Kamer13 Journal

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5 Havo Literatur 2009 Nachkriegsliteratur 1945- 1961


1. Historischer Kontext

Am 8. Mai 1945 endet der Zweite Weltkrieg in Europa mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands. Nach dem Abwurf der amerikanischen Atombomben am 6. und 9. August 1945 auf Hiroshima und Nagasaki kapituliert auch Japan. Am 5. Juni 1945 übernehmen die vier Siegermächte, USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich, die Oberste Regierungsgewalt in Deutschland. Das Deutsche Reich wird in vier unterschiedlich große Besatzungszonen und Berlin in vier Sektoren aufgeteilt, in denen die Militärgouverneure nach eigenem Ermessen handeln. Auf der Potsdamer Konferenz (17. Juli - 2. August 1945) einigen sich die Vier Mächte auf politische Grundsätze für die Behandlung Deutschlands: Entmilitarisierung, Entnazifizierung, Dezentralisierung, Dekartellisierung und Demokratisierung. Die in Potsdam demonstrierte Einigkeit der Anti-Hitler-Koalition wird bald brüchig. Schon die Entnazifizierung, die - mit Ausnahme der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse jede Siegermacht selbständig durchführt, weist erhebliche Unterschiede auf. Die allmähliche Spaltung Deutschlands ist eine Folge des weltpolitischen Gegensatzes zwischen den Westmächten und der UdSSR. Die deutsche Bevölkerung beschäftigt in der Nachkriegszeit vor allem die Sorge um die eigene Existenz: Wohnungen sind Mangelware, die täglichen Lebensmittelrationen liegen unter denen der Kriegszeit, der Schwarzmarkt blüht, wichtigstes Zahlungsmittel sind amerikanische Zigaretten. Eine unschätzbare Hilfe sind daher die seit 1946 aus den USA nach Deutschland geschickten CARE Pakete. Überraschend schnell kommt es auf allen Gebieten von Kunst und Kultur wieder zu einem Neubeginn. Schon kurz nach Kriegsende finden in den Trümmern der Städte wieder Theater- oder Konzertaufführungen statt. Das politische Kabarett boomt. In der Befürchtung, dass die wirtschaftliche Not auch zu einer Ausbreitung des Kommunismus beitragen könnte und um den Wiederaufbau Europas anzukurbeln, kündigt Amerika am 5. Juni 1947 ein Hilfsprogramm für Europa an: Den Marshallplan. Die Sowjetunion lehnt für sich und die von ihr beherrschten Länder die Teilnahme ab.


Eine Voraussetzung für diesen Plan ist eine Währungsreform. An Stelle der wertlos gewordenen Reichsmark wird daher am 20./21. Juni 1948 die Deutsche Mark eingeführt. Gleichsam über Nacht füllen sich nun die Geschäfte mit den Waren, die vorher nur auf dem Schwarzmarkt zu bekommen waren. Zusammen mit der Währungsreform und dem Abbau der Zwangswirtschaft wird 1948 in den drei Westzonen die Soziale Marktwirtschaft eingeführt. Die Sowjetunion reagiert auf die Währungsreform mit einer eigenen Währungsreform in ihrer Zone am 23. Juni sowie mit der Blockade Berlins am 24. Juni 1948: Alle Land- und Wasserverbindungen nach Berlin sind damit unterbrochen. Um die WestBerliner dennoch mit dem Nötigsten

Die Bundesrepublik Deutschland ist gegründet. Konrad Adenauer wird der erste Bundeskanzler Deutschlands. Bundeskanzler Konrad Adenauer, 1949 gewählt, war die politische Leitfigur der 50er Jahre. Er legt für West-Deutschland die Marschrichtung fest, immer den Blick in den Westen. Auf dem Plan steht die Wiedergutmachung, aber auch die Wiederbewaffnung.

zu versorgen, organisiert die USRegierung eine Luftbrücke. Die Blockade ist nicht nur ein erster Höhepunkt des Kalten Krieges, sondern zeigt auch das gewandelte Verhältnis zwischen den Westmächten und den Deutschen: Aus den Besatzern sind Schutzmächte geworden. Als Folge des Kalten Krieges schreitet nun auch die politische Teilung Deutschlands voran. Mit der Ausarbeitung des Grundgesetzes wird ein Parlementarischer Rat beauftragt, der am 1.September 1948 in Bonn zusammentritt. Nach der Genehmigung durch die Militärgouverneure tritt das Grundgesetz dann am 23. Mai 1949 in Kraft.


Auch in der Sowjetischen Besatzungszone kommt die Gründung eines separaten Staates 1949 zum Abschluss. Die Verfassung einer Deutschen Demokratischen Republik wird ausarbeitet und am 19. März 1949 formell beschlossen. Damit ist als zweiter deutscher Staat die DDR gegründet. Nach anfänglichen Schwierigkeiten beschert die Soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik mit der Rückkehr zur Weltwirtschaft einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung, dem Wirtschaftswunder. Der VW-Käfer wird zum Symbol für den Erfolg der deutschen Autoindustrie, darüber hinaus aber auch Zeichen für die zunehmende Motorisierung. Neben dem wirtschaftlichen Aufschwung sorgten sportliche Erfolge dafür, dass das deutsche Selbstbewusstsein wieder allmählich an Stärke gewann. 1954 gewinnt eine bundesdeutsche Mannschaft die Feldhandball-Weltmeisterschaft. Ein unglaublicher Stolz kam auf, als Deutschland 1954 die Fußball- Weltmeisterschaft gewinnt, es ist die Rede vom “Wunder von Bern”. Seit 1949 sind 2,6 Millionen Ostdeutsche in die Bundesrepublik geflüchtet, zumeist die Jungen und gut Ausgebildeten; für die DDR nimmt die Abwanderung Existenz bedrohende Ausmaße an. Am Morgen des 13. August 1961 sperrt sie deshalb die S- und U-Bahn-Linien nach West-Berlin, riegelt Ost-Berlin mit einer Mauer ab und macht auch die restlichen innerdeutschen Grenzen dicht. Um keinen Dritten Weltkrieg heraufzubeschwören, beschränken sich die Westalliierten auf diplomatische Proteste. Die DDR-Führung rechtfertigt die Mauer als “antifaschistischen Schutzwall”, der das Land vor westlicher Unterwanderung bewahren soll. Entlang der Berliner Mauer stehen sich fortan zwei feindliche ideologische Blöcke waffenstarrend gegenüber. SCHLAGWÖRTER: 08.05.1945 Kapitulation Deutschlands Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen Trümmer, Not, Elend, Flüchtlingsströme Marshallplan Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse Währungsreform Berliner Blockade 1949 Gründung der BRD und der DDR Ost-Westkonflikt / Kalter Krieg Wirtschaftswunder und Wohlstandsgesellschaft Wiederbewaffnung 1961 Bau der Mauer


FRAGEN UND AUFGABEN 1. Was bedeuten die Grunds채tze der Potsdamer Konferenz im einzelnen? 2. Welche zwei Bedeutungen hat die Berliner Blockade? 3. Erkl채re den Zusammenhang von Marshallplan und Wirtschaftswunder. 4. Was ist das Wunder von Bern? 5. Welche Ziele verfolgte der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik? 6. Wann und warum wurde die Mauer gebaut?


2. Literaturgeschichte 2.1. Stunde Null oder Neubeginn? Der Zeitpunkt der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Streitkräfte am 9. Mai 1945, 0 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit, wird oft als „Stunde Null“ bezeichnet. Zu diesem Zeitpunkt trat für alle Fronten die Kapitulation in Kraft. Um dieses Schlagwort „Stunde Null“ gibt es viel Diskussionen. Es betont, durch den Verlust der Selbstbestimmung des deutschen Volkes unter der Militärbesatzung ab 1945 habe auch die (alte) deutsche Gesellschaft aufgehört zu existieren und so habe eine Situation geherrscht, von der ab „alles“ habe neu entwickelt werden müssen. Andere Stimmen sagen, dass es keine „Stunde Null“ gegeben habe, da sich die Mentalität der deutschen Gesellschaft nur langsam und nur teilweise geändert habe (radikalste Position: da sie sich gar nicht geändert habe). So sprach Altbundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985, dass es keine „Stunde Null“ gegeben habe, sondern lediglich einen „Neubeginn“. Eher könnten viele unterschiedliche „Stunden Null“ bestimmt werden. So könnten Familien (z. B. nach einem Wiederzusammenfinden von Eltern und Kindern unter ganz neuen Lebensanforderungen), Firmen (z. B. nach der Neuaufnahme der „Friedensproduktion“), Literaturformen neu auftretender Schriftsteller (z. B. die „Trümmerliteratur, Kunstformen neu auftretender Künstler ), Institutionen (z. B. der „Suchdienst“ des Deutschen Roten Kreuzes) und Parteien (z. B. die CDU) ihre jeweils eigene „Stunde Null“ erlebt haben. Insbesondere die Währungsreform am 20. Juni 1948 wurde von vielen Deutschen als ein großer Einschnitt gesehen.


2.2. Nachkriegsliteratur

Mit Nachkriegsliteratur (auch Trümmerliteratur, Literatur der Stunde Null, Kriegs- oder Heimkehrerliteratur) bezeichnet man die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und unter dem Eindruck des Krieges und des Nationalsozialismus’ entstandene Literatur. Sie kann auf die Zeit von 1945 bis zur Auflösung der Gruppe 47 im Jahre 1967 datiert werden. Mit Trümmer sind nicht nur die in Schutt und Asche liegenden Städte gemeint, sondern auch die zerstörten Ideale und Utopien, die Wirklichkeit des Krieges und die Erfahrungen zwischen Tod und Überleben innerhalb der Trümmer. Die Autoren waren zunächst zum Großteil junge Männer, die nach dem Krieg in Gefangenenlagern festgehalten wurden oder in die Heimat zurückgekehrt sind. Darum liegen die Anfänge der Epoche auch in den Zeitschriften der Kriegsgefangenenlager (z.B. Der Ruf). Die meisten Autoren dieser jungen Generation standen am Anfang ihres literarischen Schaffens. 3. Prosa Die wichtigste Prosaform in der Nachkriegszeit war die Kurzgeschichte. Ausländische Bezugspunkte und Vorbilder waren die amerikanischen Short Stories und deren knapper, einfacher und unreflektierter Stil. Die Eine Kurzgeschichte ist eine leicht Trümmerliteraten klagten eine radikal neue überschaubare epische Kurzform, die Literatur ein. Sie versuchten ausdrücklich, sich selten länger als 5 DIN A4 Seiten ist. inhaltlich und formal von den vorhergehenden Sie zeigt einen Ausschnitt aus einer Strömungen abzuheben. Die Sprache der Handlung oder einem Raum und gibt Nationalsozialisten sollte durch einen einen wichtigen Lebensabschnitt eines Sprachreinigungsprozess ganz neu aufgebaut Menschen wieder. Die handelnden werden. Ausdruck von Ideologie und Gefühl Figuren werden nur gezeigt, sie können wurde tabuisiert. Die neue Literatur sollte nicht entwickelt werden. Eine Einleitung realistisch, unpsychologisch und wahrhaftig fehlt häufig, das Ende ist meist offen. sein, sie erhob also ein Wahrheitspostulat. Sie sollte das Geschehene und das Existierende genau erfassen. Ein Realismus wurde gefordert, der hinter der Wirklichkeit aber auch die Irrealität erblickt. Damit war auch eine Forderung an die Autoren ausgesprochen: Ein Autor, der in diesem neuen Sinne schreiben will, muss sich in der Literatur und in der Realität engagieren und den Elfenbeinturm verlassen.


3.1. Stil und Inhalt Die stilistischen Mittel, die benutzt wurden, waren die einfache und ironische Sprache, die die zertrümmerte und kahle Welt beschrieb, aber nicht bewertete. Inhaltlich beschäftigte sich die Trümmerliteratur mit gewollt kargen und direkten Beobachtungen des dem notvollen Lebens in den Ruinenstädten, in Flüchtlingslagern und dem Schicksal Isolierter und Herumirrender, die sowohl vor den Trümmern ihrer Heimat und ihres Besitzes, als auch vor den Trümmern ihrer Wertevorstellungen stehen und damit umgehen müssen. Die Heimkehrer-Thematik der aus dem Krieg oder den Gefangenenlagern Heimkehrenden, die sich plötzlich in einer Welt wiederfinden, die keinen Platz mehr für sie hat, sprach viele Menschen der Zeit an. Ebenso stand die Frage nach der Schuld an Krieg und Holocaust im Vordergrund. Keine einfache Frage, da viele der Autoren selbst als Soldaten am Krieg beteiligt waren und nun ihre eigene Rolle überprüfen mussten. Die Trümmerliteratur übte Kritik an der politischen und gesellschaftlichen Restauration Deutschlands. 3.2. Lyrik Die Lyrik wurde in der Nachkriegsliteratur aus dem folgenden Grund zur wichtigsten Gattung: die Prosa erschien vielen Autoren durch die nationalistische Sprache als verunglimpft und unglaubwürdig. Viele Autoren sahen daher in der Lyrik die beste Möglichkeit, ihre Empfindungen und Erfahrungen auszudrücken. 3.3. Drama Auf den Bühnen der Nachkriegszeit gab es ein unterschiedliches Bild in in der Sowjetischen Besatzungszone und den westlichen Besatzungszonen. Während im Osten Werke von Exildramatikern ein großes Publikum fanden, wurden im Westen Lessings Nathan und Goethes Iphigenie wieder aufgeführt. Von den in der Nachkriegszeit entstandenen Theaterstücken gab es nur wenige, die ein großes Publikum fanden: Borcherts Draußen vor der Tür (1947) und Zuckmayers Des Teufels General (1946) Brecht, dem die Einreise nach Westdeutschland verweigert wurde, übersiedelte 1949 nach Ostberlin, wo er zusammen mit Helene Weigel das Berliner Ensemble gründete. Mutter Courage wurde im gleichen Jahr uraufgeführt.

AUTOREN DER NACHKRIEGSZEIT * Wolfgang Borchert (1921-1947) * Johannes R. Becher (1891-1958) * Bertolt Brecht (1898-1956) * Wolfgang Borchert (1921-1947) * Paul Celan (1920-1970) * Günter Eich (1907-1972) * Nelly Sachs (1891-1970) * Arno Schmidt (1914-1979) * Wolfdietrich Schnurre (1920-1989) * Günther Weisenborn (1902-1969) * Carl Zuckmayer (1896-1977)


„Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns die Geduld. Wir brauchen die mit den heißen Gefühlen, die zu Baum Baum sagen und zu Weib Weib und ja sagen und nein sagen – laut und deutlich und ohne Konjunktiv.“ Wolfgang Borchert Als Autor der Nachkriegszeit schlechthin gilt der 1947 verstorbene Wolfgang Borchert. Zu den bekanntesten Kurzgeschichten Borcherts gehören: Die Küchenuhr, An diesem Dienstag und Die Kirschen. Großes Aufsehen erregte Alfred Anderschs Erzählung Die Kirschen der Freiheit, in der er seine Desertion rechtfertigte. Über die zunächst kritische Aufnahme der jungen Autoren schrieb Heinrich Böll 1952: „Die ersten schriftstellerischen Versuche unserer Generation nach 1945 hat man als Trümmerliteratur bezeichnet, man hat sie damit abzutun versucht. Wir haben uns gegen diese Bezeichnung nicht gewehrt, weil sie zu Recht bestand: tatsächlich, die Menschen von denen wir schrieben, lebten in Trümmern, sie kamen aus dem Kriege, Männer und Frauen in gleichen Maße verletzt.“

Als Deutschland zunehmend wohlhabender wurde, die Städte aufgebaut wurden und die Schrecken des Krieges in den Hintergrund rückten, richtete sich die Literatur auf andere Themen. Wiederbewaffnung, Konsum und Restauration gerrieten in den Blickpunkt der Autoren.


In der Sowjetischen Besatzungszone . und der aus ihr hervorgehenden DDR bildete sich eine relativ homogene Literatur heraus. Staatliche Einflussnahme und die beherrschende Stellung heimgekehrter kommunistischer Emigranten prägten als erstes Hauptthema die Abrechnung mit dem Nationalsozialismus als einer verbrecherischen Ausformung des Kapitalismus. Danach stellte sich die Literatur weitestgehend in den Dienst des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft.

4. Gruppe 47

Die Gruppe 47 war ein Netzwerk von Autoren und Verlegern, die sich einmal jährlich für 3 Tage zu einer Versammlung trafen. Eingeladene Nicht-Mitglieder konnten dabei ihre noch nicht veröffentlichten Werke vorstellen. Die erste Lesung wurde von Wolfdietrich Schnurre mit seiner Erzählung Das Begräbnis eröffnet. Die Gruppe 47 galt auch als Talentschmiede, da viele der vorlesenden Autoren später große Bekanntheit erlangten, z.B. Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Paul Celan, Günter Eich, Günter Grass, Wolfgang Hildesheimer, Uwe Johnson, Wolfdietrich Schnurre und Martin

SCHLAGWÖRTER: Stunde Null Neubeginn Kurzgeschichten und Gedichte Realismus der Nachkriegsliteratur Politisches Engagement vieler Schriftsteller Gruppe 47


FRAGEN: 1. Was bedeutet Stunde Null und warum ist der Begriff zweideutig? 2. Was war neu an der Tr체mmerliteratur? 3. Mit welchen Inhalten besch채ftigte sich die Literatur nach dem Krieg? 4. Was sind Stilmerkmale der Kurzgeschichte? 5. Was war die Gruppe 47? 6. Warum misstraute man der Sprache und welche Konsequenzen zog man daraus?


3. Texte 3.1 Gedichte Albrecht Haushofer “Schuld” (1945) Ich trage leicht an dem, was das Gericht mir an Schuld benennen wird; an Plan und Sorgen. Verbrecher wär’ ich, hätt’ ich für das Morgen des Volkes nicht geplant aus eigner Pflicht. Doch schuldig bin ich anders als ihr denkt, ich mußte früher meine Pflicht erkennen, ich mußte schärfer Unheil Unheil nennen – mein Urteil hab ich viel zu lang gelenkt ... Ich klage mich in meinem Herzen an: Ich habe mein Gewissen lang betrogen, ich hab mich selbst und andere belogen – ich kannte früh des Jammers ganze Bahn ich hab gewarnt – nicht hart genug und klar! Und heut weiß ich, was ich schuldig war...

Erich Kästner: Die Jugend hat das Wort (1946) Ihr seid die Ält’ren, wir sind jünger. Ihr steht am Weg mit gutem Rat. Mit scharfgespitztem Zeigefinger weist ihr uns auf den neuen Pfad. Ihr habt das wundervoll erledigt. Vor einem Jahr schriet ihr noch “Heil”! Man staunt, wenn ihr jetzt “Freiheit” predigt wie kurz vorher das Gegenteil. Wir sind die Jüng’ren. Ihr seid älter. Doch das sieht auch das kleinste Kind: Ihr sprecht von Zukunft, meint Gehählter und hängt die Bärte in den Wind!


Nun kommt ihr gar, euch zu beschweren, dass ihr bei uns nichts Recht’s erreicht? O, schweigt mit euren guten Lehren! Es heisst: Das Alter soll man ehren… Das ist mitunter, das ist mitunter, Das ist mitunter gar nicht leicht. Wir wuchsen auf in eurem Zwinger. Wir wurden gross mit eurem Kult. Ihr seid die Ält’ren, wir sind jünger. Wer älter ist, hat länger schuld. Wir hatten falsche Ideale? Das mag schon stimmen, bitte sehr. Doch was ist nun? Mit einem Male Besitzen wir selbst die nicht mehr! Um unser Herz wird’s kalt und kälter. Wir sind so müd’ und ohn’ Entschluss. Wir sind die Jüng’ren. Ihr seid älter. Ob man euch wirklich – lieben muss? Ihr wollt erklären und bekehren. Wie aber denken ungefähr: “Wenn wir doch nie geboren wären!” Es heisst: das Alter soll man ehren… Das ist mitunter, das ist mitunter, Das ist mitunter furchtbar schwer.


Hans Bender “Heimkehr” (1954) Im Rock des Feindes, in zu großen Schuhen, im Herbst, auf blattgefleckten Wegen gehst du heim. Die Hähne krähen deine Freude in den Wind, und zögernd pocht dein Knöchel an die stumme, neue Tür.

Ingeborg Bachmann “Reklame” (1956) Wohin aber gehen wir ohne sorge sei ohne sorge wenn es dunkel und wenn es kalt wird sei ohne sorge aber mit musik was sollen wir tun heiter und mit musik und denken heiter angesichts eines Endes mit musik und wohin tragen wir am besten unsre Fragen und den Schauer aller Jahre in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge was aber geschieht am besten wenn Totenstille eintritt


Andreas Donath “Wachturm an der Zonengrenze” (1960) Gerüst aus Balken und Drohung, ein Hochsitz des Argwohns, errichtet im lauernden Kahlschlag. Bewacht wird ein leeres Gehöft. (Nur Wind und Regen dürfen noch durch die verlassnen Zimmer gehen.) Gejagt wird ein flüchtiger Schatten. (Nur die Buchen sind sicher vor Denunziation und Verfolgung.) Beschützt wird das steinerne Auge, der Mund, der Dornen spricht, die Faust, die zich nicht mehr entspannt.


3.2 Kurzgeschichten

Wolfgang Borchert “Die Kirschen” (1947)

Nebenan klirrte ein Glas. Jetzt isst er die Kirschen auf, die für mich sind, dachte er. Dabei habe ich das Fieber. Sie hat die Kirschen extra vors Fenster gestellt, damit sie ganz kalt sind. Jetzt hat er das Glas hingeschmissen. Und ich hab das Fieber. Der Kranke stand auf. Er schob sich die Wand entlang. Dann sah er durch die Tür, dass sein Vater auf der Erde saß. Er hatte die ganze Hand voll Kirschsaft. Alles voll Kirschen, dachte der Kranke, alles voll Kirschen. Dabei sollte ich sie essen. Ich hab doch das Fieber. Er hat die ganze Hand voll Kirschsaft. Die waren sicher schön kalt. Sie hat sie doch extra vors Fenster gestellt für das Fieber. Und er isst mir die ganzen Kirschen auf. Jetzt sitzt er auf der Erde und hat die ganze Hand davon voll. Und ich hab das Fieber. Und er hat den kalten Kirschsaft auf der Hand. Den schönen kalten Kirschsaft. Er war bestimmt ganz kalt. Er stand doch extra vorm Fenster. Für das Fieber. Er hielt sich am Türdrücker. Als der quietschte, sah der Vater auf. Junge, du musst doch zu Bett. Mit dem Fieber, Junge. Du musst sofort zu Bett. Alles voll Kirschen, flüsterte der Kranke. Er sah auf die Hand. Alles voll Kirschen. Du musst sofort zu Bett, Junge. Der Vater versuchte aufzustehen und verzog das Gesicht. Es tropfte von seiner Hand. Alles Kirschen, flüsterte der Kranke. Alles meine Kirschen. Waren sie kalt? fragte er laut. Ja? Sie waren doch sicher schön kalt, wie? Sie hat sie doch extra vors Fenster gestellt, damit sie ganz kalt sind. Damit sie ganz kalt sind. Der Vater sah ihn hilflos von unten an. Er lächelte etwas. Ich komme nicht wieder hoch, lächelte er und verzog das Gesicht. Das ist doch zu dumm, ich komme buchstäblich nicht wieder hoch. Der Kranke hielt sich an der Tür. Die bewegte sich leise hin und her von seinem Schwanken. Waren sie schön kalt? flüsterte er, ja? Ich bin nämlich hingefallen, sagte der Vater. Aber es ist wohl nur der Schreck. Ich bin ganz lahm, lächelte er. Das kommt von dem Schreck. Es geht gleich wieder. Dann bring ich dich zu Bett. Du musst ganz schnell zu Bett. Der Kranke sah auf die Hand. Ach, das ist nicht so schlimm. Das ist nur ein kleiner Schnitt. Das hört gleich auf. Das kommt von der Tasse, winkte der Vater ab. Er sah hoch und verzog das Gesicht. Hoffentlich schimpft sie nicht. Sie mochte gerade diese Tasse so gern. Jetzt hab ich sie kaputt gemacht. Ausgerechnet diese Tasse, die sie so gern


mochte. Ich wollte sie ausspülen, da bin ich ausgerutscht. Ich wollte sie nur ein bisschen kalt ausspülen und deine Kirschen da hinein tun. Aus dem Glas trinkt es sich so schlecht im Bett. Das weiß ich noch. Daraus trinkt es sich ganz schlecht im Bett. Der Kranke sah auf die Hand. Die Kirschen, flüsterte er, meine Kirschen? Der Vater versuchte noch einmal, hochzukommen. Die bring, ich dir gleich, sagte er. Gleich, Junge. Geh schnell zu Bett mit deinem Fieber. Ich bring sie dir gleich. Sie stehen noch vorm Fenster, damit sie schön kalt sind. Ich bring sie dir sofort. Der Kranke schob sich an der Wand zurück zu seinem Bett. Als der Vater mit den Kirschen kam, hatte er den Kopf tief unter die Decke gesteckt.

Elisabeth Langgässer “Saisonbeginn” (1948)

Die Arbeiter kamen mit ihrem Schild und einem hölzernen Pfosten, auf den es genagelt werden sollte, zu dem Eingang der Ortschaft, die hoch in den Bergen an der letzten Paßkehre lag. Es war ein heißer Spätfrühlingstag, die Schneegrenze hatte sich schon hinauf zu den Gletscherwänden gezogen. Überall standen die Wiesen wieder in Saft und Kraft; die Wucherblume verschwendete sich, der Löwenzahn strotzte und blühte sein Haupt über den milchigen Stengeln; Trollblumen, welche wie eingefettet mit gelber Sahne waren, platzten vor Glück, und in strahlenden Tümpeln kleinblütiger Enziane spiegelte sich ein Himmel von unwahrscheinlichem Blau. Auch die Häuser und Gasthöfe waren wie neu: ihre Fensterläden frisch angestrichen, die Schindeldächer gut ausgebessert, die Scherenzäune ergänzt. Ein Atemzug noch: dann würden die Fremden, die Sommergäste kommen - die Lehrerinnen, die mutigen Sachsen, die Kinderreichen, die Alpinisten, aber vor allem die Autobesitzer in ihren großen Wagen ... Röhr und Mercedes, Fiat und Opel, blitzend von Chrom und Glas. Das Geld würde anrollen. Alles war darauf vorbereitet. Ein Schild kam zum andern, die Haarnadelkurve zu dem Totenkopf, Kilometerschilder und Schilder für Fußgänger: Zwei Minuten zum Café Alpenrose. An der Stelle, wo die Männer den Pfosten in die Erde einrammen wollten, stand ein Holzkreuz, Über dem Kopf des Christus war auch ein Schild angebracht. Seine Inschrift war bis heute die gleiche, wie sie Pilatus entworfen hatte: J.N.R.J. - die Enttäuschung darüber, daß es im Grunde hätte


heißen sollen: er behauptet nur, dieser König zu sein, hatte im Lauf der Jahrhunderte an Heftigkeit eingebüßt. Die beiden Männer, welche den Pfosten, das Schild und die große Schaufel, um den Pfosten in die Erde zu graben, auf ihren Schultern trugen, setzten alles unter dem Wegekreuz ab; der dritte stellte den Werkzeugkasten, Hammer, Zange und Nägel daneben und spuckte ermunternd aus. Nun beratschlagten die drei Männer, an welcher Stelle die Inschrift des Schildes am besten zur Geltung käme; sie sollte für alle, welche das Dorf auf dem breiten Paßweg betraten, besser: befuhren, als Blickfang dienen und nicht zu verfehlen sein. Man kam also überein, das Schild kurz vor dem Wegekreuz anzubringen, gewissermaßen als Gruß, den die Ortschaft jedem Fremden entgegenschickte. Leider stellte sich aber heraus, daß der Pfosten dann in den Pflasterbelag einer Tankstelle hätte gesetzt werden müssen - eine Sache, die sich von selbst verbot, da die Wagen, besonders die größeren, dann am Wenden behindert waren. Die Männer schleppten also den Pfosten noch ein Stück weiter hinaus bis zu der Gemeindewiese und wollten schon mit der Arbeit beginnen, als ihnen auffiel, daß diese Stelle bereits zu weit von dem Ortsschild entfernt war, das den Namen angab und die Gemeinde, zu welcher der Flecken gehörte. Wenn also das Dorf den Vorzug dieses Schildes und seiner Inschrift für sich beanspruchen wollte, mußte das Schild wieder näherrücken - am besten gerade dem Kreuz gegenüber, so daß Wagen und Fußgänger zwischen beiden hätten passieren müssen. Dieser Vorschlag, von dem Mann mit den Nägeln und dem Hammer gemacht, fand Beifall. Die beiden anderen luden von neuem den Pfosten auf ihre Schultern und schleppten ihn vor das Kreuz. Nun sollte also das Schild mit der Inschrift zu dem Wegekreuz senkrecht stehen; doch zeigte es sich, daß die uralte Buche, welche gerade hier ihre Äste mit riesiger Spanne nach beiden Seiten wie eine Mantelmadonna ihren Umhang entfaltete, die Inschrift im Sommer verdeckt und ihr Schattenspiel deren Bedeutung verwischt, aber mindestens abgeschwächt hätte. Es blieb daher nur noch die andere Seite neben dem Herrenkreuz, und da die erste, die in das Pflaster der Tankstelle überging, gewissermaßen den Platz des Schächers zur Linken bezeichnet hätte, wurde jetzt der Platz zur Rechten gewählt und endgültig beibehalten. Zwei Männer hoben die Erde aus, der dritte nagelte rasch das Schild mit wuchtigen Schlägen auf; dann stellten sie den Pfosten gemeinsam in die Grube und rammten ihn


rings von allen Seiten mit größeren Feldsteinen an. Ihre Tätigkeit blieb nicht unbeachtet. Schulkinder machten sich gegenseitig die Ehre streitig, dabei zu helfen, den Hammer, die Nägel hinzureichen und passende Steine zu suchen; auch einige Frauen blieben stehen, um die Inschrift genau zu studieren. Zwei Nonnen, welche die Blumenvase zu Füßen des Kreuzes aufs neue füllten, blickten einander unsicher an, bevor sie weitergingen. Bei den Männern, die von der Holzarbeit oder vom Acker kamen, war die Wirkung verschieden: einige lachten, andere schüttelten nur den Kopf, ohne etwas zu sagen; die Mehrzahl blieb davon unberührt und gab weder Beifall, noch Ablehnung kund, sondern war gleichgültig, wie sich die Sache auch immer entwickeln würde. Im ganzen genommen konnten die Männer mit der Wirkung zufrieden sein. Der Pfosten, kerzengerade, trug das Schild mit der weithin sichtbaren Inschrift, die Nachmittagssonne glitt wie ein Finger über die zollgroßen Buchstaben hin und fuhr jeden einzelnen langsam nach wie den Richtspruch auf einer Tafel... Auch der sterbende Christus, dessen blasses, blutüberronnenes Haupt im Tod nach der rechten Seite geneigt war, schien sich mit letzter Kraft zu bemühen, die Inschrift aufzunehmen: man merkte, sie ging ihn gleichfalls an, welcher bisher von den Leuten als einer der ihren betrachtet und wohl gelitten war. Unerbittlich und dauerhaft wie sein Leiden, würde sie ihm nun für lange Zeit schwarz auf weiß gegenüberstehen. Als die Männer den Kreuzigungsort verließen und ihr Handwerkszeug wieder zusammenpackten, blickten alle drei noch einmal befriedigt zu dem Schild mit der Inschrift auf: “In diesem Kurort sind Juden unerwünscht.”


Bruno Hampel :Das mit dem Mais (1949)

Du bist mein Bruder. Du bist mein älterer Bruder. Gut. Du sollst aufpassen auf Mutter und mich, hat Vater damals zu dir gesagt, als er starb. Gut. Die Hühner müssen was fressen, wenn sie legen sollen. Auch gut. Ich soll Mutter eine Stütze sein. Ich soll ihr keinen Kummer machen. Du bist dreizehn Jahre älter als ich. Du kennst die Welt und die Menschen besser als ich, noch dazu als Eisenbahnschaffner mit fast zwanzigjähriger ununterbrochener Dienstzeit. Ich soll auf dich hören. Gut, alles sehr schön und gut. Du hast recht, versteht du? Ich sage, du hast vollkommen recht. Vollkommen recht hast du. In allem. Aber ich sage dir noch was anderes: Und wenn du in allen Dingen tausendmal recht hast, das mit dem Mais ist meine Sache. Das mit dem Mais geht dich einen Dreck an. Das mit dem Mais wirst du nie begreifen. Und wenn du noch zehntausend Jahre lang den Leuten in den Zügen mit dem Kopierstift einen Strich auf die Fahrkarte machst und Füsogomien — oder wie das Zeugs heißt — studierst. Nie wirst du es begreifen! Du kannst dich ja meinetwegen pensionieren lassen und mit Mutter zusammen eine Maisplantage eröffnen. Auf deinem Balkon kannst du Mais pflanzen. Oder rechts und links von deinen verdammten Eisenbahnschienen, überall, wo du lang fährst. Was geht es mich an? Verstehst du? Was geht es mich an! Aber mir lasst gefälligst meine Ruhe. Geht mir vom Leibe mit eurer elenden Maispflanzerei. Ich will nichts damit zu schaffen haben. Ich kann ihn eben nicht leiden. Ich kann keinen sehen. Ich hasse ihn, verstehst du? Und Mutter weiß das. Sie weiß auch warum. Nicht genau, aber ungefähr. Und dass sie trotzdem heimlich welchen gesetzt hat, ist einfach gemein. Sie wusste genau, dass ich keinen Mais im Garten sehen will. Ich will keinen Mais, und sie weiß es. Trotzdem hat sie heimlich welchen gesetzt. Ein ganz schönes Stück sogar, und gleich vorne an. Da hab ich eben die jungen Pflanzen, als sie zum Vor schein kamen, einfach rausgerissen und auf den Misthaufen geworfen. Sie wusste ja, dass ich ihn nicht sehen kann. Und doch hat sie Mais gesetzt. Heimlich, und was für ‘n Stück. Nun jammert sie dir was vor, weil ich die jungen Pflanzen rausgerissen habe. Und du predigst mir nun was von Rücksicht und Ver nunft und Hühnerfutter und Saatfrevel und was weiß ich noch für ‘n Quatsch. Aber es hat ja keinen Zweck, es dir zu erklären. Du kannst es doch nicht begreifen. Wie solltest du es begreifen können. Für dich ist der Mais eben Mais. Eine Nutzpflanze.


Anspruchslos und wetterfest. Als Hühnerfutter hervorragend geeignet. Hauptanbaugebiet Amerika, Balkan und Russland — und Russland. Gedeiht aber auch bei uns. Wird nur meist viel zu eng gehalten. Viel zu eng. Nimmt sich gegenseitig die Luft weg und bleibt klein. Ziemlich klein bleibt er hier bei uns. Aber in Amerika und auf dem Balkan und in der Ukraine — und in der Ukraine, da setzen sie ihn schön weit auseinander. Da wird er groß und stark und dicht. Da hat der Bauer Platz genug, um mit dem Pferd durch die Reihen zu gehen. Jawohl, mit dem Pferd durch die Reihen, ohne dass eine Staude umknickt. Ich hab‘s selbst gesehen — in der Ukraine. Und nicht nur ein Pferd hat Platz. Was anderes auch. Ein Mann zum Beispiel. ‘Viele Männer; Männer mit Sturmgepäck und Stahlhelm und mit Handgranaten und Drahtscheren im Koppel und Maschinenpistolen unterm Arm. Männer in grauen und Männer in erdbraunen Kleidern. Die haben genauso Platz zwischen den Reihen wie der Bauer und sein Pferd. Aber wozu erzähl ich dir das. Dir! Für dich ist ein Maisfeld ein Maisfeld. Wenn du im August aus deinem Dienstabteilfenster guckst, dann sagst du entweder: Er steht gut dies Jahr, der Mais. Oder: Ist nicht doll dies Jahr mit dem Mais. Oder: Steht sehr schlecht dies Jahr, der Mais. Oder eben einfach bloß: Mais. Und wenn du frei hast und zu Hause bist und kommst mal vorbei an so einem Feld, dann sagst du einfach: Aha, Mais. Kann bald ab. Hat sehr schöne Kolben. Ja Hühnerfutter. Werd‘ nächstes Frühjahr auch was setzen. Werd‘ Mutter sagen, sie soll nächstes Frühjahr auch was setzen. Ein Stück wenigstens. Vor allem wegen der Hühner. Und dann fasst du ein, zwei Kolben an oder lässt eins von den Blättern durch deine Hand gleiten. Und dann nickst du ein paar Mal und denkst: Ja, ja, der Mais. Und dann gehst du weiter. Dann gehst du einfach weiter, als ob nichts war. Und warum auch nicht? Was geht er dich sonst noch an, der Mais? Was hast du weiter mit ihm zu schaffen? Du — du — ja du! Aber ich! Weißt du denn, was mit mir geschieht, wenn ich Mais sehe? Kannst du dir vorstellen, was mit mir los ist, wenn ich an so ein verfluchtes Maisfeld komme? Soll ich es dir sagen? Meinst du, du könntest es begreifen? Begreifen, wie es kommt, dass jedes mal, wenn ich irgendwo auf ein paar kümmerliche Maispflanzen stoße, plötzlich ein ganzes Riesenfeld da ist? Ein einziges, riesiges Pflanzenmeer, kann ich dir sagen. Und ich selber bin auf einmal mittendrin. Die Stauden sind plötzlich ein ganzes Stück höher als


mein Stahlhelm, und ich gehe zwischen zwei Reihen entlang wie in einem schmalen grünen Graben. Und es ist ukrainischer Mais, und der Spatenknauf schlägt mir bei jedem Schritt in die Kniekehle. Rechts und links von mir sind noch viele andere, aber ich kann sie nicht sehen. Ich höre nur ihre Stimmen und Metallgeklapper. Rechts vor mir fallen Schüsse, und ich presse den Kolben von diesem seltsamen, kalten, öligen Ding mit dem durchlöcherten Eisenmantel krampfhaft gegen die Hüfte. Ach wie gerne würde ich jetzt zurücklaufen zu dem verdreckten Viehwaggon, der mich vorgestern bis dicht an dieses Maismeer herangebracht hat, in dem ich 22 Tage mit 35 anderen gehaust habe und von dem ich mich so sehr fortgewünscht habe nach hierher, in diesen grünen Graben. Ach wie gerne würde ich jetzt sogar zurücklaufen bis zu diesem elenden Zuchthaus von Kaserne, vor dessen Tor ich noch vor 24 Tagen die letzte Strafwache geschoben habe und von dem ich mich so sehr fortsehnte nach hierher, in diesen grünen Graben. Aber nun hin ich hier und kann nicht zurück, denn ringsum sind die anderen, und rechts vor mir fallen Schüsse, und drei, vier Reihen links von mir geht der Leutnant. Ob er auch zurück möchte? Ein Glück, dass ich dieses Ding wenigstens unterm Arm habe. Es ist, als saugten die schwarzen Löcher in dem Eisenmantel gerade immer so viel von meiner kalten Angst in sich ein, als zum Geradeausweitergehen nötig ist. Nicht mehr und nicht weniger. 34 Schuss, sagt der kleine kalte Abzugsbügel zu meinem rechten Zeigefinger. 34 Schuss, sagt mein Zeigefinger zu mir. 34 Schus — sei doch ruhig — das langt — geh weiter — 34 Schuss — 34 Schuss — sei doch ruhig — nein, du musst weiter — Mann, 34 Schuss — 34 Schuss — Mensch, das langt doch — geh weiter, Mensch — 34 Schuss — die anderen — der Leutnant — 34 Schuss — der Viehwaggon — die Kaserne — Renate — geh weiter — Mutter — Kriegsgericht — geh weiter — 34 Schuss — Mann, das langt doch — 34 Schuss. Und dann steht er plötzlich vor mir. Die Stauden links gehen auseinander, und er steht vor mir. Seine Schultern sind wie ein Spind aus so einer verdammten Kasernenstube, und sein Koppelschloss sitzt ganz schief. Seine plumpen Riesenarme streckt er hoch über seinen bloßen Kopf mit den hellen, schweißverklebten Haaren hinaus, und aus dem rech-


ten Ärmel sickert es nass und dunkelrot. Der Mund in dem dicken, geröteten Gesicht ist ein lächelnder, ängstlicher, flehender, fragender, demütiger Kindermund, und die Augen sind sehr hell, sehr groß und sehr blau. Und während der ganzen Zeit, da ich das sehe, während der ganzen hunderttausend Jahre dieses Augenblicks, da ich das sehe, lacht das Ding unter meinem Arm. Es lacht meckernd und schrill und rasend und ohne Unterbrechung. Es lacht 3 4mal Danach liegt dann ein erdbrauner Haufen in meinem grünen Graben. Danach sind dann ein paar Stauden zur Hälfte wegrasiert, kurz über den dicken, blätterverhüllten Kolben. Und die Kolben sind rot. Über und über rot. Danach lacht dann die Stimme des Leutnants neben mir: Mensch, Sie Kalkeimer, wenn Sie für jeden ein ganzes Magazin brauchen, muss ich für Sie einen Extramunitionskarren anfordern! Danach wechsele ich zitternd das Magazin aus, mache einen grossen Schritt über den erdbraunen Haufen hinweg und lauf; vorbei an den halbierten Stauden mit den blutigen Kolben, weiter meinen grünen Graben entlang. Dabei ist gar kein grüner Graben da, sondern nur so ein paar kümmerliche Maispflanzen in einem dieser kleinen Schrebergärten. Dabei hab ich gar keinen Stahlhelm und keine Uniform und keine Maschinenpistole, sondern nur eine alte Mütze, einen verbeulten Anzug auf Bezugsschein und Vaters schäbige Aktentasche aus Wachstuch. Und doch ist das alles da. Vor allem die großen blauen Augen, die rotgespritzten Kolben und der Kindermund. Damals, die erste Zeit danach, war es am schlimmsten. Überall stand er herum und sah mich an. Etwas später, als ich die ersten von uns so daliegen sah, verschwand er vorübergehend. Aber er kam wieder. Zuerst im Lazarett. Er begleitete mich überall hin. Nach Deutschland, nach Italien, nach Holland. Auch als dann alles zu Ende war, blieb er bei mir. Bis heute. Ich versuchte alles mögliche, um ihn loszuwerden. Ich gab ihm einen hochgeschwungenen Gewehrkolben in die Hände. Ich gab ihm mordgierige Augen und einen grausamen Mund. Jedem, der von mir etwas vom Krieg erzählt haben wollte, zeigte ich ihn so. Aber vergeblich. Seine Hände blieben leer. Sein Ärmel blutig. Sein Gewehr blieb ungefährlich drei Schritte hinter ihm im Sande liegen. Seine Augen blieben groß und blau und bittend. Sein Mund blieb der lächelnde, flehende Kindermund. Es half nichts. Er blieb bei mir. Ich malte mir aus, was aus ihm geworden wäre, wenn ich nicht . . . Transportqualen — Hunger — Blutvergiftung — Gefangenenlager — Typhus — Auschwitz — irgendwie, irgend


wo, irgendwann hätte ihn dieses mörderische Getriebe doch zermalmen müssen. Und war es nicht deshalb eher eine Wohltat für ihn? Ohne Schmerzen — in Gedankenschnelle? Aber vergeblich. Konnte er nicht Glück gehabt haben? Konnte er nicht auf irgendeinem stillen Bauernhof in Mecklenburg oder in Bayern Kartoffeln gehackt, Roggen gesät, Mist gekarrt, Hafer gedroschen, ein Pferd gefüttert, eine Kuh gemolken haben, bis der Krieg zu Ende war? Konnte er nicht vielleicht heute, jetzt, wieder seine dunkle, schwere Heimaterde umpflügen? Konnte er nicht vielleicht noch leben, heute, jetzt und morgen, und in seiner Heimat? Konnte er das nicht? Er blieb bei mir. Dann versuchte ich ein Gewaltmittel. Gift gegen Gift. Immer wenn er vor mir auftauchte, holte ich rasch die Dreiundzwanzig von jenem weißgrauen Wintermorgen heran. Ich ließ sie wieder aus der Ferne auf das Erdloch losrennen. Ich ließ sie wieder herankommen, bis mir das Herz wie ein wilder Hammer gegen die Kehle schlug. Und dann ließ ich sie wieder diesen grotesken Tanz vollführen, während das eiserne Mordding vor mir lachte und den Gurt fraß und lachte und lachte — bis alles still war wie vorher. Wie Tage und


Wochen vorher. Still und stumm und weiß und eisig und starr. 23, ließ ich den anderen wieder sagen. Den Schützen zwei. Koch hieß er. Er lispelte, und sein Gerippe modert irgendwo im großen Donbogen. 23, ließ ich ihn wieder sagen, während er in das Loch zurückkletterte. 23, aber vergeblich. Die 23 taten mir nichts. Sie blieben fremde, kleine, tanzende Marionetten. Sie wollten dich ja töten! Sie hätten dich totgeschlagen! Mit dem blanken Spaten hätten sie dich totgeschlagen. Sie kommen nicht auf dein Konto. Sie kommen auf ein anderes Konto — auf wessen Konto? Egal, sie kommen jedenfalls nicht auf dein Konto. Aber er! Er wollte dich nicht töten! Er hatte sein Gewehr fortgeworfen, es lag drei Schritte hinter ihm. Seine Augen und sein Kindermund flehten dich an um Gnade. Er gehört dir! Dir! Dir allein! Du hast ihn ermordet! Er wird bei dir bleiben. Er blieb bei mir. Schließlich versuchte ich einen letzten Trick. Ich begann Scheusslichkeiten seiner Landsleute zu sammeln. Ich kramte mein Gedächtnis um und um. Begierig ließ ich mir von anderen jede erreichbare Untat berichten und tat alles zusammen auf einen Haufen. Das half eine Weile. Er verschwand. Der Haufen verbarg ihn. Aber dann kam der Tag, da alles zerbrach, und plötzlich sah ich einen zweiten Haufen daneben liegen. Er war erschreckend viel größer und stank fürchterlich. Und er gehörte meinen Landsleuten! Da kam er wieder zum Vorschein. Zwischen den beiden Haufen trat er hervor, auf mich zu, und seitdem blieb er bei mir. Bis heute. Nicht, dass er dauernd vor mir steht. Nicht, dass er hinter jeder Gardine, hinter jedem Gebüsch, in jeder dunklen Ecke steht und mich anstarrt, so wie man es in manchen Gruselgeschichten liest. Nein. So erbarmungslos ist er nicht. Er ist ausgesprochen rücksichtsvoll und bescheiden. Selten, dass er einmal unerwartet und grundlos vor mir auftaucht. Aber etwas gibt es, das ihn sofort herbeizaubert. Eben dieser verfluchte Mais! Ein paar kümmerliche Stauden genügen, er ist sofort da. Er und all das andere: Das Riesenfeld — der grüne Graben — das Metallgeklapper — das Geschiesse rechts vor mir — das 3. Gelächter des Todes — die lachende Leutnants stimme — der erdbraune Haufen — die abrasierten Stauden — und die blutigen Maiskolben. All das ist zur Stelle. Wie ein zusammengeklebtes Bild. Und durch dieses Bild hindurch sieht er mich lächelnd an, mit großen, sehr blauen Augen und bettelndem Kindermund. So. Nun weißt du es, das mit dem Mais. Ich wollte es dir längst sagen. Ich dachte nur, dass du es ja doch nicht begreifst. Und nun kannst du mir weiter was erzählen von Hühnerfutter und Saatfrevel und Vernunft — falls du noch Lust dazu hast.


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