davor durch den unmittelbar an ihrem Haus angrenzenden Wald etwa eine Stunde lang die Anhöhe hinauf zu ihrem Lieblingsplatz gegangen waren. Von dort gab es eine herrliche Aussicht auf ihren Ort und die im hügeligen Umland eingebetteten Nachbargemeinden. Eine Zeitlang waren sie schweigend auf der Rast Bank gesessen, hatten andächtig dem Rauschen des Windes in den Bäumen und den zwitschernden Vögeln gelauscht und dabei den herannahenden Sonnenuntergang und die besondere Stimmung genossen, bis Annette sich eng an ihn kuschelnd plötzlich die Stille unterbrochen und mit liebevollem Ernst zu ihm gesagt hatte: “Mein Herz, du weißt doch, wie sehr ich dich liebe…“ „Ich bin so überheblich, das tatsächlich zu glauben, denn schließlich liebe ich dich auch“, hatte er lachend erwidert und sie als Bestätigung zärtlich geküsst.
67 „Ja, ich weiß und ich bin unendlich dankbar für die wunderbaren Jahre, die wir miteinander verbringen durften“, hatte Annette ihre Ausführungen nachdenklich fortgesetzt. „Aber sollte ich durch eine göttliche Fügung vor dir gehen müssen, dann möchte ich keinesfalls, dass du in deiner Trauer versinkst und auf alles verzichtest, was deinem Leben bisher Sinn und Freude gegeben hat. Vor allem musst du Eines unbedingt nachholen, was du durch mich versäumt hast. Du musst reisen, solange es dir noch möglich ist, denn ich weiß, wie sehr du immer davon geträumt hast, mit einem Kreuzfahrtschiff durch die Fjorde Norwegens zu fahren und die einzigartige Landschaft zu genießen und wie gern du noch fernere Länder wie Neuseeland, Australien oder Amerika kennen gelernt hättest. All die Jahre hast du wegen meiner chronischen Flugangst und meiner völligen Unfähigkeit, ohne schwere Seekrankheit eine Schiffsreise zu überstehen, aus Liebe zu mir darauf verzichtet, diese Reisen zu machen. Versprich mir, dass du das nachholst, wenn ich nicht mehr da sein sollte.“ Jakob hatte völlig überrascht und sichtlich betroffen zugehört. „Um Gottes Willen!“ sagte er schließlich zutiefst erschrocken. „Wie könnte ich ein Leben ohne dich ertragen. Allein der Gedanke daran erscheint mir vollkommen unmöglich.“ „Aber Jakob! Einer von uns wird als Erster sterben, das ist doch ganz natürlich. Glaubst du denn wirklich, für mich wäre es weniger schlimm, wenn du vor mir stirbst?“ hatte ihn Annette sanft gerügt und bedeutungsschwer eine kurze Pause entstehen lassen. Eindringlich jedes weitere Wort betonend, hatte sie dann fortgesetzt: „Dennoch muss das Leben weitergehen, auch wenn es nie mehr so schön wie vorher sein wird. Das ist einfach der Lauf der Zeit und passiert täglich tausende Male. Du bist ein so wertvoller Mensch und hast mir viel mehr gegeben, als ich mir jemals erträumt hätte. Du musst mir wirklich versprechen, dass du, sofern ich diese Welt vor dir verlasse, sobald wie möglich eine große Reise antrittst. Keinesfalls möchte ich auch, dass du unnötig lange um mich trauerst, stattdessen solltest du sehr dankbar und voll Freude an diese lange herrliche Zeit, die uns Beiden gegönnt war, zurückdenken.“ Bei den letzten Worten hatte Annette in inniger Liebe strahlend, sein Gesicht in die Hand genommen und ihn fest in die Augen gesehen. „Gut, ich verspreche es dir, obwohl mir diese Art von Gespräch überhaupt nicht gefällt“, hatte Jakob seufzend erwidert und seine Frau zärtlich in seine Arme genommen. Daran dachte Jakob jetzt, während er in der Ordination seines befreundeten Arztes saß. Er hatte Daniel bei seinen Liederabenden, die er hin und wieder im kleineren Kreisen als lyrischer Tenor bestritt, mehrmals am Klavier begleitet und auch schon einige kostbare Möbelstücke für ihn restauriert und von Zeit zu Zeit trafen sie sich zu einem gemeinsamen Glas Wein. „Ich vermute, es hat einen besonderen Grund, dass du mich so schnell wieder herbestellt hast“, sagte Jakob, dessen mulmiges Gefühl in der Magengegend sich verstärkte, als er das ernste Gesicht seines Freundes sah. „Ich bitte dich, völlig offen zu sein“, fuhr Jakob ruhig fort, als er merkte, wie Daniel zögernd laut hörbar durchatmete. Schließlich sagte er leise: „Es ist leider eine schlimme Nachricht, die ich dir mitteilen muss, Jakob. Du hast Speiseröhrenkrebs und… er ist schon ziemlich weit fortgeschritten.“ Daniel war deutlich anzusehen, wie betroffen er selbst war, als er Jakob in einer Art hilflosen Geste mitfühlend eine Hand auf die Schulter legte, während Jakob selbst einen Augenblick wie versteinert die Schreckensnachricht aufnahm. Dann atmete er tief durch, sah Daniel geradeaus ins Gesicht und fragte ihn, zumindest äußerlich erstaunlich gefasst wirkend:“ Wieviel Zeit habe ich noch?“ „Das kann ich dir nicht so genau sagen, vielleicht ein halbes Jahr, vielleicht mehr, es kann aber auch weniger als ein halbes Jahr sein… das kommt auf die Therapie an, wie sie anspricht“, antwortete Daniel wahrheitsgemäß. „Aber selbstverständlich gibt es immer wieder Spontanheilungen“, beeilte er sich anzufügen. „Ehrlicherweise muss ich allerdings sagen, dass dies bei dieser Krebsart nicht so häufig vorkommt. Dennoch werde ich dir die beste medizinische Versorgung die uns zur Verfügung steht, zukommen lassen und alles tun, um deine Schmerzen erträglich zu halten. Ich bitte dich dennoch inständig, Jakob: Gib nicht auf!“ „Ich weiß deine ehrliche Fürsorge zu schätzen, mein Freund und ich weiß auch, dass du es nur gut mit mir meinst und ich bei dir in den besten Händen bin. Ich frage mich nur, ob ich angesichts dieser Diagnose das überhaupt noch will “, erwiderte Jakob tiefsinnig. „Darüber muss ich mir erst einmal klarwerden. Lass mich eine Nacht darüber nachdenken“. „Das verstehe ich. Ich werde dir vorerst ein wirksames Schmerzmittel aufschreiben und bitte dich, morgen wieder in meine Ordination zu kommen, damit wir die weitere Vorgehensweise eingehend besprechen können, “ meinte Daniel und umarmte Jakob spontan. Als sie auseinandergingen, hatten beide Tränen in den Augen. Als Jakob nach Hause kam, ließ er sich schwer in den bequemen Gartensessel auf der Terrasse hineinfallen. Verursacht durch die seelische Erschütterung, die der ärztliche Befund in ihm ausgelöst hatte, fühlte er plötzlich eine unendliche Müdigkeit in sich, gleichzeitig waren seine Nerven zum Zerreißen gespannt. Anders als sonst konnte er sich weder an dem schönen Wetter noch an seinen farbenfrohen Blumengarten erfreuen, sondern starrte nur mit leerem Blick vor sich hin. „Das war es also“, murmelte er leise. Er wusste nicht, wie viele Stunden er hin und hergerissen von unterschiedlichsten Empfindungen wie Verzweiflung, Angst, Wut, Selbstvorwürfen, aber auch Hoffnung er so dagesessen hatte, aber als er schließlich ins Haus hinein ging, war es bereits
68 stockdunkel. Er versuchte zu schlafen, hatte aber eine denkbar schlechte Nacht, erbrach sich mehrmals und lag stundenlang wach währenddessen er abwechselnd von bohrenden, dann wieder brennenden Schmerzen in Speiseröhre und Magen gepeinigt wurde. Ich habe mich zu sehr auf meine eigenen Heilrezepte verlassen und hätte viel früher zum Arzt gehen müssen, dachte er bitter. Aber Jakob verfügte über einen eisernen Willen und war zeitlebens ein positiv denkender Mensch gewesen und daher ganz und gar nicht der Typ, der sich selbst in einer so dramatischen Situation lange mit derartigen trübseligen Gedanken befasste. So schnell gab er nicht auf. Als er Daniel in seiner Arztpraxis wieder gegenüber saß, sagte er zu ihm: „ Der Krebs kann vielleicht meinen Körper zerstören, aber gegen meinen Geist ist er chancenlos. Ich werde von nun an jeden Tag so leben, als wäre es mein letzter, denn bis zu Anettes Tod hatte ich ein herrliches Leben, ich brauche mich also nicht zu beschweren. Und ich werde jetzt ins Reisebüro gehen, eine Kreuzfahrtreise durch die Fjorde Norwegens buchen und ich freue mich schon sehr darauf.“ Als Jakob Daniels skeptische Miene sah, meinte er entspannt lächelnd:“ Offenbar bist du der Meinung, ich könnte das nicht überleben. Na und? Der Zeitpunkt meines Todes spielt keine Rolle mehr für mich. Trotzdem möchte ich mit dir entsprechende Maßnahmen treffen, wie ich diese vierzehn Tage vielleicht doch einigermaßen problemlos bewältigen kann. Anschließend kann ich mich ja auf einer Mittelmeerkreuzfahrt von eventuellen vorangegangenen Strapazen erholen…“ Daniel lächelte. „ Großartig…, das bist du! Besprechen wir jetzt also in Ruhe alle Details und setzen danach die notwendigen Schritte“. Als Jakob die Ordination seines Freundes verließ, ging er sofort in das kleine örtliche Reisebüro, dessen Leiterin mit seiner Frau befreundet gewesen war, ließ sich ausführlich beraten, schloss eine umfassende Reiseversicherung ab und buchte eine klassische Luxuskreuzfahrtreise nach Norwegen, die ihn von dem deutschen Hafen Travemünde bis zum Nordkap und wieder zurück nach Hamburg bringen würde und bereits in zehn Tagen stattfand. So hatte er ausreichend Zeit, bei einem Notar sein Testament und einen Brief an seine Kinder zu hinterlegen, denn er hatte sie natürlich von seinen Reiseplänen verständigt, aber kein Wort über seine Krankheit verloren. Einzig seinen besten Freund weihte er mit dem klaren Auftrag ein, solange es sich irgendwie vermeiden ließ, kein Wort über seinen Zustand zu verlieren. Dessen angebotene Begleitung lehnte er strikt ab. „Du würdest mich mit deiner Sorge um mich nur völlig verrückt machen und mir damit jede Freude nehmen“, begründete er dies schmunzelnd. „Außerdem gibt Daniel mir zusätzlich zu meinem Befund genaue Anweisungen für den Arzt auf dem Schiff mit, so dass ich gut versorgt bin. Aber ich werde dich jeden zweiten Tag anrufen“, versprach er. Die Vorfreude auf die bevorstehende Reise wirkte sich ungemein positiv auf Jakobs seit Monaten gesundheitliche Beschwerden aus und als er schließlich an Bord des gewaltigen Luxuskreuzers war und dieser zur Fahrt nach Norwegen aufbrach, fühlte er eine unbändige Lebensfreude in sich. Trotz Regenwetters bekam er bereits durch die Stadt Bergen mit ihren pittoresken und spitzgiebeligen Holzhäusern am Hafen einen ersten tiefen Eindruck von der vielfältigen Schönheit des Landes vermittelt. Das Gefühl, das er in einer Gegend war, wo sich die Natur grenzenlos großzügig mit ihren Reizen zeigte, steigerte sich in sprachlose Begeisterung, als das Schiff in den von steilen Felswänden gesäumten, zum Weltkulturerbe erklärten Geirangerfjord hinein fuhr, in dem er fasziniert das eindrucksvolle Herunterdonnern der 300 Meter hohen Wasserfälle erlebte, die aus dem Schmelzwasser des darüber liegenden Gletschers gespeist wurden. Nicht minder überwältigend war die Fahrt entlang des mit über 200 Kilometer längsten, wahrhaft majestätisch anmutenden Sognefjord. Jakob konnte sich auch an den unzähligen weiteren Höhepunkten, die ihm von den herausragenden Naturschönheiten Norwegens geboten wurde, einfach nicht sattsehen. Intensiv und staunend erlebte er die wildromantischen Steilhänge des Trollfjords, an dem sich seit Jahrtausenden Mythen und Legenden rankten und genoss ebenso das Eintreffen im Land der Mitternachtssonne im hohen Norden und anschließend die herrlich unberührte, ehrfurchtgemahnende Natur der sturmumtosten, sägezahnartigen schroffen Felsen entlang der Lofoten. Eine Augenweide waren auch die vielen verträumten Fischerdörfer mit ihren bunten Holzhäusern, nicht erwartete weitgeschwungene Meeresbuchten mit weißem Sandstrand und türkisblaue Wasser, die karibisches Feeling vermittelten. Beeindruckend ebenso der Besuch der alten Königsstadt Trondheim und der Blick auf die malerisch anmutende im Jugendstil erbaute Stadt Alesund. Jakob fühlte sich einfach großartig, war überwältigt von diesem einmaligen Konzentrat an Schönheit und konstatierte erfreut, dass er anders als die übrigen Gäste natürlich nicht unbegrenzt schlemmen und alkoholische Getränke konsumieren konnte, aber durch seine Disziplin erstaunlich wenige gesundheitliche Probleme hatte und alle Landausflüge mitmachen konnte. Eine weitere wunderbare Erfahrung war ihm erneut dadurch gegönnt, dass ihn seine liebenswürdige und humorvolle Wesensart geradezu spielerisch ermöglichte, mehrere freundschaftliche Kontakte zu knüpfen. Unbeschwert hatte er sich während eines verregneten Tages in einer der Bars spontan ans Klavier gesetzt und für die anwesenden Gäste eine Kostprobe seines vielseitigen Könnens abgeliefert und war dadurch mit einer
69 charmanten Wienerin, die eine ehemalige Staatsopernsängerin gewesen war, ins Gespräch gekommen. Schließlich hatte er sogar mit ihr gemeinsam einen Konzertnachmittag bestritten. Und am Ende der Reise beschlossen sie spontan, dass diese Art von Reisen auf jeden Fall eine Fortsetzung verdiente und sie in wenigen Wochen gemeinsam eine weitere Kreuzfahrt ins Mittelmeer unternehmen würden…
70 Codewort: 0817 EIN REISEBERICHT
8. Mai 2014
Naondag, 2. Trideade im Nixenmond/ 349 nGF
Aus den privaten Aufzeichnungen einer Schriftstellerin
„Aus den privaten Aufzeichnungen einer Assassinin“
„Ich stand auf einem Felsen, der über das Meer hinausragte. Vor mir nichts als der endlose Ozean. Hinter mir nichts als karges Wüstengebiet. Meine Arme hielt ich seitlich von meinem Körper gestreckt, die Hände wie zwei warnende Signale für alles, was von außen an mich ran wollte. Die Augen hielt ich geschlossen, meistens jedenfalls. Ich öffnete sie nur, um zu sehen, was es zu sehen galt, weil es relevant für mein augenblickliches Ziel war, den konkreten Auftrag, die momentane Lage und Situation. Von hinten bestrahlte mich die heiße, verderbliche Sonne meiner Vergangenheit – ödes Land, unbebautes Gebiet, lebloses Nichts. Wozu mich also umdrehen? Wozu mir die Haut, die Augen verbrennen? Wo nichts ist, wird auch nichts sein. Alles, was die leere Einöde hinter mir versprach, beschränkte sich auf meine Erinnerungen an die Straßen Agyras und meine Ausbildung beim Bettlerkönig. Mein Name ist Chara Pasiphae-Opoulos. Ich bin eine Assassinin. Das war’s. Das war und ist meine Geschichte. Also, wozu mich umdrehen?“
Ich stand auf einem Felsen, der über den Ozean hinausragte. Vor mir nichts als das endlose Blau des Wassers – Kein Baum, kein Haus, kein Berg ... Nichts, das sich hart in mein Blickfeld schnitt, mein Auge am grenzenlos Reisen hinderte. In meinem Rücken lag die Wirklichkeit – wahr, richtig, den Gesetzen der Physik treu, dem Grundsatz des „Ich bin“ verfallen. Meine Welt, begrenzt in ihrer Ausdehnung, eingezäunt in Tag und Nacht, Geburt und Tod, Innen und Außen, Herz und Verstand. Meine Welt – zerfallen in Pro und Kontra. Meine Welt - die einzig reale, einzigartig lähmende. Warum mich also umdrehen? Warum mir den Blick in die Ferne verwehren? Wo es Grenzen gibt, wird es keine Freiheit geben. Und die Welt ist voll von Grenzen. Also, warum hier bleiben? Vor mir ... vor mir lag der endlose Ozean. Zwischen die schmalen Schlitze meiner geschlossenen Lider drang das Licht des tiefblauen, bewegten Wassers, das voller Geheimnisse war – voller ungelöster Rätsel, voller Leben. Ich wollte es nicht sehen. Ich wollte die Augen geschlossen halten. Ich wollte mich vor dem Anblick verschließen, weil ich wusste, weil ich fühlte, dass ich seiner unergründlichen Weite, seiner schwarzen Tiefe nicht gewachsen war, ihr nie gewachsen sein würde. Ich konnte nicht darauf hoffen, hier zu bleiben und gleichzeitig abzutauchen. Ich konnte nicht darauf bauen, vernünftig genug zu sein, um der dortigen Welt zu begegnen und der hiesigen treu zu bleiben. Meine Zeit war zu begrenzt, mein Geist zu klein und einfältig, meine Kraft zu kümmerlich und die Liebe zur Realität … nicht erwähnenswert. Das Wissen um die Tatsache, dass ich ein Träumer bin, und zwar einer der ungehörigen, undisziplinierten Art, war wie eine Warnung. Es war mir wie die Mahnung, meine Finger von allem zu lassen, das für Höheres bestimmt war – die Geschichte Amaleas, das Rätsel aller Rätsel.
„Ich bin eine Assassinin Al’Jebal. Was das bedeutet? Das bedeutet, dass ich keinen freien Willen habe, geschweige denn ein eigenes Leben. Assassinin zu sein bedeutet zweierlei: Erstens, du tust immer, was man dir sagt, ohne Ausnahme! Und zweitens, begehre nicht, nie! Ich konnte nicht darauf bauen, dass ich frei genug sein werde, um meiner Wege zu gehen, die Rätsel zu entwirren, die Welt zu erforschen, zu verändern. Meine Zeit war zu begrenzt, mein Geist zu klein und einfältig, meine Macht zu kümmerlich und meine Fähigkeiten … nicht erwähnenswert. Das Wissen um die Tatsache, dass ich ein Mensch bin, und zwar einer der unwürdigen Art, war wie eine Warnung. Es war mir wie die Mahnung, meine Finger von allem zu lassen, das für Höheres bestimmt war – die Geschichte Amaleas, das Rätsel aller Rätsel.“
Doch die Neugier hat gesiegt. Der blaue Ozean war zu verlockend. Die Wüste in meinem Rücken zu dürr, zu inhaltslos, um mich damit zufrieden zu geben. Also öffnete ich meine Augen. Ich öffnete meine Augen und sprang … Heute hat die Welt vor diesen Augen Geschichte geschrieben. Überfluss, Vagheit und Vieldeutigkeit haben diese Augen geblendet, ihr Licht in tausend Spektren zerlegt und zersplittert. Heute haben diese Augen zu viel
71 gesehen. Sie haben gesehen, was mein Verstand nicht fassen kann und mein Herz nicht begreifen will. Sie haben gesehen, was ich nie sehen wollte, weil ich wusste, dass ich es zu vergessen nicht imstande und mich abzuschotten nicht fähig bin. Ich hätte meine Augen nie öffnen dürfen. Doch ich habe sie geöffnet. Ich bin gesprungen. Und so bin ich hier. Ich bin in Amalea. Das Augenlicht, dessen ich mich jetzt bediene, offenbart mir eine Wahrheit, die sich meinem Blick bisher entzogen hat – eine der vielen Wahrheiten, von denen keine überzeugender als die andere ist. Es gibt keine Fiktion. Es gibt keinen Wahnsinn. Es gibt keine Geisteskrankheit, die zur Verantwortung gezogen werden könnte. Denn wir sind alle nicht zurechnungsfähig, wenn man uns in Relation zu jenen Szenarien setzt, die in uns passieren. Wir sind keine Akteure. Wir sind Reaktionäre. Wir können nur auf das reagieren, was wir erleben, auf das, was wir fühlen, auf jeden Gedanken, der uns ins Uferlose gleiten lässt. Wir haben zu keiner Zeit die Fäden in der Hand, die Lage unter Kontrolle, den Überblick über alle Fakten, die relevant sind. Und das betrifft nicht nur die Träumer unter uns, das betrifft alle Menschen. Das betrifft den Physiker ebenso wie den Schriftsteller. Das betrifft die, die sich Realisten nennen wie jene, die sich den Träumen verbunden fühlen. Letztere haben nur auf ihr Unvermögen reagiert, diese Welt als die einzig wahre zu akzeptieren und getan, was sie für richtig hielten. Sie hatten sich nur leider überschätzt, den Fortgang und das Resultat ihres Experiments wiederum unterschätzt. Sie haben sich verrechnet, verspielt, verkalkuliert. Sie haben ihre Reise nie beendet. Sie sind eben nichts weiter als Flüchtlinge. Doch niemand ist davor gefeit, sich auf diese Reise einzulassen. Wir akzeptieren keine Grenzen. Wir wollen das Limit überschreiten, im Idealfall bis zum höchst Denkbaren voranschreiten. Und das, über das nichts Höheres gedacht werden kann, existiert eben nur im Verstand. Es ist eine Idee, ein Abstraktum, dem kein wirkliches Sein gerecht werden kann, weil alles, was existiert, in die Schranken der Gesetze unserer Wirklichkeit überführt werden muss. Alles, was ist, ist fehlbar in seinem Geist, begrenzt in seiner Ausdehnung, eingeschränkt in den Möglichkeiten seines Wirkens. Denn dies ist es, was Existieren bedeutet – es ist der Austritt der Idee aus dem grenzenlosen Raum des Geistes in die gesetzestreue Welt des Wirklichen. Wo Gesetze herrschen, herrschen klarerweise auch Grenzen. Und da alles, was ist, irgendwelchen Gesetzen folgt, ist auch alles begrenzt.
„Wir, die wir hier das Rätsel entwirren, den Ursprung Amaleas ergründen, unseren Kampf ums Überleben austragen, haben zu keiner Zeit die Fäden in der Hand, die Lage unter Kontrolle, den Überblick über alle Fakten, die relevant sind. Und das betrifft nicht nur die Menschen, das betrifft alle Lebewesen. Das betrifft uns Geschöpfe ebenso sehr wie unsere Schöpfer, die Thanatanen, die sich auch ‚Gottra’ nennen. Selbst sie sind nur Opfer ihrer Natur, Opfer ihrer Macht, Diener ihres Bedürfnissen, Welten zu schaffen. Sie haben auf ihr Unvermögen reagiert, diese Welt zu belassen wie sie ist und getan, was sie für richtig hielten. Sie hatten sich nur leider überschätzt, den Fortgang und das Resultat ihres Experiments wiederum unterschätzt. Sie haben sich verrechnet, verspielt, verkalkuliert. Sie sind eben nichts weiter als mächtige Wesen, deren Macht beschränkt ist. So wie die Götter und jeder, der sich selbst für das Alpha und Omega hält, den Anfang und das Ende. Niemand ist von absoluter Macht. Es ist unerfreulich, mir dies einzugestehen. Ich hatte so sehr darauf gebaut, dass es einer besser weiß als der Rest. Doch meine Hoffnung ändert nichts an dieser Tatsache – NIEMAND IST VON ABSOLUTER MACHT. Nicht einmal der Thanatane, dem ich mich unterworfen habe, weil ich glauben wollte, dass er der Weisheit letzter Schluss ist. Das, über das nichts Höheres gedacht werden kann, existiert eben nur im Verstand. Es ist nichts weiter als eine Idee, ein Abstraktum, dem kein wirkliches Sein gerecht werden kann, weil alles, was existiert, in die Schranken der Gesetze unserer Wirklichkeit überführt werden muss. Alles, was ist, ist fehlbar in seinem Geist, begrenzt in seiner Ausdehnung, eingeschränkt in den Möglichkeiten seines Wirkens. Denn dies ist es, was Existieren bedeutet – es ist der Austritt der Idee aus dem grenzenlosen Raum des Geistes in die gesetzestreue Welt des Wirklichen.“
Ich bin also gesprungen. Die Weite des dunklen Ozeans hat mich verschluckt und wieder ausgespien. Und heute treibe ich auf dem Wasser – Bauch nach unten, Augen nach vorne – und sehe nichts als das tiefe Blau des Ozeans und die glitzernden weißen Schaumkronen der sich brechenden Wellen in der Ferne. Ich sehe das Meer, das sich vor mir erstreckt und kein Ende findet, weil der Horizont sich verschiebt, sobald ich vorankomme – unaufhörlich, mit jedem Blick ein Stück weiter, immer weiter und weiter, bis ich das Gefühl habe, die Unendlichkeit lässt meinen letzten klaren Gedanken so weit ins Uferlose gehen, bis er sich selbst verliert.
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„Ich war ein Waisenkind und wurde zu einem Straßenkind. Ich war eine Mörderin und wurde zur Assassinin. Ich war eine Ausführende und wurde zu einer Führenden. Ich war eine Gefangene und wurde frei. Ich war ein Werkzeug und wurde zum Werk. Und heute bin ich das ‚Sandkorn, das die Waage zum Kippen bringt’. Dies ist das, was die Evolution für mich geplant hatte. Fragt sich nur, wer der Schöpfer der Idee für diesen Plan war. Doch die Antwort auf die Frage ist so bedeutungslos wie jede Frage, die das ‚Woher’ zu ergründen versucht. Denn die einzige Frage, die relevant ist, ist die Frage nach dem HIER!“ Hier bin ich zu Hause!, sage ich und weiß, mein Heim ist real. „Hier bin ich frei!, sage ich und weiß, ich kann die Welt verändern.“ Aber in einer Welt in der Welt beginnen die Grenzen zwischen real und Fiktion zu verwischen. Und ich wusste es. „Trotzdem öffnete ich meine Augen.“ Trotzdem bin ich gesprungen.
Und heute blicke ich in seine Augen – in dieselben Augen, in die ich vor zehn Jahren blickte und sie hinterließen die gleiche Wirkung: Ich will in seine Welt abtauchen und ich will sie mit ihm vollenden. Er ist der Architekt, er ist der Erschaffer meines Traums. Er ist der, der mir eine Alternative zeigte: Amalea. „Und heute blickte ich in seine Augen – in dieselben Augen, in die ich vor zehn Jahren blickte und sie hinterließen die gleiche Wirkung: Ich will ihm gehören! Ich will Al’Jebal gehören und mich von ihm befreien! Ich will die Seine sein und ich will mein sein! Ich will mich ihm ergeben und ihn bekämpfen! Seine Welt auf meinen Schultern ... Ich habe in die Augen dieser in Stein gehauenen Verkörperung der Selbstüberschätzung gesehen, mich im Blick meines Abgottes verloren, den ich für die Manifestation der absoluten Macht gehalten habe. Ich spürte, wie das Abbild des Thanatanen mein Inneres erschütterte. Ja, ich wollte ihm gehören. Ich wollte seine Welt zu meiner werden lassen. Ich spürte, dass ich nur bin, weil er ist, und dass ich ihm verpflichtet bin, ob ich nun will oder nicht, ob ich nun freigegeben wurde oder eine Gefangene blieb. Ich spürte, dass ich ihm etwas schulde, obgleich er mir in all den Jahren, in denen ich für ihn über Leichen ging und tausend Tode starb, nichts zurückgegeben hat.“ Ich spürte, dass ich weiterschwimmen muss, dass ich mich über Wasser halten und atmen muss, weil es noch nicht zu Ende ist. Und ich spürte, dass der Horizont, egal wie unerreichbar er auch sein mag, erreicht werden kann, weil seine Erreichbarkeit nichts mit einer realen Distanz zu tun hat. Der Horizont ist keine Grenze – er ist das Ende. Das Ende aber habe ich dann erreicht, wenn sich der Kreis schließt. Und der Kreis schließt sich nur mit ihm. „Der Kreis schließt sich dann, wenn ich zu ihm zurückkehre“, weil ich aufgewacht bin.
„Ich bin eine Assassinin Al’Jebals. Eine Gefangene, die sich befreit hat, ein Werkzeug, das zum Werk wurde. Ich bin das ‚Sandkorn, das die Waage zum Kippen bringt’.“
Ich bin eine Schriftstellerin, die sich den Traum eines anderen zur Realität gemacht hat. In seinem Namen wandle ich in Amalea, in seinem Namen bin ich eine andere, in seinem Namen diene ich einem Wesen, das er erschaffen hat - Al’Jebal. Ich bin nicht länger eine Gefangene meiner Wirklichkeit. Jetzt bin ich eine Gefangene seines Traums. Aber ich werde mich befreien. Ich werde mich befreien und seinem Traum so lange zusetzen, bis er zu meinem Traum wird. Die Wirklichkeit habe ich längst verlassen. Ich werde nie wieder nur hier sein. Ich werde nie wieder nur ich sein. Ich werde immer auch dort, immer auch sie sein: Ich werde immer auch Chara PasiphaeOpoulous sein, eine Assassinen Al’Jebals.
Mein Name ist J. P. Ich bin Schriftstellerin und schreibe die Geschichte eines anderen.
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Codewort: Spaßschreiber Mein erstes Mal... Mein erstes Mal war eigentlich nichts anderes als ein kläglich gescheiterter Versuch. Vor rund 35 Jahren als Student, mit viel Abenteuerlust, dafür aber ziemlich leerer Geldtasche und folglich eher bescheiden gekleidet, befand ich mich mit zwei Studienfreunden, einem alten Opel Kadett und bewaffnet mit einem Zelt und unzähligen Konservendosen auf einer rund sechswöchigen sommerlichen Rundreise durch Italien, Frankreich und Spanien. Böse Zungen behaupten, dass einer von uns eine Jean anhatte, die nicht nur deutliche Rückschlüsse auf die Menüfolge des auf diversen Campingplätzen mit dem mitgebrachten Gaskocher aufgewärmten Dosenfutters zuließ. Nein, angeblich habe die Hose auch, alle physikalischen Grundsätze Lügen strafend, eine Eigenschaft entwickelt, die es ihr erlaubte von selbst neben ihrem Träger zu stehen. Diese zugegebenermaßen etwas ungepflegt wirkende Adjustierung hinderte uns jedoch nicht daran, den Versuch zu unternehmen an der Cote d´Azur etwas vom Hauch der großen, weiten Welt einzusaugen und inmitten von unzähligen Cadillacs, Bentleys und Rolls Royce einen kurzen Blick auf die Glitzerwelt der Reichen und Schönen zu werfen. Wo ließe sich dieses Vorhaben besser umsetzen als in Monte Carlo, genauer gesagt im bekanntesten, berühmtesten und vielleicht auch schönsten, mit Sicherheit aber mondänsten Casino der Welt? Von Erzählungen wussten wir, dass sich dort berühmte Größen aus Hollywood, Großindustrielle, Sportidole, kurz die prominentesten Mitglieder der Creme de la Creme des internationalen Jetsets tagaus tagein ein Stelldichein geben. Und auch von den arabischen Prinzen hatten wir gelesen, die sich nach existenzbedrohenden Spielverlusten von der Balustrade des Casinos hinabstürzten, nachdem sie erkannt hatten, dass die berühmten immer wieder aus dem Mündern der Croupiers erschallenden Worte „Rien ne va plus“ auch eine völlig andere, eine letale Bedeutung haben können. Nun, in diese Situation konnten wir mangels des entsprechenden Spielkapitals erst gar nicht kommen. Wir gehörten - siehe oben - somit weder der elitären Gruppe der Reichen, noch der der Schönen an. Aber einmal einen Blick auf diese Idole und Vorbilder von ganzen Generationen zu werfen und das nicht nur von Außen, sondern mitten unter ihnen zu sein, wer konnte uns diesen Wunsch verdenken? Frohen Mutes begaben wir uns daher, vorbei an den berühmten Palmen, in Richtung Eingang des weltberühmten Spieltempels. Und nun kommt wieder die eingangs beschriebene Hose ins Spiel: Einer von uns dreien - über dessen Identität, soll auch nach Jahrzehnten (vorerst) noch der Mantel des Schweigens gehüllt werden - wurde jedoch wegen seiner wohl nicht mehr so ganz gepflegt wirkenden Blue Jeans nicht eingelassen. Auch das olfaktorische Element dürfte dabei eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben. Eine Welt schien für uns zusammenzubrechen, gehörte es doch laut unserer Meinung jedenfalls zum guten Ton, wenn man schon in Monte Carlo ist, auch das weltberühmte Casino zu besuchen. Und wer weiß, wann wir armen Studenten wieder die Gelegenheit haben würden, hierher zu kommen? Wie würden wir zu Hause dastehen, wenn wir erzählten, dass wir zwar in Monte Carlo, nicht aber im weltberühmten Casino waren? Und schließlich waren wir ja auch vor ein paar Tagen nicht nur neben dem Eiffelturm gestand, sondern hatten ihn ganz selbstredend bestiegen.
Ein vorerst ins Auge gefasster, abwechselnder Hosentausch in der Form, dass jeweils einer mit den zerschlissenen Jeans draußen wartet, während die beiden anderen im Casino versuchen sollten unser kärgliches Urlaubsbudget etwas aufzubessern, war wegen allzu großer Figurunterschiede kläglich gescheitert. Während zwei von uns nämlich so um die 1,75 Meter maßen, war der dritte ein wahrer Hüne von annähernd zwei Metern. Dessen einigermaßen saubere Hose hätte daher mit Sicherheit keinem der beiden anderen gepasst. Auch in unserem in der Nähe mehr oder wenig legal, jedenfalls aber Parkgebühren sparend abgestellten und immer mit Konservedosen, alten Geschirrtüchern, verschwitzten T- Shirts und Badeschlapfen bis obenhin voll gepackten Opel Kadett war keine ordentliche Hose vorrätig, zumindest keine lange. Der kurzerhand ins Auge gefasste Plan in Monte Carlo eine neue zu kaufen, wurde nach intensiver monetärer Bestandsaufnahme rasch
74 wieder fallen gelassen. Im Zuge dieses Kassensturzes musste nämlich festgestellt werden, dass erstens noch immer Matthä am Letzten war, und zweitens der in Monte Carlo verlangte Preis für eine neue Hose annähernd dem gesamten Urlaubsbudget, wohlgemerkt für uns alle drei, entsprach. Schließlich beschlossen wir zähneknirschend, ganz nach dem Motto „einer für alle, alle für einen“, zu streiken. Und das Casino war ja auch von außen ganz schön anzuschauen. Ja und wer weiß, vielleicht könnten wir ja doch das eine oder andere Filmsternchen vor dem Casino zumindest an uns vorbeihuschen sehen. Und überhaupt, was sollten wir in dieser verruchten Spielhölle? Denen werden wir es schon zeigen! Wenn die uns nicht wollen, dann gehen wir eben nicht hinein. Sind selbst schuld, diese arroganten Schnösel, wenn sie von uns kein Geld kriegen. Und betteln, dass wir ihnen unser Geld geben dürfen, werden wir sicher nicht. Nein, auf gar keinen Fall! Was glauben die eigentlich, wer die sind? Und wer weiß, was uns im wahrsten Sinne des Wortes „erspart“ geblieben ist. Wer von uns dreien für diesen plötzlichen Gesinnungswandel gesorgt hat und wer in den unansehnlichen Jeans aufgetaucht war, tut wie gesagt, nichts zur Sache. Weil es in unserer Gegend erst seit etwa 25 Jahren ein Casino gibt, fand mein erstes Mal dann doch in Monte Carlo statt. Wie der Zufall so spielte, verbrachte ich Jahre später mit meiner Frau wieder einen Urlaub an der Cote d´Azur, diesmal aber mit ordentlicher Hose, blitzsauber und sogar mit Bügelfalte. Bei diesem meinem ersten Casinobesuch habe ich dann das getan, was neben mir auch arabische Scheichs und amerikanische Millionärinnen getan haben, nämlich beim Roulette gewonnen. Mein Gewinn war allerdings so gering, dass ich dessen genaue Höhe lieber für mich behalten möchte. Eine ordentliche Hose, die ich jetzt ja Gott sei Dank schon hatte, hätte ich mir davon jedenfalls nicht kaufen können...
75 Codewort: Tanger Reisender, der ich bin, so wie wir alle auf unserer Reise durch‘s Leben
Ich war in meiner Jugend Seemann auf einem deutschen Frachtschiff, das Waren vom Mittelmeer nach Amerika transportierte und deren Waren retour. Die Geschichte beginnt in Marseille, Frankreich, als sich unser erster Offizier beim Ablegen von der Kaimauer einen Fehler leistete, und mit dem Heck des Schiffes den Kai touchierte. Die Optionen waren nun, nach Besichtigung des Hecks durch den Kapitän und den Chief (also dem Chefingenieur), in den Hafen zurückzukehren, die Ladung zu räumen und den Schaden reparieren zu lassen, oder die Reparatur erst im nächsten Hafen, Tanger in Marokko, vorzunehmen. Der Kapitän entschied sich für Tanger, vermutlich auch wegen der Kosten, und der Funker hatte viel zu tun um alles in die Wege zu leiten. Am nächsten Tag erreichten wir Tanger, eine tolle Stadt in Marokko, überhaupt für einen 18-jährigen wie mich. Die Information an uns Seeleute war, dass wir 3-4 Tage im Hafen blieben. Ich besuchte die Stadt, neugierig, saugte das Lebensgefühl der fremden Menschen auf, stellte fest, das bald jeder 2-3 Sprachen sprach, und zwar ganz gut, sodass ich kein Problem hatte mich zu verständigen. Es war herrlich an der Promenade entlang zu wandern, kleine Stände mit gebratenen Bananen, oder Bienenstich, oder gegrillten Scampi und, und, und... Natürlich auch die Wasserträger in ihrer phantasievollen Tracht, in den Straßenbars gab es Pfefferminztee zu trinken, was enorm erfrischte, und unzählige Händler mit ihrem Angebot an Waren aller Art. Es gab auch eine Bar, die einer Wienerin gehörte, Vienna-Bar, und selbstverständlich musste ich dort hin, was ein guter Einfall war. Die Dame sprach mich auch sofort an, woher ich denn sei. Und als ich sagte: ,,Ich bin ein Steirer.“ Da lachte sie, setzte sich ans Klavier und intonierte: ,,I bin a Steirerbua und hob a Kernnatur...“ und wir sangen, auch zur Belustigung der Gäste, die unseren Dialekt nicht kannten, das Lied zu Ende. Im Lokal traf ich auch einen Polizeibeamten, mit dem ich mich unterhielt, über Tanger, hu hu, na ja was ich eben so hörte darüber und brachte ihn damit zum Lachen. Er sagte: ,,Zeige mir die unheimlichen Plätze von denen du gehört hast, ich würde die auch gerne kennenlernen.“ Ich erzählte ihm von unserem Schiff und das wir 3-4 Tage hierblieben, worauf er meinte, dann sollte ich mir auch die Wüste ansehen, die gar nicht so weit entfernt wäre, denn er selbst würde in seiner Freizeit ebenso gerne dorthin fahren, allein schon wegen der Stille, der Ruhe, ohne viel Lärm, am Wochenende als kleinen Urlaub von der Stadt. Er vermittelte mir einen Fahrer, er hieß Meksud, der mich am nächsten Tag am Schiff abholen und mit mir eine kleine Reise in die Wüste machen würde – zu einem erschwinglichen Preis – also sagte ich zu und so war es dann auch. Am nächsten Morgen stand ein altes Auto, na ja, sagen wir dem Alter nach ,,ein Fahrzeug“ am Schiff und ein junger Mann im Burnus rief meinen Namen. Ich war bereit, mein Urlaub bewilligt und so ging die Reise los. Nach einer halben Stunde waren wir schon abseits der Stadt, kaum noch Häuser, und wir fuhren gemächlich dahin. Wir unterhielten uns prächtig, er lachte, als ich ihm von den Bergen und Seen in Österreich erzählte, meinte dann, eines Tages würde er sich dieses Land einmal ansehen. Ich wiederum fragte ihn über Marokko aus, und so verging die Zeit, die Sanddünen wurden höher. Er hielt das Fahrzeug an, um mit mir auf eine der Dünen zu steigen, ein Anblick der mir den Atem raubte, wohin ich sah Sand, und zwar in allen Höhen und Variationen, allen Farben und Schattierungen.
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Wir fuhren weiter, ins Gespräch vertieft, das Fahrzeug rumpelte über die Sandpiste und gab ab und zu ein Klopfgeräusch von sich. Meksud beruhigte mich, wir würden bald eine kleine Werkstatt am Rande erreichen, die er von seinen Fahrten mit Gütern und mit Touristen kannte. Das alte Gefährt krachte nun schon lauter und Meksud konzentrierte sich auf das Fahren. Ich war auch stiller geworden. Die Sonne stand schon tief und tatsächlich sahen wir in einiger Entfernung so etwas wie ein Haus, Meksud sagte: ,,Das ist der Mechaniker!“, und lachte wieder. Auch ich war erleichtert, als wir vor der Werkstatt anhielten. Es war eine der üblichen Hütten, die so leicht aussahen, aber stabil und mit allerlei Decken und bunten Tüchern verhängt waren, um den Wind und Sand abzuhalten. Der Mechaniker, er hieß Chaim, kam heraus und empfing Meksud und mich mit lachendem Gesicht. ,,Ich habe deinen Schrotthaufen schon von weitem gehört!“, rief er, und sein Gehilfe Ablee beugte sich vor Lachen. Es begann eine Diskussion, was dem alten Wagen denn fehle, und bald war der Motorkopf abgehoben und wir blickten auf eine gebogene Kurbelwelle – das könnte für Meksud teuer werden, aber für den Mechaniker, war das kein Problem: ,,Ich lasse dir eine Kurbelwelle bringen. Es kommen heute noch 2 oder 3 Lastwagen vorbei, denen geben wir die alte Kurbelwelle mit und morgen bringt uns ein anderer Laster eine Neue mit. Aber zuerst trinken wir Tee, kommt in unsere Hütte, setzt euch und erzählt mir, was es Neues in Tanger gibt.“ Die Hütte war einfach aber zweckmäßig eingerichtet und bot Platz, auch für uns Gäste und Meksud erzählte, und ich erzählte von der grünen Steiermark. Ablee, der Gehilfe, fragte und fragte, wollte alles auf einmal wissen. Wie denn die Menschen in Europa so wären, und was bei uns gegessen würde und wie sie in Amerika lebten, und und und... Chaim lachte und sagte mir, dass er sich freue einen guten Gehilfen zu haben, nur träume er bei der Arbeit und müsse öfters geweckt werden, aber das sei nur ein kleiner Fehler, und Ablee lachte mit uns mit. Es war Zeit geworden für ihr Abendgebet und ich beteiligte mich stumm, in dem ich meine Gedanken ordnete, und über den glücklichen Ausgang der Fahrt froh war. Es dauerte nicht lange und ein Lastwagen hielt. Der Fahrer trank Tee mit uns, nahm die Kurbelwelle mit, bedachte das alte Fahrzeug mit einem Grinsen, schüttelte den Kopf und war bald außer Sichtweite. Wir unterhielten uns schließlich weiter, Chaim erzählte von seiner Freundin, die ihn einmal im Monat besuchte, wie froh er über sie war, es waren schöne Stunden, die viel zu schnell vergingen. Meksud hatte sich schlafen gelegt, auch Ablee, aber Chaim und ich waren noch wach und er erzählte mir seine Geschichte:
,,Ich lebe in der Wüste, ich lebe gerne in der Wüste. Wie der Name schon sagt, ist sie wüst. Sie ist steinig, worüber sich die Skorpione freuen, dadurch gibt es etwas Schatten. Die Wüste ist sandig, worüber sich die Touristen freuen. Ich steige morgens auf eine Düne und schaue mich um, im Bewusstsein, dass sich dieses Bild durch den Wind wieder ändert, morgen sehe ich wieder etwas Neues und freue mich daran. Die Nächte sind kühl, oft kalt, aber der Himmel über uns ist sternenklar und zum Greifen nah. Millionenfach, einerseits als Lichtsplitter, andererseits als Fixpunkte für Seelenwanderer. Mir erscheinen Sie als Landebahnen für Raumschiffe, wie unsere Erde eines ist.
77 Ich weiß, wir sind noch auf der Reise, um eines Tages oder Nachts zu landen, an einem Ort, von dem wir annehmen, dass es ein guter sein wird. Nach diesen Nächten arbeite ich wieder lieber in meiner Werkstatt und bin nicht mehr so streng mit Ablee, meinem Gehilfen. Er erzählt mir oft seine Träume und ich staune über seine Fähigkeit, sich über ein Werkstück an dem er arbeitet, in ferne Länder führen zu lassen. Er beschreibt mir dann, wie die Menschen in seinen Träumen aussehen, wie sie gekleidet sind, und dass ihr Reichtum darin besteht, dass sie viel Wasser trinken, wovon wir ja weniger haben, und dass sie miteinander auskommen, zumindest es versuchen.“
Chaim meinte dann er müsse mir etwas zeigen, etwas dass es nur in der Wüste gebe und forderte mich auf ihm zu folgen. Wir gingen eine Weile bis zu einer Düne und erstiegen sie. Chaim sagte: ,,Nun leg dich auf den Rücken und schau einfach nur nach oben“, was ich tat und dann wusste ich was er mir zeigen wollte: Sterne zum Angreifen nah. Mein Blick ging bis in die dritte Dimension und noch tiefer, so hatte ich den Weltraum noch nicht gesehen, ein Erlebnis, an das ich noch lange denken würde. Wir gingen zur Hütte zurück und ich fragte Chaim, wie oft er sich denn dieses Schauspiel ansehe, worauf er antwortete: ,,Jeden Abend.“. Ich war beeindruckt. In der Hütte gab es noch einen Tee, ein paar Worte über seine Arbeit dann war es auch für uns Zeit zu schlafen. Am nächsten Morgen kam ein Laster aus Tanger, der Fahrer brachte lachend eine Kurbelwelle, die Chaim kritisch betrachtete. Er wechselte mit dem Fahrer noch einige Worte und machte sich unter einem Gemurmel, das nur er und Ablee verstanden, an den Einbau, der auch nach weiterem Gemurmel gelang. ,,Eine Blattfeder wird bald reißen“, sagte er zu Meksud, der darüber nicht gerade erfreut war. ,,Wieder Kosten für den alten Wagen, na ja wird wohl halten bis Tanger“, schien er zu denken. ,,Die Rechnung für den Einbau sende ich dir mit einem Laster. Ja und komm einmal wieder“, meinte Chaim. Wir verabschiedeten uns herzlich, bekamen noch Tee für die Fahrt mit und mit viel winken waren wir auch schon unterwegs. Die Rückfahrt gelang bestens, als ob der alte Wagen erfreut wäre. Meksud brachte mich zum Schiff, ich bezahlte ihn und wir versprachen uns, uns wieder zu sehen, so wir wieder einmal in Tanger sind.
Unser Schiff war bereit und am nächsten Morgen brachen wir auf, nächster Halt Lissabon und dann 5 Tage nur Wasser. ,,Zum Glück gibt es genug Bier an Bord bis nach Miquellon“, dachte ich. Für Miquellon, einer kleinen französischen Insel in Neufundland, hatten wir extra Champagner geladen, meistens gab es im Ort ein Fest, so ein Schiff anlegte. Dort hatte der Funker eine Verlobte…aber das, das wäre eine neue Geschichte!
78 Codewort: Puccini Einmal Venedig und zurück?
„Schaatz….nimmst du jetzt den nachtblauen oder doch den schwarzen Anzug mit für die Oper“ rufe ich aus dem Schlafzimmer in Richtung Arbeitszimmer, das man leider seit geraumer Zeit aufgrund der am Boden gestapelten Ordner nur mehr in einer Raumhöhe von 75 cm betreten kann. „Ich will es ja nur wissen, damit ich mein Abendkleid auf deine Garderobe abstimmen kann“ werfe ich noch nach. Nichts ist aus der Arbeitshöhle zu hören. „Hast du mir zugehört mein Liebling, was meinst du jetzt dazu“ wiederhole ich. „Aber sicher höre ich dir zu – ich bin ganz deiner Meinung“ kommt es nun etwas schuldbewusst und bemüht aufmerksam aus dem Munde meines Freundes. Was ist das jetzt? Leben wir momentan in zwei Parallelwelten, die verschiedene Sprachen sprechen? Schließlich haben wir uns vor 3 Monaten auf diese Reise in die Toskana noch sehr gefreut, wollten es auch als eine Reise zu uns selbst und zu unserer etwas verloren gegangen Liebe zueinander sehen und auf dem Hinweg noch einen Opernbesuch in Verona einplanen. Nun setze ich mich kurz an die Bettkante und versinke in meiner Gedankenwelt. Vor meinem geistigen Auge sehe ich die Arena di Verona im sanften Abendlicht. Wir haben uns für die Vorstellung der Turandot entschieden. Eine Oper, deren Musik es immer wieder schafft, mich auf die unterschiedlichsten Arten zu berühren. Von einer tiefen Traurigkeit bis zu einem übervollen, tanzenden Herzen spannt sich der Bogen meiner Gefühle, wenn ich Puccini hören kann. Dass wir nach diesem akustischen Zwischenstopp dann weiter nach Pisa und Lucca fahren wollen war von mir bewusst gewählt worden, da ich in Puccinis Geburtsstadt noch ein wenig auf seinen Spuren wandeln wollte. Grad will ich an einem entzückenden Tisch bei einem Café am „Piazza Napoleone“ Platz nehmen, als ich abrupt aus meinen Gedanken gerissen werde. „Bist du nun endlich fertig mit dem Kofferpacken oder sollen wir den Urlaub ins nächste Jahr verlegen“ höre ich etwas gereizt die Stimme aus dem Nebenzimmer. „Ich würde gerne in einer Stunde losfahren, muss aber vorher noch für einen kurzen Augenblick im Büro vorbeischauen“ ruft mir mein Bester im vorbeihuschen zu, während er mit einer Hand schon versucht, den herbeigeholten Koffer zu öffnen und mit der anderen gerade an seinem Handy herumhantiert. Nach genau einer Stunde und 15 Minuten, die Verspätung nehme ich gleich mal auf meine Kappe, befinden wir uns auf der Strecke Richtung Italien, um vorher nur nochmal kurz bei seinem Büro vorbeizuschauen. Ein, zwei oder auch mehrere wichtige Telefonate müssen noch geführt werden, bevor wir das aufkommende Urlaubsgefühl dann bei der nächsten Ecke abholen können. „Du kannst hier im Auto warten, ich bin in einer Viertelstunde wieder zurück“ sind die letzten Worte von ihm, die ich in den nächsten 3 Stunden hören werde. Dass Akademiker sich eine Viertelstunde der Verspätung herausnehmen ist mir ohnedies klar. Dass sich diese Viertelstunde aber immer wieder um dieselbe erhöht, sollte jemand auch noch den Doktortitel erreicht haben wird mir schlagartig bewusst, nachdem ich 2 volle Stunden wartend im vollbeladenen Auto zubringe. „Jetzt ist aber Schluss mit lustig“ denke ich mir und keuche schon ziemlich wütend in den 4. Stock seines Bürogebäudes. Am Ende des Ganges höre ich ihn bereits in sein Telefon brüllen, irgendeine Firma scheint in der Leitung zu sein, die beim besten Willen nicht die Absicht hat, termingerecht zu liefern. In der Meinung, dass auch ein Kollege dieses Problem lösen könnte zeige ich wütend auf die Armbanduhr, in der Hoffnung, dass er meinen Ärger versteht und das Telefonat baldigst beendet. Weit gefehlt – er stellt seine rechte Hand vor mir auf wie ein Stoppschild um mich auf Distanz zu halten und um mir dann mit den Fingern ebendieser Hand zu zeigen, dass es sich nur mehr um 5 Minuten Wartezeit handelt. Obwohl ich dem kaum Glauben schenken kann, schließlich kenne ich seinen Redefluss seit Jahren, mache ich am Absatz kehrt und laufe die Stiege hinunter. „Nichts wie raus an die frische Luft“ ist das Einzige, was ich jetzt noch denken kann. „Was fällt dem Kerl eigentlich ein, mich hier stundenlang warten zu lassen“ schießt es mir durch den Kopf. Schließlich sollte auch ihm etwas an unserem gemeinsamen Urlaub, an unserer ganzen Beziehung liegen. Unfähig, auch nur mehr eine Minute ruhig im Auto zu sitzen und zu warten gehen ich die Straße auf und ab. „Ein guter Kaffee wäre jetzt grad das Richtige“, dieser Gedanke wird ziemlich schnell in die Tat umgesetzt. Das nächstbeste Café wird angesteuert, „soll er doch schauen, wo er bleibt“ denke ich mir. Schließlich kann er mich in Zeiten des Handys ja anrufen, wenn er mich nicht mehr wartend im Auto vorfindet. Erhobenen Hauptes, mit einer tüchtigen Portion Trotz im Gesicht, nehme ich an einem freien Tisch vor einem belebten Straßencafé Platz. Die milde Morgensonne blinzelt durch die Blätter eines Kastanienbaumes und der laue Windhauch, der mit meinem dünnen Seidenschal spielt versöhnt mich wieder ein wenig mit der Welt rund um mich. Ich habe mich auf Italien gefreut und das lasse ich mir nicht so einfach vermiesen - nehme ich mir vor und
79 bestelle anstatt des Kaffees gleich ein Glas Prosecco. Nach dem ersten Schluck beginnt sich mein Gemüt schon zu entspannen und ich blicke ein wenig interessierter in die Runde der Lokalgäste. Junge Pärchen, die sich bei einem gemütlichen Frühstück getroffen haben, eine ältere, sehr gepflegte Dame mit Hund und ein stattlicher Mann mit Vollbart und Hornbrille, der in eine Zeitung vertieft ist umgeben mich an diesem lauen Frühsommertag. Ich bin schon bei meinem zweiten Glas Prosecco angelangt, als ein sportlich wirkender junger Mann, in Jeans und Karo Hemd, lässig einen Pulli über die Schulter geworfen am Nebentisch Platz nimmt. Seine positive Ausstrahlung umgibt ihn wie eine Hülle, gleich einer glitzernden Seifenblase. Frech schaut er in meine Richtung und ich muss zugeben, dass mich sein Blick ein wenig unruhiger werden lässt. Seine Unbekümmertheit und sein spitzbübisches Lächeln lassen ihn noch jünger aussehen, als er wahrscheinlich ist. „Herrlicher Tag für einen kleinen Ausflug“ sagt er in meine Richtung, wobei ich mich des Eindruckes nicht erwehren kann, dass er ein klein wenig näher gerückt ist. Fast meine ich, ein wenig den Duft seines Aftershaves in mir aufnehmen zu können. „Mhm“ ist alles, was ich in diesem Moment rausbringe, ich fühle mich seit langem wieder wie ein Backfisch beim allerersten Date. „Stell dich nicht so an“ schießt es mir durch den Kopf und nach ein paar Schrecksekunden, in denen mein Herz in mir mit dem Lift vom Keller in den obersten Stock und wieder retour gerast ist versuche ich meine Gelassenheit wiederzuerlangen. „Hatte ich auch vor, nur mein Zug steht seit Stunden im Bahnhof und fährt nicht ab“ entgegne ich mit einem Lächeln und habe plötzlich meinen Humor wiedererlangt. „Wie wäre es mit einem anderen Zug der nach Venedig fährt, Abfahrt in wenigen Minuten, Bahnsteig 7 und ich hab gute Beziehungen zum Schaffner, der kann dir sofort ein Ticket besorgen“ trällert er und zeigt bei seinem verschmitzten Grinsen zwei Reihen blütenweißer Zähne. „Na dann, auf nach Venedig“ erwidere ich keck, völlig überrumpelt von den Worten, die durch meine Lippen entwichen sind. „Super, endlich eine spontane Frau“ erwidert er, „aber wie schaut es mit deinem Gepäck aus?“ „Das ist ja wohl das geringste Problem“ kontere ich, „das ist in 5 Minuten gelöst. „Fein, dann hole ich mein Auto und wir treffen uns gleich wieder hier“ antwortet er, während er den Kellner um die Rechnung bittet. Völlig überrannt, von meinem eigenen Mut mache ich mich auf den Weg, mein Gepäck aus dem Auto meines Freundes zu holen, der auch nach gut 3 Stunden noch immer nicht erschienen ist. „Manchmal übernimmt halt das Schicksal die Entscheidung“ denke ich mir und befördere meinen Koffer aus dem Auto. Einige Minuten später stehe ich am Gehsteig und beobachte, wie ein mir bis jetzt völlig fremder Mann meinen Koffer auf dem Rücksitz seines Wagens verstaut. Und nun sehe ich die ToDo-Liste auf meiner Pinnwand vor meinem geistigen Auge, die ich damals Löffelliste nannte. Löffelliste deswegen, weil darauf Dinge notiert sind, die ich unbedingt noch machen will, bevor ich mich von dieser Welt verabschieden muss und sozusagen „den Löffel abgebe“. Darauf stehen 2 Dinge, die noch immer offen sind, obwohl die Liste schon einige Jahre alt ist. Einmal eine Reise nach Venedig, spontan nur auf einen Kaffee am Markusplatz und der zweite Vorsatz war, mitten auf einer Brücke einen fremden Mann küssen. „Venedig hat sehr viele Brücken…“ denke ich mir schmunzeln, als ich in diese strahlenden Augen meines Gegenübers blicke und dann höre ich mich fragen: „hey, wie heißt du eigentlich?“
80 Codewort: Lord Teufelsbrück
Den VW ließ ich bei einem Händler – ein spontaner Entschluss - bestieg den Zug nach Ötztal und wanderte hinaus in die Nacht. Ein kalter Wind blies das Tal herunter. In einem Stadel fand ich Unterschlupf. Zeitig am Morgen nahm mich ein Hamburger mit nach Vent, ans obere Ende des Tales. Auch er wollte Höhenluft atmen….die Wildspitze…. Drei Tage folgten wir markierten Routen zu verschiedenen Hütten und genossen wie Kinder diese hochalpinen Weitblicke, in denen Zivilisation kaum zu spüren ist. Nachdem wir den Kreuzkogel – mit 3500m unser höchster Berg - bestiegen hatten, trennten wir uns, da ich weiter nach Italien wollte. Auf meiner Karte war da eine strichlierte Linie, die über ein Schneefeld zur Grenze, und weiter zur Hütte „Bella Vista“ oder „Bona Vista“ – ich weiß nicht mehr genau - und hinunter ins Schnalstal wies. Zeitig am Morgen begann der Anstieg von 1900 bis zur Höhe des Eisfeldes, entdeckte den Gletscher etwas abseits der Route – der erste in meinem Leben – wanderte hinein, legte mein rotes Halstuch aufs Eis und machte einen Kopfstand darauf. Da kam eine Gruppe von außerweltlichen Wesen daher – sieben an der Zahl, vermummt, mit Pickel, Steigeisen und durch ein Seil verbunden. Wir bestaunten einander, bis die Leitfigur mir zu verstehen gab, dass ich hier mit Kletterschuhen fehl am Platze sei. Als ich meine Absicht, auf diesem Wege Italien zu erreichen, kundtat, schüttelte der den Kopf und meinte: wenn unbedingt, so sollte ich in die Fußstapfen seiner Gruppe in umgekehrter Richtung treten, was mich zu meinem Ziel bringen würde. Gletscherspalten seien die Gefahr, wie er - mich aufmunternd – zu verstehen gab. Jetzt war ich, Gott sei dank, doch ein bisschen vorsichtig geworden, schwankte zwischen dem ursprünglichen Plan, der strichlierten Linie über den weiten Sattel zur Grenze zu folgen, oder eben den Spuren über den Gletscher. Es war ein strahlender Herbsttag und ich entschied mich für die Route der Eispickeltruppe. Welch ein herrlicher Tag mit Gruseln im Bauch als ich zweimal – den Rucksack voraus - über schmale Spalten springen musste. Das bläuliche Eis, der bleichblaue Herbsthimmel, die Spitzen der Berge, zwischen denen sich immer neue Vistas öffneten nach West und Ost und die bizarren Gipfel der Dolomiten im Süden. Als ich den Spuren über die Grenze folgte – ungefähr hier war später der Ötzi herausgetaut - fühlte ich erst Erleichterung, dann Stolz, etwas Gefährliches gemeistert zu haben und dann: Ernüchterung, wie nach einem Drogentrip, herunter aus diesem High, das wohl die echten Bergsteiger immer wieder dort hinauf lockt: „Der Berg ruft“. Ja, aber ich wusste, ich musste weiter, nicht überhastet, aber eben weiter. Noch sieben Tage bis Segovia! Den Alpenhauptkamm überquert, wie einst die Kimbern und Teutonen als die in den Süden auf ihren Schilden rutschten, wie ich jetzt auf meinem unpassenden Schuhwerk und Bella oder Bona Vista erreichte, wo ich im Gewusel von Bergfexen einen Schnaps trank, vor der Hütte zwei gekochte Eier und Brot kaute, ehe ich, von der Oberwelt Abschied nehmend, mich bergab durchs Schnalstal in den Vinschgau aufmachte. Der Pfad war nun meiner Ausrüstung angepasst und so schritt ich munter voran. Langsam näherte ich mich wieder dem Gedröhne des von uns Menschen beanspruchten Lebensraums. Der Übergang gestaltete sich weniger ernüchternd, da sich mein müder Körper jetzt schon nach den Errungenschaften, wie heiße Dusche, warmes Essen, die Ansprache netter Leute, schließlich nach einem bequemen Bett sehnte. All das empfing ich im Übermaß als mich ein Bäckermeister auflas, mich ins Etschtal hinaus und dann stromauf durch diesen allerliebsten Vinschgau zu seiner Tante nach Silandro brachte, deren kleine Pension sich dem Flussufer durch einen zauberhaften Rosengarten verband. Allerlei Nippes standen auf den Kommoden und eine große Tür führte hinaus in diesen verträumten Garten im Rauschen des Flusses. Die alte Südtirolerin servierte mir zwei Forellen mit reichlich Knoblauchbutter, Kartoffel und Salat, dazu weißen Landwein. Ich weiß nicht, ob du das kennst, wenn Ereignisse – alle angenehm und natürlich unerwartet – sich aneinanderreihen, einen mitnehmen und keine Zeit zum Reflektieren lassen. Die natürliche Wärme, die mir von diesen ersten Kontakten bereitet wurde, dazu wohl auch die zusätzlichen Grade südlich des Alpenhauptkammes, brachten mich in eine wunderbare Hochstimmung, in der ich nun einen Spaziergang am Etsch entlang machte. Reife Äpfel lugten aus den Bäumen, das breite Tal, die eisigen Riesen im Norden, die ansehnlichen Rücken der südlichen Schulter, auf denen Burgen sitzen und dann, eine Gruppe von Kindern mit bunten Wimpeln auf mich zu. Ich machte Platz am engen Weg, lehnte mich gegen ein Scheunentor; da hielten sie an und verbeugten sich vor mir, indem sie Fähnlein zu einem bunten Tanz vor mir schwenkten, fühlten mein glückliches Lächeln und zogen weiter. Kindergesichter aus dem ganzen Land, blond und dunkel und alle lachend und ungestüm und dennoch Acht habend auf den ruhigen Wanderer. Als ich zurück zur Pension kam, schrieb ich einen langen Bericht von Alpenglühen und Kinderlachen an die geheime Geliebte, ehe ich, des Dichters „Italienreise“ im Sinne, meinen Weg in die Träume begann.
81 Früh am Morgen beglich ich die vernünftige Rechnung und wanderte weiter stromauf. Ein Münchner Mercedes auf dem Weg nach Davos gab mir all die Bequemlichkeit eines fahrenden Prinzen. Das ältere Ehepaar war erstaunt über meine Geschichten und enttäuscht, als ich in Münster, just jenseits der Grenze, bat das Kloster zu besichtigen. Ihr Interesse galt jedoch nur Davos, das sie auf schnellstem Wege zu erreichen suchten. Hier in Münster gab es karolingische Architektur zu entdecken – für mich zum ersten Mal. Aus dem Schatten einer Kiefer ließ ich mich hineinziehen in diese längst vergangene Epoche, wie es wohl war vor mehr als tausend Jahren in diesem Tal: was sie wohl dachten und was sie beflügelte, solch ein Bauwerk zu errichten. Das war schon von jeher der Beweggrund meines Reisens, einzutauchen – oder es zu versuchen – in die Zeit, ihr Wissen, ihren Glauben und Aberglauben, ihre Art des Miteinander und die Gefahren, ausgelöst durch Unkenntnis und Aberglaube. Vor mir der Turm Erbaut vor tausend Jahren Umschwärmt von Schwalben Neben mir die Kuh Sauft Wasser aus dem Holztrog Und schnaubt Ganz wie vor tausend Jahren
Es atmet, fliegt, vergehet und ersteht Und ich, der Mensch Ich teile, ich trenne, ich benenne Die Ewigkeit….
Weiter ging es dann nach Chur, wo ich einer lebenslustigen Wiener Fleischhauerstochter in die Hände geriet, die mich zu einer willkommenen Übernachtung in ihre Wohnung mitnahm. Beim Frühstück in einem Stadtcafe überraschte mich ein junger Mann beim Kartenstudium. Er führte den Finger zum St.Gotthart und begann über diesen – wie er es nannte –„Kreuzpunkt“ der Alpen zu schwärmen, wie ich erst meinte, bis ich dann von einem ernsthaften Referat über viel mir Unbekanntes, diesen Kreuzpunkt betreffend, eingenommen wurde. Er sprach vom „unschlüssigen Wasser“, das von dort oben in alle Richtungen floss: Ost, West, Süd und Nord, dass Rhein, Reuss und Rhone dort ihren Ursprung nahmen, Wiege der Eidgenossenschaft, steinerne Seele der Schweiz usw. bis er mich zum Bahnhof brachte, wo ich ein Ticket über den Gotthart nach Genf löste. War das eine glückliche Fügung, diesem – erst wirr anmutenden – jungen Mann, zugehört zu haben. An einem sonnigen Herbstvormittag nun brachte mich dieser bemerkenswerte Zug über viele Kehren - an Steilstücken ein Zahnrad einsetzend, das von der Lokomotive auf eine mittige Zahnstange einwirkt - hinauf zu diesem einmaligen Knotenpunkt, der über nur einen Pass Nord und Süd Europa verbindet, oder trennt; wo ich dann kurz entschlossen ausstieg, um hier zu übernachten und am kommenden Morgen erst weiter nach Genf zu fahren. Eine erschwingliche Herberge, und wanderte herum in dieser Wiege der Eidgenossenschaft, besungen von Dichtern, umsponnen von Mythen, von Machthabern begehrt. Die Teufelsbrücke! Als dann am folgenden Morgen der Zug durch einen Tunnel über eine Brücke weiter zog, sah ich, wie aus einem Eiszapfen Wasser heraustropfte – die Geburt der Rhone. Es war eine phantastische Reise zwischen Eisriesen das Tal hinunter nach Montreux zum sonnigen Genfersee, an dessen Nordküste – durch Weingärten, anmutige Städtchen, über Lausanne - ich schließlich Genf erreichte. Es war Abend geworden. Im Rotlichtdistrikt, in Bahnhofsnähe war Platz für mich, das Zimmer akzeptabel und der Ausblick – Mont Blanc – ein wirklich weißer Berg. Ich trödelte hinunter zum See und war sofort umgeben von der weiten Welt. Ein Ausflugsschiff näherte sich
82 dem Pier, Henry Dunant stand drauf und das rote Kreuz am Schornstein. An der breiten Promenade – der weiße Berg glühte im Abendrot – all mögliche Gestalten, all möglicher Länder, in all möglicher Kleidung mit und ohne Hündchen am Diamant Halsband und so weiter und so weiter. Die Schweiz und da besonders Genf, atmet die Ruhe des gesicherten Wohlstands und der Toleranz. Alle Farben und Rassen mischen sich scheinbar unbekümmert. Verlorene Seelen – reich und arm – streifen an einander vorüber ohne den Anschein der Belästigung. Point Omega menschlicher Bestrebung in diesem Jammertal? Ja man kann vom Schwärmen in Erschütterung geraten, wenn man sich hier treiben lässt und plötzlich an Drogenkartelle, das Herz der Finsternis, Hitler … Stalin denkt. Hehre Gedanken wurden hier verwirklicht: das rote Kreuz, der Völkerbund, die Uno und viele fanden Zuflucht, wenn die Erde ringsum brannte. In einer Kneipe zwischen Nutten trank ich den Roten und war ganz zufrieden. Denn ohne diese wackeren Empfängerinnen männlicher Wollust, deren Fähigkeiten oftmals Phantasien kranker Hirne entschärfen - mal geheiligte Monstranz, mal Kloake all dessen, was dem Alltag verborgen in der so genannten heilen Welt – ja wieder ins Schwärmen – na ja – holde Verführung in meinem Zustand – sitz ich da, lass mich anlächeln, mich verführen von all dem sommerabendlichen Gewoge, bereichert durch die Erlebnisse der letzten Tage. Der Morgen und stehe an der Straße, winke, und wirklich, er hält an, der Herr mit der Pilotenmütze, deutet mir: den Rucksack auf den kaum vorhandenen Rücksitz und klettere ins Frontfauteuil des „antiken“ Bugatti. Mit gespieltem Unmut betrachtet er das Ziffernblatt der Sportuhr unter Wildlederschutz; also – Eile. Und so geht’s los durch das windige Tal nach Frankreich die Rhone hinunter. Das Ziel Avignon. Es braust, ein gelegentliches Lächeln unter der Schutzbrille und ich ganz gefangen von dem Fahrgefühl und durch das Geburtsland der hohen Minne, das sich von hier gen Westen breitet. Meine Anknüpfungsversuche quittiert er mit Lächeln. Es stellt sich heraus– keine gemeinsame Sprache. Rumäne vielleicht? In Avignon angelangt, exakt vor dem Papst Palast ist das Rennen zu Ende – für mich zumindest. Ein kurzer Blick aufs Uhrwerk, ein Lächeln, das Aufbäumen von hundert Pferden, ein flatternder Schal und weg ist er. Ja da steh ich jetzt vor diesem Palast, in dem einst Päpste ihre begrenzte Macht entfaltet haben, denn eigentlich waren sie Gefangene der französischen Könige. Der Wind wirbelt; Symbol der Vergänglichkeit – Staub. Sur le pont d´Avignon l´on y danse, l´on y danse… lockt das Lied aus Kindertagen, und wirklich, gar nicht weit und wandere hinaus bis zum Ende der Brücke, zur Mitte des reißenden Stroms. Vor zwei Tagen noch ein paar Tropfen aus dem Eiszapfen, jetzt ein Strom, der die Landschaft geformt…Ich drehe mich im Tanz, aber eigentlich wusste ich, dass es sous, also unter der Brücke war, wo getanzt wurde und lugte unter die Bögen, wo es einst Cafes gegeben haben soll. Diese Lockerheit des Reisens! Und schon dreht sich ein Mädchen mit im Kreise und ihr Freund ganz ohne Berührungsangst – aus Galizien, im Nord Westen Spaniens. Durchreisende, wie ich, saßen wir dann zusammen und tranken schweren roten Landwein. Ihr Interesse galt dem Okzitan, der Sprache der Troubadours, der Katarer, oder Albingenser, wie sie auch genannt wurden und deren Auslöschung durch Inquisition und französische Herrschaftsausdehnung. Die beiden kannten die einstige Bedeutung der Stadt und die gnostische Bewegung der Katharer, der „parfaits“, die sich bis Toulouse ausbreiten konnte, da sie durch Askese und Besitzlosigkeit, der ignoranten und prassenden katholischen Priesterschaft an Glaubwürdigkeit weit überlegen waren. Auch verband sich die poetische Pflege der hohen Minne ansässiger Ritterschaft mit den Bestrebungen der Katarer, was auch jener Blüte, in den so genannten Albingenserkriegen, zum Verhängnis wurde. Tragische Auslöschung einer hochsinnigen Kultur. Narbonne und Carcassonne sollte ich noch besuchen und natürlich Montségur hochoben, den letzten Schauplatz der Vernichtung. Aber all das sollte erst später kommen, denn jetzt bestieg ich den Zug, um über Barcelona und Madrid die Stadt Segovia, das Ziel meiner Reise, zu erreichen.
83 Codewort: Fernweh Mein erster Urlaubstag (Rumänien 1971) „ Gibt es hier keinen Schlafwagen?“ Der beleibte ältere Herr schnaufte und legte seinen Kopf in die flache Hand. Der Schaffner verstand und sagte: „Nu, tot ocupat! Tot ocupat!“ Zwei rasche Sätze folgten noch. Dann schloss der Eisenbahner mit einem kräftigen Ruck die Tür zum Abteil. Meine Mutter übersetzte: „Es ist alles besetzt“ ,sagt er, Sie hätten sich schon in Wien um einen Platz im Schlafwagen umsehen sollen.“Ja,ja“ brummte der Mann und lehnte sich verärgert zurück. Zwölf Stunden saßen wir schon im Zug, hatten Ungarn durchquert und die Grenzkontrollen nach Rumänien überstanden. Inzwischen war es Nacht geworden und die Reisenden rückten Jacken und Pölster zurecht, um ihre Häupter bestmöglichst hineinzubetten. Sitzend zu schlafen war nicht jedermanns Sache. Neugierig beobachtete ich die dahindösenden Fahrgäste im Abteil. Der ältere Herr hatte seine Schuhe ausgezogen und die dampfenden Füße auf den einzigen freien Platz gelegt, den Platz neben mir. An der Tür saßen zwei rumänische Frauen, die ältere schätzte ich auf achtundzwanzig, die jüngere auf zwanzig Jahre. Beide waren mit einer merkwürdigen Uniform bekleidet, mit hellgrauen Jacken und ebensolchen Röcken mit grünem Abschluss. Auf dem Kopf trug jede ein grünes Barett, schief aufgesetzt. Darunter lugten blonde, beziehungsweise brünette Haare hervor. Meine Mutter hatte mir zugeflüstert: „Das sind sicher Geheimagentinnen oder Spitzel. Pass auf, was du redest.“ Nun, für Geheimpolizistinnen waren sie zu auffällig gekleidet, und im übrigen fand ich die beiden sehr attraktiv, vor allem die jüngere. Mit diesen Gedanken fiel auch ich in einen wohltuenden, wenn auch nicht allzu tiefen Schlaf.
Plötzlich kreischende Bremsen, Pfeiftöne, Rufe. Der Zug war in den Bahnhof von Arad eingefahren. Hunderte Menschen saßen auf den Bahnsteigen, auf den Stufen, ja selbst auf den Gleisen lagerten sie – auf Koffern, riesigen Leinenbeuteln und auf dem Boden selbst. Als der Zug zum Stehen kam, sammelten die Wartenden ihre Habseligkeiten und begannen den Zug zu stürmen. Instinktiv machten wir die Vorhänge zu, sowohl bei der Türe, als auch beim Fenster. Wir hofften sehr, die Massen würden am abgedunkelten Abteil vorbeiströmen. Doch diesmal wirkte der Trick nicht. Ein athletischer Typ von Mann schob die Türe zur Seite und rief auf Rumänisch: „Wir brauchen drei Plätze!“ Meine Mutter zeigte auf die Füße des Alten und meinte: „Ein Platz ist noch frei“ ,worauf sie von diesem einen hasserfüllten Blick erntete. Der Athlet suchte weiter. Aber hinter ihm drängte sich eine junge schlanke Frau ins Abteil, deutete kurz „Füße weg!“ und ließ sich auf den freien Sitz fallen. Doch sie war nicht allein gekommen. Auf ihren Schoß setzte sie einen etwa dreijährigen Knaben. Zu ihren Füßen kauerte ein fünfjähriges Mädchen, das über Kopfschmerzen klagte, immer leiser werdend weinte und sich bald auf dem schmutzigen Boden ausstreckte. Alle im Abteil musterten die Frau. Sie trug die Tracht der Siebenbürger Roma, die sehr bunt und reichlich gefaltet war. Doch ansonsten machte die Frau einen erbärmlichen Eindruck. Sie war abgemagert bis auf die Knochen, ihre Gliedmaßen schienen dünn und zerbrechlich zu sein. Ihre Augen waren blau unterlaufen, der Blick war stumpf und matt. Der Mann in der Mitte zischte meiner Mutter zu: „Drei Leute auf einem Platz – unmöglich. Und das Kind ist krank. Es wird uns alle anstecken.“ Doch meine Mutter erwiderte: Lassen Sie doch die arme Frau! Sehen Sie nicht, dass sie völlig erschöpft ist?“ Die Zigeunerin erriet, dass über sie geredet wurde und sagte auf Rumänisch: „Bin schon drei Tage unterwegs. Kann nicht mehr. Mein neues Zuhause ist weit, sehr weit“. Dann schloss sie die Augen vor Erschöpfung. Die Schwäche und die Müdigkeit hatten gesiegt.
1 Ich hatte von meiner Mutter erfahren, dass es im Zug einen Speisewagen gab und machte mich auf den Weg, um einige Getränke zu holen. Im Korridor hörte ich eine Stimme hinter mir: „Darf ich mitkommen? Ich komme um vor Durst und alleine wage ich den schwierigen Weg nicht zu gehen!“ „Natürlich!“ antwortete ich.
84 „Kommen Sie mit!“ Es war die jüngere der beiden Damen, die an der Tür saßen. „Sie sprechen Deutsch?“ fragte ich. „Das haben Sie bis jetzt aber verheimlicht.“ „Es gab keinen Anlass, Deutsch zu sprechen. Außerdem hatte ich Respekt vor dem mürrischen Typen, der in der Mitte sitzt.“ „ Das kann ich gut verstehen“, sagte ich. Unser Weg zum Speisewagen erwies sich als Hindernislauf. Der Zug war hoffnungslos überfüllt. Überall im Korridor saßen oder lagen die Ärmsten, die keinen Sitzplatz gefunden hatten. Wir mussten über große Koffer steigen, über Beine, selbst über Köpfe, die auf nackten Ellbogen ruhten. Manchmal waren große Schritte vonnöten. Ich gab der jungen Frau die Hand, um sie sicher über die Hindernisse zu leiten. Unterwegs fiel mir eine rote Tafel auf, die mit vielen Gefahrenzeichen versehen war. Meine Begleiterin übersetzte: „Das Besteigen der Lokomotive und der Waggondächer ist für Fahrgäste verboten! “ „Wäre mir auch nie eingefallen“, lachte ich und schob sie weg von der mahnenden Tafel. Im Speisewagen angekommen nahmen wir zunächst ein Bier zu uns, um den ärgsten Durst zu löschen. Wir stießen an und stellten uns vor. „Andreas“ ,sagte ich. „Irina“ ,erwiderte sie. Im weiteren Gespräch kamen wir darauf, dass wir beide Jus studierten. Sie erhob ihr Glas: „Auf ein erfolgreiches Studium!“ „Noroc!“ wünschte ich, was soviel wie Glück bedeutet. „Prost“ darf man in Rumänien nicht sagen, denn das bedeutet „dumm“. Irina erzählte mir, dass sie einer Jugendorganisation angehörte – vergleichbar mit unseren Pfadfindern. „Ah, deshalb die Uniform“, dachte ich. „Sie ist schön und operettenhaft, aber völlig harmlos.“ Wir unterhielten uns lange und lachten viel. Manchmal gestikulierte Irina, wenn ihr ein deutsches Wort nicht einfiel. Dabei geschah es, dass ihr strenges Barett vom Kopf rutschte und ihr langes brünettes Haar auf ihre Schultern fiel. Ich musste sie die ganze Zeit ansehen. Das bemerkte sie und wurde rot. Ich aber hatte mich längst in sie verliebt. Zuletzt kaufte ich noch drei Flaschen Orangensaft. „Für mich“ ,erklärte ich, „für meine Mutter – und für Mama mit Baby.“ „Das ist nett von dir“ ,sagte sie. Und nach einer Pause : „Wir bleiben doch beim Du ?“ Es klang verhalten und unsicher. „Keine Frage“ ,antwortete ich, „du bist doch meine Kollegin!“ Ich hätte ihr gern etwas Zärtlicheres gesagt, aber ich traute mich nicht. Als mir nichts mehr einfiel, sagte ich: „Machen wir uns auf den Weg. Es wird sicher wieder eine Klettertour.“ Auf dem Rückweg bemerkten wir, dass eine Waggontüre offenstand und das bei voller Fahrt. Es war stockfinster draußen. Der Schnellzug stampfte durch die Nacht. Männer standen im Kreis, scherzten ausgelassen, warfen ihre Zigarettenstummeln durch die offene Tür. Einer bot uns Schnaps an, was wir dankend ablehnten. Plötzlich ein durchdringender Schrei. Kam er von draußen? Kam er aus einem der Zugabteile? Fragende Blicke machten die Runde. Niemand wusste Bescheid. Irina zog an meinem Hemd: „ Es ist unheimlich hier. Komm! Suchen wir unser Abteil!“ Beim nächsten Halt war der mürrische Herr ausgestiegen. Eine Wohltat! Die Stimmung änderte sich schlagartig. Alle begannen miteinander zu reden und zu scherzen. Selbst die Zigeunerin – sie nannte sich selbst so – war aus ihrer Ohnmacht erwacht und gähnte ungeniert. Sie schien dankbar zu sein, dass sie in unsere Gemeinschaft aufgenommen wurde. Andernorts wurde kaum mit ihr geredet, und wenn, dann nur im Schimpfton. Sie schien um ihre kranke Tochter sehr besorgt zu sein und redete mit zärtlichem Tonfall auf sie ein. Doch das Mädchen, das den Platz des alten Herrn eingenommen hatte, reagierte nicht und hatte Mühe, die Augen offenzuhalten. Der Junge hingegen kletterte auf dem Schoß seiner Mutter umher und streckte seine Händchen in mein Gesicht. Ich packte sie und spielte mit ihnen, worauf der Kleine ganz zu mir kam und seine Arme um meinen Hals schlang. Ich streichelte ihn und hielt ihn behutsam fest. „Mein Baby“, sagte ich, „in welche Welt wächst du hinein? Was erwartet dich da draußen?“ „Er heißt Viorel und das Mädchen Ana“, sagte die Zigeunerin freundlich. „Und ich heiße Grassu Florica“ , ergänzte sie. Ich erfuhr, dass ihr Mann sie verlassen hatte und sie zu ihrem Bruder reiste, der in einem Sumpfgebiet nördlich der Hauptstadt wohnte. Ana war eingeschlafen und atmete flach und rasch. Ihre Haut war braungelb gefärbt, ihre 2 Augen gelb, doch das sah man jetzt nicht. „Im Dorf meines Mannes hatten viele Kinder diese Krankheit“, klagte die Frau. „Zwei sind bereits daran gestorben. Ich bete täglich für Ana.“ Und nach einer Pause fragte sie: „Glauben Sie, dass meine Tochter wieder gesund wird?“
85 Meine Mutter sah mich erschrocken an und flüsterte: „Du bist doch durchgeimpft? Oder?“ „Keine Sorge, Mama, beruhige dich.“ Irina warf meiner Mutter einen verständnislosen Blick zu und fragte Frau Grassu: „Waren Sie schon beim Arzt?“ Frau Grassu antwortete: „Dort im Dorf meines Mannes gab es keinen Arzt, weit und breit nicht, vielleicht gibt es einen im Dorf meines Bruders.“ Betretenes Schweigen. „Wenn Gott sie zu sich nehmen will, wird er es tun – mit oder ohne Arzt. Ich verstand nur Bruchstücke, doch das reichte mir. Zornig rief ich: „So dürfen Sie nicht reden! Ihr Kind muss dringend in ein Krankenhaus, heute noch!“ Meine Mutter übersetzte. Doch Florica winkte ab. „Zigeuner im Spital? Ich glaube nicht, dass sie uns dort aufnehmen. Das ist nur etwas für die Herrschaften!“ Irina biss sich auf die Lippen: „Ich glaube, sie hat nicht ganz unrecht.“ Mutter nickte zustimmend und meinte: „Sie hat sich mit ihrem Schicksal abgefunden.“ „Aber ich nicht!“ schrie ich. „Wir müssen etwas tun!“ Ich war voller Emotionen und meine Stimme bebte. Mutter sah verschämt weg, doch alle übrigen starrten mich mit großen Augen an, ängstlich, hell, erwartungsvoll.
Um sechs Uhr zehn hatten wir Bukarest, unser Ziel, erreicht. Gara de Nord hieß der Bahnhof. Er war alt und kaum beleuchtet. Meine Mutter und ich wurden bereits von unseren Verwandten erwartet. Überglücklich schloss meine Mutter ihren Bruder Victor in die Arme. Sie hatten sich seit drei Jahren nicht gesehen. Meine Tante und mein Cousin Doru küssten mich auf die Wange und auf den Mund, was mir sehr unangenehm war. Doch ich wollte keine Zeit verlieren, unterbrach einfach die ausschweifende Begrüßungszeremonie und rief gerade heraus: „Onkel! Tante! Ich muss euch was sagen! Wir haben ein schwerkrankes Kind im Zug! Nein, nicht unseres, aber es braucht dringend Hilfe! Wenn wir rasch handeln, könnten wir es retten!“ Alle schauten mich verwundert an. Mein Onkel sagte leicht irritiert: „Wie? Jetzt? Es ist sechs Uhr morgens.“ Mama schämte sich und flüsterte: „Es ist das Kind einer Zigeunerin.“ Onkel Victor wiegte sein Haupt und sagte: „Oh, ich verstehe. Das ist natürlich ein kleines Problem.“ Alle anderen schüttelten den Kopf über mich, als ob ich etwas Unanständiges verlangt hätte. Und mein Cousin Doru meinte: „Typisch Andreas! Ist kaum angekommen und spielt schon den Samariter.“ Ich aber ließ nicht locker und flehte: „Onkel Victor, du hast doch Beziehungen zu einem guten Arzt, soviel ich mich erinnern kann!“ „Natürlich! Professor Petrescu! Der hilft dir sicher! Er ist doch mein Freund!“ „Nicht ich brauche Hilfe. Es ist ein kleines Mädchen, die Tochter einer Romni.“ Und ich erzählte ihm von Ana, die so schwach war, dass sie kaum gehen konnte und schilderte ihm, so gut ich es verstand, das Krankheitsbild. Noch am Bahnsteig eilten wir zu einer Telefonzelle und riefen Herrn Petrescu an. Der Professor meinte, aussichtslos sei der Fall nicht, aber das Mädchen müsse auf jeden Fall ins Krankenhaus. Er meinte weiters, er schicke sogleich einen Krankenwagen, um die kleine Patientin zu holen. Die mittellose Mutter könne im Warteraum schlafen und werde versorgt. Ich war außer mir vor Freude und versprach, die anfallenden Kosten zu übernehmen.
Es war kalt und regnerisch an diesem Sonntagmorgen. Die Straße, die am Bahnhof vorbeiführte, war menschenleer. Kein einziges Auto war zu sehen. Die Bahnreisenden hatten sich schon längst verflüchtigt. Nur eine kleine Gruppe von Ankömmlingen drängte sich unter das löchrige Vordach des alten Gebäudes. Es war die Gesellschaft aus meinem Abteil. Doru hatte Gefallen an Irina gefunden und nervte sie mit Fragen und billigen Scherzen. Ich kümmerte mich um Florica und ihre Kinder. Der Schaffner hatte ihnen erlaubt, im Abteil zu bleiben und im Trockenen auf Hilfe zu warten. Als ich nach fünfzehn Minuten aus der Bahnhofshalle blickte, standen meine Verwandten noch immer im Regen. Endlich blitzten Scheinwerfer auf. Es war ein Krankenwagen, der die kleine Patientin abholen sollte. Gleichzeitig mit dem Krankenwagen traf ein gelber Dacia auf dem Bahnhofsvorplatz ein. Es war das Taxi, welches meine Mutter bestellt hatte. 3
86 Zu meinem Erstaunen ließ der Taxichauffeur sämtliche Leute einsteigen, die an der Pforte warteten, auch die beiden uniformierten Damen aus unserem Abteil. Es wurde eng, denn ein zweites Taxi gab es nicht. Ich blieb zurück, denn ich wollte unbedingt den Krankentransport begleiten. Irina saß auf dem Schoß meines Cousins und winkte mir zu. Das gefiel mir gar nicht. Ich wurde wütend und eifersüchtig. Doch bald hatte ich meine Fassung wiedererlangt. Im Moment war alles andere wichtiger als dümmliche Eifersucht. Noch im Gehen rief ich Doru zu : „Auf Wiedersehen, Casanova!“ - „Auf Wiedersehen, Mutter Theresa!“ antwortete er. Ich eilte zu den Rettungsleuten, die gerade dabei waren, die kleine Patientin aus dem Zug zu bergen. Ana hing lethargisch im Tragetuch, mit dem man sie herausgebracht hatte. Ich half, das kranke Mädchen in den Rettungswagen zu heben und stieg selbst ein. So saß ich mit Ana, Florica und Viorel im engen Transporter. Florica kümmerte sich um Ana, Viorel tappte wieder mit seinen Händchen in mein Gesicht. Ich atmete tief durch und lehnte mich zurück, müde, erleichtert und beinahe glücklich.
87 Codewort: Konfuzius Reisen mit Konfuzius Unsere Arbeitswelt wird immer hektischer, immer schneller, man sollte das Tempo drosseln, besser noch „erdrosseln“. Immer öfter denke ich ans Verreisen. Meine Gedanken sind 365 Tage im Jahr auf Urlaub. 5 Wochen davon sind sie in der Lage, meinen Körper mit zu nehmen. Diese Zeitspanne nennt man „Urlaub“. Dazu geschaffen, damit wir uns erholen und endlich entspannen können obwohl, die wahre Erholung findet doch an der Arbeitsstätte statt, nämlich in der Zeit wo sich der Chef auf Urlaub befindet. Urlaub, ausgetretene Pfade verlassen, also verreisen. Ein „r“ weggelassen und man denkt an den Nordpol als Reiseziel. Verreisen, aber wohin? Wie sagte schon der alte Konfuzius: „Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Reisekatalog“. Broschürte Vielfalt, tausende Reiseziele, oder doch jedes Jahr derselbe Urlaubsort? Wie Indiana Jones auf der Suche nach der goldenen Ehrennadel der Marktgemeinde? Konfuzius meinte auch, der Weg sei das Ziel. Funktioniert heutzutage nicht mehr wirklich. Die urlaubsreifen Massen wollen möglichst schnell an das Ziel ihrer Wünsche gebracht werden. Dosensardinen ähnliche Flugkörper umkreisen den Planeten. Man will nicht von A nach B, man will von Daheim nach Woanders, möglichst flott, aber gemach, gemach, kehren wir zurück zum ersten Schritt, zum Reisekatalog. Die alte Frage der Menschheit: Woher kommen wir, Wer sind wir und Wohin fahren wir auf Urlaub? Für wie viele Wochen reicht das Geld und reicht es auch für die Rückreise? Ins oder ans, Gebirge oder Meer? Norden, Süden, Osten, oder brauchen wir Westen? Kann man alleine über das Urlaubsziel entscheiden oder wird einem eröffnet, dass Kompromisse geschlossen werden müssen? Man darf ja Taucherbrille und Schnorchel mitnehmen, es wird aber trotzdem auf die Alm gefahren. Ich will aber unbedingt ans Meer, mein Sternzeichen ist Möwe, Aszendent Albatros. Ich liebe die mediterrane Küche und ich kann „Bitte ein Bier“ auf Italienisch, Kroatisch und Griechisch sagen. Meine erste Urlaubsreise führte mich allerdings vor über 40 Jahren nach Frankreich. Ohne fachkundige Beratung durch Reisebüroangestellte, lediglich mit Hilfe einer Straßenkarte und einer grünen Ente. Mein erstes eigenes Auto, ein nagelneuer grüner Citroen 2 CV mit 23 PS, einem luftgekühltem Zweizilynder Viertakt Boxermotor und Frontantrieb. Die Schweizer sagten „Döschwo“ zu ihm, wir in Österreich nannten ihn „Ente“. Die Franzosen sagten deux chevaux. Mit keinem anderen Auto danach konnte ich so herrlich in die Kurven gehen. Auf der Strecke nach Kärnten, und zwar auf der alten Bundesstraße über Frantschach – die Autobahn gab es damals noch nicht – habe ich in den engen Kurven sogar einen BMW abgehängt. Schnickschnack wie Airbag, ABS, ESP oder Ähnliches gab es damals auch nicht, aber ein Faltdach das ich bei Schönwetter natürlich immer aufgerollt hatte. Mit meiner Körpergröße von 198 cm pflegte ich einen Fahrstil, bei dem ich mit dem Kopf ständig über dem oberen Rand der Windschutzscheibe war, was zur Folge hatte, dass meine, damals lang getragenen Haare, stets wie frisch geföhnt aussahen. Ein Zweimannzelt im Kofferraum und einen zweiten Mann am Beifahrersitz, mein Schulfreund Heli erklärte sich bereit, das Abenteuer mit mir zu wagen, ging es ab Richtung Frankreich. Am ersten Tag schafften wir gerade die Strecke bis zum Gardasee. In Arco fanden wir einen Campingplatz und stellten bei strömendem Regen das Zelt auf. Windschief natürlich, das verstand sich von selbst. Am nächsten Tag ging es dann weiter Richtung Genua, permanent auf der ersten Autobahnspur, an ein Überholen war mit 23 PS nicht zu denken, schon gar nicht bei dem, fast ständig wehenden Gegenwind. Freundlich winkten uns die Italiener beim Vorbeifahren zu, die meisten hupten auch noch, daran musste man sich erst gewöhnen, je südlicher desto hup. Die Sonne hatte sich auch wieder entschlossen ein Scheindasein zu führen und somit war das Dach eingerollt und meine Nase fast ständig über der Windschutzscheibe. Bei jeder Rast und der dazu gehörigen Konsumation bekamen wir entsprechend Kleingeld gewechselt, das beim Sitzen im Auto gehörig drückte und so „entsorgten“ wir die Münzmengen im Kofferraum in einem meiner Schuhe. Bei Schuhgröße 46 hatte schon einiges Platz. Wir sammelten Lire und Francmünzen, diese Maßnahme sollte uns dann….. aber dazu später. Der Euro war damals ja noch nicht einmal in den Köpfen der Verantwortlichen, ja, von einigen Verantwortlichen gab es damals noch nicht einmal die Köpfe. Bei Genua erblickten wir das erste Mal das Meer und ein gewaltiger Windstoß hätte uns beinahe von der Autobahn geweht, mein Entlein hatte ja nur ein sehr geringes Gewicht und wir zwei Urlauber wogen damals auch nur einen kleinen Teil von dem was wir Heute auf die Waagen bringen. Vielleicht rettete uns ja da schon unsere Münzsammlung im Kofferraum.
88 Am zweiten Tag schafften wir es bis Cannes und wir wuselten mit unserem Entlein zwischen Rolls Royce, Lamborghinis und Bentleys herum. Meine Fahrtwindfrisur war damals der Hingucker am Strand von Cannes. In der Nähe von Nizza entdeckten wir dann, müde und abgekämpft wie wir waren, ein altes, verwittertes Schild mit einem Zelt darauf. Ein alter Steinbruch war hier offensichtlich zu einem Campingplatz erkoren worden. Einige Zelte waren schon aufgebaut, es waren jedoch keine Menschen zu sehen. Auch der zweite Anlauf, unser Zelt halbwegs gerade aufzubauen scheiterte, aber zum Schlafen würde es wohl genügen. Gerade als wir uns zur Ruhe in unser Zelt begeben wollten, tauchten die ersten „Mitcamper“ auf. Ein Verbrecheralbum war lebendig geworden. Um uns bewegten sich Gestalten die einem durch ihren bloßen Anblick das Fürchten lehren konnten. So schnell hatten wir unser Zelt noch nie, und auch später nie wieder, abgebaut. Weiter nach La Napoule, hier gab es einen akzeptablen Campingplatz und unser Zelt stand bald schon, natürlich wieder windschief, auf dem Rasen. Unsere direkten Zeltnachbarn waren Deutsche, die es sich nicht verkneifen konnten zu bemerken, wir hätten unser Zelt wohl in Pisa gekauft. Nach einer unruhigen Nacht, mir träumte ich wäre noch immer auf dem Steinbruch-Campingplatz und rund um mich würde gemeuchelt, erwachten wir gegen Mittag und es wurde uns erstmals so richtig bewusst: „Wir sind in Frankreich“. Essen gehen, französisch essen, aber unser Gusto übertraf unsere Barmittel bei Weitem und so setzten wir uns in das kleine Bistro direkt am Campingplatz. Meine Versuche, auf Französisch zu bestellen sorgten für allgemeine Heiterkeit aber wir bekamen dann doch noch etwas Essbares auf die Teller. Kein Champagner, keine Froschschenkel, aber ein Stück gegrilltes Fleisch und Bratkartoffel schmeckten so vorzüglich, dass wir ein anständiges Trinkgeld gaben und natürlich wieder Münzen, dieses mal Francs, zurück bekamen. Mittlerweile war ein Schuh schon vollgemünzt und auch der zweite Schuh war schon fast voll. Mit vollem Magen und etwas Vin Rouge in den Venen wurden wir übermütig und meinten, am selben Nachmittag noch weiterfahren zu müssen. St. Tropez, das war uns ein Begriff, lief doch damals der Film „Der Gendarm von St.Tropez“ mit Louis de Funes in unseren Kinos und tatsächlich, die Polizisten dort sahen alle aus wie Louis de Funes. Ihre lustigen Käppchen hatten es uns angetan. Hier wollten wir uns amüsieren. Als erstes fuhren wir an den Strand, parkten unser Entlein und begaben uns für ein paar kurze Schwimmzüge ins damals noch recht kühle Meer. Wir waren an der Cote d`Azur, Gendarmen mit lustigen Käppchen, sogenannte „Flics“ bewachten unser Auto, so dachten wir. Na ja, das mit der Cote d`Azur stimmte, aber was die Bewachung unseres Autos betraf, unterlagen wir einem großen Irrtum. Als wir zum Auto zurückkamen, bemerkten wir, dass es aufgebrochen war und unsere Geldbörsen waren samt Inhalt verschwunden. Auf zur Polizeistation, um den Diebstahl zu melden, aber wie, wenn keiner von uns französisch kann? Die Gendarmen waren ohne Käppchen nur mehr halb so lustig und weigerten sich, eine andere Sprache als Französisch zu verstehen oder zu sprechen. Unsere Pläne, auch noch Paris zu besuchen, lösten sich in französische Luft auf. „Merde“, ich konnte mein erstes französisches Wort, hätte aber gerne darauf verzichten können. Wie sollten wir wieder nach Hause kommen, der Tank war nur mehr halb voll und wir hatten kein Geld mehr, oder halt, im Kofferraum waren noch zwei Schuhe Größe 46, voll gefüllt mit französischem und italienischem Kleingeld. Die Heimkehrmöglichkeit war gerettet und Graz sah uns wieder, mit Schuhen im Kofferraum, in denen gerade noch 50 Lire herumklimperten. Zum Abschluss zitiere ich nochmals Konfuzius: „Wohin du auch gehst, gehe mit ganzem Herzen“ und ich ergänze: „…und einem Paar Schuhe, Größe 46, im Kofferraum“.
89 Codewort: Milow
Das Reisetagebuch
Es war einmal ein Junge, der in ein Mädchen verliebt war. Sie war wunderschön und bei allen beliebt. Er hingegen war für die meisten unsichtbar und furchtbar schüchtern. Jeden Tag in der Schule beobachtete er sie von seinem Platz in der letzten Reihe aus und träumte von ihr. Deswegen war er abgelenkt und bekam oft nichts vom Unterricht mit. Doch das war ihm egal. Für ihn war die Zeit viel sinnvoller genutzt, wenn er sie beim Tuscheln mit ihrer Nachbarin beobachten konnte und dabei ihr strahlendes Lächeln sah. Wenn er den Wellenbewegungen ihrer Haare fasziniert zuschauen konnte – denn ihre Locken waren schier nicht zu bändigen. Einige Male wollte er sie nach der Schule ansprechen, doch er brachte nie den Mut auf.
Nach den Sommerferien betrat er das Klassenzimmer in der freudigen Erwartung sie nach den langen Wochen endlich wieder zu sehen. Doch ihr Platz in der ersten Reihe blieb leer und aus den Gesprächen der anderen vernahm er, dass sie verreist war und wohl nicht zurückkommen würde. Er wollte wissen, wohin sie denn verreist war, da antwortete ihm ihre Sitznachbarin, dass ihr Vater einen neuen Job in Amerika bekommen hätte und sie von nun an dort zu Hause wäre.
Der Junge war damals erst vierzehn und wusste noch nicht viel von der Welt, aber er wusste, dass Amerika sehr weit weg war und er sie mit Sicherheit nicht mehr sehen würde. Einige Wochen lang war er sehr traurig und er dachte noch oft an sie, aber mit der Zeit fand er sich damit ab, dass sie fort war.
Als der Junge einundzwanzig war, erhielt er die Chance im Rahmen seines Studiums ein Auslandssemester zu absolvieren. Mehrere Länder kamen in Fragen. Angefangen von der Schweiz bis hin zu Russland und Amerika. Der Junge überlegte nicht lange und meldete sich bei einer Universität in Atlanta an. Alles wurde in die Wege geleitet. Es dauerte nicht lange, bis der Junge sich in den USA einlebte. Mit dem Heranreifen war er aufgeschlossener geworden und knüpfte schnell Kontakte. Eines Tages, als er über den Uni-Campus spazierte, stockte ihm plötzlich der Atem und er hielt inne. Um die Ecke bog das hübscheste Mädchen, das er je gesehen hatte. Er brauchte keine drei Sekunden, um sie wieder zu erkennen. Sie trug ihre Haare kürzer und ein wenig dunkler, aber noch immer fielen ihre Locken ungebändigt in ihr Gesicht und schaukelten bei jedem ihrer Schritte. Sie hatte noch immer dasselbe, strahlende Lächeln, das den gesamten Raum erleuchten konnte. Wie damals war der Junge auf einmal wie gelähmt und ihm hatte es sprichwörtlich die Sprache verschlagen. Dabei kam das hübscheste Mädchen der Welt direkt auf ihn zu.
Zuerst dachte der Junge, sie würde an ihm vorbei gehen und das Lächeln gelte mit Sicherheit jemand anderem. Er sah sogar zurück, um zu überprüfen, ob hinter ihm jemand stand. Doch da war niemand. Und tatsächlich! Sie blieb vor ihm stehen und sagte: „Hi!“ „Hi!“, stammelte er zurück. „Du bist neu hier, nicht wahr?“ „Ja…“, meinte er. „Soll ich dich ein bisschen herum führen?“ Der Junge konnte sein Glück kaum fassen. Sie hatte ihn zwar nicht wieder erkannt, aber immerhin hatte sie ihn angesprochen. Er war ihr aufgefallen.
90 In den nächsten Wochen verbrachten die beiden fiel Zeit miteinander. Sie zeigte ihm die Stadt und sie unternahmen auch Kurztrips nach L.A. und New York, für die sie ein paar Mal sogar die Uni schwänzten. Irgendwann erzählte er ihr, dass er sie von früher erkannt hatte. Sie war ganz erstaunt und wunderte sich darüber, dass sie ihn nicht erkannt hatte. Doch es spielte keine Rolle. Das halbe Jahr war das schönste im Leben des Jungen und er hatte sich noch nie zuvor lebendiger gefühlt.
Doch es kam, wie es kommen musste. Die Zeit verging wie im Flug und sein Auslandssemester war vorüber. Sie versprachen, dass sie einander schreiben würden und verabredeten sich für eine gemeinsame Reise nach Paris im Sommer. Das Sommersemester verging und die Freude auf den Sommer wurde immer größer und größer. Der Junge konnte es kaum erwarten, seine große Liebe endlich zu sehen.
Sie trafen einander am Flughafen und verbrachten eine wunderschöne Woche in Paris. Anschließend hängten sie noch zwei Wochen bei ihm zu Hause an. Einige Leute erkannten sie wieder. Nach den drei Wochen zusammen musste sie jedoch wieder nach Hause fliegen. Der Abschied fiel den beiden schwer, doch sie versprachen einander, sich in den nächsten Ferien zu treffen und buchten einen Flug nach Rom.
So vergingen die Jahre. Während des Studiums trafen sie einander in den Ferien und besuchten dabei die unterschiedlichsten Länder. Der Junge war mittlerweile zu einem Mann herangereift und das Mädchen zu einer Frau. Trotz der Entfernung waren seine Gefühle zu ihr so stark, wie zu keiner anderen Frau. Er genoss die wenige Zeit, die sie zusammen hatten und fertigte ein Reisetagebuch für sie beide an, in dem er alle ihre Aufenthalte im Ausland dokumentierte. Die vielen Städte, die sie besucht hatten, wurden in Erinnerungen eingefangen. Fotos und Gedichte, Momentaufnahmen.
Irgendwann jedoch dauerte es jedoch immer länger, bis er Antwort auf seine Briefe erhielt. Nach einiger Zeit erfuhr er auch den Grund. Sie hatte sich in einen jungen Amerikaner verliebt, der ihre Brieffreundschaft nicht gut hieß und den nächsten Sommer selbst mit ihr verreisen wollte. Dem jungen Mann brach es fast das Herz. Er hatte gewusst, dass es eines Tages so kommen hatte müssen. Aber doch noch nicht heute. Einige Wochen lang hatte er schweren Liebeskummer. Seine Freunde verstanden es nicht. Immerhin hatte er sie doch nur zwei Mal im Jahr gesehen. Sie meinten, er solle sich eine Freundin vor Ort suchen. Doch er gab immer nur als Antwort: „Der Ort ist nicht das Entscheidende. Das, was zählt ist die Liebe.“
Es war ihm egal, dass die anderen ihn für verrückt hielten. Er fasste einen Entschluss. Nachdem er sein Studium beendet hatte, brach er auf nach Amerika, um seine große Liebe zurück zu erobern. Er dachte, es wäre wie in einem Hollywood-Film. Doch leider sah die Realität anders aus. Die junge Frau war mittlerweile mit ihrem Freund verlobt und die Hochzeit sollte nächstes Jahr stattfinden. Verzweifelt versuchte der junge Mann, die junge Frau umzustimmen und für sich zu gewinnen.
Befänden wir uns hier tatsächlich in einem Märchen sähe die Geschichte nun so aus, dass sie am Traualtar „Nein“ sagte und die beiden glücklich bis in alle Tage zusammen lebten. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
91 Dies ist allerdings kein Märchen. Und der junge Mann gab eines Tages gebrochenen Herzens auf. Es ist jedoch nicht so, dass er für immer allein blieb und verbittert wurde. Nein – eines Tages lernte er wieder eine Frau kennen. Sie war die zweitschönste Frau, die ihm bisher begegnet war. Außerdem war sie klug und witzig. Es kam wie es kommen musste und die beiden heirateten. Eigentlich führte er ein glückliches Leben. Doch trotzdem war da immer noch dieses kleine Loch. Er dachte jedoch nicht weiter darüber nach, vor allem nicht, als die beiden schließlich Kinder bekamen.
Wieder vergingen Jahre und eigentlich hatte der Mann – mittlerweile war er in den 30ern - schon ewig nicht mehr an sie oder an das Reisetagebuch gedacht. Bis er eines Tages auf Geschäftsreise nach Brasilien fuhr. Es war heiß und er schwitzte in seinem Anzug. Eigentlich wollte er nur noch eine Dusche – es war ein langer Tag gewesen. Da sah er sie. Zuerst traute er seinen Augen nicht. Doch sie verschwand auch nicht beim zweiten oder dritten Mal hinsehen. Dieses Mal sprach er sie an. Sie unterhielten sich. Erzählten von ihren Leben. Sie lachten und tranken Wein. Es war, als wären sie einander nie fern gewesen. Er erzählte von dem Reisetagebuch und beim Abschied beschlossen sie, sich wieder zu treffen. Sie würden ihr Reisetagebuch weiter füllen – unter dem Vorwand einer Geschäftsreise. Anfangs hielt er es bloß für Spaß. Etwas, das man daher sagte - ohne große Bedeutung. Obwohl er die Brasilien-Reise in seinem Reisetagebuch notierte, dachte er nicht, dass er wieder von ihr hören würde. Er dachte, es wäre die letzte gemeinsame Reise.
Drei Monate später jedoch klingelte sein Telefon. Es war tatsächlich sie. Sie fragte, ob er sich noch an ihre Abmachung erinnerte und er bejahte. Sie wollte wissen, wohin die Reise gehen solle. Einen Augenblick zögerte er. Immerhin hatte er eine Familie und demnach Verantwortung. Doch die Sehnsucht war zu groß. Immerhin waren es ja nur ein paar Tage.
Es blieb nicht bei der einen Reise. Jedes Jahr trafen die beiden einander – insgesamt bereisten sie mehr als zwanzig Länder. Das erste Reisetagebuch war gefüllt und es folgte ein zweites und ein drittes. Niemand erfuhr je davon.
Bis zu dem Tag, als der Mann zusammenbrach. Er war 62 Jahre alt zu dem Zeitpunkt und es war ein schwüler Sommertag. Er war dabei, die Reifen seines Autos zu wechseln, als ihn ein Stechen in der Brust von der Arbeit abhielt. Er bekam kaum Luft und brach zusammen. Seine Frau fand ihn bewusstlos draußen liegen und alarmierte sofort die Rettung. Er hatte einen Herzinfarkt erlitten, erholte sich jedoch.
Von diesem Zeitpunkt an, wurde der Mann ruhiger. In sich gekehrter. Hin und wieder sah es so aus, als wollte er seiner Familie etwas erzählen, tat es jedoch nicht. Es vergingen sechs Jahre, in denen er sich immer mehr und mehr in sein Schneckenhaus verkroch. Zunehmend verschlechterte sich auch sein Gesundheitszustand. Dann kam die Diagnose: Lungenkrebs. Unheilbar. Letztes Stadium.
Ich weiß noch, meine Mutter war wie betäubt, als sie davon erfuhr. Mein Vater war merkwürdig ruhig. Ich wusste nicht, wie ich war. Ich denke, ich war unter Schock. Ich verbrachte viel Zeit mit meinem Vater. Er war nie ein Mann der großen Worte gewesen – er hatte sich immer hinter einer Mauer verborgen, die ich nie ganz durch zu dringen vermochte.
92 In seinen letzten Tagen erzählte er viel von seinen Reisen. Ich hörte ihm aufmerksam zu, auch wenn er mir zwei oder drei Mal die gleichen Geschichten erzählte. Ich wusste, die Reisen bedeuteten ihm alles.
Eines Tages dann – ich weiß noch genau, es war knapp vor Weihnachten – zog er mich zu sich ans Krankenbett heran. Er war sehr schwach und konnte kaum noch sprechen. Wir wussten nicht, ob er Weihnachten überhaupt noch erleben würde. Er war ein Schatten seiner selbst. Ich musste mich sehr bemühen, um seine Worte zu verstehen. „Meine Reisen…“, fing er an. Ich dachte, dass wieder die üblichen Reiseberichte folgen würden, doch ich irrte mich. „Ich habe sie nicht allein angetreten.“ Ein Hustenanfall folgte. „Weißt du, Sarah, allein reisen macht nicht mal halb so viel Spaß. Es kommt nicht auf den Ort an. Es kommt auf die Person an, mit der du an dem Ort bist.“ Ich verstand anfangs nicht ganz, was er mir eigentlich mitteilen wollte. „Ich habe euch immer geliebt. Dich und deinen Bruder… und deine Mutter.“ Erneut hustete er. Es bereitete ihm große Anstrengung zu sprechen. „Und ich habe es nicht einen Tag bereut, sie geheiratet und euch bekommen zu haben. Ich war glücklich. Ich hatte ein gutes Leben…“ Er hielt inne und starrte an die weiße Wand gegenüber dem Bett. Ich dachte schon, er würde nicht mehr weiter sprechen und geistig schon längst wieder abwesend sein. Doch dann sagte er: „Aber ich habe auch keine Reise bereut. Keine einzige. Und es hätte deiner Mutter das Herz gebrochen.“ Ich fragte ihn, was er damit meinte. Er nahm mich bei der Hand – es war ein sehr schwacher Druck, weil ihn seine Kräfte schon verlassen hatten – dann flüsterte er: „Sarah, mein Schatz! Kannst du etwas für mich tun?“
Es ist nun drei Jahre her seit jenem Tag. Mein Vater ist seit fast drei Jahren tot. Er hat das Weihnachtsfest nicht mehr erlebt. An jenem Tag offenbarte er mir sein größtes Geheimnis, indem er mir sein Reisetagebuch anvertraute. Ich war anfangs erstaunt, dann ein bisschen wütend. Ich erfuhr, dass er meine Mutter über Jahre betrogen hatte. Jedes Jahr traf er sich mit einer Frau unter dem Vorwand auf Geschäftsreise zu sein. Diese Frau – seine große Liebe. Ich glaube ihm, dass er meine Mutter geliebt hat. Aber wie er über SIE sprach… Das muss wahre Liebe sein. Natürlich ist das hier kitschig. Man könnte sagen, die beiden hatten nie einen Alltag zusammen, also wer weiß, ob die Beziehung gehalten hätte. Vielleicht wäre nach zwei Jahren alles vorbei gewesen. Wer weiß das schon…
Ich weiß jedoch, dass mein Vater nie ehrlicher zu mir war als in diesem Moment. Es schien mir, als dringe ich zum ersten Mal richtig zu ihm durch. Versteht mich nicht falsch! Er war ein guter Vater und er gab uns immer Liebe. Aber trotzdem war da diese Distanz. Dieses Geheimnis, das er in sich trug. Mir schien, als wäre es für ihn eine Erleichterung, als er mir von ihr erzählte.
Nachdem er starb, blätterte ich durch alle Reisetagebücher und staunte über all die Dinge, die ich nicht über meinen Vater gewusst hatte. Ich hatte nicht gewusst, wie er hatte sein können. Ich überlegte, ob ich meiner Mutter davon erzählen sollte, beschloss jedoch, dass ich ihr nicht unnötig das Herz brechen wollte. Was machte es für einen Unterschied?
Eine Reise hatte ich jedoch noch vor mir. Etwas, das ich meinem Vater am Sterbebett versprochen hatte. Er wollte, dass ich ihr das Reisetagebuch gab. Also setzte ich mich in meinen Wagen und fuhr den Highway entlang. Es war eine lange, lange Fahrt – eine Fahrt, auf der mich unendlich viele Gedanken und Gefühle überkamen. Einmal hielt ich sogar an, weil ich auf einmal weinen musste. Ich wusste nicht genau, warum ich weinte. Ich meine, natürlich weinte ich um meinen Vater, weil er gestorben war. Doch da war noch etwas anderes. Eine Melancholie, von der ich nicht zu sagen vermochte, woher sie kam.
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Als ich endlich mein Ziel erreichte, war ich nervös und knapp davor umzudrehen. Was sollte ich zu dieser fremden Frau auch sagen? Doch dann nahm ich meinen Mut zusammen, trat auf das kleine, weiße Backsteinhäuschen mit dem perfekt gepflegten Garten zu und klingelte an der Haustür. Hundegebell folgte und es dauerte einige Zeit, bis sich die Tür öffnete. Eine ältere Frau schaute mich freundlich an. „Bitte?“, fragte sie. „Guten Tag. Sind Sie Sarah Davis?“ „Ja, das bin ich.“ Sie lächelte. Und mein Vater hatte Recht – es war ein tolles Lächeln. Ich schluckte. „Ich bin Sarah Edwards. Und ich habe hier etwas für Sie. Von meinem Vater.“ Ich hielt das Tagebuch hoch. Sarah Davis‘ Gesicht verlor an Farbe, dann bat sie mich jedoch ins Haus und erzählte mir von ihr und meinem Vater und von all den Reisen, die sie gemeinsam erlebt hatten. Es war ein langes und emotionales Gespräch, aber je länger ich mich mit ihr unterhielt, konnte ich meinen Vater verstehen. Sie war eine tolle Frau. Am Ende meinte sie: „Er hat immer gesagt, er wolle nicht ohne mich reisen…“ Dann senkte sie traurig den Kopf und meinte: „Tja, seine letzte Reise muss wohl jeder allein antreten.“
94 Codewort: Riviera „La dolce vita an der Riviera“
Meine Füße tauchen ein in den weichen, warmen Sand und bei jedem Schritt sinke ich ein wenig ein. Es ist sehr warm und so langsam beginnen meine Fußsohlen zu brennen. Ich tröste mich damit, dass es ja nur mehr ein paar Meter sind und ich dann meine Zehen ins erfrischende, grün-blau schimmernde Meer strecken kann. Das Meeresrauschen wird immer lauter, die Wellen glitzern in der Sonne und ich…. „Na bitte, Italien ist ja so was von out. Da setz ich mich zwölf Stunden ins Flugzeug und schon bin ich in Thailand. Total in Mode und sehr spirituell!“ Jäh reißt mich meine Kollegin aus meinen Tagträumen und das gerade so nahe Meer löst sich in einer transparenten Wolke über ihrem Kopf auf. Nur mehr eine halbe Stunde bis Arbeitsschluss und dann geht’s auf zum Kurzurlaub nach Bibione – mit den liebsten Stränden meiner Kindheit. Zugegeben, die Ferne hat mich immer gereizt und hat mich in den letzten Jahren auf andere Kontinente geführt, aber das Urlaubsentspannungsgefühl hat sich bisher immer nur so richtig an meinem Hausstrand an der italienischen Riviera eingestellt. Das Sprichwort stimmt wirklich - warum in die Ferne schweifen, das Gute liegt so nah. Diesen Sommer gönne ich mir wieder ein bisschen la dolce vita in Bibione – alle Unkenrufe vergessend. Die Gedanken meiner Kollegin spuken in meinem Kopf - was soll spirituell sein an einer Fernreise nach Thailand? Stress am Flughafen, zusammengepfercht mit vierhundert anderen potentiell Klaustrophoben in der Holzklasse, nach zwölf Stunden total unerfrischenden Fluges die thailändische Kultur einsaugen - am besten im eingezäunten all inclusive Hotel? Da meldet sich meine Kollegin wieder zu Wort und ächzt „Angefangen schon mit dieser Blechlawine, die sich Richtung Mautstation wälzt, die nie enden wollenden Autokolonnen.“ Ich strecke meinen Hals, um über unsere Schreibtischtrennwand hinüberzuschauen, hebe eine Augenbraue und lächle zu ihrer Irritation. Hinter ihr tut sich eine meerblaue Wolke mit meinen Kindheitserinnerungen auf, eine imaginäre salzgeschwängerte Brise umspielt mein Gesicht und ich kann wieder förmlich den warmen körnigen Sand unter meinen Füßen spüren. Ich atme tief ein und bin wieder ein Kind mit strohblonden Locken. Was war das immer eine Hetz, zumindest für meinen Bruder und mich. Wir hatten auf jeden Fall ein all inclusive Paket der anderen Art. Das Abenteuer startete schon mit der Anfahrt. Und das immer präzise eine halbe Stunde nach zwei Uhr morgens. Vorab muss ich auch sagen, mein Vater pflegte es uralte Autos zu fahren. Ich glaube wir hatten nie ein Auto, das weniger als fünfzehn Jahre auf dem Buckel hatte. Unser riesengroßer, roter Mazda verließ die Garage normalerweise weder bei Regen noch Schnee. Mein Großvater hatte dafür immer nur die ironische Bemerkung Schönwetterauto parat. Nun ja, die Anfahrt nach Italien war lang, das Auto uralt, mein Vater hatte - aus seiner Sicht ungerechterweise - keinen Einfluss auf das Wetter und wir waren grundsätzlich immer über- bzw. falsch beladen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als mein Vater einmal einen Koffer nicht ins Auto bekam und ihn daher auf den Dachträger schnallte; mit Spanngurten, die wir normalerweise dafür benutzen, Gepäck auf unsere Fahrräder zu schnallen. Auf der Autobahn in Kärnten verließen dann meinen Vater die Nerven, aber der Koffer Gott sei Dank nicht unser Autodach. Obwohl dies aufgrund des großen Luftwiderstandes bei den hundert Sachen, die der Gasfuß meines Vaters unerschrockenerweise hergab nicht mehr weit davon entfernt war. Das veranlasste uns zu Pausen auf fast allen Raststationen, um noch zu schauen, ob eh noch alles da war und führte im Endeffekt zu einem siebenstündigen Trip an die Riviera. Und jede dunkle Regen oder Gewitter verheißende - Wolke am Himmel trübte auch die Laune meines Vaters. Aber naja, der Weg ist das Ziel. Nach einer halben Ewigkeit, nachdem wir alle Tunnel gezählt hatten durch die wir fuhren und uns geärgert hatten, die Anzahl schon bald wieder vergessen zu haben, kamen wir vor Ort an. Meistens mieteten wir einen Bungalow oder eine Ferienwohnung. „Ja und was machst du dann die ganzen Zeit dort, die bieten ja kein Freizeitangebot an, oder?“ lautet die nächste Frage meiner Kollegin. Tja, da hatten wir als Kinder nie ein Problem, uns war nie langweilig. Zum Teil lag das an den Streitgewohnheiten meines Bruders und mir bzw. an unseren legendären Wasserbombenschlachten. Zu unserer Verteidigung muss ich sagen, dass unser Vater hier rege teilnahm. Ich kann mich noch gut erinnern, als wir eine Eckferienwohnung
95 im letzten Stock eines Appartementhauses hatten und am Gang vor der Wohnung abfangen spielten. Es war schon fast finster und mein Bruder hatte mich gerade mit einer Wasserbombe verfehlt, die dann in zehn Meter Tiefe klatschend auf den Asphalt der Einfahrt des Wohnkomplexes fiel. Mein Vater schnappte sich eine Wasserbombe, um solidarisch mit mir meinen Bruder abzuschießen. Auch diese verfehlt zumindest das Primärziel, traf dann in der Einfahrt auf den Mistkübel und ergoss sich in weiterer Folge platschend über eine mehrköpfige italienische Familie, die gerade im feinsten Abendzwirn auf der Einkaufsstraße flanierte. Wir wären sicher nicht entdeckt worden, hätte sich mein Vater nicht uns Kinder in einem Panikanfall geschnappt und prompt das Licht in unserem Appartement abgeschaltet. Das war sehr unauffällig. Dieses Manöver erregte natürlich die Aufmerksamkeit der Opfer und nach wildem Getrappel auf der Steintreppe folgte eine wütendes Faustgehämmer an unserer Appartementtür. Das große Fenster neben der Eingangstür bot einen guten Einblick ins Esszimmer, weswegen wir unter dem Esstisch – der vor diesem Fenster platziert und so unseinsichtig war - auf Tauchstation gingen. Meine Mutter, die vor dem Herd beim Abendessen machen plötzlich im Finstern stand, verstand die Welt nicht mehr und wurde unser partner in crime. Wir waren mucksmäuschenstill und irgendwann zogen unsere Opfer unverrichteter Dinge wieder ab. „Bibione ist ja nur was für ältere Leute und für Jungfamilien mit Kleinkindern.“ Lautet der nächste Einwand meiner Kollegin. Das war nicht ganz unberechtigt - apropos Oma und Opa. Wesentlich ruhigere Ferien hatte ich mit meinen Großeltern. Zu ruhig meinem Geschmack nach. Ein ausgedehntes Mittagsschläfchen war hier Pflicht. Meine Oma und vor allem mein Opa schnitten hier regelmäßig in unglaublicher Lautstärke ganze Wälder um. Es war für mich ob des Geschnarches unmöglich ein Nickerchen zu machen und so schlich ich mich regelmäßig unbemerkt aus unserer Ferienwohnung und erkundete die nähere Umgebung. So nutzte ich den frühen Nachmittag gerne für sportliche Betätigung wie zB auf Nussbäume klettern oder heruntergefallene Pinienkerne in der satt schwarzen Erde hinter dem Haus im Schatten einsammeln, mit selbigen die Fische im Fischteich der Hausverwaltern füttern und mit dem Haushund mittels großen Mortadellablättern Freundschaft zu schließen. Da jedoch meine kleinen Füße beim Pinienkerneinsammeln in den sorgfältig angelegten Blumenbeeten der Hausverwalterin eindeutige Spuren in der Erde hinterließen, flog ich rasch auf. Vielleicht hatte mich ja auch der Hund verraten, der immer freudig bellte, wenn ich ihn mit Wurst fütterte. Dies hat wohl die Hausverwalterin mehrmals aus ihrem Mittagsschlaf gerissen. Die Dame war sowohl was ihre Körperfülle als auch ihr Stimmvolumen betraf, eine sehr imposante Person. Als sie meine Großeltern in italienischen Deutsch anwies, dass ich doch nicht alle Pinienkerne in ihren Fischteich hinter dem Haus werfen und ihre Blumen zertrampeln sollte, war Schluss mit den Ausflügen. Fortan achte meine Großmutter stets darauf in der Mittagspause die Eingangstür zur Ferienwohnung zu versperren und den Schlüssel unerreichbar aufzubewahren. „Ich glaub auch nicht, dass es dort so einfach ist Leute kennen zu lernen, da gibt’s ja keine Clubs und großen Diskotheken“ sagt meine Kollegin mit fast geschockt ängstlichen Gesichtsausdruck. Tja, das kann ich eindeutig widerlegen, wir hatten viele nette Bekanntschaften und Erlebnisse. Gut erinnern kann ich mich noch an eine bayrische Familie. Viele Jahre trafen wir uns immer wieder, meine Eltern verabredeten meist Urlaubszeitraum und Ferienwohnung, sodass wir oft Nachbarn waren. Erst später entdeckten wir Kinder die Annehmlichkeiten daran, vor allem als wir Teenager wurden und ich bemerkte, dass der Junge aus Bayern nett und gut aussehend war. In den Ferien nahmen es meine Eltern auch nicht so genau mit den Ausgehzeiten und so durften wir Kinder oft ganz alleine in den Luna Park Autodrom fahren gehen. Da konnte man als 12jährige ungeniert die Mädchenmasche rausholen, seinen Schwarm ans Steuer des Autodroms lassen, um sich bei jeder Karambolage an ihn zu klammern. Des Weiteren erfolgte ein reger kultureller Austausch und ich brachte meinem deutschen Urlaubsflirt gerne typisch österreichische Begriffe bei. Nannte meinen Bruder oft „den Bersch“ und als Lieblingstier gab ich gern das „Oachkatzl“ an. Zu Kaffee und Kuchen kam auch gern ein älteres Ehepaar aus Salzburg, dass wir auf dem alljährlichen Weinfest kennen gelernt hatten. Damals ahnte ich zwar schon was Schwärmerei und Verliebtsein bedeutet, aber durch die beiden konnte ich vielleicht schon im Ansatz erahnen was wahre Liebe ist. Der Herr kümmerte sich aufopferungsvoll um seine Ehefrau, mit der er bereits seit vierzig Jahren verheiratet war. Durch eine erlittene Kinderlähmung war sie sehr bewegungseingeschränkt und immer auf Hilfe angewiesen. Er wusch sie, zog sie an, half ihr beim Schminken – letzteres war ihr großes Hobby wie sie immer betonte – erledigte den ganzen Haushalt und war ein leidenschaftlicher Koch. Er machte dies alles selbstverständlich und beschwerte sich nie. Er vergötterte seine Frau. Dennoch hatte ich den Eindruck, dass beide nur in diesen Urlaubswochen in Bibione richtig frei waren und ihre Sorgen vergessen konnten. Sie war eine humorvolle Person und ich werde nie ihr lautstarkes Gelächter vergessen, als ich das Kaffeegeschirr aufdeckte und darin ein Bündel Geldscheine Lire
96 steckten. So musste meine Mutter unfreiwillig ihr Urlaubsgeldversteck offenbaren. Irgendwann verlor sich der Kontakt und viele Jahre später erfuhren wir, dass ihr Mann einem Herzinfarkt erlegen war und sie ihm wenige Tage später folgte. Ob Zufall oder nicht, ich denke sie hatte ein Leben ohne ihn wohl nicht ertragen. „Und das italienische Essen. Super gut, aber da brauch ich danach eine Blitzdiät.“ Dieses motivierte Kommentar reißt mich aus meiner melancholischen Stimmung. Kulinarisch war unsere Familie auch keine Kostverächter, aber Diät war für uns ein Fremdwort. Wir stürzten uns kopfüber in die italienische Küche. Regelmäßig begleitete ich meinen Vater mit zum Fleischer, der fertige Speisen wie gut angebratenes saftiges Huhn, duftende Ravioli und riesengroße Pizza anbot. Ich drückte mir oft die Nase an der Verkaufsvitrine platt ob der vielen Köstlichkeiten. Diese Essensbeschaffung war natürlich die Gelegenheit für meinen Vater sein italienisch aus dem Volkshochschulkurs auszupacken. In der ersten Woche kamen wir aufgrund dieser Tatsache oft mit einem Alternativmenü heim und nicht mit einem Menü den Aufträgen meiner Mutter entsprechend. Aber nach drei Wochen des Übens führte sein Italienisch uns immer ans (Menü-)Ziel. Bis ans Ende des Urlaubes hatten wir auch bereits alle Eissorten unseres Lieblingssalons durch, wobei ich zugeben muss, dass wir dies nur durch ein Pensum von zwei bis drei Eiskugeln pro Tag erreichten. Das fiel wohl unter Urlaubsamnestie. „Der Strand und das Meer ist ja in Kroatien viel schöner und sauberer; in Thailand erst – ein Traum.“ sagt meine Kollegin fast trotzig. Den Großteil des Tages verbrachten wir in Bibione am Strand und da gab es viel zu entdecken. Den Status eines Hotels oder einer Ferienanlage erkannte man an der Reihe in der die obligatorische Sonneliege und der –schirm platziert waren. Was mir persönlich ziemlich egal war, artete zwischen den Erwachsenen oft zu einem Statussymbol aus. Wir Kinder maßen den Reihen nur insofern Bedeutung zu, als je länger man durch den Sand zum Wasser gehen musste – unangenehmerweise in der prallen Mittagssonne – desto heißer wurden die Fußsohlen. Diese Tatsache spornte uns notgedrungen gegen Mittag hinsichtlich Dauer der Marschstrecke zu Höchstleistungen an. Oft bildete ich mir ein, dass es beim ersten Eintauchen der Füße ins erlösende Nass zischte und Dampfwolken empor krochen. Um dieses Schauspiel nicht oft wiederholen zu müssen, verbrachte ich den Nachmittag am Ufer im angenehmen Meer planschend, die Brandung umspielte mich und die Position wurde nur entsprechend der herein kriechenden Ebbe angepasst. Verblieb man jedoch im Schatten unter dem Schirm auf der Liege, wurde man auch dort gut unterhalten. Mir blieben nicht die Strandverkäufer und der obligatorische Kokosnuss feilbietende Tarzan verborgen. Unermüdlich stapften die Verkäufer durch den Sand und priesen ihre Waren an, in folgenden Jahren gesellten sich auch Masseurinnen dazu. Gerne beobachte ich dieses Schauspiel; nirgendwo hatte ich an einem Tag so viele verschiedene Handtuchdesigns oder durch Masseurinnen verdrehte Gliedmaßen der Touristen gesehen. Mein absoluter Favorit war jedoch der (Kokos-)Tarzan, wie ich ihn gern nannte. „Cocos, Vitamina, Potenza bomba, Bambini…“ gefolgt von weiteren anpreisenden Urlauten aus seiner tiefsten Kehle stapfte er durch die Reihen. Sein Stimmvolumen erreichte die erste bis zur letzten Reihe und eilten seiner eindrucksvollen Gesamterscheinung voraus: groß, dunkelbraun gebrannt, goldene Ohrringe und Halskette, ganz in weiß gekleidet und mit einen kilometerbreiten Zahnpastalächeln. Ich möchte meiner Mutter nicht unterstellen, dass sie sich nicht ausschließlich Sorgen um meinen Vitaminhaushalt machte, aber ich hatte den Eindruck, dass sie dem Herrn ob seiner Erscheinung gern etwas abkaufte. Ein strahlendes Lächeln von Tarzan bekam sie gratis dazu. Trotz der vielen Erlebnisse hatte ich zu anfangs auch oft Heimweh, zum Ende des Urlaubs war ich dann aber traurig wieder heimfahren zu müssen. Da wir meist in den letzten drei Augustwochen reisten, konnten wir immer das Abschlussfeuerwerk genießen. Es war schwierig gegen die aufsteigende Müdigkeit anzukämpfen, aber doch sehr aufregend bis Mitternacht aufzubleiben, im Finstern an den Strand zu wandern und das imposante Feuerwerk in seiner ganzen Lautstärke und Farbkraft zu bewundern. Der Anblick der Farben, die sich im Meer spiegelten, war die Anstrengung jedes Mal wert. „Wann fliegst du nach Thailand?“ Frage ich nun meine Kollegin über unsere Schreibtischtrennwand hinweg. „Ach, ich würde schon gern, aber mein Mann will lieber nach Jesolo, da hat er seine schönsten Kindheitsurlaube verbracht.“ entgegnet sie fast entschuldigend. Ich pruste fast los vor Lachen: „Ach so, na dann, ich bin dann mal weg.“ Mit einem freundlichen Blick auf meine Kollegin schalte ich meinen Computer ab. „Auf zu meinem la dolce vita!!“
97 Ihr „Schönen Urlaub trotzdem“ vernehme ich wie durch Wattebausche. In meinen Ohren tönt es nur „Cocos, Vitamina…“ und meine Geschmacksknospen bereiten sich schon auf Pizza, Ravioli, Spaghetti vor.
ENDE
98 Codewort: herrliche Reise Reise ins Innere. Es gibt Menschen die unter Stress in der Arbeitswelt oder im Leben leiden und die andererseits vielleicht durch Familie oder Freunde zu solchen Stresssituationen kommen. Daraus folgern sich Depressionen und ein dunkles Gefühl im Inneren, das eigene Immunsystem wird schlechter, man wird anfälliger für Erkrankungen, fühlt sich ausgelaugt und müde und versucht durch eine Reise die Erschöpfung zu beseitigen, wobei sich nicht jeder Mann oder jede Frau eine Reise leisten kann und diese Reisen meist auch keine Erholung bringen. Was kann man nun machen? Welche Möglichkeiten bieten sich seine Last, den Stress, kurzfristig zu beseitigen um wieder zu Kräften zu kommen? Es gibt eine Möglichkeit einer Reise, die man ohne große Ausgaben zu jeder Tageszeit, bei jedem Wetter vollführen kann und die mit der Zeit sehr erholsam wird. Eine Reise ins Innere Selbst zu seinem Herzen und von dort aus in seinen ganzen Körper. Es klingt vielleicht ein wenig verwegen und unvorstellbar, doch unser Herzen birgt in seinem Inneren ein Licht welches man durch dementsprechende Aufmerksamkeit ausbauen kann, sodass man im Inneren ein richtiges Feuer brennen hat, ein Feuer der Energie und der Kraft die nicht von dieser Erde zu kommen scheint. Diese Reise ist einfach zu bewerkstelligen alles was man dazu braucht ist einen schönen Platz im Freien vor einer Blume oder einen angenehmen Sitzplatz im Inneren seiner vier Wände mit einer Blume oder einer Kerze. Ich beschreibe diese Reise aus meiner eigenen Sicht und nenne sie Meditation. Es war vor gut fünf Jahren als ich den ersten Versuch der Meditation, der Reise in mein Inneres startete. Ich platzierte ein Kissen auf den Boden meiner Wohnung, stellte vor mir eine Kerze auf und entzündete den Docht dieser Kerze. Ich blickte im Schneidersitz sitzend, da ich den Lotussitz noch nicht schaffte, wobei es auch mit einem einfachen Stuhl und einer Kerze oder Blume am Tisch funktioniert, auf die Flammenspitze und begann mit einer tiefen Atmung. Bei dieser Atmung muss sich der Bauch heben also nicht nur der Brustkorb und nach dem Einatmen wartete ich noch ein paar Sekunden und stieß dann diesen Atemzug wieder aus der Nase aus. Bei diesem Ausstoßen stellte ich mir vor, dass meine Gedanken, die sich durch meine Sorgen in meinem Inneren ausgebreitet hatten, aus meinem Körper strömten und in der Flamme verbrannten. Ich erinnere mich, dass es am Anfang relativ schwer war dies zu vollführen, denn es klingt doch zu irrsinnig, aber es funktionierte, irgendwann bei diesen Atemvorgängen stellte sich ein leeres Gedankengut vor, mein Hirn war leer und bereit für das Licht der Kerze. Ich saugte die Flamme der Kerze, die Energie dieses Lichts, über meine Nase bei der Einatmung ein, und führte dieses Licht, diese enorme Kraft direkt in mein Herz, wo mein kleiner Funke, der dort lange Zeit verweilte zu einer kleinen Flamme erwuchs. Ein kleines Licht durchstrahlte mein Herz und beim Ausstoßen der Luft durch meine Nase kam es mir so vor, als würde der dunkle Schatten aus meinem Herzen weichen. Mit jedem weiteren Atemzug, die mit jedem Mal länger wurden, wuchs die Flamme an und ein Gefühl der inneren Freude durchflutete mich. Es breitete sich eine Leichtigkeit in mir aus, die Flamme in meinem Herzen wuchs langsam und verwandelte sich mit jedem Atemzug zu einem richtigen Feuer. Die Zeit, die mich in der Welt oft quälte verschwamm in Nichtigkeit, ich war vollkommen entspannt mein Rücken war gerade aufgerichtet und die Handflächen lagen auf meinen Oberschenkeln. Mir fiel ein wahrer Stein vom Herzen in die Flamme vor mir und dieser Stein verglühte. Ich schwebte in meinem Inneren Selbst und erkannte die positive Kraft in meinem Herzen. Die Flamme vollführte ein Wunder wenn man es so sagen kann und ein inneres, natürliches Lächeln, eine innere Freude durchstrahlte meinen ganzen Körper. Ich brauche nun auch keinen Witz oder Schmäh um zum Lachen zu kommen, denn mein Leben selbst ist ein Lachen, eine Freude geworden. Es ist ein Lachen welches aus meinem Innersten kommt und mich selbst im damaligen Augenblick total verzauberte, da ich aus meiner Vergangenheit mit vielen Erkrankungen zu kämpfen hatte und nur selten zum Lachen kam. Damals war es ein unvorstellbar schönes Gefühl welches in dieser Meditation mein Herz durchflutete. Es war dieses helle Licht das mich einfach zum Strahlen brachte. Ich begriff in diesem Augenblick, dass etwas in mir war, das weit über den alltäglichen Problemen des Lebens stand, es war ein Licht der Reinigung, ein Licht der Verzückung. Diese Flamme erfüllte nach weiteren Meditationen oder Reisen, wie sie es nennen möchten, bald mein Herz und breitete sich über mein Herz hinaus im gesamten Körper aus, es war ein richtiges Feuer, welches vom Herzen aus in Richtung Kopf wanderte, meine Handhaltung hatte ich auch geändert, die Handflächen waren nach oben gedreht und Daumen und Zeigefinger berührten sich, wodurch ein Kreislauf entstand der den gesamten Körper zu durchfluten begann. Das Licht breitete sich vom Herzen in mein Gesicht und auch hinab bis zu den Fußspitzen aus und auch als ich die Handfläche wieder nach unten bewegte und auf die Oberschenkel legte, erfüllte mich dieses Licht im gesamten Körper. Es war ein Gefühl des Befreit seins von allem was mich umgab. Ich war mit mir in mir und erkannte dieses Feuer welches meinen gesamten Körper erwärmte, bestrahlte, durchflutete und erfüllte. Ich fühlte keine Schmerzen in meinem Körper sondern nur eine unvorstellbare Erfüllung meiner selbst. Ich strahlte gezwungenermaßen aus meinem Herzen durch meinen ganzen Körper und fühlte neben der Freude, die grenzenlos schien auch einen natürlichen Frieden der sich in meinem gesamten Körper ausbreitete.
99 Ein Frieden den man schwer in Worte fassen kann, die Schmerzen die man vielleicht an Gelenken oder sonst wo verspürte waren nicht mehr spürbar, die belastende Außenwelt, der Lärm der einen umgab, war einfach verschwunden, ich war eins mit mir und der Welt ich war ein Teil der Natur, ein Teil des Seins der Evolution und fühlte dies intensiv in diesem absoluten Frieden. Es war nicht nur ein Gefühl es war ein Erlebnis. Alle möglichen Belastungen die den Körper quälen waren verschwunden und ich empfand das Sein selbst als unvorstellbare Entzückung. Ein Frieden der sich wirklich Frieden nennen kann denn mit ihm ging Hand in Hand ein Gefühl der Liebe gegenüber jeder Person dieser Welt, ohne jegliche Ausgrenzung auch wenn ich im natürlichen Leben eine Abneigung hatte, sie war einfach verschwunden und hatte sich in Liebe verwandelt. Auch gegenüber den Politischen Gruppen, gegenüber denen ich eine Abneigung hatte, bestand nun keine Abneigung mehr, denn ich schien zu verstehen, dass auch sie in ihrem Innersten einen Funken hatten. Ich empfand eine Liebe gegenüber allen Pflanzen, der Natur, den Lebewesen, den gebildeten Dingen dieser Lebewesen in meinem Herzen war einfach eine reine Liebe die sich mit der Freude und dem Frieden zeigte. Bei einer anderen Meditation als ich den Daumen und den Zeigefinger aneinanderlegte und schon in tiefer Meditation war, öffneten sich die zwei Finger, sodass meine Handflächen nach oben gerichtet auf meinem Oberschenkel lagen. Das Licht in meinem Inneren, welches voller Liebe, Frieden und Freude war schien plötzlich hoch über meinen Kopf hinaus und es bildete sich mit jedem Atemzug über meinem Kopf am Ende des Lichtstrahls eine Sonne. Diese Sonne war von unvorstellbarer Kraft, es war eine Energie die weit über die Energie meines Inneren hinausging. Ich sog vom Beginn als mir diese Energie bewusst wurde das Licht in meinen Körper, was mir ungeheure Kraft und Lebenselixier gab. Heute trete ich mit dieser Energie bei fast jeder Handhaltung in Kontakt, denn sie gibt mir Antworten auf alltägliche Fragen, sie berät mich bei Entscheidungen, hilft mir mich bei Problemen zurechtzufinden und wenn ich Fragen habe die den Weg meines Lebens beeinflussen, dann richte ich sie auch auf dieses Licht und erhalte gleich oder nach einiger Zeit eine Antwort die der Wahrheit entspricht. Warum dies so ist, ist leicht erklärt, denn dieses Licht ist Gottes Energie selbst. Egal wie man ihn nennt, ob Gott, Allah oder sonst wie, egal welcher Religion man angehört alle leben von derselben Energie die uns umgibt. Jesus, Buddha, Moses und wie sie alle hießen, boten die Wege zu Gott und wir können sie nun durch ihre Hilfe beschreiten. Es sind Reisen, die einem Helfen die Trauer des Todes eines engen Vertrauten zu überwinden, denn man begreift, dass diese Person die Verstorben ist nun in anderer Form weiterlebt und uns auch noch in gewisser Art und Weise leitet. Man vergisst den Tod nicht, man akzeptiert ihn. Der Tod gehört simpel und einfach zum Leben. Bei diesen Meditationen kommen mir auch immer wieder verschiedenste Reisen unter, denn mein Herz hat eine Weite erreicht, sie birgt die gesamte Erde in sich und nicht nur die Erde nein das gesamte Universum. Bei manchen Reisen in mein Inneres erscheint mir der Gipfel eines Berges auf dem ich entspannt sitze und die frische, kühle Luft dringt in meinen Körper ein, sowie ein Gefühl der Freiheit. Bei anderen Reisen wiederum befinde ich mich in einem herrlichen Gemüsegarten und betrachte wie die Pflanzen wachsen und mir ihre Kraft geben, welches mir bei Symptomen der Erkrankung helfen kann. Es sind mir dabei keine Grenzen gesetzt jede Meditation oder Reise verläuft anders. Ich war schon am Meer, hab die Wellen dabei rauschen hören und meinen Körper umfließen sehen, bin schon durch die Lüfte geflogen und habe sogar Sterne oder Monde besucht, wobei ich dies alles nicht mit Gedanken sondern mit meinem Herzen bereist habe. Immer wenn ich danach wieder endete und die Augen öffnete war ich mit anderen Energien gefüllt die mir im Leben halfen. Ich reise zu allererst immer in mein Innerstes und die Reisen ergeben sich dann von selbst. Ich hab mich sogar schon einmal als Wind erlebt, wobei dies in meinem Inneren geschah und ich über alle Landschaften dieser Erde hinwegfegte. Es sind Erlebnisse, die normale Reisen in der Realität weit übersteigen, denn man hat keinen Stress mit Reisen, Nachbarn, Essen, Zimmern oder Wetter. Die Reise ins Innere bietet die Möglichkeit sich voller Freude, Liebe und Frieden wiederzufinden und dabei etwas wirklich Tolles erlebt zu haben, denn man tritt in Kontakt mit dem Unendlichen, mit der Erfüllung, mit Gott in einem Selbst. Wie schon gesagt ich mache diese Reisen nun schon seit mehr als fünf Jahren zwei Mal täglich und fühle mich dabei jedes Mal neu gefüllt, mit neuer Energie gestärkt. Es ist mir ein leichtes Gefallen mich dem Leben zu stellen, welches sich mir in all seiner Pracht darbot. Ich habe Drogen, Alkohol aus meinem Leben gestrichen und mich der Essenz des Lebens gestellt welches ich nun durch diese täglichen Reisen vollführe.
100 Codewort: Deste Der Sandstein und das Meer Momentaufnahmen aus Malta Endlich! Für einen Moment voller Sehnsucht halte ich auf dem Podest inne und riskiere ich einen Rundblick in die flache Ebene, die sich vor mir ausbreitet, obwohl die Flugpassagiere wie jedes Mal nach der Landung ungeduldig nach draußen drängen. Vereinnahmt von der maltesischen Landschaft, genieße ich den Ausblick, welchen ich kurz zuvor aus der Vogelperspektive durch ein winziges, rundes Fenster betrachtet hatte. Jetzt habe ich kein trübes Hartplastik mehr vor der Nase, das mich abhält, die Düfte, die auf mich einströmen, tief einzuatmen, die Augen zu schließen und bereits Vertrautes oder eventuell Neues in mich aufzunehmen. Wüsten ähnliche Hitze streichelt meine Wangen, unsichtbarer Staub von massigen Sandsteinen spürt meine Haut, das Meer erfasst all meine Sinne. Getrost ignoriere ich die Ungeduldigen, die sich nach Erholung sehnen und doch an mir vorbei hetzen. Sie sehen mich erbost an und werden erst entspannt sein, wenn sie noch vor Sonnenaufgang still, leise und heimlich (so glauben sie zumindest) ihre Handtücher auf die Liegen neben dem Swimmingpool platzieren und den Rücken dem Land, dem Meer (Was brauche ich ein Meer? Ich habe einen Swimmingpool!) und den Menschen zuwenden. Oder nicht. Ich aber lasse mich von meinem Ritual nicht abbringen oder gar hetzen, öffne langsam die Augen und mein Blick streift das bourbonvanilleeisfarbene Flughafengebäude, getragen von Arkaden, durch Palmen eingerahmt. Es ist kurz nach Mittag, Anfang Juli, und das bereits gleißende Licht der Sonne lässt die in die Landschaft eingebetteten Dörfer in der Ferne marzipanweiß leuchten und setzt helle Akzente in die sommerhitzebedingt brachliegenden Felder. Eine leichte Meeresbrise ermuntert bunte Fahnen an den alles überragenden Kirchtürmen der umliegenden Orte, fröhlich zu flattern. Das untrügliche Zeichen dafür, dass bald wieder eines der berühmten maltesischen »Festas« gefeiert wird. Zu Ehren der Dorfheiligen. Die Armada der Touristen betritt das Flughafengebäude. Importierter, weißer Marmor an Wänden und als Bodenbelag blendet die Augen, aber auf diesem beinahe intimen Flughafen kann sich niemand verirren. Erste maltesische Sätze dringen an mein Ohr und spielen eine bezaubernde Melodie an der Klaviatur maltesischer Stimmbänder. Ein wunderbar einzigartiger Gesang einer Sprache, der aus den Tiefen mediterraner Geschichte entspringt. Das Lächeln in den Gesichtern, eingerahmt von schwarzen Haaren, Freundlichkeit ausstrahlend. Endlich: Malta. Angekommen. Daheim. »Warum übt Malta eine derartige Faszination auf Dich aus?« kopfschüttelnd sitzt der maltesische Architekt Patrick Calleja mir gegenüber. Nach unzähligen Aufenthalten auf dieser einzigartigen Mittelmeerinsel konnte ich dank »geselliger Medien« meinen ehemaligen Chef jenes Architekturbüros eruieren, in dem ich vor mehr als zwanzig Jahren gearbeitet hatte. Es ergab sich die Möglichkeit eines Interviews im Patio seines Büros, von duftenden Zitronenbäumen beschattet. Nun muss ich mich wohl erklären: Im Juli und August des Jahres 1990 erhielt ich die Chance, sechs Wochen in einem Architekturbüro auf Malta zu arbeiten. IAESTE hieß das Zauberwort: »International Association for the Exchange of Students for Technical Experiences« ermöglicht es, Studierenden technischer Studienrichtungen, Sommerpraktika in anderen Ländern zu absolvieren. Mit einer bunt zusammengewürfelten Schar von Studentinnen und Studenten aus der ganzen Welt teilte ich den Appartementblock »Azzopardi« in Sliema. Ein fremder Ort wochenlang in seinen Alltäglichkeiten zu erleben, gekrönt vom sommerlichen Freizeitleben inmitten des Mittelmeers: Das prägt sich tief in die junge Seele einer zwanzigjährigen, wohlbehüteten Studentin ein. Ein Jahr darauf ergab sich abermals die Gelegenheit, in demselben Architekturbüro zu arbeiten. Schon knüpfte ich freundschaftliche Bande mit den dort beschäftigten Malteserinnen, die bis heute nicht abgerissen sind. Eine darauffolgende dreimonatige Recherche bildete die Basis für eine fachspezifische Arbeit, welche den »Maltesischen Wohnbau« thematisierte. Ab nun tauchte ich tief in die Geschichte des architektonischen Erbes des Ordens vom Hl. Johannes von Jerusalem, von Rhodos und Malta, ein. Die anfängliche unerklärliche Zuneigung verwandelte sich in eine Passion zu einem Land, das weit über die Verbundenheit mit einer Urlaubsdestination hinausgeht. Eine unwiderstehliche Kombination aus Sandstein, Bauten, Menschen und Sprache, die mich bis zum heutigen Tag fesselt und wohl bis in alle Ewigkeit nie mehr loslassen wird. Patrick Calleja beschreibt es treffend: »The sea is our sense of freedom« – und wenn man nach der Arbeit eine Runde schwimmt, bleibt noch immer Zeit, Freunde zu treffen. Selbst bei einer 40-Stunden-Woche. Vielen Maltesern bietet das Meer mit seinen Ufern Orte der Entspannung. Sie setzen sich in der Mittagspause oder nach getaner Arbeit an die Molen, Mauerbänke oder Felsvorsprünge, welche auf ihren täglich zu bewältigenden Wegen liegen: Seele baumeln auf den Bastionen von Imdina. Thronend auf den Dingli Cliffs gegen den Wind ankämpfen. In unmittelbarer Nähe des Hagar Qim Tempels auf den Felsen Filfla schauen. Mit offenen Augen
101 träumen. Sie ergreifen die Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen, lassen den Tag mit Gleichgesinnten Revue passieren oder treffen sich mit Verwandten auf einen Plausch, ohne das mühevolle Vorbereiten daheim, um Gäste zu empfangen oder sich für den Abend schon schick machen zu müssen. Wetterbedingt eindeutig unserem mitteleuropäischen Lebenswandel überlegen. Es gibt keinen Frost, der einem jäh in die Knochen fährt! Zudem war ich am Ziel meiner Träume angekommen: Jemand, der seit seiner Kindheit Rittern in Legenden, Sagen und Filmen begegnete, das einsog wie die Luft zum Atmen, hier ist er im Paradies angekommen – die grausamen Seiten freilich ausgeklammert. Rümpfen Sie nicht Ihr Näschen! Fällt Ihnen noch Ihr Kindheitstraum ein? Die Omnipräsenz des weichen Sandsteins hält dieses Gefühl am Leben - ein goldener Faden, der mich leitet. Doch anstatt mich wie Theseus aus dem Labyrinth zu führen, gerate ich immer tiefer auf verschlungenen Pfaden in der Architekturgeschichte Maltas. Der vor Jahrmillionen entstandene Globigerina Limestone, aus dem alles Immobile entstanden war - von der Jungsteinzeit über die Ära des Johanniterordens bis in die Gegenwart. Aufeinandergeschichtete Kuben je nach Sonneneinstrahlung von safrangelb bis glänzend pudercremefarben. Der bedeutende, international bekannte maltesische Architekt Prof. Richard England nennt sie goldocker. Dieses Gestein prägt das maltesische und gozitanische Erscheinungsbild bis heute. Häuser, Kirchen, Museen, staatstragende Bauten; nur auf der Baustelle heutigen Datums herrscht der Beton neuerdings vor. Ein dunkelgrauer, feuchter Schatten legt sich auf eine jahrtausendealte Tradition. Steine mit samtener Hülle: Fortdauernd möchte ich mit der Hand über die Oberfläche jedes Gebäudes streichen. Die Strahlkraft des Gesteins gaukelt den Augen Sanftheit vor. Dabei muss es genauso hart bearbeitet werden wie jedes andere Gestein auch. Ob in Valletta, Imdina oder in kleinen Dörfern, der Sandstein ist allgegenwärtig – bildet eine Einheit, bettet sich ein in die Umgebung. Er findet wieder zurück, von wo er gekommen ist. Der Stein schluckt die Stille – besonders in der vormaligen Hauptstadt Imdina, der Silent City, kommt es zum Ausdruck. Auch wenn die Massen an Touristen sich schlängeln, der Stein nimmt den Lärm auf. Die Stille umhüllt, die Ruhe steckt an. Eine andere, eine scheinbar bessere Welt – ruhig, das Sandgelb der Mauern rechts und links hoch aufragend, bringt die Seele zurück in eine Geborgenheit spendende Höhle. Lullt ein. In gleißendes Licht getaucht, erstrahlt der Stein in der mittelmeerheißen Sonne, Wärme gebend. Allerdings mag jeder Versuch einer Erklärung den Zauber brechen. Das Faszinierende an so manch geliebten Dingen möge ein Rätsel bleiben: Erfährt die Menschheit je den Zweck neolithischer Tempel? Kann die Antwort auf die Frage der Raumnutzung noch vor der Auflösung der Steinmonumente offenbart werden? Ist das Geschlecht der beleibten Figuren wirklich eindeutig bestimmt? Runde Einkerbungen in vertikalen und horizontalen Monolithen - wozu? Warum beherbergten die Tempel derart viele Räume? Die Wissenschaftler und Laien beschäftigt eine endlos lange Liste an Fragen. Jahrhundertealte Stadtkerne, an denen man die Geburt der Stadt ablesen und ihre ursprüngliche Ausbreitung verfolgen kann. Diese faszinierenden Strukturen verführen dazu, Durchgänge zu passieren, um in von der Zeit entrückte Innenhöfe zu blicken, reich mit Kartuschen geschmückte Portale, die Kutschen zu Patios hindurchließen. Verzauberte Stille: Kleinode. In einem derartigen Atrium, versteckt im Dorf Zejtun, findet man einen »well«, einen ein Meter hohen, konisch nach oben verjüngten Einlass eines Brunnens aus wunderbar honigfarbenem Stein. Einzigartig in seiner Zweckmäßigkeit. Das ist das Entrée zum sagenhaften, maltesischen Reichtum. Tauchen Sie ein in eine Welt voller Magie und Geschichte! Treten Sie durch das Tor, springen Sie in den Brunnen, vertrauen Sie mir. Retten Sie die goldene Kugel der Geschichte.
102 Codewort: taub Yazd
Um die Mittagszeit stiegen wir in den Bus. Die Männer, die Sophie nicht geheuer waren, hatten uns widerwillig zum Terminal gebracht und uns zuletzt noch einen Haufen Geld abgezapft. Es gab also keinen besonders liebevollen Abschied. Viel eher glich unsere Abreise einer Flucht und irgendwie war mir das auch recht. Warum aber hatte ich bis vor kurzem noch nicht wegfahren gewollt? Ich war mir selbst fremd. Wie ich mich verhalten hatte in dieser Wüste, so kopflos, als wäre alles nur eines und demnach nichts eine Gefahr… Da war nur dieser eine Wert, der mich aus dem Sumpf der blinden Abenteuerlust herausgerissen hatte. Es gab auch in jenem beinahe gefühllosen Zustand der Taubheit und tiefen inneren Leere, die vielleicht mit der Beschaffenheit der Landschaft zusammenhing, noch jemanden, der mich herausziehen konnte und es auch tat. Mein Sputnik, meine Reisegefährtin Sophie. Anders als ich war sie bei Sinnen geblieben, hatte die Szenerie sorgsam von oben betrachtet und rechtzeitig „Ich will hier nicht mehr bleiben“ gesagt. Zu sich selbst und, als wir zwischenzeitlich einmal zu zweit waren, auch zu mir. Ich war enttäuscht gewesen, dass Sophie nicht so empfand wie ich, dass sie sich nicht so richtig mitreißen ließ. Widerwillig saß ich nun in diesem Bus und wir entfernten uns. Doch irgendwo im hinteren Bereich meines Kopfes war mir klar, dass es gut war, dass wir wegfuhren. Dieser Abstecher war genug gewesen. Wir wollten uns und einander doch eigentlich wieder finden und nicht noch mehr verloren gehen. Ich saß zuerst auf der linken Seite des Ganges. Die Fensterscheibe bedeckte ich mit dem roten Vorhang und die Sonne warf Licht ebensolcher Farbe auf mich, während ich döste. Sophie tat es mir auf der anderen Seite gleich. Als die innerliche Distanz zwischen uns beiden langsam abnahm und es dämmerte, rückte ich zu ihr hinüber, damit wir gemeinsam den weiteren Verlauf unserer Reise planen konnten. Wir beschäftigten uns mit meinem Reiseführer und mit Sophies I-Pad, auf dem sie „Lonely Planet Iran“ abgespeichert hatte. Beide Medien boten Informationen zu Yazd. Wir waren auf dem Weg dorthin. Da wir unser Ziel aber erst gegen späten Nachmittag erreichen würden, interessierten wir uns vor allem für die verschiedenen Unterkunftsmöglichkeiten in der Provinzhauptstadt. Nachdem unser Wüstentrip das Maximum der erwarteten Verrücktheit dieser Reise überstiegen hatte, wünschten wir uns beide (auch ich, da ich mich langsam wieder dem Boden der Tatsachen näherte) in höherem Maße geordnete Verhältnisse als zuletzt. Ein Hostel in der Innenstadt schien unseren Ansprüchen nach vergleichsweisem Luxus gerecht zu werden. Fein. Mithilfe des Stadtplans im Reiseführer fanden wir den Weg zum Hostel. Weil wir nicht zu langweilig sein wollten, wählten wir unter den angebotenen Zimmern zumindest das größte und billigste. Aber ich kann nicht bestreiten, dass auch mir die Privatsphäre hier gut tat. Niemand außer Sophie, nach dem ich mich richten musste. Selbst wenn ich es mir nicht gerne eingestand – in Gruppen, wie der unserer Wüstenkompagnons, passte ich mich grundsätzlich an den dortigen Umgang miteinander an. Vielleicht war es auch nur eine andere Seite von mir, die in veränderter Gesellschaft zutage trat. Und das Bedürfnis danach, angenommen zu werden. War es nicht so, dass man, ist man eine harmoniebedürftige Seele, wie ich es bin, sich beinahe überall gezwungen sieht, einen Teil seiner Persönlichkeit zu unterdrücken? Und einen anderen vorzutäuschen? Aber nun war genug davon. Und darüber war ich letztendlich erleichtert. Im hosteleigenen Essensbereich tranken Sophie Coca Cola und ich alkoholfreies Bier, bevor wir einen Spaziergang durch enge, im Abendlicht mittelalterlich anmutende Gassen antraten. Ich hatte Gewissensbisse, weil ich in den letzten Tagen für meinen Sputnik so unempfänglich gewesen war und ihre Fluchtgedanken lange ignoriert hatte. Aber die Einsicht machte mich weich und Sophie verzieh mir. Viel mehr, plötzlich konnte sie so offen zu mir sprechen, wie es seit Beginn unserer Reise nicht möglich gewesen war. Ich sog alles in mir auf, denn diese Momente der großen Vertrautheit waren und sind mir bis heute ein Geschenk. Am nächsten Morgen machten wir beim Frühstück die Bekanntschaft eines Australiers, mit dem wir uns ein Taxi zu den Schweigetürmen am Stadtrand teilten. Uns alle befiel nach dem Aufstieg zu den ruinenartigen Hügeln ein gewisses Unwohlsein bei der Vorstellung, wie einst die Geier die dort platzierten Leichen geholt hatten. Der Australier hatte viel zu erzählen, er schwärmte von Indien und vom Iran als von den Ländern, die ihm von allen bisher bereisten am meisten zusagten.
103 Sophie und ich entschieden, als nächstes das Wassermuseum zu besuchen, weil die Mittagsstunden unerträglich heiß zu werden versprachen. So brannte die Sonne dann auch noch herunter, als wir das Museum verließen. Es galt, den großen Park im Herzen der Stadt zu finden. Hitze geht auf die Nerven. Vor allem auf Sophies, ich verfügte über eine gewisse Überheblichkeit gegenüber solchen Natureinflüssen. Suchte stur weiter. Die Mauern, die den Park umgaben, waren bald entdeckt, aber wo war der Eingang zum Grünen inmitten dieses Labyrinths der glühenden Steine? Waren wir nicht gerade erst der Wüste entkommen? Endlich fanden wir das Tor, in weiterer Folge fließendes, aber angelegtes Gewässer und Schatten. Hier war, trotz der grenzwertigen Temperaturen, Leben möglich. Wir entledigten uns unserer Schuhe und legten uns ein bisschen nieder. Ich muss sagen, dass ich mich selten besser entspannen konnte als nach durchgestandener Beschwerlichkeit. Hier, jetzt. Da war es mir sogar egal, wenn man meine Knöchel sehen konnte, weil die Pyjamahose im Liegen etwas nach oben verrutschte. Wir hatten vor, nicht allzu viel Zeit in Yazd zu verbringen, deshalb bereiteten wir der Ruhepause bald wieder ein Ende und erkundeten noch ein wenig den Park, bevor wir ihn verließen. Ich durfte kurz schaukeln. Während ich noch am Brett saß, spielte sich eine seltsame Szene mit einem Polizisten ab. Er ging auf und ab und hörte nicht auf, uns zu mustern. Als ich den Spielplatz und Sophie die Mauer, auf der sie sich niedergelassen hatte, verließen, verfolgte er uns. Wir wählten verworrene Wege durch die Gassen, um ihn abzuschütteln. Mein Sputnik und ich wollten keine weitere Nacht im Hostel verbringen, lauschten aber vor unserer Abreise noch respektvoll der Geschichte einer Schweizer Fahrradreisenden. Ihr und dem Australier schenkten wir jeweils eine unserer obligatorischen Mozartkugeln, Zeichen unserer Identität. Hier, im Ausland fand diese Ausdruck in unserer Nationalität…mochten wir zuhause noch so unpatriotisch sein. Mit Sonnenuntergang zogen wir weiter. Wir hatten mit unserem Aufenthalt in Yazd zwischen der aufregenden Schnelligkeit, mit der man sich auf neue Menschen und Orte einstellen muss und der Langsamkeit, die bewährte Freundschaft erlaubt, wieder eine Balance gefunden.
104 Codewort: Nanouk Auch Hasen brauchen Urlaub „Komm, reise mit mir in eine andere Welt“; sprach der zehnjährige Vincent, als er seine Schwester an der Hand nahm. „Reisen? Wo sollen wir denn hin?“, fragte Karola. Gleich darauf wurde ihr schlagartig bewusst, wie der Hase lief. Besser noch, wohin er lief, nämlich geradewegs in Richtung Wald. Die Pfoten des Hasen flogen nur so über den Boden, nachdem Vincent ihn freigelassen hatte. Beziehungsweise hatte er ihn nur am Boden abgesetzt, die Fortbewegung erledigte das Tier von selbst und ganz ohne den Zuspruch anderer. Es entfernt sich zunehmend und ließ die Kinder immer weiter zurück. Karola zeigte sich davon alles andere als begeistert: „Du darfst Nanouk nicht einfach laufen lassen. Mama sagt, dass ist zu gefährlich. Schon gar nicht darf er in den Wald, dort gibt es viel zu viele wilde Tiere.“ „Ach was“, Vincent schüttelte den Kopf: „Diese wilden Tiere gibt es nicht, lässt sich ja doch niemals eines blicken.“ Karola wollte Nanouk, der mittlerweile bereits bei der Waldgrenze angelangt war, hinterher eilen, doch Vincent hielt sie zurück. „Lass ihn laufen“, sprach er vollkommen gelassen in ruhigem Ton ohne jegliche Unsicherheit in seiner Stimme. „Ich soll ihn laufen lassen?“, Karola konnte die Dreistigkeit, mehr noch den Leichtsinn, ihres Bruders nicht fassen und brachte keinerlei Verständnis für seine Ungerechtigkeit gegenüber Nanouk auf. Was konnte der Hase auch dafür, dass er einfach in eine ihm fremde Umgebung gesetzt wurde? Natürlich galt es, diese neugierig zu erkunden doch Karola wusste um all die Gefahren, die auf das Tier im Wald lauerten, Bescheid: „Es gibt die wilden Tiere, es gibt sie! Bären und Wölfe und bissige….“ „Ameisen?“, Vincent lächelte seine Schwester an, doch gleich darauf zogen sich seine Mundwinkel wieder nach unter, sein Lächeln gefror. Karola schien keinen Spaß zu verstehen. Es war ihr um Nanouks Situation sehr ernst. „Mach was, hol ihn zurück!“, forderte sie Vincent auf. „Alleine traue ich mich nicht in den Wald.“ Vincent konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Hast du Angst vor dem Unbekannten? Angst davor, was dich im Wald erwarten könnte? Weißt du, Wälder sind eigentlich überhaupt nicht gefährlich. Nur dieser Wald hier, der ist etwas ganz besonderes! In diesem Wald gibt es sprechende Bäume und fleischfressende Pflanzen.“, scherzte er. „Hol ihn zurück, hol ihn zurück!“, Karola kämpfte mit den Tränen und schrie aus Leibeskräften. „Hol ihn zurück! Nanouk weiß nicht, in welche Gefahr er sich begibt! Du darfst ihn nicht einfach unvorbereitet laufen lassen. Er kennt das alles doch gar nicht!“ Vincent zeigte sich nach außen hin völlig unbeeindruckt von Karolas Worten. Diese waren willkürlich gewählt, wiesen keinerlei Beständigkeit auf. Doch tief in ihm gaben sie ihm dennoch zu denken. Eine leichte Regung von ihm innewohnenden Unmut kam auf, davon wollte er sich aber gegenüber seiner Schwester nichts anmerken lassen und blieb an Ort und Stelle, ging keinen Schritt in die Richtung des Hasen und wand sich anstelle dessen gelassen an Karola: „Du meinst, er kennt den Wald noch nicht? Dann soll er ihn kennenlernen!“ „Die wilden Tiere haben nur Angst vor uns, deshalb zeigen sie sich nicht! Aber vor einem Häschen haben sie sicher keinerlei Angst, das fressen sie!“, wütend trat Karola nach ihrem Bruder, der sie noch immer am Arm hielt. „Lass mich los! Ich sag es Mama.“ „Geh doch!“, Vincent ließ von seiner siebenjährigen Schwester ab, die, ohne sich ein einziges Mal umzuwenden oder auch nur ein weiteres Wort zu sagen, davonlief. Mitten über die grüne Wiese in Richtung des Elternhauses. „Ja, ja. Lauf du nur! Kümmerst dich ja doch nicht mehr um Nanouk, den hast gerade einfach hiergelassen!“, mit diesen Worten drehte sich Vincent wieder zu dem Hasen. In gut dreißig Meter Entfernung hielt dieser sich noch immer an der Waldgrenze auf und knapperte von der Rinde eines Baumes. Vincent ging auf ihn zu. „Komm, Kamerad. Machen wir uns wieder auf den Heimweg, damit es keinen Ärger gibt!“ Noch bevor Vincent sich in Reichweite des Hasen befand, schlug dieser plötzlich einen Haken und verschwand im Wald. Schneller, als Vincent damit rechnete, hatte er ihn aus den Augen verloren. „Nanouk?“, Vincents unsichere Stimme bebte, als er den Wald betrat. „Nanouk, komm zu mir! Wir gehen nach Hause….“ Den letzten Satz flüsterte Vincent, denn ganz in der Nähe hatte er ein seltsames Geräusch vernommen und achtete nun insbesondere auf seine ganze Umgebung. Weit konnte der Hase noch nicht sein. Zwar war er schnell, aber keinesfalls schnell genug, als dass Vincent ihn nicht in den nächsten Sekunden im nahen Umfeld ausfindig machen hätte können. Irgendwo musste es schließlich knacken, wenn ein Hase durch das Unterholz schlüpfte. Es musste rascheln, sobald ein Hase über den Waldboden hoppelte und dabei jeden seiner Schritte über zahlreise abgefallene Blätter lenkte. Dies waren durchaus verräterische Geräusche, die allesamt von der Anwesenheit des Hasen zeugten.
105 „Nanouk, es reicht!“, Vincent wurde ungeduldig und seine Stimme merklich lauter, fordernder. Er hoffte, dass er Nanouk dadurch zum Umdenken bewegen konnte. Was machte denn auch schon der Reiz des Waldes gegen ein gemütliches Heim aus? Zuhause warteten Nanouks Artgenossen und das große Freigehege und es gab Futter in Hülle und Fülle. Vincent rupfte ein Büschel Gras aus, welches sich in seiner Reichweite befand. „Hast du nicht schon genug von der Welt gesehen?“ Im nächsten Moment konnte er sich die Frage schon selber beantworten. Es kam einfach über ihn, die Erkenntnis vom Reisen. Wenn es einem erst einmal gefällt, will man dann wieder weg von einem schönen Urlaubsort? Nein, man will zumindest einige Zeit bleiben und alles neugierig erkunden. Ebenso brauchte nun der Hase Zeit für seine Erkundungstour und diese Zeit ließ er sich auch nicht nehmen. Verzweifelt irrte Vincent umher und bekam es mit der Angst zu tun. Was, wenn Nanouk sich bereits hinter ihm aufhielt und er ganz umsonst immer weiter in den Wald hineinsteuerte? Was, wenn der Hase große Angst bekommen hatte und sich an einer für Vincent unzugänglichen Stelle versteckte? Solche Fragen gingen Vincent in diesem Moment durch den Kopf. Schnell hatte er sich zwei Theorien zurechtgelegt: Entweder, es gefiel Nanouk im Wald sehr gut und er wollte noch bleiben oder er war so überwältigt von den vielen neuen Eindrücken, die von allen Seiten auf ihn zuströmten und ihn ungefragt in ihre Mitte nahmen, dass er erst einmal Zeit für sich brauchte. Zeit, darüber nachzudenken, was er eben erlebte. Bisher hatte er nicht viel kennengelernt, das war Vincent bewusst. Dennoch hatte Nanouk kein Recht darauf, ihm einen solchen Schrecken einzujagen. Immerhin kümmerten sich die Geschwister sehr gut um ihre Schützlinge und Vincent wollte Nanouk nur ermöglichen, auch einmal die große, weite Welt kennenzulernen. Der Hase sollte Freiheit schnuppern. Verspüren, wie es war, sich in einem neuen Umfeld aufzuhalten und von vielen bisher gepflegten Sitten und Gewohnheiten ein wenig Abstand zu nehmen, sich auf Neues einzulassen. Vincent gelangte an eine Stelle, an der die Bäume dicht beieinander standen. Brombeerbüsche streckten ihr Geäst nach ihm aus und stellten Fallen. Kein Hinweisschild warnte vor dem Betreten der Brombeerhecke und von der Gefahr, die davon ausging. Schneller, als er sich versah, war Vincent von dem dornigen Geäst nach allen Seiten hin umgeben. Auf der verzweifelten Suche nach Nanouk hatte er nicht mehr auf jeden seiner Schritte geachtet, nun konnte er weder vor noch zurück. Die Dornen rissen an seiner Hose, bannten sich ihren Weg nach oben bis hin zu seinem Hemd, an dem sie ebenfalls hängenblieben und nicht mehr loslassen wollen. Sie waren schlichtweg überall, nur über Vincent nicht. Dort rauschten in beachtlicher Höhe die Baumkronen im Wind. Und unter ihm griffen die Dornen wie gierige Krallen nach ihm. Der Wald wurde Vincent unheimlich, bisher hatte er ihn nur mit seiner Familie betreten. Oft picknickten sie am Waldrand, doch nun war keine weitere Person außer ihm im Wald anwesend, zumindest hielt sich vermutlich keine in seiner Reichweite auf. Vincent wollte dennoch nichts unversucht lassen. „Mama?“, zaghaft richtete er sich auf, reckte den Kopf in die Höhe. „Mama?“, rief er merklich lauter und gewann an Mut. Sobald er an seine Familie dachte, vergaß er die Sorge um Nanouk und die Dornenhecke, in die er geraten war. „Mama!“, nun schrie Vincent aus Leibeskräften. Er lauschte angestrengt in die Stille. Ober ihm rauschten die Blätter der Baumkronen noch immer im Wind, das Gezwitscher vereinzelter Vögel war zu hören, doch auf sein Rufen hin gab es keine Reaktion. Der ganze Wald lebte sein Leben weiter, als wäre nichts geschehen. Es war ihm gleichgültig, dass sich inmitten der vielen Bäume ein Junge in einer äußerst misslichen Lage befand. Mehr noch, der Wald hatte sogar ein Tier dazugewonnen und dennoch schien er keinerlei Notiz von Nanouk zu nehmen. Vincent bekam es mit der Angst zu tun. In der Dämmerung, und vor allem in der Nacht, wurde es für den Hasen hier mehr als gefährlich. Dann kamen viele Tiere des Waldes, die des Tages schliefen, aus ihren Bauten hervor und für einige davon war ein Hase leichte Beute. Er war in einen ihm fremden Kreislauf geraten, bisher war er noch nie in den Kontakt mit Fressfeinden gekommen. Die ihn nun umgebende Fremde war dem Hasen vermutlich unheimlich geworden. Vincent glaubte nicht, dass sich Nanouk hier auf die Dauer wohlfühlte. Immerhin war er auf sich alleine gestellt und ohne jegliche Anhaltspunkte. In freier Wildbahn gab es für einen Hasen viele Hürden und Gefahren. Es galt, das Revier abzustecken und Vincent hoffte innig, dass sich nicht längst die gierigen Augen eines Räubers, der langsam zum Sprung ansetzte und den Hasen dann feig rücklinks überfiel, auf das Tier richteten. Und ohne ein letztes Hemd war das Überleben besonders in der Fremde kein Zuckerschlecken. Vincent dachte an einen Urlaub zurück, von dem ein Bekannter seiner Eltern erzählt hatte. Es ist nun schon einige Jahre her, da reiste dieser in ein ihm völlig fremdes Land. Die Kultur war eine ganz andere und wartete nur darauf, neue Eindrücke von sich preiszugeben. Der Urlauber plante nicht, wie gewöhnlich, die Reiseroute, sondern ließ sich ohne jeglichen Leitfaden, ohne einen Schimmer von Orientierung, ganz und gar auf das Abendteuer ein. So drang er in die Tiefen des Landes vor, brachte unter anderem einen zwei Tage langen Fußmarsch hinter sich, bis Fußspuren in der Erde wieder von der lange ersehnten Zivilisation zeugten. So alleine und auf sich gestellt hatte er sich den Mächten der Fremde ausgeliefert gefühlt. Nun war Vincent in einer solchen Situation, er hatte sich verirrt und war von Angst erfüllt. Zwar würde es wohl kein tagelanger Fußmarsch bis nach
106 Hause werden und doch war er bereits in die Tiefen des Waldes vorgedrungen und musste sich eingestehen, dass die Aussicht auf eine baldige Heimkehr aus derzeitiger Sicht hoffnungslos schien. Er war orientierungslos umhergestapft, hatte die Dornen zu seinen Füßen herniedergedrückt und so seinen unbestimmten Weg fortgesetzt. „Nanouk? Wo bist du?!“, rief Vincent und wandte sich im Kreis. Wie erwartet erhielt er keine Antwort, Kaninchen war es immerhin überhaupt nicht möglich, sich zu Wort zu melden. Diese Tiere waren meist stumme Genießer, zuweilen auch stumme Gefangene. Eingepfercht in winzige Käfige unter als ach so lieb verheißener menschlichen Obhut, die den Tieren eine eigene Vorstellung von geeigneter Kaninchenhaltung vor Augen führte. Eine Interpretation davon, wie sie selbst in einem schlechten Zoogeschäft nicht gehandhabt wird. Es gibt nicht einmal die Illusion von Freiheit, sitzt das Tier tagaus tagein im Käfig. Vielleicht auch noch an einem zugigen oder lauten Ort, denkbar ungünstige Lokalisationen sind schneller gefunden als die guten, die zumindest das richtige Außenklima schaffen. Nanouk war nun bereits seit einem Jahr im Besitz der Familie. Die Kinder trugen gemeinsam die Verantwortung für ihn und seine Artgenossen. Das Freigehege bot viel Platz und dennoch war dem Hasen der Wald umgeben von einer Anziehungskraft unermesslichen Ausmaßes erschienen, denn er hatte ihn noch nie zuvor betreten. „Nanouk, bitte!“, flehte Vincent und sein Blick wanderte rastlos durch die Gegend, schweifte, auf Höhe der teils aus der Erde hervortretenden Wurzeln, von Baum zu Baum. „Wo bist du?“ Er wusste noch ganz genau, was er zu seiner Schwester gesagt hatte. Sie solle mit ihm in eine andere Welt reisen. Doch sie war nicht mitgekommen, nun war er auf sich alleine gestellt. Genauso der Hase, der ebenfalls ohne jegliche Anhaltspunkte herumirrte. Vincent sorgte sich um ihn, mehr aber noch beschäftigte ihn eine andere Frage: „Wo bin ich?“ Zumindest einen kleinen Lichtblick gab es, denn erleichtert stellte Vincent fest, dass er nach langer Suche einen Weg aus der Dornenhecke gefunden hatte und ihn diese widerspenstig freigab. Sogleich setzte er sich auf den Waldboden und lehnte sich mit dem Rücken an einen Baum, leise flüsterte er und sprach dabei nur für sich: „Wenn wir uns finden, dann bin ich bei dir und du bist bei mir. Dann… können wir den Wald gemeinsam verlassen.“ Er blickte sich um, dann sprach er etwas lauter zu dem Hasen obwohl Vincent bereits bewusst war, dass dieser kaum seinen Worten lauschte: „Wirst du dich einfangen lassen, wenn ich dich sehe oder hast du dann Angst, dass ich dir deine Freiheit vollständig rauben könnte, wenn du erst einmal wieder in meinen Armen bist? Weiterhin werde ich dich laufen lassen, ich verspreche es! Wenn du nur wieder zurückkommst! Dann weiß ich, dass ich dir vertrauen kann und dass dir bewusst ist, wo du hingehörst. Du sollst kein Leben im Wald führen, du bist nicht wie deine wilden Artgenossen, die seit Generationen im Wald leben. Du hast es gut bei uns!“ Vincents größte Sorge galt dem Geständnis gegenüber seiner Schwester, dass er Nanouks Spur endgültig verloren hatte. Jetzt konnte er noch nach dem Hasen suchen, doch irgendwann musste er wieder aus dem Wald hervor und sich der Konfrontation stellen. Obwohl er dafür kaum Worte fand. Er war ratlos, wie es seiner Schwester möglichst schonend beizubringen war, dass ihr Nanouk vom Reisefieber gepackt worden und nun unerreichbar für sie war. Vincent griff nach einem losen Ast, der neben ihm am Boden lag, streifte mit dem Schuh einige Blätter vor ihm zur Seite und begann, mit dem Astende in den feuchten Waldboden zu zeichnen. Zuerst ein Quadrat und direkt darüber ein Dreieck, beides geometrischen Formen, zusammen stellten sie ein Haus dar. Ein Heim, das seinen Bewohnern Obhut schenkt und die Heimkehrenden selbst nach langen Reisen treuherzig empfängt. Es spendet eine verlässliche Ausgangsposition, auf Basis derer sich die Welt erkunden lässt. Eine neue Welt, wie wir es bisher noch nicht erlebt haben. Denn auf Reisen zu gehen bedeutet immer auch, in sich zu gehen und sich bewusst mit der Fremde zu konfrontieren, auf das man sich offen für neue Erfahrungen zeigt und anderen Kulturkreisen unvoreingenommen entgegentritt. Unabhängig davon, wie lange diese Reise dauert, gibt es aber auch noch eine Heimat, in der man zur Welt gekommen ist. Ein Zuhause, in dem man aufgewachsen ist. Eine Familie oder auch ein bestimmtes persönliches Umfeld, zu dem man sich zugehörig fühlt. Niemand sagt, dass ein Lebewesen nur die ein und dieselbe Heimat haben kann und ein Leben lang dort bleibt. Der menschlichen Spezies ist es innewohnend, dass sie bewusst weiter als über den Zaun des Nachbarn blickt. Weiter, als in den Gemüsegarten des Nachbarn des Nachbarn und weiter als in das Blumenkästchen mit dem Immergrün auf der Terrasse des Nachbarn des Nachbarn des Nachbarn. Der Blick schweift in die Ferne und bleibt dort oft an einer Sehnsucht hängen, die sich als Ausdruck großer Gefühle beschreiben lässt. Als die ultimative Erfahrung, selbst mittendrin und ein Teil eines Ganzen zu sein. Kein Wald ignoriert seine Bewohner. Jeder, der eine eigenständige, über Jahrhunderte hinweg geformte, Welt betritt hinterlässt darin Spuren. Nur Nanouk schien vom Dickicht verschluckt, entmutigt blieb Vincent sitzen und drückte sich mit seinem Rücken fest gegen den Baum. Nachdenklich legte er den Kopf in den Nacken und beobachtete die Baumkronen. Der Wind fuhr durch sie hindurch und brachte sie damit zum Schwingen. Die Blätter wurden zueinander und wieder voneinander weggetrieben, was wiederrum ein säuselndes Geräusch ergab. Es war ein Moment voll Magie, für Vincent unergründbar bereichernd. „Da haben wir sie, die sprechenden Bäume!“, er lenkte den Blick zu Boden
107 und stand dann kurzentschlossen auf. Es brachte nichts, untätig abzuwarten und darauf zu hoffen, dass Nanouk von selbst zufällig seinen Weg kreuzte. Immerhin trug Vincent die Verantwortung dafür, dass das Tier wieder wohlbehalten aus dem Wald zurückkehrte. Der Wald, eine Metapher für eine andere Welt. Die Bäume sind stumm und dennoch scheinen sie Geschichten zu erzählen, in einer uns fremden Sprache. Vincent wusste, dass im Grunde nichts und niemand stumm ist, auch Hasen nicht. Jedes Tier hat seine eigene Sprache und so manche Spezies verzichtet dabei schlichtweg auf jegliche Form der Lautäußerung, da diese im Laufe der Evolution und der Entwicklung einiger überflüssig geworden ist. Mit Ländern ist es wie mit Wäldern, kein Wald gleicht einem anderen. Reisen macht eine Welt nicht besser, als sie ist. Aber es kommt auf die eigene innewohnende Einstellung an, ob man sich bereit dafür zeigt, eine neue Sprache zu erlernen. Vincent wusste nicht, ob sich Nanouk mittlerweile dazu überwunden hatte, seinen wilden Artgenossen nachzueifern oder aber ob ihn all die neuen Eindrücke verschreckten und er sich bereits immer tiefer in das schützenden Unterholz verkroch und nichts mehr von der Welt um sich herum wissen wollte. Jedes Lebewesen hat eine gewisse Komfortzone, in der es sich wohlfühlt und anhand derer sich sein Lebenslauf orientiert. Vincents Komfortzone war eindeutig sein eigenes Zimmer, in das er sich auf Wunsch immer zurückziehen konnte, wenn er sich nicht gerade auf einer Reise befand. Das war aber nicht oft der Fall und deshalb zog Vincent seine eigenen vier Wände einem Leben in der Höhle vor. Zu weit hergeholt? Mitnichten! Man bedenke, unter welchen Umständen unsere Vorfahren gelebt haben. Und waren sie damit unzufrieden? Nun, um es andersherum auszudrücken: Heutzutage gibt es vermutlich auf die ganze Welt verteilt viel mehr Menschen, die mit ihren Lebensumständen keinesfalls zufrieden sind. Aber es gibt auch jene, die bescheiden mit dem haushalten, was sie sich erst mühsam erarbeitet haben und jenes größte Glück für diese Menschen ist, ihre Fertigkeiten auch den Kindern zu vermitteln und bereits gut Bewährtes so über Generationen hinweg aufrecht zu erhalten. Das ist Kultur. Zumindest hatte Vincent das in einem Buch gelesen. In welchem, das wusste er nicht mehr. Im Leben hatte er schon so viel gelesen. Romane, Fantasiegeschichten, Sachbücher über Schiffe und Autos, die geheimen Liebesbriefe aus der Jugendzeit seiner Mutter auf dem Dachboden… er hatte durchaus bereits ein beachtliches Reservoire angesammelt, aus dem er nun vollends schöpfen konnte. Eine solch reiche Quelle konnte auch in zwanzig weiteren Jahren nicht von einem Tag auf den anderen unerwartet versiegen. Nur Reiseberichte hatten ihm bisher eher wenig bedeutet. Und nun erlebte er sie, eine besondere Reise in den Wald. Es war keine ihm grundsätzlich fremde Welt und er hätte sich auch gut und gerne damit abgefunden, zwischen den Bäumen umher zu spazieren, wäre da nicht Nanouk, der mehr oder minder ohne sein eigenes Zutun den Gefahren des Waldes ausgesetzt worden war. In Gedanken versunken streifte Vincent ohne jegliche Orientierung herum. Als er mit seiner ausgestreckten Hand nach dem Stamm eines Baumes griff, lief es ihm eiskalt über den Rücken. Der Atem stockte ihm für kurze Zeit, als ihm glaubhaft vor Augen geführt wurde, wie ihn die Dornen der Brombeerhecke zugerichtet hatten. Sein Arm war blutig gekratzt. Es waren keine tiefen Wunden, doch nun bewahrheite sich auch die zweite Aussage gegenüber seiner Schwester, welche er eigentlich überhaupt nicht ernstgemeint hatte. Es gab sie wirklich, die fleischfressende Pflanzen. Und der Wald, warum war dieser Wald so besonders? Aufgrund seiner zahlreichen Bewohner war er besonders geworden. Doch zumindest zwei neue Bewohner, die er auf Zeit gewonnen hatte, gehörten eindeutig nicht hierher. „Nanouk!“, Vincent stürmte los. „Nanouk, da bist du ja!“ Der Hase war nur etwa zehn Meter von ihm entfernt aufgetaucht, doch als er bereits zum Greifen nahe schien, verlangsamte Vincent seine Schritte. Er wollte es Nanouk zuliebe langsam angehen lassen. „Du warst die ganze Zeit in meiner Nähe! Woher, warum….“, vor Glück fehlten Vincent die Worte. Langsam näherte er sich dem Hasen und ließ sich kurz vor ihm auf die Knie fallen. Dann streckte er seine Hand nach Nanouks Kopf aus. Der Hase achtete nicht weiter auf Vincent und hoppelte einige Meter weiter. „Nanouk!“, die Stimme war hell und klar und drang von weit her an Vincents Ohr. „Nanouk!“, bereits kurz darauf schien sie merklich näher zu kommen. Vincent blickte zurück und sah Karola, die in heller Aufregung herbeistürmte. „Langsam“, raunte er ihr zu und legte einen Zeigefinger an die Lippen. Dann deutete er Karola, näher zu kommen und ließ sich gestreckt mit dem Bauch auf den Boden sinken, sie tat es ihm gleich. „Was habt ihr hier gemacht, ich….“ Karola verstummte sofort, als Vincent auf Nanouk zeigte. Dieser nahm Anlauf, sprang in die Höhe und drehte sich, noch in der Luft, um sich selbst. Er schüttelte seinen ganzen Körper, streckte sich und ließ sich ohne jegliche Vorwarnung zur Seite fallen. Karola wollte bereits voller Sorge aufspringen und dem Hasen zur Hilfe eilen, doch in der nächsten Sekunde rappelte sich dieser wieder auf, streckte dann alle vier Pfoten von sich und blieb eine Zeit lang am Waldboden liegen, wobei er den Kopf darauf ruhen ließ und sich ab
108 und an ausgiebig streckte. Dann erwachte er wieder zu neuem Leben und vollführte erneut Luftsprünge, diesmal sogar einige hintereinander und höher als zuvor. „Er freut sich! Habe ich dir nicht gesagt, er soll den Wald unbedingt kennenlernen?“, Vincent fand seine Sprache wieder und blickte triumphierend und durchaus stolz zu seiner Schwester. Karola stand auf und nahm Nanouk zärtlich in ihre Arme. „Auch Hasen brauchen ab und an mal Urlaub, mit Sicherheit darf Nanouk bald wieder auf Entdeckerreise gehen!“, mit diesen Worten aus tiefstem Herzen steuerten alle drei zielgerichtet dem Elternhaus entgegen.
109 Codewort: Korsika Zitadelle
Vorletzter Abend. Abschied. Der Abend vor der Abreise verlief erwartungsgemäß, ein paar Getränke im Trotzki, eine instrumentelle Sache wurde geklärt, danach weitere Getränke, abwechselnd im Salzamt und in der Wunderbar, um mich zu verabschieden, es hätte ein Abschied für immer werden sollen, an Rückkehr war nicht gedacht. Dies schlicht aus dem Wunsch heraus, Wien für immer zu verlassen und die (Un)Tiefen dieser Stadt für alle Zeit auf den Haufen des vergessenen und weggeschobenen Unrats zu werfen. Sagen wir so: es sollte ein Trip werden, nach dem Motto: Sein oder Gewesensein. Die Wochen zuvor im Otto Wagner Spital der Stadt Wien verbracht, selbst eingewiesen, um die Selbstannullierung zu verhindern. Hilfe im eigentlichen Sinn ist dort weder zu erwarten noch zu erhalten, die Wurzel des Übels wird nicht herausgezogen, wie auch? - die Seele ist schließlich kein Zahn!, lediglich werden die Symptome bekämpft auf medikamentöse Art, doch das Wissen um das neuerliche Auftreten der Schatten, die dann schlimmer sein würden, ja müssten, denn das ist das Wesen der Schatten, kann nicht mit Tabletten bekämpft werden.
Letzter Abend. Wenige Stunden. Er fand statt im unvergleichlichen Salzamt. Ofenwarmes Roastbeef und zwei Freunde am Tisch. Einige Krügel Bier ebenfalls. Ein würdiger Abschied von diesem Lokal erster Güte, die Tränen tapfer unterdrückt, die Köchin gedrückt. Sah mich um und verließ den mir liebsten Ort.
Im Zug nach Genua. Oder: Die Idealistin. Im Zugabteil saß eine blonde junge Frau aus carinthischen Gefilden, kurz vor ihrer letzten Prüfung zur Masterin der Botanik. Kam gerade aus Tschechien, wo sie sich das Porträt ihres Schwesterherzes auf das linke Schulterblatt hat tätowieren lassen. Eine schöne Arbeit, sehr lebensecht, wie der Vergleich des Tattoos mit einem Foto ihrer Schwester auf ihrem Mobiltelefon zeigte. Sie, E., war attraktiv, sehr sogar, von einer Attraktivität, angesichts welcher man sich denkt, ein rundum tolles Mädchen, intelligent und auch noch nett. E. möchte noch viel Gutes tun mit dem Know-how, das sie sich während ihrer universitären Ausbildung in Salzburg erworben hat, und ihre Euphorie der Jungakademiker, die die Welt ganz sicher, wenn schon nicht einreißen, so dann doch zum Besseren wenden werden, ist noch unverbraucht von der Erkenntnis, die alle Jungakademiker früher oder später einholt, nämlich dass sie diese Welt mitnichten zum Besseren werden wenden können, zu sehr werden sie sich mit den typischen Alltagsproblemen herumschlagen müssen, zu sehr werden sie bedacht sein, einen guten Parkplatz vor dem Supermarkt zu ergattern, zu sehr werden sie sich aufregen über in ihren Augen zu lange Wartezeiten an der Supermarktkasse, die ihnen kraft ihrer Ausbildung nicht zugemutet werden dürften, als dass sie sich nach Feierabend noch auf die Dinge konzentrieren könnten, die ihnen zeit ihres Studiums wichtig waren. Das Gespräch kam auf das Thema 'Zweck der Reise nach Korsika' und sie äußerte sich, nun ja, leicht skeptisch bezüglich der Aussichten auf Erfolg dort, ohne eine nennenswerte Summe an Bargeld, ohne Kontakte dort und mit lediglich gymnasialen Kenntnissen der französischen Sprache ausgestattet, jedoch auch durchaus verständnisvoll bezüglich des fluchtartigen Charakters der Reise, der Flucht vor den Schatten, deren Vorhandensein durch die Erklärung der Motive, die mit Tinte in meine Unterarme eingearbeitet worden waren, offensichtlich war. Das Gespräch ging weiter, bis hin zum strittigen Thema des Vegetarismus und der Frage, die mit diesem Thema unweigerlich einhergeht, nämlich der nach dem Los (und dem Leid) der Tiere, bei dem jedoch keine wirkliche Einigung zu erzielen war. Es waren sehr vergnügliche Stunden im Zug von Wien nach Villach und nach dem Austausch von E-Mail-Adressen folgte die Verabschiedung.
110 Genua. Oder: Der Tag des Todes im Hafen. Genua. Heiß und nicht allzu sauber, italienisch eben. Das Ankommen am Morgen, die Hitze hat bereits eingesetzt, der Hafen, von dem die Fähre nach Bastia ablegen soll, nahe dem Bahnhof gelegen. In der Marina etliche Boote, eines davon aus Belgien. Ein ca. 55jähriger Mann am Tisch auf dem Deck seines Bootes sitzend, einer Bavaria Segelyacht, eine Zigarre kubanischer Provenienz in der Hand, eine Cohiba, klar, vor sich ein Glas, gefüllt mit undefinierbarer Flüssigkeit, er erinnerte an H., Segler und Zigarrenaficionado. Auf dem Segelboot noch eine zweite Person, unter Deck, nicht sicht- doch hörbar, irgendwelche Tätigkeiten unter Deck verrichtend, doch da der Mann mit seiner Cohiba und seinem nicht allzu kurz gehaltenem weißen Haupthaar an H. erinnerte, war die zweite Person an Bord anzunehmenderweise weiblich, attraktiv und jung. Eine Pizzeria beim Hafen, in der Einheimische verkehren, keine der in Italien üblichen und so zahlreichen Touristenfallen, der Oktopussalat frisch und noch warm, die Spaghetti alla marinara vorzüglich und ausreichend dimensioniert. Ein weiterer Spaziergang, diesmal zwar auch im Hafen, doch in der 'verbotenen Zone', wo man eigentlich nur mit entsprechender Bewilligung reindarf, doch stand die Zone offen, Wachleute waren keine auszumachen, also: was soll's? In dieser Zone lag sie vor Anker. Radiant, die 110 Meter lange Yacht einer offensichtlich überaus begüterten Familie aus ölreichem Land. Keines der üblichen Ferretti-Spaßboote für die Studienabschlußkopulationstouren der Kinder aus besseren Häusern, sie, die Radiant, meint es ernst. Der Rumpf erinnert eher an den eines Kriegsschiffes als den einer gewöhnlichen Superyacht. Slawinnen waren keine auszumachen, doch die waren anzunehmenderweise zu diesem Zeitpunkt entweder in der örtlichen Gucci-Boutique oder bereits wieder unter Deck. Im Hafenbecken dann ein silbriges Glitzern auf der Wasseroberfläche. Bei näherer, in diesem Fall, länger andauernder Betrachtung, da ein Sprung ins Hafenbecken intellektuell eher kehrseitig ist, erwies sich das Silbrige als die Bauchbeziehungsweise Unterseite eines Fisches, der offensichtlich in seinen letzten Zügen, also im Sterben lag. Ein zweiter Fisch hatte diesen Prozess bereits hinter sich gebracht, er hatte es, wie man sagt, überstanden, und trieb, mit seiner silbrigen Unterseite nach oben, im Wasser. Er bewegte sich nicht von selbst, klar, als kalter, toter Fisch, dennoch vollführte er Drehungen mit seinem toten Fischkörper, die nicht von der Bewegtheit des Wassers im Hafenbecken von Genua herrührten, sondern von einer gerüttelt Anzahl kleiner Fische, die sich vom nassen Kadaver einen runterbissen. Sie drehten den Leichnam im Kreis, jedoch war nicht erkennbar, wie große Stücke sie dem Totfisch entnahmen, dazu war die Entfernung zu groß, doch muss es sich um ihren Mäulern gerechte, also kleine Stücke gehandelt haben, will man vermeiden, den tierischen Hafenhygienezuständigen Gier zu unterstellen. Der andere Fisch, der, der noch lebte, drehte sich aus eigenem Antrieb sowohl um seine Längsachse als auch um seine Querachse, als ob er ihn nicht akzeptieren wollte, der der Weg allen Lebens ist, nämlich den Tod. Nach einigen Minuten hatte er sein Dasein hinter sich gebracht, und trieb regungslos an der Wasseroberfläche. Die anderen Fische, die kleinen, die ein paar Meter entfernt Fisch fraßen, hatten ihn noch nicht bemerkt, oder sie wollten seiner Fischseele Zeit geben, aus seinem Körper, der nunmehr leblosen Hülle, herauszufahren und in den Himmel zu gelangen, wenn er ein braver Fisch gewesen war, oder in die Hölle, wenn er kein braver Fisch gewesen war, der beispielsweise fremdgemilcht hatte. Zwei Raubmöwen kreisten über dem Schauspiel, das der Tod soeben zu Ende gebracht hatte, doch zeigten sie keinerlei Interesse an den Fischen, die da trieben, weder an dem einen frisch entkarteten, noch an dem anderen, obwohl dieser von den kleinen Fischen für durchaus genießbar erachtet wurde. Sie, die Raubmöwen, konzentrierten sich vielmehr auf ein helles Etwas, das in der Mitte des Hafenbeckens trieb und sich bald als ein auf dem Wasser nicht unterzugehen versuchender kleiner Vogel entpuppte. Die Möwen umflogen den kleinen Vogel in immer enger werdenden Kreisen, bis sie auf der Wasserfläche landeten, und ihn auf dieser, nunmehr schwimmend, umkreisten. Immer näher kamen sie und fingen an, mit ihren Schnäbeln auf ihn einzuhacken, als plötzlich eine dritte Möwe, keine Raubmöwe, sondern eine Mittelmeermöwe, herbeigeflogen kam und die beiden Räuber mit lautem Gekreisch von ihrem offensichtlichen Vorhaben abbringen wollte, nämlich dem kleinen Vogel zeitnah den Kragen umzudrehen und ihn dann einfach aufzufressen. Sie, die Einzelmöwe, machte einige Anstalten, sich dem kleinen Vogel zu nähern, also den beiden Raubmöwen ihr präsumtives Mittagsmahl streitig zu machen, was, ihr Geschrei mit eingerechnet, die Vermutung zuließ, der kleine Vogel könnte ihr Junges gewesen sein. Die Raubmöwen ließen sich nicht groß beeindrucken und begannen, jede von ihnen einen Flügel des kleinen Vogels im Schnabel, an diesem zu ziehen und zerren. Sie meinten es ernst. Die Muttermöwe gab ihre Versuche auf und flog davon. Die beiden Raubmöwen verrichteten ihre blutige Arbeit und nach wenigen Minuten flog die eine, den kleinen, nunmehr reglosen Vogel im Schnabel, davon, die zweite flog dicht hinter ihr, offenbar fürchtend, um ihren Anteil an der Beute, dem Ergebnis ihrer gemeinschaftlich begangenen Meuchelei, geprellt zu werden, ließe sie die erste unbeaufsichtigt.
Von Genua nach Bastia. Oder: Salzluft.
111 Die Fähre groß, länger als die Radiant, aber nicht allzu viel, das Publikum gemischt. Die Liegestühle an Deck in ausreichender Zahl vorhanden, das Wetter freundlich. Ein Buch, David Foster Wallace, Unendlicher Spaß, ein Meisterwerk. Das Festland verschwindet langsam am Horizont, die Passagiere begeben sich unter Deck, sie verzichten darauf, ihre Schuhe anzubehalten, was dem Schiff käsigen Geruch verleiht. Die Luft an Deck zunehmend salzig, das ohnehin nicht leicht von der Lunge gehende Atmen wird dadurch nicht eben leichter, jedoch kann dieser Eindruck auch vom Vorhaben herrühren, das Bekannte, das Festland zurückzulassen. Die Nacht an Deck kalt, der Fahrtwind des Kahns verbessert die Situation nicht gerade, der Himmel sternenklar, auch dies senkt die Temperatur, und die Luft wird salziger, ebenso die Planken, die, Handläufen gleich, auf dem Metallgestänge befestigt sind und auf die man seine Ellenbogen legen kann, um ins Wasser zu blicken oder auf welchen man einen Becher Kaffee oder eine Dose Bier abstellen kann, die man jedoch, rechnet man den Fahrtwind mit ein, festhalten sollte. Die Nacht erträglich mit mehreren Schichten an Gewand, außerdem vor dem Wind geschützt von einem Liegestuhl, der selbst, als Windschutz zweckentfremdet, liegt. Der Morgen mild, Bastia, die zweitgrößte Stadt der Insel in Sicht, malerisch gelegen beinah, und der erste Blick fällt auf die Zitadelle, die in der Zeit erbaut wurde, in der die Stadt gegründet worden war, ein sehr interessantes und hohes Bauwerk.
Bastia. Oder: Dort sicher nicht! Durch die Touristeninformationsstelle, nahe dem Hafen domiziliert, ein Hotel gefunden, Kategorie zwei Sterne, mit Abort am Gang, dafür der Besitzer unfreundlich, allem Anschein nach ein kopulatives Missgeschick einer korsischen Gelegenheitskurtisane, das Zimmer eine Zelle, die erste Nacht um vierzig Euro, alle weiteren um sechzig, aber besser als ein Strandfelsen unter (und auf!) dem Kopf. Das Hotel vermittelt von C., einer Angestellten der Touristeninfostelle, eine echte Korsin mit Augen, die, in Kombination mit ihren schwarzen Haaren, Smaragden gleichen und die recht freizügig mit Infos umgeht, wo man am besten ein Bier trinken geht und wo man landestypisch und in Gesellschaft von Einheimischen, also gut und zu vernünftigen Preisen essen kann. Der erste Tag, verbracht in der Marina, zwischen mickrigen Segelbooten und noch mickrigeren motorisierten Nußschalen, die Miesmuscheln gut, reichlich und nicht übertrieben kostenintensiv, das Restaurant eine Empfehlung von C., dann auf die Zitadelle. Jesus, ist die hoch! Aber nicht durch Netze gesichert, wie die Engelsburg in Rom. Der Tag heiß, gefühlt mindestens achtzig Grad Celsius im Schatten, doch das Bier am Abend kühlend. Pietra ist zwar kein tschechisches Gebräu, doch in Begleitung von C., noch dazu in ihrem Lieblingslokal getrunken, ausreichend gut. In ihrer Wohnung ergriff C., die eigentlich nur in den Ferien in der Touristeninfo arbeitet, unter dem Jahr studiert sie Recht, sogleich die Initiative. Der nächste Tag nicht anders, heiß und meeresluftwindig, die Miesmuscheln gut, und die Hotelzelle, noch heißer, weil unklimatisiert, dafür mit Fenster in den Innenhof, somit eine unerträgliche Sauna. Am dritten Tag beim Arbeitsamt, Pole Emploi genannt, die Äußerung, dass in Bastia keine Stelle frei wäre, doch im persönlichen Gespräch dann die Äußerung, dass durchaus was zu finden wäre, wenn man einen Freund dort hat, dies mit entsprechender Fingerbewegung, die im Allgemeinen bezahlen symbolisiert. Das dann doch nicht nein danke! Der Blick von der Mauer der Zitadelle auf den Asphalt jedoch entschädigend für alles, alle bisherigen Tiefen ausgleichend, schön und schrecklich zugleich. Eine weitere Sache einseitig, doch nicht abschließend geklärt, und dann die wachsende Gewissheit, dass Bastia nicht der Ort ist, an dem man sich die Karte umdekorieren kann oder sollte. Korsika darf und kann einfach nicht der Ort sein, an den oder an dem ich gehe. Also Wien.
112 Codewort: Italina ZEITREISE
Ein lauer Sommernachmittag, meine Gedanken kreisen und reisen um die Welt. Die Sonne strahlt lieblich wärmend auf meine mediterran angehauchte Terrasse und somit auf meine sonnensehnsüchtige Haut. Der Duft meines frisch gepflanzten Rosmarins, der Anblick meines sprießenden Seegrases und der Blick auf meine pflegeleichte Kunstpalme erwecken in mir Sehnsucht nach Italien. Ganz nach dem Motto: Ab in den Süden! Der voll in Blüte stehende Lavendel und das Zitronenbäumchen tun ihresgleichen dazu. Was eine einzige verschrumpelte Zitrone (also Zitrönchen) zu bewirken vermag. Bio halt!!! In ihr sehe ich saftige Orangenbäume zwischen farbenprächtigen Oleandern. Eben diese Naturkunstwerke, die massenweise und mega-üppig auf der Autobahn Richtung Süden rechts und links durch die Autoscheiben wachsen. Der Zitronenduft meiner etwas dürftigen Zitrone, liebevoll eben Zitrönchen genannt, lässt meine Gedanken in die "Pizzeria di Toni" reisen. Dorthin, wo ich schon als Kind mit meinen Eltern dem "Paradiso" so nahe war. Bei Pizza und Irgendwas im Basilikummantel. Wenn ich auch jeden Tag aufs Neue lediglich "Spaghetti con burro" wollte und aß, zum Leidwesen meines gourmetorientierten Vaters. Dazu mein Pfefferminz-Granita aus der sich drehenden Kühlmaschine. Giftgrün! Ach, war das damals schön! Heute sollten es schon "Spaghetti Vongole" con Vino Bianco sein. Prosecco e Grappa usw...... Per favore! "..aben Sie auch Riesengarnelen naturale?"... höre ich mich in gebrochenem Italienisch stammeln. Die Stimmung ist so prickelnd wie der Spumante und das Meer. Plötzlich fällt ein Schuss!!! Mein Freund beruhigt mich, erfolgreich, denn er ist bei der Polizei. Aber nicht bei der italienischen... fällt mir sogleich ein. Nix Carabinieri! Inspektor, oder so. Durch ihn beschützt, konzentriere ich mich wieder zufrieden auf "Parmeggiano, Prosciutto und Dolce". Der steirisch - italienischen Polizei sei Dank! Außerdem, der Schuss fiel ja auf meiner Terrasse, nur virtuell in Italien, könnte man sagen. Also auf meiner österreichischen Terrasse, in der Steiermark, bei Graz, oder überhaupt in Judendorf - Straßengel. Da reisen meine Gedanken wieder glücklich in mein "Heiliges Italien". Italien verbinde ich seit ewig mit meiner Kindheit. Schlemmen ohne Ende, schlendern bei Nacht bei "Musica Italiana" mit Löwenbabyfotos und genießen im und am Meer. In sukzessiver Vorbereitung auf meine obligate Mittelohrentzündung. Mit Sandküberlset, das ich nie mit nach Hause nehmen durfte, weil kein Platz mehr im Auto war. Aus welchem Grund auch immer. Italien verbinde ich auch mit Gelato mit Regenguss. Ach war das peinlich! Meine Mutter betritt mit mir und dem aufgespannten Regenschirm den Eissalon. "DU REGEN", meinte die bildhübsche Eisverkäuferin unter der dachgeschützten Eissalonhalle. Mein Eis hatte mich für die Peinlichkeit meiner Mutter entschädigt. Die Zeitreise in die Vergangenheit ist so schön, dass ich in meiner geliebten "Hänge ~ Sonnen ~ Baumel ~ Liege" die Seite wechsle und weiterhin über meine Kindheit schmunzle.
113 So richtig Angst hatte ich bei Gewitter. Wenn es so blitzte und krachte. Meines Papas Worte waren stets dieselben: "Der Blitz ist das Gefährliche, wenn es kracht ist alles schon vorbei, also reg dich nicht auf!" Da ich erst beim Krachen Angst hatte, regte ich mich nur halb so auf. Aber wenn der Regen sturzgerade mit Lichtgeschwindigkeit auf den Asphalt prasselte, kamen mir schon philosophische Gedanken. So zirka im Alter von 8 - 10 Jahren. Was ist, wenn die ganze Welt überschwemmt ist. Also Alles, tutto! Dann kann ich mich nirgendwohin mehr retten. Auch meine Eltern wären am Ende mit ihrem Latein, also Italienisch in meinem Fall. Wo fängt die Welt überhaupt an und wo hört sie auf?... Da ich nie zu einem Schluss kam, reisten schon damals meine Gedanken immer schnurstracks immer in die gleiche Richtung, nämlich nach Italien, zu meiner Beruhigung. Dorthin wo alles - bis auf die RistoranteRechnungen meines Papas - nur schön war. "Die bedackeln dich immer, da wird sich nie was ändern, aber es ist mir egal, ich fühl mich da so wohl!", waren die Worte meines Vaters, die sich jährlich wiederholten. Dürfte wohl meines Papas Tochter sein! Denn auch ich fühlte mich nach dem furchterregendem italienischem Regenguss gleich wieder wohl. Im Meer. Wie schon erwähnt in fleißiger Vorbereitung auf die nächste Mittelohrentzündung, die ich auch stets hatte. Zum Leidwesen wieder meines Papas, der nur praktischer Arzt war. "Reiß dich zamm` hast ja eh nix!", höre ich ihn heute noch sagen und blicke in liebevollen Gedanken auf das Foto mit dem rosa Ohrentücherl, wo ich aussah wie ein Osterhase. So süß! Dabei fällt mir noch ein, dass ich so schreckliche Angst vor dem Krampus hatte. Heute heißt der Krampus "EINBRECHER". Damals zog mich mein Papa liebevoll am Krampustag durch die Innenstadt. Meine kleine Wenigkeit versteckte sich hinter seiner stattlichen Statur (1,95 cm) und ich verschweißte meine beiden Hände in seiner rechten. Er hatte alle Hände voll zu tun um mich wieder einmal zu beruhigen: "Es gibt keine Krampusse, sind alles nur Menschen!". Da mich seine Worte nicht überzeugen konnten, fragte ich verzweifelt nach: "Aber was ist, wenn einmal ein echter drinnen steckt?" Mein Papa schwieg. Projiziert auf meine galaktische Kindheitsreise, frage ich mich heute. Gibt es echte und, oder falsche Einbrecher? Egal! Ich kenne sowieso nur die echten! Der Vollständigkeit halber fällt mir auch ein, dass ich so lange an das X-Kind geglaubt hatte. Also so lange, bis mein Papa den Wunschzettel zwischen beiden Fensterscheiben entdeckt hatte. Dieses Drama sei hier nicht erwähnt. Die Reise in die Kindheit tut so gut, wenn auch nicht alles rosa war. Mit Schauern erinnere ich mich an Papas Autoradio. Das krachte um die Welt, sozusagen in die "MilchstraßenZukunft". Mama saß daneben, wie die heutige "Navi-Tant‘". Quatschte unentwegt und wenn Papa das Ziel nicht erreichte, gab es..."ein Gespräch". Irgendwann dann wieder zu Hause, dank Mama, schauten wir "FERNSEHEN". Also wir schauten fern, zur heutigen Übersetzung. Zwei Programme in schwarz bis weiß. Solange die Technik und die Mutter es wollten. Bald danach genoss ich meinen Kassettenrekorder mit Bandsalat. Damit hatte ich bereits gegessen. Aber aus rosa wurde immer wieder himmelblau. Bücher mit "in echt" gemalten Bildern, von Menschen, die daraus lasen, Schallplatten ohne Musik, mit denen wir heute Frisby spielen, erfreuten mich aufs Neue.
114 Und aus den Telefonzellen, in denen stets das Telefonbuch gefladert war, hatten wir Spaß mit den Münzen, die immer zu wenig waren, oder direkt durch den Automaten fielen. Allerdings gab es auch schon damals den Papa, der nie Zeit hatte. Somit hat sich doch kaum was geändert. Ich träume in meiner "Terrassen ~ Schaukel ~ Baumel ~ Liege" dahin und bin glücklich wie auf Reisen ohne Koffer. Denn Koffer bedeutet für mich ZU VIEL, ZU SCHWER, ZU WENIG... UND ZU FALSCH GEPACKT! Außerdem verbinde ich Kofferpacken mit Abschied. Koffer nach Italien, supergut! Koffer retour, megaschlecht! Bella Italia!!! Dort brauchst du keinen Gartenzaun, keine bruchsicheren Fensterscheiben, keine kugelsichere Eingangstüre, nicht einmal einen Freund, der bei der Polizei ist. Dort reicht der Blick aufs blaue Meer! In MEINEM Italien wird nichts gestohlen! Huhhh.... Da fällt schon wieder ein Schuss! Völlig desorientiert versuche ich verzweifelt "666" zu wählen, doch dies dürfte nicht die Notrufnummer gewesen sein. So ein Glück, dass ich in meiner "Sonnen ~ Hänge ~ Baumel ~ Liege" liege, oder so ähnlich. Noch dazu schüttet es in Strömen. Da weckt mich der 3. Schuss. In völliger Verwirrtheit, versuche ich Klarheit in mein Leben zu bringen. Ah,.. Hilfe... ein Fremder neben mir! Neben mir in meinem Bett! "Schatz, gefällt dir der Urlaub in Italien? Wollte schon immer mit dir dorthin, wo es keine Diebstähle und Überfälle gibt". Mit Schrecken stelle ich fest, dass ich meinen Handy-Weckerton ihm zuliebe auf Polizeiruf eingestellt hatte und der Prasselregen aus meiner Kindheit das wunderbare Rauschen der Meeresfluten war. REISEN HAT WAS!!!
115 Codewort: Traum WELLENRAUSCHEN Träumer. Sie sieht mir keck ins Gesicht. Ich spüre den Kies unter meinen Füßen, kleine Steinchen unter meinen Sohlen. Welle für Welle kommt heran. Manchmal berührt eine meine Zehen, andere weichen zuvor zurück. Die Kieselsteine flüstern. Sie sprechen eine uralte, vergangene Sprache. Erzählen von längst vergangenen Geschichten, Ereignissen, Träumen. Wer hier an der gleichen Stelle bereits stand. Wer hier träumte. Mit jeder neuen Welle jedoch kommen neue Steine hinzu. Werden alte Muster zerstört, neue gebildet. Und einige Steine erzählen dann von der Zukunft, von neuen Ereignissen, von neuen Welten, die kommen werden, Welle für Welle. Ich blicke auf, sehe über das Meer. Es ist ein schöner Tag. Warm. Hell. Das Meer glitzernd. In Bewegung. Sprudelnd. Rauschend. Träumer. Sie legt mir eine Hand auf die Schulter. Drückt mich sanft. Du kommst nicht mit? Das Meer nimmt meine Frage auf, scheint es zu wiederholen. Nein. Jede Welle trägt ihre Antwort. Sie nimmt ihre Hand von meiner Schulter, fährt sachte mit den Fingerspitzen meinen Arm entlang. Dreht sich um, stapft den Weg zurück, zu den schattigen Bäumen, wo ihr Handtuch am Boden aufgebreitet liegt. Ich blicke ihr nach. Sie spürt meinen Blick im Rücken. Dreht sich um, winkt. Ich lächle. Traurig. Sie wird nicht mit mir kommen. Ich werde alleine gehen. Die Steine flüstern wieder. Tu es. Hör auf zu träumen. Finde. Lebe. Ich blicke wieder auf das Meer, mache einen Schritt vor. Das Wasser umspielt meine Knöchel, es ist kalt, angenehm kalt. Es gluckert. Schäumt. Erinnert mich an Wolken. Ich blicke auf. Keine Wolke am Himmel. Strahlend blau. Ich weiß nicht mehr, wie alt ich war, als mir vom Himmel erzählt wurde. Ich weiß nicht mehr, wie jung ich war, als mir von einer Utopie erzählt wurde, ich eine Utopie kennenlernte, eine, die ich nie richtig deutete, nie verstand, nie verstehen wollte. In meiner kindlichen Selbstverständlichkeit erschien es mir zunächst als ein wunderbarer Ort, in dem alle zufrieden waren. In dem Menschen wandelten, die es auf der Erde nicht mehr gab, die starben. Ein Ort des Friedens, der Gleichheit. Ich weiß noch, wie ich später, älter geworden, versuchte, mir vorzustellen, dass meine Großväter jetzt dort „oben“ waren, auf mich herabsahen, und wie niedergeschlagen ich danach war, da es nicht funktionierte, scheiterte. Ich gehe einen weiteren Schritt in das Meer hinein. Der Boden fällt steil hinab, ich spüre harte, kantige Steine. Das Wasser umfließt meine Oberschenkel, ich lege meine Hände auf die bewegte Oberfläche und betrachte sie, während sie untergehen, vom Wasser verschluckt werden. Wie die Sonne einen Schatten meiner selbst auf den Meeresboden wirft, wie sich jener schlängelt, grotesk in die Länge gezogen, bewegt, lockt. Ich weiß noch, als ich mit meinem Vater darüber sprach, was denn der Sinn des Lebens wäre, seine Vorstellungen, seine Träume. Ich weiß von seiner Hilflosigkeit und von seiner Unfähigkeit, mir diese Fragen zu beantworten, und wie verdrossen ich darüber wurde, nichts zu haben, auf dem ich aufbauen könnte, mir selbst etwas konstruieren könnte. Eine Zukunft, eine Vorstellung, eine neue Gesellschaft. Das Wasser reicht mir nun bis an die Brust. Bald werde ich den Boden unter den Füßen verlieren. Noch reicht es. Ich schmecke trotzdem Salz. Und erinnere mich an meinen Diskussionen mit dem Bruder. Über Ideale. Erstrebenswerte Formen. Pläne. Zukunft. Und meine Unfähigkeit, zu begreifen, zu verstehen. Erneutes Scheitern. Mein Zorn über mein Nichtwissen. Meine Dummheit. Ich versuchte, zu wissen. Versuchte, herauszufinden. Zu ergründen. Zu denken. Zu planen. Mein Leben war stets eine Suche. Eine Suche nach einer Möglichkeit, meine Zukunft zu finden, meine Welt zu finden, zufrieden werden. Glück spüren. Wärme. Sich selbst spüren. Ich suchte nach mir. Nach meinem utopischen Ich. Ging auf Reisen. Und träumte. Endlich. Träumte von einem Ort. So einfach und doch nicht zu beschreiben. Zugleich eins und doch alles. Und ich wusste, dort würde ich endgültig wissen. Die Zukunft lesen. Mich finden. Sein. Und der Ort lockte. Ich sehnte mich tagsüber danach und träumte in der Nacht. Ich brüllte lautlos darum und bettelte weinend. Ich träumte wieder. Immer und immer wieder. Immer und immer öfter. Verlor mich darin. Beschloss, den Ort zu finden, für immer dort zu bleiben. Ich fuhr ans Meer. Symbol der Vergangenheit. Erlebnisse, Ereignisse. Urlaub. Familie. Glück, Zufriedenheit und Vollkommenheit. Freunde. Vergangenes wird wieder wahr. Wahres wird vergehen.
116 Die Vergangenheit hat Struktur. Einen Plan. Sie geht nach strengen Regeln, verläuft geradlinig, biegt nicht ab. Wurde geschrieben. War. Muss mich doch geradewegs in meine Utopie, in meine Zukunft führen. An einem Nicht-Ort, den ich nur hier finden, den ich besuchen werde. In dem ich existiere, lebe. Niemand weiß von mir. Niemand weiß von meinen Plänen. Kaum jemand kennt mich noch. Nur sie. Begleitete mich. Dachte an eine spontane Reise, packte ihren Koffer. Meine Reisetaschen blieben leer. Sie. Muss gehen, sie verlassen, zurücklassen. Will nicht mit. Bleibt hier. Sie lachte über meinen Plan. Nannte mich Träumer. Ich tauche unter. Betrachte die Welt von unten. Höre das Klicken des Wassers. Das Rauschen in meinen Ohren. Kalt. Gänsehaut. Leuchtende Haut, Muster darauf. Versinke. Sehe ihn. Den Ort. Das Nichts. Sie blickt auf. Das Meer rauscht. Große Wellen brechen sich am Strand. Die Steine rascheln, Wellen brausen heran, ordnen, zerstören, erzählen. Sprechen eine stumme Sprache, rufen frech, kichern knisternd. Es gluckst. Die Wogen schäumen. Der Strand ist leer. Ich bin nicht mehr da.
117 Codewort: Gallier001 Fronten des Lebens
„Sie können mich Herr Hauptmann oder einfach Hauptmann nennen“. Das waren die ersten Worte, die der Fremde, der mir in der verrauchten Bar gegenüber saß, zu mir sagte. Drei Tage zuvor erhielt ich eine Nachricht. Kurz und bündig stand darauf: „Kommen Sie um 21.00 Uhr in die Bar“. Nicht mehr. Ich war neugierig. Hier saßen wir nun. Ich blickte ihn an, musterte ihn zugleich. Eine unscheinbare Person in einem schlecht sitzenden, etwas zu großen und zerknitterten Sakko. Auffällig waren lediglich seine fast grauen Augen, die in einem wettergegerbten, zeitlosen Gesicht weilten und die rastlos durch die Gegend wanderten. Ich trank Bier, er bevorzugte scheinbar Härteres. Vor ihm lag eine zerknautschte Packung Gauloises Caporal. Er nahm sich eine Zigarette und steckte sie mit einem Zündholz an. Nachdem er einen tiefen Zug genommen hatte, begann er erneut zu sprechen. „Ich erzähle Ihnen meine Geschichte. Unterbrechen Sie mich nicht. Fragen können sie hinterher stellen. Ich wuchs als einziges Kind meiner Eltern in Graz auf. Unsere Familie war das, was man gut situiert nennt. Mit 19 maturierte ich. Das Leben erschien mir langweilig und obwohl meine Eltern mir viel ermöglichten – besondere Liebe erfuhr ich nie. In meinen Jugendjahren las ich Karl May. Auch die Bücher Sven Hedins fesselten mich. So beschloss ich, mir ein Rad zu kaufen und mich auf den Weg quer durch Europa zu machen. Ich suchte das große Abenteuer. Meine Eltern waren entsetzt. Wer kommt schon als 19jähriger in den 50er Jahren auf die Idee, mit einem Rad auf Abenteuersuche zu gehen. Geld bekam ich keines, doch ich hatte einiges erspart. Unterwegs nahm ich die eine oder andere Gelegenheitsarbeit an, um weiter zu können. So habe ich Deutschland, die Schweiz und Italien durchreist. Nach mehreren Monaten kam ich nach Frankreich. Doch Abenteuer, wie ich sie aus den Büchern kannte, erlebte ich nicht. Es war vielmehr Alltag in anderen Ländern, die gar nicht so anders waren als Österreich, den ich kennen lernte. Als ich in Marseilles ankam, veränderte sich alles. Zufällig sah ich ein Plakat. Sofort war ich fasziniert. Palmen, Pyramiden, eine schöne Schwarze mit einem Krug auf dem Kopf und ein Legionär mit weißem Käppi. Die Légion étrangère – die Fremdenlegion. Ohne zu zögern suchte ich noch am selben Tag ein Rekrutierungsbüro auf und wurde sofort verpflichtet. Mit allem was dazu gehört. Ich legte meinen Namen ab, der mir ohnehin nicht allzu viel bedeutete und war ab sofort Legionaire. Wir wurden nach Algerien verschifft. Es war das erste Mal, dass ich meinen Fuß auf afrikanische Erde setzte. Inzwischen war ich 21 Jahre alt geworden. Hätte ich vorher gewusst, was mich in der Legion alles erwartet, ich hätte mich wahrscheinlich trotzdem nicht anders entschieden. Wir wurden gedrillt bis zum Umfallen. Geländemarsch unter afrikanischer Sonne. Was uns nicht umbringt, macht uns härter. Letztlich haben wir davon profitiert. Wir wurden nach Indochina verlegt. Neues Land, neuer Kontinent. Es war wie ein Schlaraffenland. Alles was ich mir erträumt hatte, war dort. Schöne Mädchen, ein wunderschönes Land und exotische Früchte, die ich noch nicht einmal aus Büchern kannte. Hätte es keinen Krieg gegeben, es wäre das Paradies gewesen.“ Er hielt kurz inne, um sich erneut eine Zigarette anzuzünden und sich nochmals sein Glas mit Schnaps zu füllen. Ich war verwirrt und gespannt zugleich. Warum erzählte er mir das alles? Wo sollte das hinführen? Er hob prüfend das Glas, leerte es auf einen Zug und füllte es sogleich wieder. Die Fragen in meinem Kopf wurden immer lauter. Es schien, als überlegte er, wie er fortfahren sollte. „Ja, Indochina. Es war 1954. Im März oder April. Der Krieg war für Frankreich nicht mehr zu gewinnen und die Viet Minh hatten uns überall verheerend geschlagen. In jener Zeit begegnete ich ihm zum ersten Mal, ihrem Vater.“ Das war es also. Er hatte meinen Vater gekannt. Nun war ich interessierter denn je. Mir brannte die eine oder andere Frage auf den Lippen, doch ich hielt es für besser, ihn ohne zu unterbrechen, erzählen zu lassen. Innerlich jedoch bebte ich vor Spannung.
118 „Er war Journalist. Genau wie sie einer sind. Der Apfel scheint nicht weit vom Stamm zu fallen.“ Er lachte über seinen eigenen Witz, bis er lautstark zu Husten begann. „Er war mir auf Anhieb sympathisch. Keiner jener Schreibtischhelden, die ihre Geschichten aus zweiter oder dritter Hand haben und dann im sicheren Büro ihr Geschmiere zu Papier bringen. Er wollte vorne mit dabei sein. Erlaubt war es zwar nicht, doch wo ein Wille, da ein Weg und wir nahmen ihn mit auf Patrouille. Es war eine Patrouille, die ich wohl nie vergessen werde. Wir gerieten in einen Hinterhalt. Von allen Seiten wurden wir beschossen. Wir wurden versprengt. Bei mir waren ihr Vater und zwei meiner Kameraden. Eine Granate detonierte neben uns und einer meiner Kameraden wurde getötet. Der zweite, dieser Feigling, setzte sich ab. Ihr Vater und ich waren allein. Mich durchfuhr ein stechender Schmerz. Eine Kugel aus dem Hinterhalt hatte mich erwischt. Ich wurde ohnmächtig. Am nächsten Tag wachte ich im Lazarett wieder auf. Ihr Vater, der selbst verwundet worden war, schleppte mich zurück zur Truppe und rettete mir das Leben – meine Kameraden erzählten mir das. Allein wäre ich verloren gewesen.“ Er rauchte noch eine Zigarette und schien im Gedanken versunken. Vielleicht durchlebte er im Geist nochmals die Ereignisse jener Nacht. „Ja, so war es und ich hatte noch nicht einmal die Gelegenheit, ihm zu danken. Wir sahen uns in Indochina nicht wieder. Noch im selben Jahr wurde meine Einheit nach Algerien zurück verlegt. Ihr Vater blieb, wie ich auf Umwegen erfahren habe, noch in Indochina. Wie lange, das müssten Sie besser wissen als ich. Es sollte einige Jahre dauern, bis sich unsere Wege erneut kreuzten. Es war 1961. Ich diente im 1. Fallschirmjägerregiment. Im April unterstützten wir den Putsch gegen de Gaulle. In diesen Unruhen traf ich ihren Vater. Wie schon in Indochina, war er auch hier – in Algerien – immer dort, wo es am heißesten herging. Ich hatte aufgrund der herrschenden Unruhen weder Gelegenheit, ausführlich mit ihm zu sprechen, noch mich bei ihm zu bedanken. Durch unsere Beteiligung am Putsch wurde unser Regiment aufgelöst und alle meine Kameraden wurden auf andere Regimenter aufgeteilt. Ich konnte und wollte das nicht hinnehmen und desertierte. Innerhalb meiner Dienstzeit in der Legion hatte ich es mittlerweile bis zum Unteroffizier gebracht. Ich hatte ja keinen Beruf erlernt – außer das Kämpfen. So beschloss ich, mich als Söldner zu verdingen. In den 60er Jahren gab es Konflikte genug, in denen Leute gebraucht wurden, die Kampferfahrung aufweisen konnten. Afrika war ein einziger brennender Krisenherd. Kaum, dass ein Konflikt gelöst war, brach ein neuer aus. Arbeit ohne Ende – und besser bezahlt, als der Dienst in der Legion. Ich reiste nach Süd-Afrika, um mich als Söldner anwerben zu lassen. Lange dauerte es nicht, bis ich meinen ersten Auftrag bekam. Es sollte in den Kongo gehen um Rebellen zu bekämpfen. Die meisten meiner Kameraden kamen aus Deutschland. Es tat mir gut, seit langem wieder in meiner Muttersprache sprechen zu können. Doch der Krieg verlangte seinen Tribut. Einige meiner Kameraden fielen, andere erkrankten im tropischen Klima. Das dritte und letzte Mal traf ich ihren Vater im Kongo – in Stanleyville während des Simba-Aufstandes. Unser Auftrag war es, den Aufstand niederzuschlagen und Zivilisten außer Gefahr zu bringen. In einer schäbigen kleinen Bar saß ihr Vater und trank. Er sah schrecklich mitgenommen aus. Die Jahre als Kriegsberichterstatter hatten deutliche Spuren hinterlassen. Er wirkte auf mich nicht mehr wie der fröhliche, unbeschwerte junge Mann, dem ich einst in Indochina mein Leben verdankte. Er erkannte mich sofort und wir begrüßten uns. Wie immer war er auf der Suche nach einer guten Story und wie immer wollte er an vorderster Front mit dabei sein. Wir schwelgten in Erinnerungen und im Dunst des Alkohols versprach ich ihm, ihn tags darauf zu unserem Einsatz mitzunehmen.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, nahm eine neue Zigarette aus der Packung und zündete sie mit der alten Kippe an. Mittlerweile wirkte er ein wenig benebelt vom Schnaps, den er währenddessen getrunken hatte. Auch seine Sprache wurde etwas schwerer, bildete ich mir ein. „Hätte ich gewusst, was passieren würde, ich hätte ihn nicht mitgenommen. Wir fuhren in einem Konvoi Richtung Norden. In einer kleinen Ortschaft – den Namen weiß ich nicht mehr – war eine belgische Familie, die wir in Sicherheit bringen sollten. Dazu kam es nicht. Als wir eintrafen, konnten wir nichts mehr für die Familie tun. Die Simbas hatten sie allesamt getötet. Wir gerieten in einen Hinterhalt. Nach einem kurzen Gefecht schlugen wir die Rebellen in die Flucht. Ihren Vater hatte ich während der Kampfhandlungen aus den Augen verloren. Ich fand ihn – von einer Kugel tödlich getroffen. Über die Jahre hatte ich mir abgewöhnt, beim Verlust von Kameraden sentimental zu sein. Doch in
119 diesem Fall wurde mein Herz unendlich traurig. Jener Mann, der einst für mich da war, starb, ohne dass ich etwas für ihn tun hätte können. Fernab der Heimat durch eine Kugel in den Körper getroffen. Ich fühlte mich verantwortlich, da ich ihn mitgenommen hatte. Gelitten hatte er nicht. Das sah ich. Die Kugel musste ihn sofort getötet haben. Das war der einzige Trost, den ich hatte. Ich durchsuchte seine Taschen und steckte seine persönlichen Habseligkeiten ein. Meinen Männern befahl ich, ihn zu beerdigen.“ Betroffen blickte ich ihn an. Er war dabei, als mein Vater starb. Ich wusste, dass mein Vater im Kongo starb. Die genauen Hintergründe kannte ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht. „Es ist das erste Mal seit 20 Jahren, dass ich meinen Fuß wieder in dieses Land gesetzt habe. Ich musste Sie finden, um Ihnen das alles zu erzählen.“ Langsam fasste er in seine Sakko-Tasche, legte ein Portemonnaie, eine Armbanduhr und den Ehering meines Vaters auf den Tisch. Ein letztes Mal blickte er mir in die Augen, trank sein Glas aus, stand auf und ging ohne zu grüßen oder sich noch einmal nach mir umzudrehen. Ich blickte noch lange in Richtung, in die er verschwunden war. Wollte der Fremde, dessen Namen ich nie erfahren sollte, auf diese Weise seine Schuld tilgen und meinem Vater einen letzten Dienst erweisen?
120 Codewort: LiAiK 2014 Der Rote Faden
Er hat viel gesehen, mehr noch hat er miterlebt. Jede seiner Reisen war ein aufregendes Abenteuer. Die Folgen waren im Vorhinein stets schwer abzuschätzen, auch wenn er sich gut vorbereitet fühlte, war es jedes Mal ein unsicherer Gang ins Labyrinth. Er muss sich vorsichtig voran tasten – es gibt viele Abzweigungen. Er muss seine Augen zusammenkneifen – die Sicht ist schlecht. Er muss gut hinhören – die Zurufe sind gedämpft. Durch das Labyrinth zu wandern, das benötigt geschärfte Sinne. Natürlich, am Ende gibt es immer einen Ausgang, aber ist es der richtige? Im Laufe der Zeit hat er auf den Reisen in die Labyrinthe viele Bilder verinnerlicht, tief unter der Haut liegen sie begraben. Wenn er will, kann er wie in einem Fotoalbum darin blättern. Schöne Bilder, schreckliche Bilder, er hat sie alle aufgehoben, er musste ja, sie wurden ein fester Bestandteil von ihm. Da gab es nichts abzutrennen. Sie begleiten ihn im Alltag und auf seinen Reisen. Manchmal verfolgen sie ihn im Schlaf, graben sich eigenwillig zurück an die Oberfläche und nehmen ihn in Geiselhaft, spielen Streiche, brechen mit Raum und Zeit, spinnen ihre eigenen Geschichten. Die anderen können ihn nur schwer verstehen. Wenn die anderen sich frühmorgens gerade erst aus dem Bett quälen, ist er schon wieder auf Reisen. Während die anderen auf dem Weg zur Arbeit in der U-Bahn sitzen, dumpf vor sich hin starren und sich an ihre Mobiltelefone klammern, erlebt er seine Abenteuer. Irgendwie, irgendwo wären sie wahrscheinlich gerne ein Mal Teil seiner Reisegesellschaft gewesen, aber seine Ruhelosigkeit machte ihnen Angst. Er, der rastlose Wanderer, der Träumer, der, der viele zu Hause hat, aber nirgends daheim ist. Daheim. Seine Wohnung. Das Haus seiner Eltern, indem er aufgewachsen ist. Daheim. War das überhaupt ein Ort? War das fassbar? Der Ort der absoluten Behaglichkeit. Wo lag der? Nie da, wo er gerade war. Vielleicht hoffte er ihn auf seinen Reisen zu finden. Die ständige Bewegung war zu seiner Natur geworden. Die ständige Jagd nach dem Nächsten, dem Neuen. Seine Eltern nahmen ihn schon als Kind mit auf Reisen. Damals dirigierten sie ihn durch die Labyrinthe. Das waren seine frühesten Erinnerungen. Viel ist davon nicht mehr greifbar in seinem Gedächtnis geblieben. Einzelne Momentaufnahmen, zum Teil überbelichtet, verwackelt, nicht im Fokus. Als Déjà-vu blitzen sie manchmal auf, wenn er heute unterwegs ist. Diesen Mann kenne ich doch?! In diesem Raum muss ich schon gewesen sein! Auf dieser Lichtung – war ich hier schon? In diesem einen Sommer dann, als die anderen Kinder im Freibad plantschten, traf er zufällig auf O. Eigentlich war ihm dieser Mann unsympathisch. Zu groß, zu schlau, zu heroisch für diese, seine Welt. Auf den zweiten Blick erkannte er aber die unsichtbare Verbindung. Er folgte O. nach Griechenland und erlebte die unglaublichsten Abenteuer. Seine erste große Reise, auf die er sich ohne seine Eltern wagte. Er begleitete O., der ihm ein treuer Freund wurde, auf allen Prüfungen und bis dieser endlich wieder seine Familie in den Arm nehmen konnte, endlich wieder zu Hause war. (War O. daheim?) Danach war die Lust geweckt. Plötzlich ging alles ganz schnell! Immer war er unterwegs, gerade da, schon wieder dort. (Und niemals hier?) T.S. und er haben die Schule geschwänzt, damals in Missouri. Das gab wieder Ärger mit Tante P. (Sicher hat uns S. verpetzt – wer sonst?) Aber was lernte man schon in der Schule, was man nicht auch mit T.S. und H.F. lernen konnte? Außerdem machte das viel mehr Spaß. Er wollte Räuber werden, ein Bandit mit Stil, so wie die beiden eben. Oder doch lieber Pirat? Nein, Schatzsucher! Mit H.C. wanderte er durch New York, nachdem dieser (schon wieder…) von der Schule geflogen war. Mann, das waren drei Tage! Da war alles dabei! Alkohol, Prostituierte, Schlägereien, die eine oder andere zerquetschte Träne. Mit S. und M. steht er heute noch auf Kriegsfuß. Denkt er an den kleinen A., wird ihm ganz anders, obwohl er ihn gar nie getroffen hat. Ob H.C. irgendwann doch noch nach Westen gegangen ist? Und J.? Was wurde aus ihr? Er litt mit dem neuen W. in Berlin (mit dem „alten“ erst viel später), konnte dessen Begierde für C. aber nicht ganz verstehen. (Auch das kam erst später.) W., das war wirklich ein komischer Kauz, aber er war gern mit ihm in der verlassenen Laube neben dem Kindergarten. Das hatte etwas höchst Rebellisches, das war Auflehnung, purer Trotz gegenüber den anderen. Nur mit dem Ende dieser Reise, so wie er mit W. verblieben ist, das störte ihn ein wenig, da fehlte was, das war nicht rund…da…fehlte was. In Indien traf er auf S. und glaubte sofort, in einen Spiegel zu sehen. Da war einer, genau wie er, auf der Suche nach dem Neuen, einer, der erkannt hatte, dass es so nicht weiter gehen konnte. Das war doch nicht alles?! Zusammen pilgerten sie durchs Land, erlebten die Schönheit der Natur und der Liebe. Zusammen drehten sie sich im Kreis, obwohl sie ständig abbogen. Zusammen standen sie ratlos am Fluss, als sich böse Gedanken regten. Es war derselbe Fluss, auf den sie am Ende hörten, der Fluss, der sich ständig wandelt und doch immer derselbe
121 bleibt. S. hatte irgendwann die Einsicht in die wahre Natur der Dinge. Er war sich dabei allerdings nicht ganz sicher, denn S. war S. und er war doch er? Oder nicht? Wieder nach Berlin. Mit C.F. durch die Hölle. Stress mit den Eltern, das kannte er. Aber das, was hier geschah, war ihm neu, das lief vollkommen aus dem Ruder, das war Einstrumpfen, ganz tief, bis zur Kehle (teilweise darüber) in diesen abscheulichen Sumpf aus Nadelkissen. Überall schießen Mauern aus der Erde, versperren den Blick. Nein C.F.! Nicht in diese Richtung! Als junger Mensch glaubt man, unverwundbar zu sein. Er wusste es von da an besser und C.F. blieb nur der Traum von einem besseren Leben. War es sein Leben wovon sie träumte? Eine ruhelose Nacht mit G. in Wien. Die Gedankenfetzen, wie Wolkenberge, die lautlos ineinander krachen. Ein Ausweg aus der Misere! Dieselben bösen Gedanken wie damals in Indien, am Fluss. Nur eben anders. Am Ende wieder alles auf Anfang, das war doch irr! Und zwischendrin durch jede Gasse des Unbewussten. So stolperte er auch in dieses gewaltige Labyrinth mit K., dem Verhafteten (zu unrecht?), der vordringen wollte zum Kern der Sache, vorbei am Türhüter. Alles Flehen und Winden war allerdings vergebens, keiner kam vorbei. Genauso war er im Labyrinth gefangen. Die Bilder dienten ihm als Wegweiser (wie schon öfter zuvor), führten aber alle in die falsche Richtung. Wie ein Hund. Immer der falschen Fährte hinterher. Schließlich die Frage – was sollte ihn einmal überleben? Das war alles, was er zu diesem Zeitpunkt von dieser Reise mitnehmen konnte. Dieses Labyrinth ließ ihn nicht los, war ständig präsent, wenn auch nur gedämpft im Hintergrund, ständig pochend und pumpend. Er hat zugesehen, als P.B.s Freund die Stiefel abgenommen wurden. Wo der hingeht, braucht er sie nicht mehr. Danach zurück in den Graben. Ausharren. Nur nicht durchdrehen. Er hat es sich anders vorgestellt, ganz anders. Freiwillig hat er diese Reise angetreten (so wie jede zuvor) und nun gab es kein Entkommen mehr. Ausharren. Nur nicht durchdrehen. Wer nicht dabei war, konnte nicht verstehen und wer dabei war, nach dem rief der Graben, über alle Grenzen hinweg, dröhnt es lautstark in den Ohren. P.B. verlies den Graben nicht. Und auch ein Teil von ihm blieb dort zurück, irgendwo im Westen. Nach dem Mord in der Schweiz hat er die Lippen mit bewegt. M.s Schwur. Bei seiner Seligkeit. Er war der einzige, der M. geglaubt hat, dazu riet, den Flieger nach Amman nicht zu betreten. Er hielt aus an M.s Seite, Tag und Nacht bei der Tankstelle. Der Plan war Wahnsinn, gleichzeitig irgendwie logisch, der musste doch aufgehen, so ausgeklügelt, bis ins Detail…verdammt der musste! Bei seiner Seligkeit. Als die Antworten ausblieben, wurde auch er zum Tier. Zufall. Alles war Zufall. Er war höchstens Sand im eigenen Getriebe. Die Gleichgültigkeit drohte ihn zu übermannen, als er mit dem anderen M. durch Algerien zog. Die Routine der Antriebslosigkeit. Wer kann sich der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt verschließen? Emotionslos nahm er den Schuss aus der Pistole wahr und die vier weiteren darauf. Er akzeptierte es. Was hätte er denn anderes tun sollen? Am liebsten hätte er selbst abgedrückt. Danach war ihm die Lust am Reisen vergangen. In seinem Innern war das Fotoalbum auf ein unüberschaubares Archiv angewachsen. Verstaubte Kästen standen überall, schlecht beschriftet, fast unmöglich da das passende Bild zu finden. Warum also noch mehr Bilder ankarren? Der Sinn der Labyrinthe war ihm entzogen. Er schloss das Archiv und wandte sich seinem Alltag zu. Doppelt absperren, einen Riegel davor, rot-weißes Absperrband und ein Warnzeichen: Nothing good can come from this. Das milchige Fensterglas verbirgt den trostlosen Anblick. Dann wurden die Träume schlimmer, weil die morschen Regale unter der Last einzustürzen begannen. Das Chaos wurde immer größer. Überall die Bilder, kreuz und quer. Am helllichten Tag griff er sich an den Kopf, strich sich mit den Händen über die Augen und das ganze Gesicht. War das jetzt gerade echt? Ist das wirklich geschehen? Schließlich traf er den Entschluss. Das Archiv musste wieder geöffnet werden, entstaubt, aufgeräumt, alles musste an seinen angestammten Platz. Aber wo sollte er in diesem Durcheinander bloß anfangen? Klarer weiße von vorne! Das machte Sinn, war wissenschaftlich erprobt. Er ging also zurück. Er wiederholte seine Reisen, ging in dieselben Labyrinthe, nahm dieselben Abzweigungen und suchte dieselben Bilder. Die Reiseziele seiner Kindheit ließen sich ohne großen Aufwand wiederfinden, aber nach den alten Bildern zu schürfen… Die alten Bilder waren von den neuen Bildern verschüttet worden. Man musste sie aus dem Berg, der über ihnen thronte, herausschlagen, herauslösen, aussieben, feinsäuberlich abpinseln, das war harte Arbeit, das war eine Sisyphusarbeit, denn immer wenn er glaubte, das reine, unverfälschte Bild vor sich zu haben, es langsam im Tageslicht abschätzte, erschienen daran neue Brocken. Nein. Die alten Bilder würden sich von den neuen niemals in zufriedenstellender Art und Weise lösen lassen können. Sie waren einfach nicht mehr dieselben wie früher. Er war nicht mehr derselbe. Verzweiflung. Nach langer Zeit eine neue Reise. In Heidelberg schloss er Freundschaft mit dem, an Gelbsucht erkrankten, M.B. Der Junge war vernarrt in H.S. Wieder diese Faszination für eine Frau. (Diesmal verstand er es.) M.B. war selber
122 gerne unterwegs und spielte den Reiseleiter für H.S. Alleine hat sie es nicht geschafft. Sie ist ja gar nicht erst bis zum Labyrinth gekommen! M.B. half ihr bis zum bitteren Ende. Er ging danach wieder öfter auf Reisen, versprach sich nicht viel davon. Unbekümmert durch die Labyrinthe, knipste er mal hier, mal da ein Bild. Ein paar wurden gerahmt, andere wurden gar nicht erst ausgearbeitet. Irgendwann wagte er sich auch wieder in die alten Labyrinthe zurück. In Berlin glitten seine Fingerkuppen über die Wände der Gartenlaube, er sah die Sonne durch das Blätterdach brechen und hörte den spielenden Kindern zu, während W. seine Tonbänder aufnahm. Es war beinahe friedlich. Moment! Er öffnete seinen Rucksack und zog einen Ordner heraus. Nein, hier nicht. In diesem vielleicht? Auch nicht. Ist es noch nicht eingeordnet? Er beginnt zu wühlen, wird panisch. Das geht alles zu langsam. Er dreht den Rucksack über, schüttelt wie wild. Der Boden ist voll mit Bildern. Er geht auf die Knie, gräbt seine Hände in den Haufen. Das hier? Nein. Wo ist es? Letzte Woche hat er es gemacht, ganz sicher, irgendwo am anderen Ende der Welt, gar nichts dabei gedacht, es war ja nichts Besonderes. Wo war es? Hat er es etwa zurück gelassen? Er fasst in seine Hosentaschen, ein zerknülltes Papier kommt zum Vorschein, behutsam streicht er es glatt. Das ist es. Jetzt hielt er es triumphierend in die Höhe. Es passte perfekt. Da…fehlte plötzlich nichts mehr, die Sache war rund. Gleich hinter der Laube öffnete sich ein neuer Ausgang. Er schritt hindurch, machte dabei neue Bilder, die ihn an Indien erinnerten. Indien! Express-Flug, noch in derselben Nacht. Mit den frisch entwickelten Bildern löste er S. als Fährmann ab. Über die nächsten Jahre hinweg pendelte er immer wieder zwischen neuen und alten Reisezielen hin und her. Nicht immer konnte er neue Ausgänge entdecken. Aber er fand eine weitere Tür mit K., diesmal war sie für ihn bestimmt und das Pochen war seitdem kaum noch zu vernehmen. Die Nadelkissen halfen auf vielen Reisen, genauso wie die Wiener Misere. Irgendwann lernte er die Liebe zur Architektur kennen. Er schuf sich seine eigenen Labyrinthe (jedes war ihm ein neues zu Hause), füllte sie mit den Bildern, die er in seinen Archiven aufbewahrt hat (mittlerweile gab es viele davon). Manche waren arg verwinkelte Lehmtunnel, mit spärlicher Beleuchtung, nur ab und zu eine Glühbirne, da war es schwer die verstreuten Bilder auf dem Boden zu erkennen. Andere waren prächtige Glaspaläste, wie in einer Galerie ließen sich die Bilder bewundern, während entspannende Musik aus den Lautsprechern rieselte. Nur auf die Ausgänge hat er stets verzichtet – sie wären ja erst nicht die richtigen. Er half M.B. noch öfter bei dessen Reiseveranstaltungen, schloss Frieden mit der Schweiz, dem Graben ist er nie entkommen, Algerien hat er gemieden.
123 Codewort: Lebenstraum Reise nach Jerusalem
An einem trüben Morgen zehn Tage vor Ostern erfüllte das laute Plappern einer kleinen Schar Menschen den Flughafen. Bewaffnet mit Koffern, Reisepässen und Flugtickets belagerten sie den Check-in-Schalter, um nacheinander die demütigenden Kontrollen zu passieren, die sie am Ende doch nur als harmlose Passagiere entlarvten. Danach ließen sie sich fürs Erste erleichtert im Café im Abflugbereich nieder und warteten darauf, dass ihr Flug aufgerufen wurde. Die leuchtenden Augen der Reisenden erinnerten an die von Kindern, die zu spannenden Abenteuern aufbrachen, doch passte der Rest ihrer Erscheinung nicht ins Bild. Fast alle Mitglieder der Gruppe waren in einem Alter, in dem andere körperlich und geistig nicht mehr in der Lage waren, zu verreisen. Diese Senioren hingegen waren rüstig, agil und aufgeweckt. Die meisten von ihnen waren Frauen, darunter Magda, die mit einer Tasse Kamillentee ein wenig abseits an einem Tisch saß. Die gemeinsame Pilgerfahrt nach Jerusalem war ihre Idee gewesen. In kaum achtzehn Monaten hatte Magda die Mitbewohner im Seniorenheim mit ihrer Begeisterung für das Heilige Land angesteckt und sie zu dieser Reise animiert, wahrscheinlich der letzten, die jeder von ihnen in seinem Leben unternehmen würde. Sie selbst träumte schon seit gut siebzig ihrer vierundachtzig Jahre davon, nach Palästina zu fahren, ins lebendige jüdische Leben einzutauchen und die Menschen kennen zu lernen, deren Vorfahren so viel Leid ertragen und trotz allem überlebt hatten. Nach Jahrzehnten der Selbstverleugnung und Aufopferung für die Familie war es nun endlich so weit. Sie konnte kaum glauben, dass sie nur noch vier Stunden von der Gelobten Stadt trennten. In ihrem Kopf sah sie Jerusalem schon deutlich vor sich, fast so wie als Kind als sie noch nichts von Felsendom, Grabeskirche oder Yad Vashem geahnt hatte, und musste daran denken, wie alles angefangen hatte. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie Großmutter und Mutter ihr als kleines Kind anstelle von Märchen jeden Tag eine der fantastisches Geschichten aus der Bibel erzählt hatten. Mit Jesus, Moses und all den anderen war sie in eine Welt davongeflogen, die so ganz anders gewesen war als ihr Bauernhof und das kleine Dorf in den Bergen, wo fast jeder Tag dem anderen geglichen hatte und nie irgendwelche Wunder geschehen waren so sehr sie auch darum gebetet hatte. Ihre streng katholische Erziehung und ihren Glauben hatte sie zwar schon früh hinter sich gelassen, aber die Faszination für das Heilige Land war geblieben. Es waren nicht die religiösen Stätten, die sie interessierten, sondern die Menschen, die dort lebten. In Magdas Vorstellung hatten sie etwas Geheimnisvolles und doch irgendwie Vertrautes an sich, das sie ergründen wollte. Als Schulmädchen hatte Magda von Juden nur als Messiasmörder, als Ausgeburt des Teufels und als Feinden des Vaterlands gehört. Im Unterricht, im Bund deutscher Mädchen und in der Kirche hatten alle nur abschätzig von ihnen geredet, obwohl so gut wie niemand im Dorf jemals selbst etwas mit Juden zu tun gehabt hatte. Eigentlich waren die schrecklichen Geschichten, die die Leute weitererzählt hatten, dazu bestimmt gewesen, Angst zu machen und Hass zu schüren, doch Magda war vor allem neugierig auf die Wahrheit hinter den Ammenmärchen geworden. Sie hatte keinen Augenblick lang geglaubt, dass es Menschen gab, die so gar nichts Gutes an sich hatten. Lange hatte sie mit niemandem darüber gesprochen, weil sie längst gelernt hatte, dass zu viel Offenheit anderen gegenüber gefährlich werden konnte, und auch nach Kriegsende war das Thema in ihrer Familie ein Tabu geblieben. Im Krieg und unmittelbar danach hatte sie sich oft in Fantasien einer goldenen Stadt Jerusalem voller strahlender Menschen mit dunklen Haaren und Augen wie den ihren geflüchtet, um wenigstens vorübergehend den harten Alltag auf dem Bauernhof hinter sich zu lassen. Sie hatte auch damit begonnen, heimlich alles zu lesen und zu sammeln, was sie über Land und Leute hatte finden können. Irgendwann waren ihre Tagträume dann zum realen Wunsch gewachsen, die Stadt ihrer imaginären Freunde zu besuchen. Der Gedanke, einmal Jerusalem zu sehen und zu sterben, hatte sich endgültig in ihr festgesetzt. Allerdings hatte sie den Traum lieber für sich behalten, weil niemand in ihrem Umfeld verstanden haben würde, warum sie ausgerechnet nach Palästina fahren wollte, wo doch Italien oder Amerika so viel verheißungsvoller waren. Außerdem würden ihr die Eltern eine solche Reise niemals erlaubt haben und selbst wenn sie einverstanden gewesen wären, hätte ihr das Geld dazu gefehlt. In den Fünfzigerjahren hatte sie dann geheiratet und war mit ihrem Mann in die Stadt gezogen. Aus Angst, ihn vor den Kopf zu stoßen, hatte sie ihre große Sehnsucht nach Jerusalem nicht einmal mit ihrem Mann geteilt, doch hatte sie damals ohnehin keine Zeit gehabt, um ihren Träumen nachzuhängen. Die drei Kinder, die sie kurz nacheinander zur Welt gebracht hatte, und das Haus, das sie gemeinsam mit ihrem Mann zu bauen begonnen hatte, hatten sie voll in Anspruch genommen. Für eine Reise war ohnehin kaum Geld übrig gewesen. Nur ein paar Mal hatte sich die Familie einen Urlaub im Süden leisten können, aber nie waren sie weiter als bis nach Dubrovnik
124 gekommen und das im eigenen Auto mit einem großen Zelt im Gepäck. An Jerusalem als Reiseziel hatte nur Magda gedacht und wieder hatte sie kein Wort darüber verloren, weil sie gefunden hatte, dass die Zeit noch nicht reif war, um ihren Traum in die Tat umzusetzen. Erst als die Kinder schließlich aus dem Haus gewesen waren und ihre eigenen Familien gegründet hatten, war Magda mutiger geworden und hatte wieder angefangen, regelmäßig Bücher über Jerusalem zu lesen und Bildbände zu sammeln. Für ihre Familie war es nie mehr als eine verrückte Marotte gewesen, die allerdings den Vorteil gehabt hatte, es allen enorm zu erleichtern, ein passendes Geschenk für sie zu finden. Über die Jahre hatte sich das Wohnzimmer so in eine Bibliothek über das Heilige Land verwandelt, doch eine Reise an die Orte aus den Büchern hatte nie jemand vorgeschlagen und Magda hatte es peinlich vermieden, auch nur anzudeuten, dass es eigentlich das war, was sie sich wünschte. Vorläufig hatte sie noch möglichst viel Zeit mit den Enkelkindern verbringen wollen und war mit ihnen jedes Jahr in Urlaub gefahren. Außerdem war ihr Mann schwer krank geworden und es war ihr wichtig gewesen, ihn durch sein jahrelanges Leiden zu begleiten und zu pflegen wie es ihre Pflicht als Ehefrau war. Eine Reise nach Jerusalem war ihr unter diesen Umständen völlig abwegig erschienen. Nach dem Tod ihres Mannes war Magda so niedergeschlagen gewesen, dass sie sich in den eigenen vier Wänden verkrochen und gehofft hatte, selbst bald zu sterben. Das Haus war der einzige Ort gewesen, an dem sie die Traurigkeit hatte ertragen können, weil sie nicht das Gefühl gehabt hatte, sie verstecken zu müssen. Die Fantasien von Jerusalem hatten ihr jedoch keinen Trost gebracht und der Wunsch, Palästina zu sehen, war ganz von selbst in den Hintergrund gerückt. Nach fast drei Jahren waren ihr die gut gemeinten Besuche und Anrufe der Kinder und Enkel, die ständig befürchtet hatten, ihr könnte etwas zugestoßen sein, schließlich zu viel geworden. Sie hatte sich dazu durchgerungen, das Haus zu verkaufen und ein neues Leben in einem Seniorenheim am Stadtrand zu beginnen. Kaum hatte sie dort ihre Einzimmerwohnung bezogen, war sie aufgeblüht und die Sehnsucht nach Jerusalem hatte sie wieder voll erfasst. Von da an hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben jedem, der bereit gewesen war, ihr zuzuhören, von ihrem Traum erzählt und sie hatte die Idee einer gemeinsamen Pilgerfahrt an die Heiligen Stätten Israels geboren. Die Erinnerungen aus ihrem langen und ereignisreichen Leben vermischten sich in Magdas Kopf zu einem wilden Durcheinander von Bildern, Lauten, Gerüchen und Gefühlen, während sie immer tiefer in den dunklen Sog des Schlafs rutschte. In der Nacht hatte sie vor Aufregung kaum ein Auge zugemacht und nun fehlte ihr die Kraft, um sich noch länger gegen die Müdigkeit wehren. Sie nickte ein. *** Endlich wurde der Flug aufgerufen. Die Jerusalempilger standen einer nach dem anderen vom Tisch auf und packten ihre Sachen zusammen, um zum Gate zu gehen. Alle außer Magda. Sie blieb auf ihrem Stuhl sitzen, mit geschlossenen Augen und in sich zusammengesunken. Offenbar schlief sie so fest, dass sie das Getöse um sich herum gar nicht wahrnahm. Eine Mitreisende rüttelte sie erst sanft und dann immer stärker, um sie zu wecken, doch Magda reagierte nicht. Für sie war die große Reise nach Jerusalem zu Ende.
125 Codewort: Sinamoos Sina Moos
Und immer wieder . . .! Das Reisen! Es gibt nichts Schöneres! sagt man. Für mich bedeutet das Reisen erst mal Stress. Die Vorbereitung und das Reisen im Sinne von unterwegs sein, mit Sack und Pack zum Urlaubsort, sind mir ein Gräuel! Ein fremdes Land in all seiner Schönheit und Besonderheit kennen zu lernen, Erfahrungen zu machen und neue Eindrücke zu gewinnen sind für mich der Reiz einer Reise. Aber bis es so weit ist! Es beginnt mit der Planung! Mehrere Angebote begutachten – für mich wie window-shopping - also wie wenn ich in der Stadt bummle und viele Dinge aus den Auslagen in meiner Vorstellung bereits besitze, ohne sie gekauft zu haben. So kann ich mir den Aufenthalt schon in meiner Fantasie vorstellen, ein Ziel nach dem anderen, das zur Auswahl steht. Ich kann mir ausmalen, wie es im Urlaub dort oder dort sein könnte, ebenso wie ich mich in meiner Vorstellung schon in einer neuen Garderobe und mit neuem Schmuck vor dem Spiegel sehe. Ich muss also ein Ziel auswählen, obwohl ich mich so schwer entscheiden kann, wo es hingehen soll. Dann wird gebucht! - Da habe ich erstmals den Druck in der Magengegend, jetzt ist es fix und nun heißt es tatsächlich organisieren. Ich möchte nämlich alles geordnet zurücklassen! Zwei bis drei Wochen vor Abfahrt beginnt für mich bereits die Reise und schon regt sich meine innere Stimme, die sagt: Es ist doch auch im Garten so gemütlich! oder, Wieso tust du dir das an! Dann die Gegenstimme: Schluss jetzt, du warst doch jedes Mal begeistert! Es bleibt mir nichts anderes übrig! Ich muss jemanden bitten, die Pflanzen im Haus und im Garten zu gießen, die Wohnung zu lüften, Post und Zeitung wegzuräumen, muss überlegen, ob in der Zwischenzeit ein Erlagschein einzuzahlen wäre! Und – mein Herz ist schwer – der Hund! Wenn ich ihn anschaue, stelle ich mir vor, wie er leidet, wenn ich weg bin! Natürlich habe ich auch für ihn organisiert, dass er gut betreut wird! Gassi und Tschappi und all seine Gewohnheiten schreibe ich vorsichtshalber wie eine Gebrauchsanweisung für die Nachbarn auf, die ihn übernehmen. Es soll ihm nichts abgehen, außer meiner Anwesenheit! Dann kommt das Koffer packen! Für den Aufenthalt im Urlaub brauche ich Kleidung für jeden Anlass und für jedes Wetter und außerdem noch für Eventualitäten. Zum Schluss kippe ich mir Rotwein über das beste Stück! Also Ersatz muss auch noch mit! Schuhe und Schmuck und alles Mögliche fällt mir ein. Schließlich schreibe ich mir lieber gleich eine Liste. Ich darf keinesfalls das Nackenhörnchen, die Patience-Karten, die Sonnenbrille und, und, und ver-gessen! Die Liste liegt bereit und im Vorbeigehen schreibe ich immer wieder was dazu. Bald habe ich das Gefühl, am liebsten würde ich meinen Kasten und zwei, drei Laden einpacken! Ist alles gewaschen, was ich mitnehmen will? Der Koffer steht einige Tage vor Abfahrt offen und größtenteils bestückt im Schlafzimmer. Kaum meine ich nach langem Hin und Her, das Kleiderproblem sei erledigt, kommt mir eine bessere Idee und ich bin sogar erleichtert: Na, gottseidank habe ich rechtzeitig daran gedacht! Ich räume einen Teil wieder aus dem Koffer und anderes hinein, aber jetzt beginnt es in meinem Kopf zu arbeiten! Es passen nun die Schuhe oder die Tasche nicht mehr dazu, ganz zu schweigen vom Schmuck! Außerdem habe ich jetzt zu wenig mit, falls es Schlechtwetter gibt! Dann ist die Stunde da – der Koffer muss geschlossen werden. Der Hund sitzt mit hängenden Ohren daneben und ich werde wehmütig, fast bricht mir das Herz! Am liebsten wäre mir, ich käme gerade zurück! Es muss sein! Tapfer drücke ich den Deckel nieder und – na, der geht aber leicht zu! Sofort fallen mir die Sandalen und eine Jacke für alle Fälle ein, die ich locker unterbringen kann. Und die schnapp ich mir schnell - natürlich voll Freude – und stopfe sie gleich hinein! Der Koffer liegt im Auto, alles ist verstaut. Jetzt beginnt das UnterwegsSein, das mir, wie das Packen, im Magen liegt. Ein paar Tränen beim Abschied vom Hund und meinem gemütlichen Zuhause, dann geht´s los!
126 Meine Gedanken eilen voraus ans Urlaubsziel. Ich habe hoffentlich alles mit, was ich brauchen werde, kommen mir die ersten Zweifel! Jetzt gibt es kein Zurück mehr! Also füge ich mich in mein Schicksal. Ich träume vor mich hin: Morgen habe ich schon mein Zimmer und mein Bett, die Sachen im Schrank und dann kann der Urlaub echt beginnen. Endlich Ankunft am Urlaubsort! Gottseidank am Ziel!! Schön ist es hier! Gut getroffen! Kein Gedanke an zu Hause trübt die Stimmung. Ach, es ist so gemütlich, am Abend unter dem Sternenhimmel Rotwein zu genießen! Am Morgen die Auswahl am Buffet und den ganzen Tag bedient werden! Tun und lassen können nach Belieben. Der Urlaub ist eine herrliche Abwechslung! Ich bin in einer anderen, neuen Welt! Ich fühle mich bereichert durch die neue Umgebung, die Sehens-würdigkeiten in natura, die fremden Menschen und Sitten. Alles ist interessant und nimmt mich gefangen! Die Tage vergehen mir wie im Flug! Wieder zu Hause angekommen, empfängt mich der Hund voll Freude. Ich stelle den Koffer ab und mir erscheint vorerst alles bedrückend langweilig. Vorbei die aufregenden Aktivitäten und vor allem muss ich mir wieder alles selber machen! Schön war´s dort! Ich werde wieder wegfahren, bin ich mir sicher. In meinem Kopf kreisen schon Gedanken um mein nächstes Urlaubsziel. Und wieder werde ich Magen- und Herzbeschwerden, sowie den Stress beim Einpacken durchmachen, weil es letztendlich so schön ist – das Reisen!
127 Codewort: SAM REISE ZUM GROßEN SCHNEEHAUPT Kaum hatte die Fokker der Austrian Airlines den Flughafen Graz-Thalerhof verlassen, befand sie sich schon im Landeanflug. Markus Hoffmann kam es absurd vor, aber über Wien zu fliegen, kostete um die Hälfte weniger als der wesentlich kürzere Direktflug nach Zürich. Quer durch die Schweiz brachte ihn die Eisenbahn, die zwar immer pünktlich, aber sehr teuer war. Als Markus schließlich an seinem Ziel, der kleinen Stadt Lavenue in der französischen Schweiz den Bergbahnhof verließ, dämmerte es bereits. Um sich die Beine nach der langen Reise zu vertreten, ging er die letzten zweihundert Meter zu Fuß zur Almhütte ›Verbeunne‹, die sich bereits auf einer Höhe von 2.400 Metern befand.
Am Abend verlor Markus vor Nervosität den Appetit auf das Nachtmahl, welches ihm vom Hüttenwirt vorgesetzt wurde. Obwohl er vor einer schwierigen Tour stets aufgeregt war, überraschte ihn das Auftauchen dieser intensiven Angst. Um ihr entgegenzuwirken, probierte er es mit Meditation. Kurz nachdem Markus damit begonnen hatte, seine Gedanken und Gefühle wie einen Fluss zu betrachten und seinen Atem zu beobachten, wurde er müde und ging zu Bett. Um fünf Uhr dreißig riss ihn der Wecker aus dem Schlaf. Gerädert erhob er sich, ging ins Bad und wusch sich mit kaltem Wasser. Er war nassgeschwitzt, die Albträume standen ihm ins Gesicht geschrieben. Er schlürfte den heißen Kräutertee so hastig, dass er sich den Rachen verbrannte, aß sein Frühstücksbrot im Stehen und bereitete seine Wegzehrung zu. Im großen Rucksack auf seinem Rücken befanden sich neben der üblichen Grundausrüstung noch der Schlafsack, ein Handtuch und zwei große Thermoskannen; eine pro Tag. Der Morgen graute, als Markus die ›Verbeunne‹ hinter sich ließ. Die ersten zwölf Kilometer ging es mäßig steil bergauf in westliche Richtung. Markus marschierte schnell vorwärts. Nach zweieinhalb Stunden stand er schweißgebadet vor der ersten Felswand. Sein Puls raste. Der Winter hatte ihm seine Kondition geraubt, auf die er im Herbst noch so stolz gewesen war. Die Morgensonne tauchte über dem östlichen Bergkamm auf. Markus lockerte seine Armmuskulatur, um sich für den Aufstieg bereit zu machen und den Bann des Alptraumes aus seinen Gliedern zu bekommen. Noch immer spürte er diese intensive Bedrohung. Galt sie nicht nur dem Berg? Natürlich sorgte er sich um Anna Maria. Seitdem er sich nach dem Streit in seiner Grazer Wohnung von ihr verabschiedet hatte, hatte er nichts mehr von ihr gehört. ›Dies konnte jedoch tausend Gründe haben‹, beruhigte er sich. Der Winter, den sie so wenig schätzte, hatte sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden in einen prächtigen Frühlingstag gewandelt. Anna Maria war vielleicht mit ihrer 13jährigen Tochter und ihrem Ex-Mann unterwegs? Markus hatte sie doch in den letzten vier Monaten als lebens- und abenteuerlustige Frau kennengelernt; spontan, wild und wahrscheinlich eben auch rücksichtslos!? ›Weiter!‹, feuerte er sich an. ›Die Uhr tickt. Jede verstrichene Minute kann mich den Gipfel kosten.‹ Wie jedes Mal vor dem Aufstieg am Fels prüfte Markus den Sitz seines Klettergurts, die Funktionstüchtigkeit der Karabiner und die Zuverlässigkeit der beiden Seile. Er setzte den Helm auf und zog die dünnen, fingerlosen Kletterhandschuhe an. Der Fels, die Tritte, die Steige waren zwar schon eisfrei, doch an schroffen Stellen, an herausstehenden Litzen oder scharfen Felskanten konnte man sich ungeschützt leicht die Handballen aufschlitzen. Markus blickte den senkrecht in den Himmel ragenden Fels hinauf. Er liebte die Bergwelt. Die Aussicht, das Panorama öffnete seinen Brustkorb; er fühlte sich freier, konnte wieder tief durchatmen und schätzte sich glücklich, dass er der Mur-Metropole in der Südsteiermark und dem Feinstaub für ein paar Tage lang entkommen konnte; die Zurückgezogenheit der (Schweizer) Bergwelt bewahrte ihn vor dem konstanten Schmerz, den er zu Hause in Graz verspürte. Diese Stadt, wie jede andere, die ähnliche Verlockungen bot, verdeutlichte ihm seine unerfüllten Sehnsüchte, seine Einsamkeit, seine begrabenen Träume, sein nicht gewürdigtes Talent als Bildhauer. Doch in den Bergen war er frei von der Befürchtung, seine Lebenskraft vergeudet zu haben; und sie weiterhin zu vergeuden. Die Bergeinsamkeit unterschied sich grundsätzlich von der Stadteinsamkeit. Je weiter oben, desto freier, desto erfüllter, desto weniger im Mangel, desto mehr verbunden fühlte er sich; verbunden mit der Stille, die aus dem Still-sein geboren wurde, aber weit darüber hinausragte. Diese Art der Stille barg ein stummes Versprechen einer verborgenen Erlösung in sich. Bereits in seiner Pension Verbeunne, hoch über der Baumgrenze, hatten sich nur noch wenige Gedanken halten können: Seine finanziellen Sorgen, seine berufliche Abhängigkeit von Förderern und Sponsoren aus der heimischen Landespolitik und hin und wieder die Fragen: »Wohin mit meinem Leben? Kann das bereits alles gewesen sein?«, und die damit einhergehende Trostlosigkeit, der Nachgeschmack seiner Resignation.
128 Diese wenigen letzten Gedanken verebbten nun, als Markus den ersten Karabiner am Drahtseil einrasten ließ. Die echte, körperliche Befürchtung abzustürzen, in den Tod zu fallen, fraß die psychologische Angst auf. Drei Meter nach dem Einstieg in die Wand stand Markus vor der Entscheidung, den leichteren ›B-Steig‹, der in Serpentinen hinaufführte, zu nehmen, oder den direkt zur Felsspitze führenden ›D-Steig‹ zu wählen: ›Nur für absolut Trittsichere, Schwindelfreie und Geübte‹, war beim Felseinstieg auf einer vergilbten Alpenvereinstafel zu lesen gewesen. Markus Hoffmann wählte die Variante ›D‹; trotz seiner Erschöpfung, denn bald würde er sie nicht mehr wahrnehmen. Bald würde ihm jeder Schmerz wie der ferne Nebel im Tal erscheinen. Weit weg, zwar in ihm, doch nicht mehr der seine. Mit jedem Schritt hinauf verlangsamte sich sein mentaler Prozess. Nur noch ein letztes Gedankenknäuel hielt sich hartnäckig im Geiste. Nur noch dieses Rätsel namens ›Anna Maria‹ hatte genügend Anziehungskraft, um seine Achtsamkeit zu binden; doch ein paar Höhenmeter weiter hinauf, noch ein bisschen näher an der körperlichen Leistungs- und Schmerzgrenze, dann würden auch die Gedanken an seine mysteriöse, ungewisse Freundin keine Antriebskraft mehr bekommen. Markus’ Arm-, Brust- und vor allem seine Beinmuskulatur brannten. Als bestünde die (noch) kühle Vormittagsluft aus kleinen Eiskristallen schmerzte sie in seiner Lunge; sein Herz schlug wie der Trommler, der die Apokalypse begleitete. Vor Anstrengung hatte Markus einen warmen Blutgeschmack im Mund. Er spürte, dass er dabei war, die körperliche Schmerz- und Leistungsgrenze zu überschreiten und in den begehrten Modus, wo Körper und Geist nach einem anderen, archaischeren Prinzip funktionierten, zu gelangen. Die Gedanken erhielten keine Antriebskraft mehr. Noch eine schwierige Passage, ein Felsüberhang! Er brauchte Konzentration, Technik und Disziplin. Muskelkraft kam erst an hinterer Stelle. Letztendlich war es der Geist, der den Berg erklomm, nicht der Körper. Mit einer geschickten, dynamischen Aktion schaffte Markus den letzten Steig und befand sich auf der zwei ›Bergschuh-breiten‹ Felsspitze. Endlich eine kurze Erholungspause. Ein unkontrollierbares Zittern durchzog Markus’ Muskulatur; die Lungen brannten, sein Gesicht glühte von innen her, während ein leichter Wind die Haut von außen kühlte. Markus stand Schweiß überströmt im Licht der Vormittagssonne. Der Schnee auf den ebenen Flächen unter ihm schmolz zusehends. Das leise Rauschen der Schneeschmelze mischte sich zum Gurgeln des Bergbaches; keine erfreulichere Musik nirgendwo in der Welt… Kurz nur genoss er die Schönheit des Gipfelpanoramas. Diese Freiheit! Könnte er sie doch in sich bewahren, mit nach unten nehmen, beim Abstieg nicht verlieren. Diese Schönheit des Gipfelpanoramas: Zum Greifen nah das Große Schneehaupt; das Gipfelkreuz, eine massive Stahlkonstruktion, bereits zu sehen, vor dem Hintergrund eines tiefblauen, wolkenlosen Himmels. Die Luft, kalt und klar, gewährte Markus ungehinderten Ausblick auf die umliegende Bergwelt: Im Westen die Dreitausender der Schweiz, im fernen Osten die höchsten Gipfel Österreichs und weit Richtung Süden die Italienischen Alpen. Hätten seine Augen die Schärfe eines Falken, würde er heute bestimmt bis zum Meer blicken können. Markus drehte sich vorsichtig um. Über die »Arthur-Schnitzler-Platte« führte ein spärlich markierter »Weg« weiter Richtung Westen, dem Ziel entgegen. Vor zwei Jahren hatte es Markus schon einmal gewagt, die Platte zu überqueren. Allerdings mit einem erfahrenen Bergführer aus Lavenue und mit zusätzlicher Seilversicherung. »Ohne Seil queren nur Selbstmörder die Platte«, hatte der Führer ihn damals gewarnt. Bei der Überquerung und weiter bergan zur ›Biwakschachtel‹ war die Aussage des erfahrenen Alpinisten untermauert worden: Markus traf auf sieben (!) kleine Kreuze, mit jeweils einer Erinnerungstafel an tödlich verunglückte Bergsteiger, die darunter montiert worden war. Markus atmete durch und drehte sich entschlossen um. Nach 250 Meter erreichte er die »Arthur-SchnitzlerPlatte«. Mit ihr endete der eigentliche Weg. Auf einem vergilbten Blechschild mahnte ein gelber Totenkopf jene, die tollkühn genug waren, bis hierher zu gelangen. Der Totenkopf warnte vor der Gefahr, die auf sie warten würde. Hier gab es keine Steige mehr; keine Stahlseile oder Stahltritte; nur noch Ösen, die im Abstand von eineinhalb bis zwei Meter in das Gestein gebohrt worden waren. Hin und wieder konnte man eine rot-weiße Markierung erkennen, um die Richtung – dem Ziel entgegen – nicht zu verlieren. Markus’ Augen glitten über die Felsplatte vor ihm. Wie viele Meter fiel es hier wohl kerzengerade nach unten? 700? 1000? Eine heftige Windböe blies Markus um die Ohren. Die winzigen Kanten, die kaum zu sehenden Steinvorsprünge, die Stahlösen waren so spärlich angebracht, dass er das erste Mal, seitdem er auf Berge stieg daran dachte, umzukehren. Allein im Fels zu klettern war unverantwortlich und leichtfertig. Markus war kein unverantwortlicher und leichtfertiger Mensch; doch er war allein. Daran würde auch seine neue Freundin Anna Maria nichts ändern, dass wusste er. Und dieses Wissen stimmte ihn traurig. Er war immer allein gewesen und würde es bis zu seinem Tod sein. Markus wollte sich einen Schluck Tee gönnen. Um sich Mut ›anzutrinken‹. Ihm fiel ein, dass er seit dem Frühstück nichts zu sich genommen hatte. Die Mittagsstunde war bereits vorüber. Die saftige Birne, die er mitgenommen hatte, verlockte ihn. Doch hier war es zu eng, um den Rucksack abzuschnallen. Er spürte, wenn er noch länger wartete, würde er die weitere Bergbesteigung nicht mehr wagen. Mit Herzrasen stieg er in die Platte ein. Jeder Schritt erforderte höchste Konzentration, war eine Überwindung der Angst. Er
129 durfte nicht zurückschauen! Erst recht nicht nach unten. Markus hing in der Wand, wie ein Comicheld, wie Spiderman. Es war, wie erwartet, ein heißer Tag geworden! ›Mit der Sonnenmilch habe ich mich auch nicht eingecremt!‹, fiel ihm ein, als der Fels das pralle Licht zurückstrahlte. Es wurde heiß, sehr heiß; Markus’ Augen begannen hinter seiner Alltagsbrille (ohne Blendschutz) zu schmerzen. Nach weiteren zwei Stunden war Markus am Ende seiner Kraft. Seine körperlichen Reserven waren aufgebraucht; es sammelte sich nicht einmal mehr ein Rest von Speichel in seinem Mund. »Bis zur Biwakschachtel kann es nicht mehr weit sein!«, sprach er zu sich selbst. Er wusste, Selbstgespräche waren ein schlechtes Zeichen. »Endlich!«, sagte Markus atemlos, als er den Übergang der Felswand zu einem flacher werdenden Terrain erblickte. Vierzig Meter darunter hatte er die obere Felskante schon einmal vermutet, doch es war lediglich ein überhängender Felsvorsprung gewesen und danach war es ohne Aussicht auf ein Ende der Platte weitergegangen.
Zweieinhalb Meter unterhalb der Felskante wurde Markus Hoffmanns schlimmster Alptraum wahr. Seine größte Befürchtung, der er niemals einen Gedanken widmen wollte: Die vorletzte Öse war ausgerissen! In Panik suchte Markus eine Kante, einen Felsspalt, einen Riss im Gestein. Er krallte sich so fest an die Wand, dass sich die Fingernägel vom Nagelbett hoben und Blut hervortrat. Der Fingernagel des linken Ringfingers löste sich zur Hälfte. Jetzt wusste er, dass es vergeblich war! Kein Halt war zu finden. »Um Himmels willen!«, stieß er hervor. Trotz all der Angst in den letzten zwölf Stunden; dies hatte er noch niemals empfunden: Die Nähe des Todes. Er spürte seinen Rucksack nicht mehr am Rücken, hatte das Gefühl für seine schmerzenden Glieder verloren; aber ganz eindeutig konnte er wahrnehmen, dass das was er fühlte die Anwesenheit des Todes war. Wie der Sensenmann auf den Bildern des Mittelalters, fasste er nach Markus’ Schulter, packte er ihn. Markus hatte keine Kraft mehr; allein der Gedanke, zurück, hinunter zu steigen, ließ es schwarz vor seinen Augen werden. Seine Muskeln begannen wieder zu zittern, stärker als zuvor. Er spürte wie sich der Tod in Form eines Muskelkrampfes ankündigte. »Vater Unser im Himmel …«, begann er zu beten. Er, der seit seiner Kindheit, nicht mehr an eine höhere Macht, geschweige denn an einen Gott im Himmel glaubte. »… Amen!« Markus wusste, dass dies seine letzten Sekunden waren. Markus wusste, dass er im nächsten Moment einen Muskelkrampf bekäme und in den sicheren Tod stürzen würde. Doch er wollte sich dem Sensenmann nicht geschlagen geben, er wollte nicht als Opfer sterben! Angstschweiß brannte in den Augen hinter seinen beschlagenen Gläsern. Mit eiserner Willensanstrengung öffnete er die Hände, enthakte den Karabiner und sprang ins Nichts.
130 Codewort: unglaublich HERRN SCHMIDTS UNGLAUBLICHE REISEERLEBNISSE
Quiek! Der Zug hielt an und Herr Schmidt, geweckt durch das Quietschen der Räder, rieb sich für einen Moment verdattert die Augen. Schnell begriff er, dass es nun Zeit war Umzusteigen. Noch während er seine Koffer schnappte und sich mit murmelnder Entschuldigung aus dem Abteil drängte, ärgerte er sich darüber, dass er sich nicht doch für eine Direktfahrt entschieden hatte. Natürlich, er wäre wesentlich länger unterwegs gewesen, doch ein Umstieg war halt ein Umstieg! Auf dem Bahnsteig sah er sich hektisch um, versuchte mit wiederholtem Blinzeln die immer wieder aufkommende Müdigkeit zu verscheuchen und den richtigen Anschluss zu finden. Hunderte andere Reisende liefen Kreuz und Quer am Bahnsteig herum, hatten es eilig. Sie hatten offensichtlich dasselbe Problem wie er. Nur Schaffner war keiner in Sichtweite. Herr Schmidt sah auf die Uhr. Ihm verblieben noch 3 Minuten bis zur Abfahrt. Leicht in Panik versetzt irrte sein Blick über das Bahnhofsgelände. Hatte nicht der Schaffner, der zuvor im Zug seine Karte abgestempelt hatte, etwas davon erwähnt, dass er lediglich zum Bahnsteig auf der anderen Seite wechseln müsse? Da stand ein Zug. Er sah zwar etwas anders aus als Herr Schmied es sich erwartet hätte, doch das musste wohl der richtige Zug sein, schoss es ihm durch den Kopf. Die Uhrzeit passte, der Bahnsteig passte, was konnte da noch schiefgehen? Erleichtert stieg Herr Schmidt in den Zug und fand auch gleich einen freien Sitzplatz. Fein, freute er sich, man muss nur etwas Glück haben. Es saßen nur wenige Personen im Abteil, doch das störte Herrn Schmidt nicht. So hatte er seine Ruhe. Schon fuhr der Zug auch los. Herr Schmidt verstaute sein Gepäck, setzte sich und streckte entspannt die Beine aus. Er war wieder zufrieden mit sich. Na, siehst du Walter, sagte er im Gedanken zu sich selber, es war ja doch nicht so schlimm wie du zuerst dachtest. Und nun liegst du viel schneller am Sandstrand als wärst du mit dem Regionalzug unterwegs, der erst spät am Nachmittag den Süden erreichen wird. Ja, Eine Auszeit! Einmal Nichtstun! Das war es was Herr Schmidt nun schon dringend brauchte. Vor lauter Arbeit, war er die letzten Wochen kaum zur Ruhe gekommen, hatte nicht mehr richtig schlafen können und nur noch Zahlen und Rechnungen im Kopf gehabt. Seine Schwester, die ihn unlängst besucht hatte, meinte schließlich ein Urlaub würde ihm guttun. Er sei unausstehlich und sah um Jahre älter aus als bei ihrem letzten Besuch. Zuerst hatte Herr Schmidt sich über die Unverschämtheit seiner Schwester Beate geärgert. Doch jetzt war er ihr dankbar. Hätte Beate nichts gesagt, hinge er heute schon wieder vor dem Computer im Büro herum. Doch in seinen Kopf passte nichts mehr Neues, es war genug drin. Allein der Gedanke an das Liegen am heißen Sandstrand, am Meer, ließ Herrn Schmied wieder in eine entspannte Träumerei versinken. Das ruhige Sitzen und die eintönige Fahrt, taten das ihre dazu und Herr Schmied versank von seinen Tagträumereien erneut in den Schlaf. Als er schließlich erwachte, dachte er, er befände sich im falschen Film. Denn was er da sah, konnte unmöglich real sein! Auf den Bergspitzen lag Schnee, die Sonne hatte sich hinter dichten Graupelwolken versteckt und es nieselte. Obendrein schien es draußen zu stürmen! Was machten überhaupt die vielen, hohen Berge hier? Und wo war das Meer geblieben? Das konnte doch unmöglich der Süden sein! Nach einem Blick auf die Uhr, erschrak er erneut. Er hätte bereits vor über einer halben Stunde aussteigen müssen. Niemand hatte ihn geweckt. Es war kein Schaffner gekommen. Obendrein war sein Abteil menschenleer. So entschloss sich Herr Schmidt beim nächsten Halt auszusteigen und ein Taxi zurück zu nehmen. Als der Zug dann endlich hielt und Herr Schmidt vom angenehm warmen Abteil in die Kälte wechselte, kam ihm ein leiser Verdacht. Das war nicht der Süden. Er musste beim Umsteigen doch den falschen Zug erwischt haben! Sogleich bestätigte sich sein Gedanke, denn auf dem Bahnhofsschild stand mit großen dicken Buchstaben eine Ortschaft geschrieben, die nördlich seiner Heimat liegen musste. Herr Schmidt fror, noch bevor er das Wartehäuschen erreichte. Sein kurzärmliges T-shirt bat ihm keinerlei Schutz vor der unerbittlichen Kälte, obgleich er diesbezüglich normalerweise nicht besonders empfindlich war. Es musste also wirklich kalt sein. Herr Schmidt sah sich nach einem Taxi um. Fand aber keines. Auch war hier kein Bahnhofspersonal positioniert. Über den elektrischen Bildschirm im Wartehäuschen konnte Herr Schmidt ablesen, dass der nächste Zug erst in fast drei Stunden käme. Nein, das konnte nicht richtig sein. Doch auch auf den zweiten und dritten Blick entnahm er immer dieselbe Uhrzeit. So ein Pech aber auch. Herr Schmidt beschloss sich nicht zu sehr über den Vorfall zu ärgern. Es gelang ihm jedoch nur schlecht. So wartete er mehr oder weniger geduldig auf seinen Anschluss Richtung Heimat. Nach Reisen war ihm jetzt nicht mehr zu mute. Statt in den Süden wollte er nur noch nach Hause. Nach gut zwei Stunden, erblickte Herr Schmidt die ersten Menschen. Eine Mutter mit Kind betrat das Wartehäuschen. Sie sah entnervt aus. Ihre kleine Tochter zupfte unentwegt an ihr und rief: „Kaugummi, Mama! Ich will Kaugummi!“ Das war Herrn Schmidts Chance. „Entschuldigen sie bitte! Kann es wirklich sein, dass der nächste Zug erst in drei Stunden fährt?“ Die Frau nickte müde, während sie ihrem Kind Kaugummi aus dem Automaten drückte. Sie musste die halbe Nacht munter gewesen sein, dies erkannte er an ihren tiefen Augenringen. Die Kleine riss ihr gierig den Kaugummi aus der Hand und stopfte sich rasch einen Streifen in den
131 Mund. „Und ein Taxi? Wo gibt es hier ein Taxi?“, versuchte es Herr Schmidt weiter. „Keine Ahnung ob es hier bei uns im Ort Taxis gibt. Ich fahre immer mit den Auto, wenn ich wo hin will. So wie die meisten hier. In diese verlassene Ortschaft zieht es nur wenig Reisende, wissen sie. Nicht los hier, die letzten Jahre schon. Wenn wer kommt, ist er meist auf der Durchreise.“ Herr Schmidt gab noch nicht auf. „Und ein Bus?“ „Der letzte ist heut schon gefahren! Tut mir echt leid mein Herr, aber ich muss auch los.“ Das konnte doch alles nicht wahr sein!“Können sie mich ein Stück mitnehmen?“ versuchte es der immer verdutztere Herr Schmidt.“Mein Auto steht seit vorgestern in der Werkstatt. Ich muss jetzt wirklich los! Wir haben noch einen Termin! Komm Anna!“ Mit einem Kopfnicken waren die junge Frau und das Kind aus der Tür getreten. „So warten sie doch!“ rief Herr Schmidt ihr nach“, sie kennen doch gewiss jemanden der mich führen könnte!“ Doch die Frau war weg, um die Ecke gebogen, ihr kleines Mädchen hatte sie zuvor an die Hand genommen und mit sich gezogen. Sie hatte es offenbar wirklich eilig. So ließ sie Herrn Schmidt in seinem Elend alleine. Nun braucht er etwas Essbares, zur Beruhigung. Wo war noch schnell sein Handgebäck. Er hatte sich vor der Abfahrt ein leckeres Sandwich gekauft. Es würde ihm nun die Zeit verkürzen. Doch wo war nur seine Tasche geblieben? Hatte er sie etwa draußen verloren? Unwillig ging er noch einmal vor die Türe. Es war kalt. Inzwischen hatte es zu schneien begonnen. Herr Schmidt fand seine Tasche jedoch nicht. Ganz ruhig Walter, besänftigte er sich. Wo hast du die Tasche das letzte Mal gesehen? Als er wieder im Wartehäuschen saß und angestrengt nachsann, fiel es ihm ein. Er musste beim Umstieg die Tasche im ersten Zug liegen gelassen haben. Na prima, da waren auch sein Handy und seine Geldtasche drinnen. Oh nein, was für ein Alptraum! Wie sollte er nun ohne Ausweis und ohne Geld weiterreisen? Das gab Komplikationen. Konnte es denn noch schlimmer kommen? Es konnte. Gerade hatte Herr Schmidt seinen Gedanken zu Ende gedacht, als er auch schon eine, durch den Lautsprecher gesprochene Durchsage hörte. „ Sehr geehrte Fahrgäste. Der Zug mit der Nummer 411 kann wegen einer Panne, nicht wie geplant eintreffen. Mit längeren Wartezeiten ist zu rechnen. Wir bitten um ihr Verständnis!“ Sprachlos blickte Herr Schmidt aus dem Fenster. Ein Schneesturm hatte eingesetzt. Nun hätte er schon am Sandstand liegen sollen und sie von der Sonne kitzeln lassen. So etwas war ihm noch nie passiert! Schließlich, eine weitere Ewigkeit später, kam ein junger Bursche auf einer Maschine vorbei. Er sah Herrn Schmidt im Warteraum sitzen. Inzwischen war Herrn Schmidt auch im Warmen, nicht mehr richtig warm gewesen. Er hatte sich gerade ein zweites kurzärmliges Hemd über das erste gestreift. Der Fremde trat ein und meinte: „Hey, hier frierst du dich nur zu Tode. Der Zug kommt eh immer zu spät! Soll ich dich wo hinführen? Kannst dich hinten auf meine Maschine setzen. Hab sogar noch nen Helm dabei!“ Gott dankend nahm Herr Schmidt das Angebot an. Der junge Bursche hatte ihm seine Lederjacke übergestreift. Während Herr Schmidt sich an den Fremden klammerte und versuchte dabei nicht auch noch sein letztes Gepäck zu verlieren, erzählte ihm der Bursche, er hätte den Führerschein erst seit ein paar Tagen. Doch nun war alles schon egal. Hauptsache Herr Schmidt kam ohne größeren Unfall und mit gesamten restlichen Gepäck heil zu Hause an. Mehr wünschte er sich auch gar nicht mehr. Naja, vielleicht eine warme Dusche und dann ein Bett. Es machten sich zwischen seinen Schulterblättern die ersten Verspannungsschmerzen breit, als Herr Schmidt plötzlich eine fremde freundliche Frauenstimme vernahm: „ Aufstehen, Herr Schmidt. Sie haben ihr Reiseziel erreicht. Das Meer wartet schon auf sie! Ich hoffe, sie hatten eine angenehme Fahrt!“ Herr Schmidt öffnete die Augen. Er saß im Zug, in seinem Abteil, in das er gestiegen war, nach dem Umstieg. Eine nette Schaffnerin lächelte ihm freundlich entgegen. „Darf ich ihnen mit dem Gepäck behilflich sein?“ Herr Schmidt lehnte dankend ab, nahm seinen Koffer und sein Handgepäck und verließ völlig verstört das Abteil. Die Dame rief ihm noch nach: „Ich hoffe sie entscheiden sich wieder für eine Fahrt mit unserer Linie. Haben sie sich gut erholt? Sie haben die meiste Zeit der Reise verschlafen!“ „Nein“, gestand Herr Schmidt verwirrt. „Nun brauch ich erst einmal Erholung von der Reise! Wo ist die nächste Bar? Ich brauche dringend einen Drink zur Entspannung!“ Und so ließ Herr Schmidt eine äußerst verwunderte Schaffnerin zurück …………. .