Informationsbrief Juli 2016

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Aus dem Inhalt

Neues aus Kirche und Welt Aus Lehre und Verkündigung Johannes der Täufer Betrachtungen auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 Die Politische Versuchung Vergänglichkeit – Vergeblichkeit – Verlässlichkeit Herausfordernde Visionen – Otto Herbert Hajek Aus Kirche und Gesellschaft Aus den Bekennenden Gemeinschaften Aus der Bekenntnisbewegung Buchrezensionen

ISSN 1618-8306

Juni 2016 Nr. 298

Bekenntnisbewegung »Kein anderes Evangelium«


kurz+bündig Personen Liederdichterin und Diakonisse Helga Winkel 90-jährig verstorben

Die 1926 in Stuttgart geborene Aidlinger Diakonisse Helga Winkel ist in VillingenSchwenningen heimgegangen. Sie war vor allem als Krankenschwester tätig. Als junge Diakonisse hatte sie 1952 das Lied »Herr, weil mich festhält deine starke Hand« gedichtet, das im Regionalteil für Württemberg des Evangelischen Gesangbuchs steht (Nr. 625). Leiter der Stadtmission der eva Walter Meng †

Im Alter von fast 90 Jahren ist der langjährige Leiter der Stadtmission der Evangelischen Gesellschaft (eva), Walter Meng, heimgegangen. Er leitete zunächst von 1954 bis 1959 die Diakonische Bezirksstelle in Schorndorf und wechselte dann zum Diakonischen Werk der EKD. 1974 übernahm Meng die Leitung der evaStadtmission. Vieles von dem was er angeregt hat, existiert bis heute, etwa die Telefonseelsorge und die täglich wechselnden Telefonbotschaften der eva (Tel. 0711-292333). 1989 erhielt er das Bundesverdienstkreuz am Bande.

Kirche in Deutschland EKD-Ratsmitglied: ­Evangelische Volkskirche am Ende

Die Evangelische Kirche in Deutschland ist keine Volkskir2

che mehr, äußerte der Arbeitsund Sozialrechtler Professor Jacob Joussen (Düsseldorf), der Mitglied im Rat der EKD ist. Er macht dies an den ständig schrumpfenden Mitgliederzahlen fest.

Familie und Homosexualität keine zeitlose Wahrheit gebe. Die Leitung des (pietistischen) Lippischen Gemeinschaftsbundes hatte sich im Vorfeld dagegen ausgesprochen; ebenso mit großer Mehrheit die reformierte »Klasse« Nord. Homosexuelles ­ Pfarrerpaar: Von Sachsen in die ­Nordkirche

EKD versteht sich als Kirche

70 Jahre nach ihrer Gründung soll die EKD ausdrücklich zur Kirche im theologischen Sinne erklärt werden. Das sieht ein Gesetzentwurf zur Änderung der EKDGrundordnung vor. Durch diese Änderung der Grundordnung ändere sich nichts an der Kompetenzverteilung zwischen den Landeskirchen und der EKD. Auch werde verdeutlicht, dass die EKD kein Bekenntnis brauche, um Kirche zu sein, wobei diese Aussage allerdings recht fragwürdig ist, wenn davon ausgegangen wird, dass das Bekenntnis eine Kirche zu dieser macht. Lippische Landeskirche ermöglicht Homosegnungen

Zwei homosexuelle ­Pfarrer, die in eingetragener Partnerschaft leben, haben die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens verlassen und in die Nordkirche gewechselt. Stephan Rost (38) und Ciprian Matefy (32), die seit acht Jahren zusammenleben und seit 2014 verpartnert sind, teilen sich seit dem 1. April eine Pfarrstelle in Sandesneben (bei Lübeck), wo anscheinend für die bei­den Männer geschwärmt wird.

Ökumene Gemeinsamkeiten bei Ehe und Familie

Öffentliche Segnungen homosexueller Partnerschaften sind in den vier reformierten »Klassen« (Bezirken, 58 reformierte Gemeinden) möglich; in der überregionalen lutherischen Klasse (zehn Gemeinden) bereits seit 2014. Begründet wurde der Beschluss damit, dass es in Fragen zu

Die römisch-katholische Kirche und der Weltverband der evangelikalen Christen streben eine engere Zusammenarbeit beim Engagement für Ehe und Familie an, da in diesem Bereich der Papst mit den theologisch konservativen Evangelikalen »viel größere Gemeinsamkeiten als mit den evangelischen Landeskirchen in Deutschland« sehe, sagte Thomas Schirrmacher von der Evangelischen Allianz der Tageszeitung »Die Welt«.

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Evangelikalismus

Württembergischer CVJM hat neuen Vorsitzenden

Samuel Hartmann (34), der sich mit seiner Frau Tabea eine Pfarrstelle in Pleidelsheim (bei Ludwigsburg) teilt, ist neuer Vorsitzender des CVJM-Landesverbandes Württemberg. Er folgt auf Pfarrer Uwe Rechberger (Tübingen), der nach 13 Jahren für diesen Posten nicht mehr kandidierte.

Theologicum verboten worden sind, wozu evangelische Theologiestudenten einladen wollten. Die evangelische Fakultät hat diesen Antrag abgelehnt (!!!), weil, so der amtierende Fakultätsdekan Jürgen Kampmann, Andachten in Kirchen oder Kapellen stattfinden sollen; Lehrveranstaltungen oder die Arbeit in Bibliotheken dürften nicht beeinträchtigt werden. Allerdings werden im Tübinger Zentrum für Islamische Theologie selbstverständlich in Studienräumen die muslimischen Gebete praktiziert.

kurz+bündig

Personen +++ Kirchen +++ Glauben +++ »Modernes Leben«

Österreich: CVJM Tirol gegründet

In Kufstein haben österreichische Christen den CVJM Tirol ins Leben gerufen. Die fünf Gründungsmitglieder gehören zur Landeskirche oder zu Freikirchen. Zum Obmann (Vorsitzender) wurde der aus Hessen stammende Stephan Schmitt gewählt. Weitere CVJM-Gruppen in Österreich bestehen in Wien, Bludenz, Graz und Pinkafeld. Der Verband hat in Österreich rund 250 Mitglieder.

Theologenausbildung Streit um christliche Andachten in theologischer Fakultät Tübingen

Es ist ein Skandal, dass Studenten öffentliche Gebetsveranstaltungen im Tübinger

Scheitern vorprogrammiert Lutherischer Pfarrer: Protestantismus hat keine verbindliche Lehre mehr

Der bayerische Pfarrer Jochen Teuffel geht davon aus, dass das Scheitern der evangelischen Landeskirchen vorprogrammiert sei. Lediglich die Kirchensteuer halte den verfassten Protestantismus noch am Leben. Reformationstage und auch das Reformationsjubiläum 2017 seien in Wirklichkeit keine Kirchenfeste, sondern »kirchlich inszenierte politische Feierlichkeiten«.


kurz+bündig Diakonie

Wird Gemeinnützigkeit zum Auslaufmodell?

Der neue Rektor der Diakonie Neuendettelsau, die mit knapp 7000 Mitarbeitern der größte diakonische Träger in Bayern und einer der größten in Deutschland ist, Mathias Hartmann, rechnet für die deutschen Wohlfahrtsverbände mittelfristig mit gravierenden Veränderungen, weil auch der Sozialbereich immer europäischer werde und Brüssel eine immer größere Rolle spiele. In spätestens zehn Jahren werde es die Gemeinnützigkeit in Deutschland aufgrund der Angleichung an europäische Standards nicht mehr geben, zeigte sich der evangelische Pfarrer fest überzeugt.

Wechsel im Vorstand der Karlshöhe

Die promovierte Theologin Dörte Bester (43), bislang Pfarrerin im Kirchenbezirk Nürtingen, wurde Theologischer Vorstand und Direktorin sowie Vorstandssprecherin der Karlshöhe Ludwigsburg. Sie folgt auf Frieder Grau (65), der 4

in den Ruhestand ging. Die Karlshöhe Ludwigsburg, im 19. Jahrhundert eine pietistisch ausgerichtete Gründung, inzwischen aber längst vom theologischen Liberalismus beherrscht, hat 520 Mitarbeiter in den Arbeitsbereichen Ausbildung, Alten- und Behindertenhilfe und bildet zusammen mit der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg Diakoninnen und Diakone aus.

Sekten Zeugen Jehovas in BadenWürttemberg Körperschaft des öffentlichen Rechts

Klinikum Stuttgart hat ­islamische Seelsorger

Im Klinikum Stuttgart sind neben evangelischen und katholischen Seelsorgern auch zwei muslimische Seelsorger tätig, derzeit ehrenamtlich.

Der Islamwissenschaftler Matthias Rohe, Direktor des Erlanger Zentrums für Islam und Recht in Europa, hat die Christen im Umgang mit Muslimen zu mehr Selbstbewusstsein aufgefordert. Sie sollten keine Kreuze abhängen. »Da machen wir uns ja selbst unglaubwürdig.« Vermehrt Gewalt in ­Flüchtlingsheimen

Nach jahrelangem Rechtsstreit hat die grün-rote Landesregierung die Religionsgemeinschaft Zeugen Jehovas als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt, was die Zeugen Jehovas beantragt hatten. Damit gibt es in Baden-Württemberg 32 Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind. Aufgrund dieses Status müssen die Zeugen Jehovas jetzt weniger Steuern und Verwaltungsgebühren bezahlen und können auch eine Kirchensteuer von ihren Mitgliedern erheben.

Islam

Islamwissenschaftler fordert mehr Selbstbewusstsein der Christen

Man hört zwar in den Mainstreammedien, die das von der Politik usw. gern Gehörte weitergeben, viel von Gewalt gegen so genannte Flüchtlinge. Nun ist es gut, dass vom Bundeskriminalamt (BKA) auch von Gewalt unter so genannten Flüchtlingen berichtet wurde. Laut BKA-Präsident Holger Münch registriert das BKA immer mehr Straftaten in Flüchtlingsheimen. Die Hälfte der Delikte sei Gewaltkriminalität – vor allem Körperverletzungen. Es gebe aber auch vermehrt Sexual- oder Totschlagsdelikte. Vierte Frau eines Moslems erhält Witwenrente

Wie der Islamkenner und frühere Mitarbeiter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), Udo Ulfkotte, ermittelte, erhält auch die vierte Frau eines Moslems Witwenrente. Zudem wirbt sie über Abgeordnete für eine Mädchenschule, damit ihre Töchter nicht mehr von Jungen in der Schule geärgert werden.

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Aus Lehre und Verkündigung mm Durchweg herrscht die ganz selbstverständliche Überzeugung, dass es derselbe Gott ist, dessen Heilshandeln in Christus in Kontinuität mit dem im Alten Testament Bezeugten steht und dieses wesenhaft voraussetzt. Eine Theologie des Neuen Testaments kann es also gar nicht geben ohne eine Theologie des Alten Testaments, zumindest als Hintergrund. […] Sehr wohl aber hat eine Theologie des Neuen Testaments den wesenhaften Zusammenhang mit dem Alten Testament vollauf zu berücksichtigen wie auch umgekehrt eine Theologie des Alten Testaments den Zusammenhang mit dem Neuen, und zwar nicht nur aus überlieferungs- und religionsgeschichtlichen, sondern mehr noch aus inhaltlichen, ›sachlich‹-theologischen Gründen. Bischof i. R. Ulrich Wilckensm

mm Die Einheit des Alten Testaments ist nur durch das einzigartige Wesen des darin bezeugten Gottes zu begründen und die wesenhafte Zusammengehörigkeit des Alten mit dem Neuen Testament durch die zusammenhängende Geschichte JHWHs mit seinen Erwählten. Bischof i. R. Ulrich Wilckens

mm Lied im Mittsommerm m Das Jahr steht auf der Höhe, die große Waage ruht.m Nun schenk uns Deine Nähe und mach die Mitte gut,m Herr, zwischen Blüh’n und Reifen und Ende und Beginn:m lass uns Dein Wort ergreifen und wachsen auf Dich hin.m m Kaum ist der Tag am längsten, wächst wiederum die Nacht.m Begegne unsern Ängsten mit Deiner Liebe Macht.m Das Dunkle und das Helle, der Schmerz, das Glücklichseinm nimmt alles seine Stelle in Gottes Führung ein.m m Das Jahr lehrt Abschied nehmen schon jetzt, zur halben Zeit.m Wir sollen uns nicht grämen, nur wach sein und bereit,m die Tage loszulassen und, was vergänglich ist;m das Ziel ins Auge fassen, das Du, Gott, selber bist.m m Dein Jahr nimmt zu für immer, und unser Jahr nimmt ab.m Dein Tun hat Morgenschimmer, das unsre sinkt ins Grab.m Gib, eh der Sommer scheitert, der äuß’re Mensch vergeht,m dass sich der inn’re läutert und zu Dir aufersteht. Detlev Block

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mm Der Gehorsam gegen die Verordnungen des Wortes Gottes ist die Bedingung zu dem größten Vorrecht, was er hier auf Erden gibt: Befreiung von jeder quälenden Unruhe. Eva von Tiele-Winckler

mm Gerade das, was gegen die Kirche zu sprechen scheint an Irrtum und Verführung, spricht für die Kirche. Das Ringen um wahre und falsche Kirche, um rechte und falsche Lehre findet in der Kirche statt, und auch der Antichrist kann nur dort sein, wo Christus ist. Er stellt sich nicht gegen Christus, sondern an die Stelle Christi. Reinhard Slenczka

mm Aber Glaube ist in der gelehrten Welt ein unbekannt Ding. Er existiert nicht in abstracto, und, wo er in die Hand genommen wird, um besehen zu werden, da gebiert er nichts als Hader und Zank; wo er aber in seinem natürlichen Acker, in einem Menschenherzen, wohnet und wurzelt, da zeigt er wohl was er ist und was er kann, und wie der hier dem Menschen konveniere. Matthias Claudius

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Gehorsam wie Johannes war Johannes der Täufer –– Prophetischer Mahner und Vorbild des ­konsequenten Christuszeugen Walter Rominger

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ohannes der Täufer schwamm nicht im Strom seiner Zeit. Dem damaligen und nicht weniger dem heutigen Mainstream stand er entgegen. Ein Konformist war er nicht. Auf das Ansehen bei Menschen hatte er es nicht abgesehen. Gott gegenüber war er gehorsam. Von ihm hatte er seinen Auftrag erhalten. Er trat auf wie ein alttestamentlicher Prophet. Mit ihm war die prophetenlose oder schreckliche Zeit zu Ende gegangen. Gott, der sich lange Zeit in Schweigen gehüllt hatte, ließ wieder etwas von sich hören. Freilich, die Botschaft des Johannes in der Wüste war nicht Balsam auf die Seele des natürlichen Menschen, da er, wie die Propheten, zur Umkehr rief, der keiner gerne nachkommt, zu keiner Zeit, es sei denn, Gott selbst schenke die Gnade dazu. Die Botschaft des Johannes war unpopulär, und doch strömten die Leute zu ihm hinaus an den Jordan, wenigstens eine Zeit lang. Ihre Motive mögen ganz unterschiedliche gewesen sein. Hätte Johannes der Täufer lediglich zur Um­kehr zu Gott gerufen, er wäre in der Tat nicht mehr als ein Prophet des Alten Testaments. Dahin gehört er auch, aber eben nicht nur. Er gehört auch schon zum Neuen. Denn er will das Volk Gottes vorbereiten auf die Ankunft des Messias, der nun nicht mehr erst in weiter Ferne erscheinen wird, sondern bereits unter das Volk getreten ist. Und diesem kann man nicht in unbußfertiger Haltung begegnen.

Walter Rominger Die Anschrift des Autors finden Sie auf Seite 30

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Seine Taufe war eine einmalige Bußtaufe »zur Vergebung der Sünden« (Markus 1,4; vgl. Apostelgeschichte 10,37; 13,24). Doch nicht allein die Angehörigen des auserwählten Volkes sollte Johannes auf den Messias vorbereiten, er sollte diesen auch bekanntmachen, dass Jesus der von Gott gesandte Messias ist. Jesus ist der Stärkere, der nach Johannes kommen soll, bei dem er sich nicht wert fühlt, ihm die Schuhriemen zu lösen (Markus 1,7pp.). Doch der, der ganz von Gott kommt, reiht sich ein unter die vielen, um von Johannes getauft zu werden. Bei seiner Taufe durch Johannes wird durch göttliche Stimme vom Himmel Jesus öffentlich die Würde des Gottessohnes zugesprochen (Markus 1,9–11pp.). Johannes ist der Christuszeuge, der mit den Worten: »Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt« (Johannes 1,29) auf Jesus hinweist. Matthias Grünewald hat Johannes auf seinem weltbekannten Isenheimer Altar denn auch mit dem überlangen Finger, der auf Christus zeigt, dargestellt. Nachdem das Lamm Gottes nun unter das auserwählte Volk Gottes getreten ist und von Johannes als solches bezeichnet ist, ist dessen Mission beendet. Und deshalb kann er, wiederum mit Hinweis auf Jesus, sagen: »Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen« (Johannes 3,30). Und in der Tat, er nimmt sichtbar ab. Der Zeuge des Messias verschwindet im Kerker, weil er zu Recht seinen König wegen dessen ehebrecherischem Verhältnis zurechtwies. Er endet unter dem Schwert des Scharfrichters, weil ihn der Hass seiner Königin traf, deren Gewissen er mit dem Wort Gottes getroffen hatte. Aber diese ließ sich nicht auf den rechten Weg bringen, sondern schrie nach Rache. Denn ein getroffenes Gewissen kann ablehnen und protestieren, wie das Fleisch und der alte Mensch in jedem von uns. Geschickt lässt die Königin Johannes aus der Welt schaffen, weil sie ein ruhiges Gewissen bekommen will. Doch Gewissen lassen sich nicht so einfach zum Schweigen bringen, wie wir dies gerne wollen. JUNI 2016

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Johannes der Täufer in der Einöde, gemalt von Geertgen tot Sint Jans (etwa 1490). Johannes war kein bequemer Zeitgenosse. Unerbittlich und kompromisslos war sein Bußruf. Jesus selbst hat diesen Bußruf (Matthäus 3,2) zu Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit fast wörtlich aufgenommen (Markus 1,15). Und indem Martin Luther in seiner ersten, gewissermaßen programmatischen These zum Ablass (31. Oktober 1517) den Bußruf Jesu zitierte, erinnerte er auch an Johannes den Täufer. Jedenfalls wird daran deutlich, ein »Evangelium-light« gibt es nicht. Wer ein »Efun-gelium« und dazugehörig eine »E-fun-gelisation« anstrebt, der kann sich bei diesem »Unternehmen« auf keinen Zeugen der Heiligen Schrift und auf keinen ernstzunehmenden in der gesamten Kirchengeschichte berufen. Nachfolge passt nicht in eine Spaßgesellschaft. Sie lässt sich nicht nebenbei erledigen. Sie fordert mich vielmehr ganz. Eine Weile mochten die Leute ihren Spaß an Johannes gehabt haben. Er war INFORMATIONSBRIEF 298

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für sie ein »sonderbarer Heiliger«. Sein asketisches Leben erschien ihnen nicht nachahmenswert. Jesus jedoch schätzt seinen Vorläufer, der sich bescheiden nur als »eine Stimme eines Predigers in der Wüste« (Lukas 3,4) bezeichnet, ganz anders ein. Keiner der bis dahin von einer Frau geboren worden sei, sei größer als Johannes (Matthäus 11,11). Der, der sich selbst nicht für den wiederkommenden Elia hält, gerade von dem sagt Jesus, er sei dies. Nachdem nun Johannes im Geiste des Elia gekommen ist, ist die »Voraussetzung« erfüllt, bevor der Messias komme, müsse Elia wiedergekommen sein. Johannes ging nicht den bequemen Weg. Er wurde nicht verstanden. Er war so anders. Deshalb wurde er dämonisiert (Matthäus 11,18), ein Vorwurf, der auch Jesus traf. In all den Jahrhunderten hat sich daran nichts geändert. Wer nicht verstanden wird, bei dem geht es nicht mit rechten Dingen zu, heißt der Vorwurf, der dann schnell bei der Hand ist. Johannes sah nicht die Person an. Er kannte keine falsche Rücksicht, weder auf andere – ob Hoch ob Niedrig –, noch auf sich. Er musste um mögliche Konsequenzen wissen, aber der Gehorsam zwang ihn, den Willen Gottes auszurichten. Ohne Umschweife sagte er denen, die zu ihm an den Jordan kamen, um sich taufen zu lassen, in seiner so genannten Standespredigt, was sie zu tun und zu lassen haben (Lukas 3,7– 14). Den religiösen Führern der Juden machte er klar, dass es nicht genügt, Abraham, den von Gott Erwählten, zum Stammvater zu haben (Matthäus 3,9a). Bis heute gilt, dass Gott keine Enkel hat, sondern nur Kinder. Abstammung und Stammbaum nutzen nichts, da »Gott […] dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken« »vermag« (Matthäus 3,9b). Allein aufgrund seiner Herkunft gehört noch keiner auf die Seite Jesu. Unbewusst ist niemand Jünger Jesu. Wer an Jesus glaubt, dem ist dies bewusst. Der vertraut Jesus zwar blind, fällt aber dadurch gerade keinem blinden Schicksal anheim. Johannes war nicht ängstlich. Als von Gott berufener Zeuge wusste er sich von Gott gehalten. In diesem Gottvertrauen konnte er auch das ehebrecherische Verhältnis seines Königs Herodes mit Herodias anprangern, wohlwissend, dass ihm dieser Freimut Kopf und Kragen kosten konnte. Aber dazu nicht schweigen zu können, das war gerade ein göttliches Muss. Lieber nahm er Unannehmlichkeiten auf sich, als dass er zu dem schwieg, was dem ausdrücklichen Willen Gottes widersprach. Von Gott berufene Menschen waren nie bequem, seien dies die alttestamentlichen Propheten, oder dann die Zeugen Christi von den 7


Aposteln bis in unsere Zeit. Denn sie sagten ist noch niemand automatisch im Heil. Jeder und sagen nicht das, was die Leute hören wol- soll auf dieses Heil hingewiesen werden, damit len. Ihre Botschaft läuft den Erwartungen der er es im Glauben ergreifen kann. Diesen Dienst Menschen entgegen. Sie machen ihnen bei dem, hat Johannes wahrgenommen und ist deshalb was sie tun, nicht (noch) ein gutes Gewissen, Bote des Neuen Testaments. sondern reden ihnen ins Gewissen. Sie reden Von Erfolg ist dies nicht gekrönt, die Massen den Leuten nicht nach dem Mund. Sie sagen neigen der Botschaft, die Gott ausrichten lässt, nicht was ankommt, aber sie sagen das, was nicht zu. Denn diese Botschaft zielt auf Veränvon Gott kommt. Sie sagen derung. Aber es kommt nicht das, was nicht von dieser Welt mm Die Botschaft, die der darauf an, die Masse zu bekommt, aber zu deren Heil Kirche aufgetragen ist, friedigen. Wer das will, muss dient. Diese Botschaft ruft die Abstriche an der Botschaft Menschen aus der Welt heraus führt nicht zu Erfolg und machen. Verantwortlich sind zu Gott. Sie sind prophetische Erlebnis. Die Kirche ist eben wir jedoch dem AuftraggeMahner und Zeugen Christi, nicht Welt, sowenig wie ber. Von Haushaltern wird wie Johannes der Täufer. Treue erwartet (1.Korinther Diese Botschaft will die die Welt Kirche ist, weshalb 4,2), nicht Erfolg. Das kann Menschen nicht so lassen, wie sich die Welt auch nicht in die Einsamkeit führen. Das sie sind. Sie läuft damit zwei Kreuz haben wir zu tragen. verchristlichen lässt. Als gegenwärtigen Trends entgeDies auszuhalten kann schwer gen: Erfolg und Erlebnis. Es ist die aus der Welt Herauswerden. Resignation mag sich verkehrt, wenn versucht wird, gerufene ist die Kirche das wie Mehltau auf unsere SeeErfolg und Erlebnis nun auch len legen. Wir können müde für die kirchliche Arbeit zu Gegenüber zur Welt und werden. Doch dem setzt der vereinnahmen. Die Botschaft, deshalb Fremdkörper in ihr. Apostel, der zwar auf der Seite die der Kirche aufgetragen Deshalb sind die Maßstädes Siegers stand, aber nicht ist, führt nicht zu Erfolg und auf der Siegerstraße einher Erlebnis. Die Kirche ist eben be und Ziele dieser Welt zog, entgegen: »Wir werden nicht Welt, sowenig wie die der Kirche nicht adäquat. nicht müde«, denn wir haben Welt Kirche ist, weshalb sich Wer das sucht, wird von ihr einen Auftrag. Wir sind nicht die Welt auch nicht verchristliauf den Beifall von Menschen chen lässt. Als die aus der Welt enttäuscht sein, zumindest angewiesen, sondern auf das Herausgerufene ist die Kirche solange die Kirche Kirche Ja Gottes. Deshalb wäre es das Gegenüber zur Welt und falsch, dann zu resignieren ist. deshalb Fremdkörper in ihr. und zu meinen, wir seien auf Deshalb sind die Maßstäbe dem Holzweg, wenn wir Wiund Ziele dieser Welt der Kirche nicht adäquat. derstand spüren. Dies kann schon eher ein »BeWer das sucht, wird von ihr enttäuscht sein, zu- weis« dafür sein, dass wir auf dem rechten Weg mindest solange die Kirche Kirche ist. Auch von sind, wohingegen wenn wir überall Beifall finJesus wandten sich viele ab. Die Botschaft Got- den, dies fast ein »Beweis« dafür ist, dass wir auf tes will und bietet mehr, denn diese Botschaft dem Holzweg sind. Die vom Herrn berufenen ruft zum Glauben. Sie ruft aus dem Unheil zum Propheten wurden bekämpft, die selbsternannHeil. Wer zum Glauben an Christus gefunden ten »Heilspropheten« beklatscht. Zeugen Jesu hat, tritt in die Nachfolge. Nachfolge jedoch kommen oft nicht an. Die Mehrzahl weiß den führt nicht zum Erfolg, sondern viel eher in die rechten Weg oft nicht, in geistlichen Dingen soVerfolgung. Viele auf dieser Welt erleiden um wieso nicht, aber so manches Mal auch nicht in ihres Glaubens an Christus willen Verfolgung. politischen. Doch gerade angesichts dessen gilt: Aber der Gehorsam des Glaubens lässt ihnen Lasst uns geistlich bleiben. Wir können uns der keine andere Wahl als Gott mehr zu gehorchen Welt nicht anbiedern, wie dies leider auch in der als den Menschen (Apostelgeschichte 5,29). Das kirchlichen Arbeit immer wieder geschehen ist hat Johannes der Täufer vorgelebt. Deshalb ist und geschieht. Aber die Welt merkt es und straft er, der zwischen den Testamenten steht, noch die, die dies versuchen, mit Verachtung, weil sie ganz der alttestamentliche Prophet, aber auch sich geprellt sieht. Konsequente Christen könebenso schon der Zeuge des irdischen Jesu, der nen ignoriert und verfolgt werden. Doch verdamit zum Alten wie zum Neuen Testament ge- achten kann man sie in aller Regel nicht. Um hört, auch Mahner für die Kirche. Wohl ist mit Christi willen geschmäht zu werden ist keine Christus die Heilszeit gekommen. Aber damit Schande. W 8

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Reformation in der Kirche 1517 und 2017

Betrachtungen auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 Reinhard Slenczka

Die Ehe: »Weltlich Ding –– nach Gottes Ordnung«1 Dass die Ehe »ein äußerlich weltlich Ding«, »ein weltlich Geschäft« ist, hat uns Luthers »Traubüchlein für die einfältigen Pfarrherrn« nachdrücklich eingeprägt. Und er fährt fort: daher »gebührt uns Geistlichen oder Kirchendienern nichts darin zu ordnen oder regieren, sondern lassen einer iglichen Stadt und Land hierin ihren Brauch und Gewohnheit wie sie gehen«.2 »Nuptiae et matrimonia«, das betrifft die Form der Eheschließung und der Eheführung, sind »res civiles«; dies gehört zum bürgerlichen Gesetz, und das gilt für alle Menschen, also für Christen wie für Nichtchristen. Der Staat hat als Dienerin Gottes (Römer 13,1–7) dafür zu sorgen, dass Gottes Ordnung eingehalten und geschützt wird. Darüber wird leicht übersehen, dass etwas weiter von Luther mit Nachdruck betont wird: »… denn ob’s wohl ein weltlicher Stand ist, so hat er dennoch Gottes Wort für sich und ist nicht von Menschen ertichtet oder gestiftet wie der Münche und Nonnen Stand, darumb er auch hundertmal

Reinhard Slenczka Die Anschrift des Autors finden Sie auf Seite 30 INFORMATIONSBRIEF 298

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billicher sollt’ geistlich geachtet werden, denn der klösterliche Stand …«3 Hier zeigt sich wie durch menschliche Setzungen die Ehe abgewertet und auch verachtet wird. In seiner Schrift »Von Ehesachen« (1530) findet sich dazu noch ein wichtiger und bedenkenswerter Hinweis auf die Verantwortung der weltlichen Obrigkeit, die durch Gesetze dem vielfältigen Schaden und der Unordnung auf dem Gebiet von Ehe und Familie wehren muss. Aber »unter den Christen, oder Gläubigen ist in solchen und allen Sachen leicht zu handeln«.4 Dabei wird vorausgesetzt, dass Christen im Glaubensgehorsam dem Wort Gottes der Heiligen Schrift folgen. Nicht erst in der Neuzeit gibt es Probleme auf dem Gebiet von Ehe und Familie. Gesetzliche Regelungen müssen zu allen Zeiten eingreifen, wo durch die Übertretung des 6. Gebots großer Schaden für Einzelne wie auch für die Gesellschaft entsteht. Das war in der Geschichte des Volkes Gottes im Alten wie im Neuen Bund nicht anders als zur Zeit Luthers und heute. Man muss nur einmal sehen, wie in der staatlichen Gesetzgebung fortlaufend Gesetze erlassen werden müssen, die soziale und rechtliche Missstände und Schädigungen im Bereich von Ehe und Familie beseitigen müssen. Was vielfach als Fortschritt in der gesellschaftspolitischen Entwicklung applaudiert wird, kaschiert das vielfache psychische, materielle und moralische Elend, um das es hier für Männer, Frauen und nicht zuletzt für Kinder geht. Man muss schon blind sein, dies bei aller Schönfärberei zu übersehen. In Kirchen und ihrer Theologie stehen wir heute vor der Tatsache, dass mit amtlichen Erklärungen und Stellungnahmen fortlaufend die 9


Sexualität ist kein biblisches Wort. Das damit göttliche Ordnung der Ehe mit der Begründung aufgehoben wird, dass sich das Verhal- verbundene Wort Begierde aber betrifft alles, was Menschen gegen den ten der Menschen geändert Willen Gottes tun. Die Ehe habe und dass die kirchliche mm Was vielfach als Fortist Schöpfungsordnung. Sie Lehre sich dem anzupassen schritt in der gesellschaftshabe. Der Sexual­ trieb soll dient – vor dem Sündenfall! demnach in jeder beliebi- politischen Entwicklung – unter dem Gebot und dem gen Weise befriedigt wer- applaudiert wird, kaschiert Segen Gottes für den Menden, weil er nach verbreiteter schen, männlich und weibdas vielfache psychische, Meinung ein entscheidendes lich (so die genaue ÜberElement menschlicher Le- materielle und moralische setzung von 1.Mose 1,26), benserfüllung sei. Was hier Elend, um das es hier für nach Bild und Gleichnis geschieht, ist im tiefsten Gottes geschaffenen MenSinne Gottlosigkeit, indem Männer, Frauen und nicht schen zur Fortpflanzung der Sexual­trieb in seiner be- zuletzt für Kinder geht. und damit zur Erhaltung des herrschenden Kraft faktisch Man muss schon blind sein, Menschengeschlechts. an die Stelle Gottes tritt. Dass Widernatürliches (RöDiesen Vorgang beschreibt dies bei aller Schönfärberei mer 1,26) in verschiedener der Apos­ tel Paulus Römer zu übersehen. Weise einbricht, dass das auf 1,18–32 als eine VertauScham und Vertrauen geschung von Schöpfer und Geschöpf: Das von gründete Verhältnis von Mann und Frau oft geGott Geschaffene wir angebetet und verehrt, brochen wird, gehört zu den Folgen des Sündenwo der wahre Gott nicht gepriesen und ihm falls, der mit der Frage der Schlange beginnt: »Ja, gedankt wird. Das Geschöpfliche übt dann sei- sollte Gott gesagt haben …?« (1.Mose 3,1) ne Macht aus; es fesselt die Menschen. Darin Wir stehen heute vor der erschütternden Tatvollzieht sich auf dreifache Weise Gottes Straf- sache, dass Gottes gute Schöpfungsordnung in gericht (Römer 1,24.26.28: »er hat sie dahin- der christlichen Gemeinde nicht nur übertreten, gegeben«). Luther legt das in seiner Vorlesung sondern offen geleugnet und aufgehoben wird. über den Römerbrief so aus: »Diesem Text lässt Das ist gegen Schrift und Bekenntnis. Der von sich also folgendes entnehmen: Wenn einer solchen Gott geschaffene Fortpflanzungstrieb hat sich Leidenschaften verfällt, so ist dies ein Zeichen da- von der Bestimmung Gottes und zugleich von für, dass er Gott verlassen, einen Götzen angebetet der personalen Zuordnung des männlichen und und so die Wahrheit Gottes in Lüge verkehrt hat. weiblichen Menschen gelöst und verselbststänDie aber, die ›es nicht geachtet haben, dass sie Gott digt. Er ist zum Selbstzweck geworden, und erkennten‹, werden mit diesem Zeichen gebrand- daraus folgt, dass er auf jede beliebige Weise markt, dass sie nach Gottes Zulassung in allerlei befriedigt werden darf. Was hier allein bei der Laster fallen. Und wenn solche Ungeheuerlichkei- Kindererziehung geschieht, ist massiver Kindes­ ten jetzt überhandnehmen, so ist das ein Zeichen missbrauch; die Kinder werden für den Rest dafür, dass auch die Abgötterei überhandnimmt, ihres Lebens geschädigt. Der natürlichen und im geistlichen Sinne nämlich.«5 vertrauensvollen Bindung von Mann und Frau werden die Grundlagen entzogen. Der Schutz der Scham wird radikal abgebaut. Die unermesslichen physischen und psychischen Folgen, sind die Strafe Gottes für die Übertretung; das gilt für die damaligen wie für die heutigen Verhältnisse und die dafür Verantwortlichen: »Sie wissen, dass, die solches tun, nach Gottes Recht den Tod verdienen; aber sie tun es nicht allein, sondern haben auch Gefallen an denen, die es tun« In der Apologie zur (Römer 1,32). Augsburgischen In der Apologie zur Augsburgischen KonfesKonfession Art. 23 sion Art. 23 wird nachdrücklich auf die für alle wird nachdrücklich Menschen verbindliche Ordnung Gottes hingeauf die für alle wiesen: »Ists nun natürlich Recht, so ist es Gottes Menschen verbindli- Ordnung, also in der Natur gepflanzt und ist also che Ordnung Gottes auch göttlich Recht. Dieweil aber das göttlich und hingewiesen. natürlich Recht niemands zu ändern hat, denn 10

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In Luthers Schrift »Von Ehesachen« (1530) findet sich ein wichtiger und bedenkenswerter Hinweis auf die Verantwortung der weltlichen Obrigkeit, die durch Gesetze dem vielfältigen Schaden und der U ­ nordnung auf dem Gebiet von Ehe und Familie wehren muss. Aber »unter den Christen, oder Gläubigen ist in ­solchen und allen Sachen leicht zu handeln«.

Gott allein, so muss der Ehestand jedermann frei sein. Denn die natürliche, angeborene Neigung des Weibs gegen den Mann, des Mannes gegen das Weib ist Gottes Geschöpf und Ordnung. Darum ist es recht und hat kein Engel noch Mensch zu ändern.«6 So muss man in der christlichen Gemeinde wissen und anerkennen, dass es bei diesem Thema weder vordergründig um soziale, rechtliche und moralische Fragen geht, sondern um die Grundordnung von Gottes guter Schöpfung zum Besten aller Menschen. Seit jeher stand die christliche Gemeinde mit dieser Auffassung in einer Minderheit. Sie verliert jedoch ihren göttlichen Auftrag für die Weltverantwortung, wenn sie sich dem anpasst, wie sich eine (scheinbare) Mehrheit verhält und was sie – unter gewaltigen Zwängen und Drohungen – fordert. In einer Predigt über die königliche Hochzeit (Matthäus 22,1–14) zeigt Luther seiner Gemeinde, was die Ehe nach Gottes Wort und Willen ist: »Denn das bringt der eheliche Stand mit sich, wo er dieses Namens wert ist und ein eheliches Leben heißen mag, so Mann und Weib sich wohl zueinander finden, dass da erstlich ist rechtes herzliches Vertrauen zu beiden Teilen, wie es in den Sprüchen Salomons 31,11 heißt: ›Ihres Mannes Herz darf sich auf die verlassen‹, das ist: er vertraut ihr sein Herz und Leben, Geld, Gut und Ehre an. Also auch umgekehrt: des Weibes Herz hängt an ihrem Mann, der ist ihr höchster Schatz auf Erden; denn sie weiß und hat bei ihm Ehre, Schutz und Hilfe in allen ihren Nöten. Solches ganz einiges, gleiches, ewiges Vertrauen ist nicht unter anderen Personen und Ständen, INFORMATIONSBRIEF 298

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wie etwas zwischen Herr und Knecht, Magd und Frau, ja auch Kindern und Eltern. Denn dort ist die Liebe nicht ebenso gleich, stark und völlig gegeneinander, und es bleibt nicht ein solches ewiges Verbündnis wie im Ehestand, von Gott geordnet, wie der Text spricht: ›Ein Mann wird seinen Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen.‹ Aus solcher Liebe und herzlichem Vertrauen folgt nun auch die Gemeinschaft in allem, was die beiden miteinander haben oder was ihnen widerfährt an Gutem oder Bösem, dass sich ein jedes des anderen muss annehmen als seines Eigenen und dem andern mit seinem Gutem helfen, zusetzen und mitteilen und eines zusammen mit dem andern in beidem, im Leiden und Genießen, in Freude und Betrübnis sowie es einem von beiden wohl ober übel geht.«7 W

1) Vgl. zu diesem Thema meine theologische Stellungnahme zur Orientierungshilfe des Rates der EKD »Zwischen Autonomie und Angewiesenheit« in Informationsbrief Juli 2013, Nr. 279. 2) BSLK 528, 5–11. 3) BSLK 529, 24ff. 4) WA 30, III, 205, 17f. 5) WA 56, 138, 6ff. Deutsch: Eduard Ellwein. 6) ApolCA 23. BSLK 336, 10ff. 7) WA 22, 335, 38–336, 19.

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Die Politische Versuchung Markus Sigloch

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ie Kirche hat durchaus politische Aufgaben. Die Zwei-Reiche-Lehre Martin Luthers wäre falsch verstanden, wenn man der Kirche generell jede politische Betätigung in Abrede stellte. Und doch stellt gerade der öffentliche Raum eine ungeheure Versuchung für die Kirche dar, der sie in regelmäßigen Abständen innerhalb der Kirchengeschichte immer wieder erlag und damit auch sich selber Schaden zufügte. Um diese Versuchung näher zu beschreiben, muss zuerst einmal der Auftrag der Kirche in Augenschein genommen werden. Er entspringt dem Willen Gottes in seinem Sohn Jesus Christus, der dazu in die Welt gekommen ist, um die Menschen mit sich selbst zu versöhnen. Dieser Wille zur Versöhnung, der im Kreuzestod Jesu seine Erfüllung gefunden hat, definiert auch den Auftrag der Kirche, nämlich allen Menschen die frohe Botschaft von der Versöhnung durch Jesus Christus zu sagen. Der Zeitraum, der der Kirche für diese Aufgabe eingeräumt ist, erstreckt sich vom ersten Pfingsten der Gemeinde bis zur Wiederkunft Jesu. Mit seiner Wiederkunft endet diese Aufgabe, und es folgt ein schreckliches Gericht über diese Welt, in dem binnen kurzer Zeit das Volk Israel zu seiner endzeitlichen Bestimmung geführt wird, nämlich ebenfalls zur Versöhnung mit seinem Gott und König Jesus Christus, und damit auch zu seiner Errettung (vgl. Römer 11,26). Da die Zeit der Kirche nun fast 2000 Jahre anhält und sie sich oft in Ungeduld dazu verstiegen hat, das Reich Gottes selbst herbeiführen zu wollen, muss ihr Auftrag immer wieder neu in Betracht gezogen und dabei auch ihr politisches Handeln daraufhin abgestimmt werden. Nur so kann sie der Versuchung des Teufels widerste-

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hen, ihren eigentlichen Auftrag zu versäumen und sich im Getriebe der Welt zu verlieren. Voraussetzung für den Dienst der Kirche ist die Erkenntnis, dass Menschen nur zur Versöhnung mit Gott kommen können, wenn sie völlig frei von Zwang, Gewalt und Geld das Angebot der Sündenvergebung annehmen können. Alles andere führt höchstens zu einem Schein an Frömmigkeit. Denn es spart das Herz eines Menschen aus, das bei jeder Form von Zwang weiterhin vor Gott verschlossen bleibt, und übt sich nur in äußeren Werken der Gerechtigkeit, weil es ja nicht freiwillig in den Dienst des Herrn getreten ist. Nicht umsonst hatte Jesus das Angebot Satans bei der Versuchung in der Wüste zurückgewiesen, Menschen mithilfe von Weltherrschaft zu gewinnen. Der Auftrag Jesu war die Versöhnung der Menschen mit Gott und nicht ein politischer Friede. Er zielte auf das Herz der Menschen und nicht auf deren Unterwerfung. Diese Vorgehensweise wurde maßgebend für die Jünger, als Jesus sie aussandte. Sie sollten keinerlei Druck, Gewalt oder Überredungskunst anwenden, sondern in wahrhaftiger Bescheidenheit für die Liebe Gottes werben. Wer sie schlug, dem hielten sie die andere Wange hin. Wer sie zwang, eine Meile mitzugehen, mit dem gingen sie zwei. Wer sie um Vergebung bat, dem vergaben sie nicht nur siebenmal, sondern siebenmal siebzigmal. Damit standen sie ganz im Dienst ihres Herrn, die Menschen zur Versöhnung mit Gott zu rufen. Martin Luther nannte diesen operativen Bereich der Kirche »das Reich zur Rechten Christi«. Hier darf nur das Wort allein regieren, keine politische Macht, kein Geld, kein psychologischer Druck, nichts, was eine echte Bekehrung hindern könnte. Denn Gott will ein Menschenherz gewinnen, und dazu stehen ihm alle Mittel der Macht im Wege. »Oder meinst du, ich könnte meinen Vater nicht bitten, dass er mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schickte?« fragte Jesus seinen Jünger Petrus, der bei seiner Verhaftung das Schwert gezogen hatte. »Wie würde dann aber die Schrift erfüllt, dass es so geschehen muss?« (Matthäus 26,53f.) Seit dem ersten Pfingsten verkündigt die Kirche die Versöhnung, und gerade in der ersten JUNI 2016

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Zeit der Kirchengeschichte, mm Die Zwei-Reiche-Lehre das Wort entzogen gewesen. als sie machtlos und verfolgt Martin Luthers wäre falsch Kirche hat also durchaus war, gewann sie die meisten in ihrem politischen HanMenschen für den Glauben, verstanden, wenn man der deln die Aufgabe, die bestund zu einer späteren Zeit, Kirche generell jede politische möglichen Voraussetzungen als sie mithilfe der Inquisitischaffen, dem Wort der Betätigung in Abrede stellte. zu on, mit Folter und Kriegen freien Gnade Gehör zu verihr heiliges römisches Reich schaffen. Dazu dient ihr poausbreiten wollte, verlor sie die Herzen der litisches Handeln im »Reich zur Linken ChrisMenschen. ti« (Martin Luther). Aber hier stehen ihr keine Dies wirft nun zweitens ein Licht auf das höheren Einsichten der Offenbarung zur Verfüpolitische Handeln der Kirche. Da ihr Auftrag gung. In diesem Reich lässt sich die unversöhnte nicht außerhalb der Wirklichkeit dieser Welt Welt von Gottes Wort nichts sagen. In diesem geschieht, muss sie sich zwar einer unversöhn- Reich regiert allein das Schwert der Obrigkeit, ten Welt stellen. Aber ihr Auftrag ist nicht die durch das Gott »den einen Buben durch den machtvolle Entfaltung des Reiches Gottes, son- anderen Buben bestraft« (Martin Luther). dern allein die Evangeliumsverkündigung. Ihr So ist politisches Handeln der Kirche zwar politisches Handeln mag diese Aufgabe durch- nötig, stellt aber gleichzeitig immer eine große aus unterstützen. Aber es hat ausschließlich Versuchung dar, mit Mitteln der Macht und des diese eine Zielsetzung, dafür Sorge zu tragen, Geldes das zu erreichen, was durch das Wort dass der Verkündigungsauftrag möglichst un- nicht gelingt. Diese Versuchung tritt in Form gehindert und kräftesparend ausgeführt werden einer Güterabwägung heran. Sollte es nicht kann. Es braucht also politische Vernunft, um sinnvoll sein – zumindest zeitweise – am Wort durch Verträge mit den politischen Mächten der Wahrheit nicht so streng festzuhalten, wenn dieser Welt den besten Wirkungsraum für eine der Erfolg dabei ist, der Kirche dadurch mehr gewaltfreie Verkündigung zu schaffen. Sie muss Freiräume und Möglichkeiten für ihren Auftrag durch kluge und diplomatische Vorgehenswei- zu erkämpfen? se den Gewalten der Öffentlichkeit eine »BeißDazu ein Beispiel: Wenn eine Landesregiehemmung« auferlegen, damit sie sich Menschen rung wie in Baden-Württemberg einen Bilin möglichst freier und ungehinderter Weise dungsplan in den Schulen einführen will, in mit ihrer Botschaft zuwenden kann. Wenn je- dem ein schöpfungswidriges Menschenbild der Pfarrer sich sein Kanzelrecht gegen alle transportiert werden soll, werden die Kirchen Widerstände selbst erkämpfen müsste, würden mit Nachdruck dafür umworben, diesem zuzudie Wölfe predigen, und Menschen wie Lud- stimmen und zu kooperieren. Sie sollen nicht wig Hofacker oder Charles H. Spurgeon wäre an ihren althergekommenen Vorstellungen von INFORMATIONSBRIEF 298

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Sexualmoral und Ethik festhal- mm Nicht umsonst hatte heidnischen Götterwelt. Kann ten, sondern einem Kompro- Jesus das Angebot Sadas die Kirche wollen? miss zustimmen. Das Angebot Sicher nicht. Aber was ist die ist verlockend, die Drohung be- tans bei der Versuchung Alternative? Soll sie bei der Einklemmend. Denn wenn die Kir- in der Wüste zurückführung eines schöpfungswidche dieses Angebot annimmt, gewiesen, Menschen rigen Menschenbildes koopedarf alles beim Alten bleiben, rieren, nur damit sie weiterhin und die Möglichkeit, ihrem mithilfe von Weltherrden Freiraum der Verkündigung Auftrag an öffentlichen Schulen schaft zu gewinnen. Der behält? Wenn sie ihn doch nur nachzukommen, bleibt erhalten Sie dagegen tauscht Auftrag Jesu war die Ver- behielte! und wird vielleicht sogar ausgeihn ein gegen einen Freiraum, baut. Lehnt die Kirche jedoch söhnung der Menschen der keiner mehr ist. Denn ihre das Angebot ab und geht auf mit Gott und nicht ein Lehrfreiheit kann sie nur noch Konfrontationskurs, drohen Rehinter verschlossenen Türen aktionen der weltlichen Macht politischer Friede. Er der Klassenzimmer praktizieren. wie z. B. Fördergelder streichen zielte auf das Herz der Kirchliche Lehrkräfte können und Wohlwollen aufkündigen. Menschen und nicht auf nicht mehr mit dem Rückhalt Im schlimmsten Fall droht der der Kirche in der Öffentlichkeit Kirche, an öffentlichen Schulen deren Unterwerfung. rechnen, wenn nach draußen nicht mehr lehren zu dürfen. dringt, dass sie noch immer das Die Aussichten sind dann für die Kirche sehr alte, biblische Menschenbild lehren; denn dieses düster, ihrem Auftrag an den Kindern weiter- wurde um den Preis des Zugangs an den Schuhin nachkommen zu können. Die Schule droht, len in der Öffentlichkeit preisgegeben. ein »evangeliumsfreier« Raum zu werden und Die Kirche hat damit ihre Lehrfreiheit prakweitet ihren Einfluss auf die Kinder aus. Kin- tisch verloren und steht im Dienste eines andeder hören nicht mehr die frohe Botschaft von ren Herrn, dem Herrn der Unwahrhaftigkeit Jesus, bekommen von niemandem mehr die und Vater der Lüge. Dasselbe Problem stellt Weihnachtsgeschichte erzählt, und ihr Gottes- sich übrigens auch bei kirchlichen Kindergärbild verdüstert sich in die dunklen Farben einer ten, wenn sie aus Rücksicht auf muslimische 14

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g Die Versuchung Christi – Mosaik aus der Basilika di San Marco in Venedig.

a Wenn jeder Pfarrer sich sein Kanzelrecht gegen alle Widerstände selbst erkämpfen müsste, würden die Wölfe predigen, und Menschen wie Ludwig Hofacker oder Charles H. Spurgeon wäre das Wort entzogen gewesen.

Kinder die Weihnachtsge- mm Und wenn die Kirche Jesaja 53,10), und nur so hat schichte nicht mehr in Rol- ihrem Auftrag treu bleiben auch die Kirche eine Zukunft. lenspielen einübt. Man hat Nach seiner Auferstehung gesich dann zwar weiterhin die will, dann muss sie nicht bot Jesus seinen Nachfolgern: öffentlichen Fördergelder ge- nur Zeugin der Gnade, »Ihr sollt meine Zeugen sein sichert – doch wozu? Um zu sondern auch Zeugin der in Jerusalem und in ganz Juschweigen? Aus Fördergeldern däa und Samarien und bis an im Sinne der Subsidiarität wer- Wahrheit bleiben, bis sie das Ende der Erde« (Apostelden Schweigegelder, die nicht Jesus selbst bei seiner geschichte 1,8). In Jesus setzte mehr dazu verwendet werden sich darum nicht nur die GnaWiederkunft von dieser können, den eigenen Auftrag de, sondern auch die Wahrheit Aufgabe entbindet und die durch (vgl. Johannes 1,17). auszuüben. Es gibt nur einen Weg, politischen Geschäfte der Mit dieser Wahrheit werden dieser Versuchung zu widerGottes Pläne vollendet. Diestehen, einen Weg, den Jesus Welt in die eigene Hand se Wahrheit führt zum Ziel. seiner Kirche vorgelebt hat: nimmt. Denn durch sie werden auch Keine Kompromisse in Sachen weiterhin Menschenherzen Wahrheit, auch nicht kleine Kompromisse, auch überwunden und für die Liebe Gottes gewonnicht minimale Kompromisse, sondern die gan- nen, solange die Zeit der Gnade währt. Und ze und ungeteilte Wahrheit mit allen Konse- wenn die Kirche ihrem Auftrag treu bleiben quenzen bis hin zum Schicksal einer verfolgten will, dann muss sie nicht nur Zeugin der Gnade, Kirche, die ihrem Herrn das Kreuz nachträgt. sondern auch Zeugin der Wahrheit bleiben, bis »Ich bin dazu geboren und in die Welt gekom- sie Jesus selbst bei seiner Wiederkunft von dieser men, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer Aufgabe entbindet und die politischen Geschäfaus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme«, te der Welt in die eigene Hand nimmt. W sagte Jesus zu Pilatus (Johannes 18,37). Da­ raufhin ging er den Weg ans Kreuz. Aber gerade durch diesen Gehorsam und diese konsequente Gewaltlosigkeit »lebte Jesus in die Länge« (vgl. INFORMATIONSBRIEF 298

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Vergänglichkeit –– Vergeblichkeit –– Verlässlichkeit Ein Zwischenruf an Altersfreunde im Dienst und im Ruhestand G e r h a r d N a u j o k at

Vergänglichkeit An der Vergänglichkeit des Daseins kommt niemand vorbei. Selbst Steine verwittern und zerbröseln. Erst recht das menschliche Leben und vermeintliche Verdienste im Beruf, einschließlich kluger Erkenntnisse. Alles ist relativ und nur kurz bemessen. Oft zu kurz. Anmerkungen dazu macht der Autor, dem die Zeit nach vorne nur noch wenig Raum lässt. Sie schrumpft und ihre Unberechenbarkeit wird immer unausweichlicher. Jeder Blick um mich herum lehrt mich die Endlichkeit der Materie, die Sterblichkeit des Stofflichen, das letzte Abschiednehmen Nahestehender. In allem steckt dennoch auch der Lockruf Gottes, die Grenze zur Jenseitigkeit zu erkennen, sie zu bejahen und demnächst zu überschreiten. Da hier nichts von Dauer ist, verspüren wir einen Vorgeschmack von dem, was noch kommen wird. Einen Christen erfüllt das mit Zufriedenheit und Zuversicht. Dieses Grundprinzip der Vergänglichkeit – »des Endens« – ist rechtzeitig in das Leben einzubeziehen. Denn nur der Schöpfer allen Seins weiß um Ort und Zeit des letzten Schlusspunktes. Manche Freunde und Dienstgefährten standen schon früh in ihrem Leben vor der »letzten Tür«. Daher ist jede Erfahrung, jede Begegnung, jede Mitteilung in der Gegenwart belebend, kostbar und stärkend. Auch die Erkenntnis bestätigt sich (wenngleich mir etliche Fragen und Zweifel bleiben), dass Gott diese Welt und damit mein Leben »vernünftig und

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durch die Vernunft erkennbar geschaffen hat« (Max Planck) und durch Wirren und Völkermorde hindurch zum Ziel bringt, obwohl von Gott selbst anscheinend nichts spürbar wird. Christlicher Glaube wird die Unergründlichkeit und manche Unverständlichkeit auf sich nehmen. Wir besitzen keinen Schlüssel zu den Gedanken und Maßnahmen Gottes. Die menschliche Begrenztheit verwehrt uns eine Übersicht und Deutung gegenwärtiger und künftiger Geschehnisse. Wir erkennen alles nur »stückweise« (Paulus, 1.Korinther 13,12). Jedes Leben ist bemerkenswert, einzigartig und unersetzlich. Und doch führen wir ein Leben »auf Abruf«. Die »letzte Tür« ist die letzte Wirklichkeit und muss einmal durchschritten werden. Man sah Menschen sterben, aber man kennt nicht den eigenen Tod. Die Zerstörung des »Seins« erlebt der Mensch in ohnmächtiger Hilflosigkeit, in Ängsten, Trauer und Konflikten. Kein brauchbares System und keine mitmenschliche Methode können uns auf solchen »Abruf« vorbereiten und die Undurchsichtigkeit kommenden Dunkels aufhellen. Gelten dann das »absolute Nichts« und das »totale Ende« oder ist der Tod die »Vollendung des Lebens«? Ist mit der Vollendung des »Zeitlichen« die Hoffnung des »Ewigen« verbunden? Ein Nachdenken über »Vergänglichkeit« hat darum in jedem Lebensabschnitt Sinn. Denn ein Leben braucht ein Ziel. Das »Enden« ist unumgänglich. Aber das Ende des Weges ist nicht das Ziel. Es ist nur der Preis, den wir für das Ziel zu zahlen haben. Und dorthin zielt unser Leben, unser Dienst, unsere Verkündigung, unser Sterben, unsere Hoffnung auf das Neue – oder wie es 1.Korinther 2,9 sagt: »Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, das hat Gott denen bereitet, die ihn lieben.« Von Werner Bergengrün ist bekannt: »Liebt doch Gott die leeren Hände, und der Mangel wird Gewinn. Immerdar enthüllt das Ende sich als strahlender Beginn.« JUNI 2016

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Die Basis aller Kulturen ist Religion. Ein entscheidender Unterschied zwischen der christlichen und anderen Religionen besteht darin, dass sich der Gott der Bibel als Vernunftwesen zu erkennen gibt, der diese Welt vernünftig und durch die Vernunft erkennbar geschaffen hat. Max Planck (1858–1947)

Vergeblichkeit Dieser »Zwischenruf« grüßt insbesondere die Brüder, die auf der Kanzel und in der Verkündigung stehen oder standen. Nach Jahrzehnten des »Dienstes« kennen wir das bedrückende Gefühl der Vergeblichkeit. Wer machte nicht die Erfahrung: So viel wir uns auch mühten, den Dienst und die Arbeit treu versahen, es verwehte vieles wie Sand in der Wüste, »es war Haschen nach Wind«, alles war »wie Spreu, die der Wind verstreut« (Psalm 1,4). Oft fragte man sich im Nachhinein: Ist denn gar nichts hängengeblieben von der Botschaft des Evangeliums und kein Korn aufgegangen? Gehen die Menschen einfach so an Gott und Christus vorbei? War mein Ruf nicht laut genug oder zu undeutlich? Der Zulauf der Massen war der Kirche zwar nie verheißen, sondern nur die »kleine Herde«, aber wenn auch diese »kleine« immer noch kleiner wird? Ich sah verzagte Pfarrer und Prediger, manche »Hirten«, die nur noch auf den Ruhestand warteten. Die Freude zur Verkündigung wurde ihnen getrübt, obwohl sie eine gute Botschaft hatten. Wir wissen auch alle um das Wort »Es soll nichts leer zurückkommen!« Aber dennoch spürten wir eine große Leere. Wo sind nun das Gesagte, das Verkündigte, die Lehre und das INFORMATIONSBRIEF 298

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Geglaubte geblieben? War alles vergeblich? Ausgestreut und verweht? Wer hat auf der Kanzel und unter der Kanzel nicht schon darunter gelitten? Bedrückend ist der Blick auf kirchengeschichtliche Vorgänge. Was wurde aus den ehemals geistlichen Erweckungsbewegungen? Große Gebiete und Provinzen vom Norden bis zum Süden Deutschlands (auch im früheren Osten) wurden vom Evangelium erfasst. Was blieb noch davon und wo? War Europa nicht einmal das »Christliche Abendland«? Es wurde preisgegeben! Es ging unter. Wir werden heute überflutet von anderen Kulturen und Religionen. Und persönlich? Wer kennt nicht manche Tiefen und Untiefen im eigenen Leben? Gebete schienen nicht gehört und erhört zu werden, Wünsche blieben unerfüllt, das Leben verlief plötzlich anders, der Beruf und die Familie machten Schwierigkeiten, wir hängten uns stärker rein, strengten uns doppelt an. Und der Sinn des ganzen Daseins und stetigen Bemühens? Hat alles etwas Bleibendes erbracht? Manchmal sah alles nach Vergeblichkeit aus. Fürstin von Reuß schrieb in einem Lied von Menschen, die »suchen, was sie nicht finden in Liebe und Ehre und Glück. Sie kommen belastet mit Sünden und unbefriedigt zurück.« Und in der Tat stehen wohl seit Menschengedenken 17


Fürstin von Reuß schrieb in ihrem Lied »Ich bin durch die Welt gegangen« von Menschen, die »suchen, was sie nicht f­inden in Liebe und Ehre und Glück. Sie kommen belastet mit Sünden und unbefriedigt zurück.« Und in der Tat stehen […] diese drei Begriffe im Zentrum menschlichen Bemühens: Liebe, Ehre, Glück.

und durch Generationen hindurch diese drei Begriffe im Zentrum menschlichen Bemühens: Liebe, Ehre, Glück. Unendlich ist diese Sehnsucht nach Liebe, unersättlich das Streben nach Ehre und unerfüllbar das Begehren nach Glück. Mittel und Möglichkeiten, Wollen und Können verwirren sich manchmal im schuldhaften Handeln und im menschlichen Abseits. Auch was gut gemeint war, ging öfter unschön oder böse aus. Gute Absichten verkehrten sich unter der Hand in ihr Gegenteil. So häufen sich Schicksals- und Selbstvorwürfe und lassen uns unerfüllt und einsam zurück, manchmal schmerzhaft in innerer Zerrüttung und Bitterkeit. Keines Menschen Leben verläuft gradlinig und nach Plan. Wir ersteigen Höhen und durchleiden Täler. Wir erfahren Glücksmomente und werden von Krisen betroffen. Der Historiker Jacob Burkhardt bezeichnete einmal die Krisen als die »Entwicklungsknoten unseres Lebens«. Weil kein Leben glatt wie eine Haselnussrute verläuft, sondern tief gekerbt und verkantet wird, so dass wir im Rückblick manchmal fassungslos auf das Rätselhafte und Unentwirrbare des Lebens zurückschauen. Das zur Ruhe kommen in Gott bedarf der inneren Bewegung und des Gangs durch geist18

liche Tiefe. Ein Leben wird am Ende gesiebt. Was bleibt? Fürstin von Reuß bezeugt am Ende ihrer dichterischen Verse in damaliger Sprache klar und biblisch: »Es ist eine Ruh gefunden in des Gotteslammes Wunden!« Der Opfertod Jesu Christi geschah für den Menschen aller Zeiten. Davon lebt der Glaubende und darauf baut die Gemeinde Gottes noch heute. Gottes Vergebung ist da, ob wir sie besitzen, zeigt sich jenseits der Lebensgrenze, dem Glaubenden vielleicht etwas früher.

Verlässlichkeit In vielen Bereichen des Daseins, beispielsweise der Technik, der Verwaltung, der Justiz, der Industrie, möglichst auch der Politik, ist Verlässlichkeit von grundlegender Bedeutung. Die Erwartung und die Voraussetzung von Zuverlässigkeit sind in unserer Gesellschaft und im Miteinander von Menschen zu Recht in ihrem Gefühl verwurzelt. Inmitten unvollkommener und recht unzuverlässiger Verhältnisse wünscht sich der Mensch Sicherheit und Beständigkeit. Er würde gerne mit Stetigkeit und Unverbrüchlichkeit im Leben rechnen und wird zunehmend enttäuscht. Zu vieles schwankt und schwindet. Es fehlt an Bestand, Dauer und Ehrlichkeit. JUNI 2016

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Man trifft auf Intrigen, Arglist sehr geliebt, dass er dafür seinen und Distanz. Wer – wie der VerSohn hergab. Jesus Christus wurfasser – fast acht Jahrzehnte unde zum Heil und Heiland des zählige Kontakte mit Menschen Menschen. Auf diese Verlässlichhatte, steht unter dem Eindruck, keit kommt es am Ende an. Das dass die Schwankungen und mm Der Historiker Wort Jesu Christi ist es, das fest Schwenkungen unserer derzei- Jacob Burkhardt dasteht. Luther nannte es einen tigen Gesellschaftssituation den Felsen. Der wankt nicht, der entbezeichnete einmal Menschen auf vielen Gebieten täuscht nicht, der trügt nicht. Daunsicher machen. Er sucht und die Krisen als die rauf dürfen wir hoffen und daran braucht Geborgenheit und Ver- »Entwicklungsknoten glauben. Auf Gottes Zuverlässiglässlichkeit. keit hin können wir leben und Insbesondere jeden Prediger unseres Lebens«. Weil sterben. Er hat alles besiegelt mit des Evangeliums und jeden, der kein Leben glatt wie dem Sterben und der Aufersteum glaubhafte Leitlinien in un- eine Haselnussrute hung seines Sohnes Jesus Chrisserer Gesellschaft bemüht war, tus. Er steht für uns ein: »Ich will beschäftigt die Frage um Ver- verläuft, sondern tief dich nicht verlassen noch versäulässlichkeit, Vergänglichkeit und gekerbt und verkanmen« (Hebräer 13,5). Das ist Vergeblichkeit in eklatanter Weise tet wird, so dass wir letztendlich das einzig Verlässliam Ende seines Lebens. War alles che, worauf wir bauen dürfen. richtig, was bleibt davon, wohin im Rückblick manchAm Ende des Verkündigungsführt der Weg, was habe ich ver- mal fassungslos dienstes und am Lebensabend ist säumt, was hätte ich anders sagen es gut, sich befreit und beschenkt auf das Rätselhafte sollen? Aber ist diese Nachfrage zu fühlen. Wir haben die »lebenerforderlich? Ist es wichtig, dass und Unentwirrbare dige Quelle« gekannt, daraus wir eine Antwort finden? Können des Lebens zurück­ getrunken und freudig weitergewir nicht darauf vertrauen, dass geben. Jetzt reduzieren wir unser jede gute Saat, die wir im Auftrag schauen. Credo auf das Wesentliche, das und im Angesichte Gottes ausuns niemand mehr nehmen kann brachten, auch aufgehen und Früchte tragen und das von der Verlässlichkeit Gottes getragen wird? wird. Es dient der eigenen Vergewisserung, da Uns bleibt nur übrig, alles in Gottes Hand zu wir von allen Seiten verunsichert, verwirrt und legen, auch uns selbst. Wir sollten das Vertrau- irritiert werden und der Unglaube Feste feiert. en nicht verlieren, wenn uns Vergänglichkeit Darum in Kurzform: und Vergeblichkeit übermannen und deprimieWir glauben in einer immer stärker gottentren möchten. Ob wir »Liebe, Ehre und Glück« fremdeten Welt – insbesondere, wenn das Lefinden, ist zweifelhaft. Viele scheiterten schon ben zur Neige geht – an den verlässlichen, leauf der Suche nach ihnen. Andere vermochten bendigen Gott, den Schöpfer der Welt und der im Laufe ihres Lebens Liebe und Glück nicht Menschen. Wir glauben, dass er uns umsorgt festzuhalten. Erfolge in Gesellschaft und Ge- und liebt. Als Zeichen der Zuwendung brachmeinde? Kommt es darauf an? Die wirklichen te uns Jesus Christus die Botschaft Gottes und Früchte des Glaubens und Handelns sind die erlöste uns durch sein Sterben und Auferstehen. geistlichen Gaben nach Galater 5,22: »Liebe, Gottes Geist führt unser Dasein und erhält uns Freude, Friede, Geduld« und anderes mehr. den Glauben und die Gewissheit des ewigen LeZugrunde liegt, dass die Tat, das Handeln bens. Die Treue und die Verlässlichkeit Gottes Gottes vorausging. Gott hat den Menschen so stehen für die Botschaft dieses Evangeliums. W INFORMATIONSBRIEF 298

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Herausfordernde Visionen Otto Herbert Hajek

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ie Bibel hat das Gottesbild meiner Kindheit in Böhmen geprägt. Ich bin mit biblischen Geschichten aufgewachsen so selbstverständlich wie mit Märchen und Legenden. In der Gegend meiner Heimat hatten Armut und Arbeitslosigkeit, Volksfrömmigkeit und handwerkliche Fähigkeiten sich vielfältig verbunden zu reger Phantasie, die sich in künstlerischer Form äußerte. Es wurde gelesen, musiziert und Holz als Grundmaterial für handwerkliche Übungen benützt. So entstanden Gebrauchsgegenstände, Heiligenfiguren, auch Bilder, die von der Sehnsucht der Menschen erzählten. Ich hatte eine Vorstellung von diesem Gott der Kindheit als einem Wundertäter. Mit dem Wald, mit der Natur, aus der ich komme, hatte dieser Gott viel zu tun, und in meinen ersten Wahrnehmungen von Raum, Licht und Bewegung schien sich das Wunder anzukündigen, auf das ich mein Kinderleben lang wartete.

Als ich nach dem Abitur eine meiner ersten Bildhauerarbeiten schuf, 1947/48 den Christus aus dem Baumstamm, war es ein Ausdruck des gemeinsam erfahrenen Leides während des Krieges von Deutschen und Tschechen, von Kriegsteilnehmern und Hinterbliebenen. 20

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Die Wunder des Alten Testaments waren mir nicht weniger vertraut als die des Neuen: Moses und Aaron, der brennende Dornbusch, das Wasser aus dem Felsen, das Manna vom Himmel, der Weg des Volkes Israel durch die Wüste und die Teilung des Roten Meeres, ebenso wie die Speisung der Fünftausend, die Hochzeit von Kana, das Wandeln Jesu auf dem See und vor allem die Visionen der Johannesoffenbarung. Diese Bilder beflügelten meine Phantasie, und die Themen finden sich später immer wieder in meiner künstlerischen Arbeit. Vielmehr entdeckte ich sie im Kern meiner bildlichen Vorstellungen immer erst im Nachhinein, nach Vollendung einer Arbeit sowohl im Verlauf meiner eigenen Entwicklung als Bildhauer und Maler, als auch in der Begegnung mit Literatur und Kunst wurde mir zunehmend bewusst, wie stark unsere Metaphorik, unsere Einstellung zum Leben, unsere Moralvorstellungen jenseits oder unterhalb politisch ideologischer Artikulation von biblischen Gleichnissen bestimmt sind, wie sehr Altes und Neues Testament gemeinsam die kulturelle Grundlage unseres Selbstverständnisses bilden. Als Kind habe ich bildliche Darstellungen christlicher Inhalte auf Altarbildern und figürlichen Darstellungen als Skulpturen an Kirchen und Marterln oder als Kriegsdenkmale gesehen. Als ich nach dem Abitur eine meiner ersten Bildhauerarbeiten schuf, 1947/48 den Christus aus dem Baumstamm, war es ein Ausdruck des gemeinsam erfahrenen Leides während des Krieges von Deutschen und Tschechen, von Kriegsteilnehmern und Hinterbliebenen. Befremdet von einem Bildausdruck, der den ikonographischen Erwartungen nicht entsprach, wurde diese Arbeit von der Öffentlichkeit nicht angenommen. Heute nach nunmehr vierzig Jahren, ist dieser Christus im Rahmen einer Ausstellung in der Nationalgalerie Prag als anerkanntes frühes Werk meines bildnerischen Schaffens gezeigt und auch verstanden worden in seinem künstlerischen und historischen Bezug, der nicht Vorformuliertes nachillustriert, sondern anmahnend Zeichen setzt. Ich lernte das Nachkriegsdeutschland kennen, wurde ganz jung noch Zeuge des Zusammenbruchs aller Wertvorstellungen, gesellschaftlich gültiger Bindungen, existenzieller Verunsicherung. Vielleicht ist mir diese Zeit deshalb so unvergesslich scharf ins Gedächtnis gegraben, weil ich, obgleich deutschsprachig, doch aus einem anderen Land in das Ruinendeutschland gekommen war. Ich erlebte in diesen ersten Jahren, wie stark die Bibel wieder zur Richtschnur, zur Definition menschlicher GeINFORMATIONSBRIEF 298

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mm Der kirchliche Raum ist ein Lebensraum des Menschen, wie der Platz, wie die Stadt, es sind. In meinem Menschenbild, für das ich in jedem Zeichen neuen Ausdruck suche, gibt es keinen Riss zwischen einer religiösen und einer so genannten profanen ­Dimension, ebenso wenig wie es für mich keinen Schnitt zwischen m Altem und Neuem m Testament gibt. meinsamkeit wurde, angesichts der äußeren und inneren Desorientierung, und von daher erklärt sich die versammelte Kraft, die den Kirchen in den fünfziger Jahren zuwuchs. Bevor noch ein eigenes Zuhause geschaffen war, beteiligte man sich am Wiederaufbau der Gemeindesäle und Kirchen, die in den Trümmern zerstörter Wohnlandschaften Lebenszeichen, Menschenorte darstellten. Meine erste öffentliche Aufgabe in diesem Zusammenhang war die Michaelskirche in Stuttgart-Sillenbuch, der erste Kirchenneubau dieser Diözese 1952. Danach folgte die Renovierung der romanischen Klosterkirche St. Aurelius in Hirsau [im Nordschwarzwald], und ich erlebte zum ersten Mal, dass es jenseits der künstlerischen Auseinandersetzung eine parallel dazu gestellte Aufgabe zu bewältigen galt, nämlich die Vermittlung meiner Vorstellungen an die finanziellen Träger und Verwalter der staatlichen und kirchlichen Behörden. Die Spannungen meiner künstlerischen Autonomie und Verantwortung einerseits und der Indienstnahme meiner Arbeiten und ihrer Reduzierung auf religiöses Zweckdenken vonseiten der Kirchenleitung andererseits, führten beispielsweise 1956/57 zu einer Unterbrechung der Zusammenarbeit an der künstlerischen Mitarbeit der Kirche in Nürtingen. Heute, nach 31 Jahren, hat man mich 21


Der Kreuzweg vor dem Maria Regina Martyrum in Berlin-Plätzensee – gestaltet von Otto Herbert Hajek.

um Wiederaufnahme der Arbeit gebeten, und ich nehme diese Aufgabe mit großer Freude an, gibt sie mir doch Gelegenheit, nicht alte Pläne nun endlich durchsetzen zu können, sondern mich von neuem den herausfordernden Visionen der Offenbarung zu stellen, die Zeichen der Mahnung in einer Zeit des noch anhaltenden Friedens bei uns zu entdecken, in der Auslegung die eigene Imagination zu erweitern und die des Betrachters anzuregen, denn die Mahnzeichen finden nicht nur im Kreuz ihren einmaligen Abschluss. Die christliche Botschaft von Erlösung und Liebe, dem Wunder Christi, hebt nicht unsere menschliche Erfahrung von Leid, Zweifel und Unfassbarkeit auf. Wunder ereignen sich aus uns heraus, geschehen in konkreter Arbeit, in die unsere Naturwahrnehmung sich deutend umsetzt. Wir müssen uns bereiten, damit die Wunder, die Wandlungen sich an uns vollziehen können. Nur wenn wir uns auf den Weg machen und die Zeichen am Wege erkennen und selber Zeichen setzen, uns nicht abfinden und einrich22

ten in einer ewigen Alltäglichkeit, können wir die Wunder überhaupt erkennen. Eine der Gestalten des Neuen Testaments, die mich immer wieder beschäftigt hat, ist der Apostel Paulus, der mit der gleichen Energie und Unbedingtheit im Rahmen seiner personalen Struktur seinen Weg verfolgte, nur als ein Gewandelter, und zwar nicht von einem schlechten schlagartig zu einem guten Menschen, sondern als derselbe Mensch, erleuchtet von neuer Erkenntnis. Was ihm widerfuhr war ein radikaler Umwandlungsprozess. Dazu versuchte ich 1965 in meinem »Ein Buch der Briefe« eine Reihe von Serigraphien zu den Römerbriefen, diese nicht illustrativ zu bebildern, sondern die Wortmitteilung dieser Briefe einer Bildmitteilung gegenüberzustellen. Das göttliche Zeichen ist in der Überlieferung auf uns als Wortinhalte gekommen, gedeutet in der Sprache Luthers, die ich ihrer kräftigen und sperrigen Widerständigkeit wegen allen leichter verständlichen Sprachangleichungen vorgezogen habe. So forderten diese Briefe eine BildJUNI 2016

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sprache, die nicht nachdeuten will, sondern in einem dialektischen Wort-Bild-Verhältnis den Betrachter/Leser in einen neuen Berührungszusammenhang mit dem bekannten Text bringen möchte. Die existenzielle Voraussetzung, die das Paulus-Wunder der Wandlung auslöste, ist die in allen Gestalten vorhandene Glaubenskraft, die wir als Wunderträger oder Wunderopfer aus der Bibel kennen. Sie ist eine elementare menschliche Fähigkeit, die es uns ermöglicht, uns bis an den äußersten Punkt unserer Phantasie und Energie zu bewegen, um uns wunderfähig zu machen. In solchen Stationen, in langwierigen Arbeitsprozessen oder kreativen Schüben, die sogar die Zerstörung von Werken, die Abkehr von Zwischenergebnissen und Einsichten implizieren können, wird unsere Dimension, unser Gott-Welt-Verhältnis erkundet. Aus dieser Erfahrung verstehe ich meine künstlerische Arbeit und die Hervorbringungen meiner Phantasie, von mir »Ich-Zeichen« genannt, die sich in einem dialektischen Verhältnis zu den Aufgaben bewegen, die die Gesellschaft, eine bestimmte Gemeinschaft, eine Gemeinde, eine Kirche mir stellen; ob es sich nun um die Raumartikulation »Himmlisches Jerusalem« für die Kirche Mariahof in Trier, um die Heiliggeistkirche in Lemgo, oder das Gedächtnismal für den Widerstand und für die Opfer des Naziregimes in der Kirche Maria Regina Martyrum in Berlin-Plötzensee handelt, in all diesen Arbeiten gehe ich von Vorgegebenem aus. Der kirchliche Raum ist ein Lebensraum des Menschen, wie der Platz, wie die Stadt, es sind. In meinem Menschenbild, für das ich in jedem Zeichen neuen Ausdruck suche, gibt es keinen Riss zwischen einer religiösen und einer so genannten profanen Dimension, ebenso wenig wie es für mich keinen Schnitt zwischen Altem und Neuem Testament gibt. Es gibt nur andere Verknüpfungen, neue Sichtweisen in unserem heutigen gesellschaftlichen Zusammenhang. Dabei ist die Bibel für mich kein Anleitungsfaden zur Erlösung mit einer Losung für den Tag, keine Gebrauchsanweisung zur Lebenshilfe, es ist ein Buch der Weisheiten, aus dem wir uns alle bedienen in unserer kulturellen Artikulation. Erst als ich mir des Ausmaßes dieser Basis ganz bewusst geworden war, konnte ich auch die Bilder anderer Kulturen, anderer Religionen deuten und in Beziehung setzen zu meiner in Farbe, Licht und Bewegung sich auswirkenden, von den mosaischen Wundern bis zur Unbegreiflichkeit der Trinität reichenden, ganz personalen und zugleich betrachtenden Gemeinschaft bildenden Kosmologie. W INFORMATIONSBRIEF 298

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Otto Herbert Hajek 1927–2005 Lebte und arbeitete in Stuttgart und Karlsruhe; Professor für Bildhauerei an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe; Dr. h. c. Universität Tübingen. Seit 1949 Ausstellungen im In- und Ausland. Vortragsreisen mit Ausstellungen in die Länder Europas, Südamerikas, Aus­ tralien, Indien, Japan, Südostasiens und des Vorderen Orients verstand O. H. Hajek als einen Teil seiner künstlerischen Arbeit.

Quelle: Johannes Kuhn (Hg.), Manchmal setzt der Himmel Zeichen. Die Bibel in meinem Leben, Stuttgart 1989, Quell Verlag, Seite 101 bis 107. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers, Pfarrer Johannes Kuhn.

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Aus Kirche und Gesellschaft

idea hat neue Redaktionsleiterin Seit dem 1. März ist Daniela Städter neue Redaktionsleiterin des Informationsdienstes der Evangelischen Allianz (idea) mit Sitz im nordhessischen Wetzlar. Städter, die aus Gladbeck im Bergischen Land kommt, verheiratet ist und Geschichte und Politikwissenschaft studiert hat, ist mit 34 Jahren eine der jüngsten Redaktionsverantwortlichen – zumindest im christlichen Bereich. Sie folgt auf Wolfgang Polzer, der nach 34 Jahren Tätigkeit bei idea im vergangenen Herbst mit 65 in den Ruhestand trat. Städter war bereits seit Anfang 2013 mit einer Zweidrittelstelle für die Region ideaWest tätig und zu einem Drittel bei der idea-Medienagentur zeichensetzen. Jetzt verantwortet sie hauptsächlich den täglichen ideaPressedienst. Es gab außerhalb der Redaktion sechs Bewerbungen. Städter ist Vorsitzende der Evangelischen Allianz in Gladbeck. (Quelle der Nachricht: ideaSpektrum 10/2016 vom 9. März 2016, S. 14, Von Personen)

Sachsen: Gemeinde verhängt ­Verkündigungsverbot gegen einen »verpartnerten« homosexuellen Jugendwart aber das zuständige Regionalkirchenamt drängt auf Rücknahme des Beschlusses Mit großer Mehrheit hat der Kirchenvorstand der Nicolai-Kirchengemeinde in der erzgebirgischen Stadt Aue bereits Ende Oktober 2015 ein Verkündigungsverbot für den Bezirksjugendwart Jens Ullrich ausgesprochen, weil dieser Mitte Oktober mitgeteilt hatte, er habe seinen Partner José aus Venezuela »geheiratet«. Wie Pfarrer Jörgen Schubert mitteilte, »vertritt« »dieser Beschluss die Haltung eines Großteils der Gemeinde gut«. Auch die benachbarte Kirchengemeinde Lauter habe ein Verkündigungsverbot verhängt. Widerspruch kam jedoch Mitte Februar 2016 aus dem für Aue zuständigen Regionalkirchenamt in Chemnitz: Wenn bis zum 15. März die 24

Nicolai-Kirchengemeinde in Aue das Verbot nicht aufhebe, dann könne das Regionalkirchenamt nach Paragraph 47, Absatz 4 der Kirchengemeindeordnung diesen aufheben. Aus dem Landeskirchenamt in Dresden wurde verlautbart, die kirchengemeindliche Selbstverwaltung sei nach der Verfassung der sächsischen Landeskirche in einen geistlichen und rechtlichen Rahmen eingebunden, der zur Gemeinschaft verpflichte. Dieser Verpflichtung komme die Nicolai-Kirchengemeinde inzwischen aufgrund ihrer Entscheidung nicht nach. Denn auch bei unterschiedlichen geistlichen, rechtlichen und anderen Fragen sei Zusammenarbeit Grundvoraussetzung kirchlichen Wirkens. Außerdem gelte, was das Landeskirchenamt im September vergangenen Jahres erklärt habe: »Für die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens und ihre Kirchengemeinden stellt eine homosexuelle Orientierung weder ein Einstellungshindernis noch einen Grund für die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses dar.« Wieder einmal versuchen »vorgesetzte« Stel­ len Kirchengemeinden, die sich auch in ethischen Fragen, bei denen ihnen ein scharfer Gegenwind gewisser gesellschaftlicher und politischer Strömungen entgegenweht, mundtot zu machen; in diesem Fall, indem sie eine Verordnung anwenden, die nichts anderes ist als das »Einknicken« vor der Homo-Lobby und eine Kapitulation vor einer Diktatur der Minderheit(en). Dann ist es auch vollkommen gleichgültig, dass diese Stellen die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments gegen sich haben – im Gegensatz zu den erzgebirgischen Kirchengemeinden Aue und Lauter. Damit stehen gesellschaftliche und politische Strömungen über der Heiligen Schrift. Spannend dürfte indes sein, wie sich der sächsische Landesbischof Carsten Renzig verhalten wird, der doch als theologisch konservativ und persönlich fromm gilt: Wird er versuchen, sich »wegzuducken« oder gar gegen die Gemeinden agieren, wobei sich »wegducken« im Grund auch eine Aktion gegen die Gemeinden ist – er müsste diese stärken. Aber bekanntlich enttäuschen theologisch konservative und persönlich fromme Kirchen­obere meist mehr als ihre theologisch liberalen und politisch eher linken Kollegen. (Quelle des Kommentars: ideaSpektrum 10/2016 vom 9. März 2016, S. 31, Ost)

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Aus den Bekennenden Gemeinschaften Begründete Befürchtung des NbC: Pfälzische Landeskirche führt »Homosexuellen-Trauung«, die der zwischen Mann und Frau vollkommen gleichgestellt ist, »durch die Hintertür« ein. Dem Vorhaben der Evangelischen Kirche der Pfalz, das deren Kirchenpräsident Christian Schad (Speyer) bekanntgab, »Trauungen« homosexueller Lebensgemeinschaften, die in einer anderen Landeskirche vollzogen wurden, der Trauung zwischen Mann und Frau vollkommen gleichzustellen (mit Eintragung als offizielle Amtshandlung in den Kirchenbüchern), hat das »Netzwerk bekennender Christen« (NbC) in der Pfalz deutlich widersprochen. Die anderen Landeskirchen, deren Gebiet sich auch teilweise

über das Bundesland Rheinland-Pfalz erstreckt – Evangelische Kirche von Hessen-Nassau und Evangelischen Kirche im Rheinland – trauen nach entsprechenden Synodalbeschlüssen offiziell gleichgeschlechtliche Partnerschaften (mit Eintrag in die Kirchenbücher). Pfarrer Traugott Oerther (Landau in der Südpfalz) von der Leitung des NbC erklärte gegenüber dem Informationsdienst der Evangelischen Allianz (idea), damit könne die Trauung homosexueller Partnerschaften durch die Hintertür eingeführt werden. Er befürchtet, dass die pfälzische Kirche, bei der bis jetzt »nur« Segnungen homosexueller Partnerschaften möglich sind, demnächst auch die Trauung homosexueller Paare einführt. (Quelle der Nachricht: ideaSpektrum 8/2016 vom 24. Februar 2016, S. 31, Südwest)

Aus der Bekenntnisbewegung

Professor Armin-Ernst Buchrucker heimgegangen Bereits am 10. Februar, dem diesjährigen Aschermittwoch, ging im gesegneten Alter, wenige Tage nach seinem 93. Geburtstag, Professor Dr. Dr. Armin-Ernst Buchrucker in Wuppertal heim. Über Jahre war der profunde Theologe der Bekenntnisbewegung »Kein anderes Evangelium« eng verbunden. Er hat für deren Informationsbrief über längere Zeit Beiträge verfasst: Bibelauslegungen, Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, aber auch zu gegenwärtigen Zeitströmungen, wie etwa dem Feminismus, in welchem er bereits vor langer Zeit einen gefährlichen Feind für Theologie und Kirche, aber auch darüber hinaus für Kultur und Gemeinwesen erkannte. Dazu hat er bereits vor Jahren ein Buch verfasst. INFORMATIONSBRIEF 298

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Der am 29. Januar 1923 geborene Buchrucker war zunächst Glied der Evangelischen Kirche im Rheinland, wechselte dann aber zur Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK). Er hatte Lehraufträge in Wuppertal und Frankfurt am Main und nahm bis ins hohe Alter zahlreiche Predigtdienste wahr. Zu den Abendmahlsliedern schrieb er ein wegweisendes Buch: »Theologie der evangelischen Abendmahlslieder« (Erlangen 1988, Martin-LutherVerlag, 360 Seiten). Außerdem verfasste er über viele Jahre und bis ins hohe Alter Andachten für den »Feste-Burg-Kalender« und gehaltvolle Predigten für das »Homiletisch Liturgische Korrespondenzblatt«. 25


Aus der Arbeit der Bekenntnisbewegung Johannes Frey ist der neue Vorsitzende der Bekenntnisbewegung »Kein anderes Evangelium« Im Geschäftsführenden Ausschuss (GA) haben sich Veränderungen ergeben. Bei seiner letzten Sitzung am 30. April 2016 in Kassel hat der Bundesarbeitskreis (BAK) den bisherigen kommissarischen Vorsitzenden, Pfarrer Johannes Frey aus Stuhr bei Bremen, fast einstimmig zu seinem Vorsitzenden gewählt, was ihm einen großen Rückhalt verleiht. Er tritt damit in gewisser Weise die Nachfolge von Pfarrer Hansfrieder Hellenschmidt aus Filderstadt an, der vor gut zwei Jahren nach 17 Jahren Vorsitz diesen Posten altersbedingt nicht länger weiterführen wollte und inzwischen 81-jährig auch heimgegangen ist. Damit tritt wieder Regelmäßigkeit

und Kontinuität in der Leitung der Bekenntnisbewegung »Kein anderes Evangelium« ein. Neu gewählt wurde als Beisitzer für den Geschäftsführenden Ausschuss (GA) der Ingenieur Helmut Schlee, der aus dem Kreis Freudenstadt im Nordschwarzwald stammt, inzwischen aber berufsbedingt in Neukirchen-Vluyn am Niederrhein wohnt. In seinen frühen Jahren prägten ihn CVJM und EC. Seine derzeitige geistliche Heimat hat er in einer Gemeinde der Evangelischen Gesellschaft. Wiedergewählt als Schriftführer wurde Walter Rominger aus Albstadt-Ebingen.

Pfarrer Konrad Hirt heimgegangen Es ist noch gar nicht lange her, da konnte der badische Pfarrer Konrad Hirt zwei denkwürdige Ereignisse begehen: seinen 80. Geburtstag und zusammen mit seiner Frau die Goldene Hochzeit. Nun ist er, obwohl schon seit langem gesundheitlich angeschlagen, dann doch überraschend heimgegangen. Der in Leipzig geborene Theologe war Pfarrer in der hessischnassauischen Landeskirche und wechselte dann, als ihm dort der theologische und pfarramtliche Dienst zunehmend schwer gemacht wurden, in die badische Landeskirche. Als Schulpfarrer unterrichtete er bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand an einem Karlsruher Gymnasium. 26

Über Jahre gehörte er dem Bundesarbeitskreis (BAK) der Bekenntnisbewegung »Kein anderes Evangelium« an, ebenso der C ­ hristusBewegung in Baden. An der Arbeit der Bekenntnisbewegung »Kein anderes Evangelium« nahm er trotz seines angegriffenen Gesundheitszustandes regen Anteil und besuchte, wann immer er konnte, deren Veranstaltungen und gab bei Zusammenkünften des Bundesarbeitskreises (BAK) gehaltvolle Voten ab. Dankbar wird die Bekenntnisbewegung sich seiner erinnern. Er darf nun schauen, was er geglaubt hat.

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Buchrezensionen Elia: »Baal« oder »Jahwe« Der Prophet Elia und die Scheidung der Geister »heute«. Eine aktuelle alttestamentliche Besinnung Noch einmal, im Alter von über 90 Jahren, griff Eduard Haller (geboren 1922 in München), langjähriger Dozent für Altes Testament und Hebräisch am Missions- und Diaspora­ seminar im mittelfränkischen Neuendettelsau (14 Jahre) und anschließend lutherischer Pfarrer einer Berggemeinde in Toggenburg in der reformierten Schweiz (17 Jahre), zur Feder. Wenn ein so greiser theologischer Lehrer an seinem Alterswohnsitz, einem Altenheim in St. Gallen, noch einmal – und in diesem Umfang wohl zum letzten Mal – seine Stimme erhebt, dann wird er etwas Wichtiges zu sagen haben. Und in der Tat, so ist es. Dann tut man gut daran, zu verfahren wie bei Angehörigen, die kurz davor sind, heimzugehen und einzugehen in Gottes ewiges Reich: Man hört genau hin auf das, was sie sagen; letzte Worte sagen viel und wiegen schwer, werden beachtet und befolgt. So sollte auch mit dieser »aktuelle[n] alttestamentliche[n] Besinnung«, einer in unsere Zeit hineinsprechenden biblischen Meditation zum Propheten Elia, die zugleich zeitlose Gültigkeit beanspruchen darf, verfahren werden, die zeitlos insofern ist, dass sie ein den Glauben und das Leben beständig bedrohendes Phänomen in aller Deutlichkeit benennt, den »Baalismus«. Es ist die ernste Sorge um die evangelische Kirche (und nicht nur um sie) und wohl auch um einst von der Heiligen Schrift berührten Volksgemeinschaften. Der profunde Kenner des Alten Testaments zeigt denn auch auf, wie bereits beim Propheten Elia vor bald 3000 Jahren der Urgrund unliebsamer Erscheinungen, den kanaanäischen Fruchtbarkeitskulten, die den Jahweglauben durchdrangen und dann gänzlich obsolet werden ließen, derselbe gewesen ist, wie dies heute nicht weniger der Fall ist, etwa dem auch kirchlicherseits geförderten »Genderismus«: Es ist dieselbe gespielte und eingebildete Autonomie des Menschen, der meint, besser Bescheid wissen zu können als Gott selbst. Diese »Vergottung des Menschen ist die Proklamation des Nihilismus« (S. 96). Deshalb ist INFORMATIONSBRIEF 298

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der von Elia angeprangerte, damals im Schwange stehende Baalskult, der Gott der Menschen, der viele Namen haben kann, aber doch immer derselbe ist, unsterblich. »Baal ist alles, alles ist Baal«, wie Eduard Haller mehrmals betont (z. B. S. 22) – und zwar offensichtlich zumeist. Der Jahweglaube war von Anfang an gefährdet und ist oft gänzlich aufgesogen worden. So manches Mal wird dem Rezensenten bei der Beobachtung kirchlicher, politisch-gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungen der Jetztzeit zur Gewissheit, dies sei wiederum der Fall. Und zugleich macht der greise Autor in aller wünschenswerten Deutlichkeit klar, dass das Neue Testament ohne das Alte überhaupt nicht verstanden werden kann, gewissermaßen »das Alte Testament als ganzes die Voraussetzung alles urchristlichen Glaubens« ist (Ulrich Wilckens, Theologie des Neuen Testaments,  I/1,  S.  5f.), und erteilt damit allen Versuchen, das Alte Testament als minderwertig einzustufen und ihm kanonische Relevanz abzusprechen, wie dies erst vor kurzem wieder geschah, eine begründete Absage. Der Bußruf des Elia, eines ganz frühen Propheten, setzt sich fort im Bußruf der großen Propheten Jesaja, Jeremia und Hesekiel, über die kleinen bis zu Daniel und ergeht dann an der Schwelle zum Neuen Bund von Johannes dem Täufer und schließlich auch von Jesus 27


selbst; und es ist Elia, der als Repräsentant der alttestamentlichen Propheten neben Mose, dem Übermittler des Gesetzes, Jesus und seinen drei Jüngern Petrus, Johannes und Jakobus auf dem Berg der Verklärung erscheint. Und dieser Bußruf ist auch ein Zeichen der Heimsuchung, was mehr ist als Gerichtsansage, weil er eben auch noch die Möglichkeit der Umkehr eröffnet. Freilich, dieser Ruf, der den zum Amt der Kirche Berufenen aufgetragen ist und in die Nachfolge ruft, bringt kein leichtes, unbeschwertes Leben, vielmehr »sind« »die Lebensgeschichten der wahren Zeugen Gottes Leidensgeschichten« (S. 77) und führt Nachfolge, die aus dem Bußruf folgt, nicht zum Erfolg, sondern viel eher in die Verfolgung (so sinngemäß und treffend Reinhard Slenczka). Es ist dann so: »Im Angesicht des Kreuzes Christi wird die Selbsttäuschung autonomen Menschseins offenbar und wahres Menschsein durch die Liebe Gottes beginnt« (S. 107). »Die erzählenden, prophetischen wie weisheitlichen Überlieferungen des Alten Testaments durchzieht der mahnende und warnende Ruf zur ›Umkehr‹«, der »aus dem offenbaren Gericht« »heraus« »ins angebotene, erneute Heil« (S. 108) führt, das, seit mit Jesus, der Christus Gottes in dieser Welt erschien, dessen Namen trägt, in dem allein das Heil liegt – nicht in irgendwelchen kirchlichen Programmen, die sich von Soziologie und Demoskopie inspirieren lassen und Unternehmensberatern das Ohr leihen, wofür es doch Beispiele gibt (etwa das Impulspapier der EKD »Kirche der Freiheit«, 2006). Das wohl letzte Büchlein von Eduard Haller ist schmal, aber gewichtig. Es ist, darin gleich dem Bußruf des Elia über die anderen Propheten bis hin zu Johannes dem Täufer und Jesus selbst, ein Ruf zur Umkehr an eine selbstsäkularisierte Christenheit, die in der Gefahr steht, dem Nihilismus zu verfallen. Walter Rominger Eduard Haller Elia: »Baal« oder »Jahwe« Der Prophet Elia und die Scheidung der ­Geister »heute« Eine aktuelle alttestamentliche Besinnung 2. erweiterte Auflage Neuendettelsau 2015 Freimund-Verlag 112 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-94608-304-7 Das Buch ist über den Buchhandel oder auch direkt beim Freimund-Verlag zu beziehen: 28

Freimund-Verlag Missionsstraße 3 91564 Neuendettelsau Telefon (09874) 68933-0 Fax (09874) 68933-99 kontakt@freimund-verlag.de www.freimund-verlag.de

Gott der Herr regiert Der Kolosserbrief ausgelegt für die Gemeinde Schon mehrfach hat Karl Müller, hessischnassauischer Pfarrer mit reformiertem Hintergrund, der immer wieder aufleuchtet, Predigtbände vorgelegt, in welchen er ganze Bücher der Heiligen Schrift auslegt. Diese lectio continua deutet seine reformierte Haltung an. Doch es ist gut, dass den Predigthörern nicht allein ausgewählte Perikopen ausgelegt werden, sondern auch einmal ein ganzes biblisches Buch, so dass sie die Zusammenhänge dieser gesamten Schrift zu erfassen vermögen. Nun veröffentlicht Karl Müller eine Auslegung des Kolosserbriefes in sieben, für heutige Verhältnisse glücklicherweise eher jeweils umfangreichen Predigten. Dabei geht es ihm in seinen Predigten, die aus unterschiedlichen Anlässen gehalten wurden – nicht allein im »normalen« Sonntagsgottesdienst, sondern auch besondere Kasi zu berücksichtigen hatten: Himmelfahrt Christi, Konfirmation, Karfreitag, Pfingsten und schließlich seinen Abschiedsgottesdienst von der Gemeinde –, stets darum, das vorgelegte Schriftwort »zum Klingen zu bringen«, freilich so, dass er dabei nicht mehr oder weniger interessante Erlebnisse, Stories und Anekdoten oder gar etwas zum Lachen einfügt, sondern mit Glaubenstreue und Bekennermut am Wort der Bibel bleibt, und die Schrift durch und mit der Schrift auslegt, dabei freilich auch unbequeme Wahrheiten ausspricht, die heute gerne verschwiegen werden, um ja keinen Anstoß zu erregen, etwa die Verführung durch Fremdreligionen (Synkretismus) und aus dem ethischen Bereich. In einer Zeit, in der auch in Gottesdienst und Predigt alles beliebig geworden ist, erhält diese Auslegung zum Kolosserbrief besondere Aktualität und Brisanz. Denn es ist ja zutreffend, was der Mainzer Professor für Praktische Theologie, Rainer Volp, bereits vor vielen Jahren äußerte: »Die Krise der evangelischen Kirche ist die Krise ihres Gottesdienstes«; in hervorstechender Weise die ihrer Predigt, möchte ich das deutliche Diktum Volps ergänzen. Walter Rominger JUNI 2016

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Karl Müller Gott der Herr regiert Der Kolosserbrief ausgelegt für die Gemeinde Gambacher Predigten, Band 8 Haiger-Sechshalden 2015 106 Seiten 8,00 Euro zzgl. Porto Der lesenswerte Predigtband zum Kolosserbrief, der auch als Lesepredigt, zu Andacht und christlicher Meditation verwendet werden kann, ist unter folgender Bezugsadresse zu erwerben: Pfarrer Karl Müller Platz de Plombieres 4 35708 Haiger-Sechshalden Telefon (02771) 42255 Karl-Esther@web.de

Kritik der Bibelkritik Wie die Bibel wieder zur Heiligen Schrift werden kann Ulrich Wilckens (geboren 1928), weltweit geachteter und beachteter Professor für Neues Testament und geschätzter lutherischer Bischof der Hansestadt Lübeck (1981–1991), legt in dieser beachtlichen Monographie, die ein leidenschaftlicher Appell ist, die Bibel – wieder – als Heilige Schrift der Christen anzuerkennen, seinen Finger in die seit der Aufklärung schwärende Wunde im Verständnis der Bibel. Denn im Gegensatz zum Selbstverständnis der biblischen Schriften und den Zeiten bis zur Aufklärung, in denen die Bibel zu Recht als Rede des lebendigen Gottes, als Wort Gottes, verstanden wurde, bedeutet die Aufklärung insofern eine entscheidende Zäsur, dass seit ihr die Bibel lediglich als eine Sammlung religiöser Schriften verstanden wird, wie es so viele gibt, in welcher Menschen ihre subjektiven Erfahrungen zum Ausdruck bringen. Damit hat, worauf Wilckens hinweist, ein Subjektwechsel stattgefunden: von Gott zum Menschen, der faktisch in all den Jahrhunderten nicht überwunden wurde, so dass die Auslegung der Bibel in ihrem Mainstream (zumindest in Europa) seit einigen Jahrhunderten die immer wieder gleichen Erklärungsmuster bereithält und immer wieder in vom Menschen aus gedachte Aufklärungstheologie zurückfällt. In einem ausführlichen ersten Teil (Teil I: Die Geschichte der historisch-kritischen Exegese, S. 15–115) zeigt Wilckens die Geschichte INFORMATIONSBRIEF 298

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der Auslegung der Bibel seit der Aufklärung auf. Der Grundirrtum ist, dass nicht mehr von Gott, sondern – ganz im Geist der Aufklärung – vom Menschen ausgegangen wird. Im Grunde genommen ist es, trotz einzelner positiver Ansätze und Aufbrüchen eine Verfallserscheinung. Es kann der Eindruck entstehen, mit jeder Theologengeneration sei ein weiteres Stück dessen, was als Grundbestand von Theologie und Kirche, vor allem aber des Glaubens, feststand, weggebrochen, wobei der subjektiv gute Wille derer, die maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligt waren, keineswegs bestritten werden darf. Sie handelten oftmals in apologetischer Absicht (z. B. Rudolf Bultmann, aber auch Friedrich Schleiermacher, der Ahnherr liberaler Theologie). Vereinzelte positive Ansätze und Aufbrüche in der Bibelauslegung (etwa die Erlanger Theologie, Adolf Schlatter) vermochten keine durchgreifende Änderung herbeizuführen, weil sie zu sehr in der Negation aller herrschenden »Schultheologie« verharrten (Schlatter), oder letztlich auch zu sehr selbst im selben Subjektivismus, wie ihn die Aufklärungstheologie pflegte, gefangen waren (etwa ein Großteil des Pietismus, aber auch die heilgeschichtlich orientierte Erlanger Theologie, die vom Subjektivismus Schleiermachers angekränkelt war). Nachdem auch die Dialektische Theologie (vor allem Karl Barth und seine Schule/Schüler, aber auch Rudolf Bultmann und seine Schule/Schüler) ausgelaufen sind, herrscht zurzeit eine theologisch liberale, subjektive Willkür. Ist Wilckens auch der Überzeugung, durch die historisch-kritische Exegese (die im Grunde genommen eine atheistische Methode ist), werde die Bibel ihrem Leser fremd, so will er bewusst nicht in einen Fundamentalismus verfallen und alles in Bausch und Bogen ablehnen, weil dadurch »nur Verfestigungen der Gegensätze und entsprechende Polarisationen« entstünden (S. 14). Er untersucht gerade in seinem ersten Teil »mit der gleichen Methode, mit der die Tradition historischer Kritik die biblischen Texte zu verstehen suchte, die historische Bibelkritik selbst historisch-kritisch auf die sie leitenden Motive« (S. 14). In seinem zweiten Teil (Teil II: Wie kann die historisch ausgelegte Bibel wieder zur Heiligen Schrift werden? S.  116–170) plädiert Wilckens dafür, die Bibel als das anzuerkennen, was sie sein will, und bis zur Aufklärung traditionell in allen Konfessionen auch war: das Wort des lebendigen Gottes. Er tritt damit dafür ein, dass Gott wieder Gott wird und das lebendige Gegenüber des Menschen. Deshalb setzt er in diesem dogmatisch orientierten Teil mit der Gottesfrage ein (S.  116ff.), schließt dem Jesus 29


Christus (S.  126ff.) an, den Sohn Gottes, der um der Sünde der Menschen willen starb und von Gott auferweckt wurde. Dem folgt die Eschatologie (S.  138ff.) und dieser »Das Wirken des Geistes in der Kirche« (S. 144ff.) und schließlich die »Hermeneutik der Auslegung der Bibel als der Heiligen Schrift« (S. 148ff.). In alledem orientiert sich Wilckens an der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments, deren Zusammengehörigkeit er betont und sich für eine »kanonische Exegese« als einer Auslegung, die der Heiligen Schrift gerecht wird, ausspricht. Ist klar, dass die Bibel die Rede des lebendigen Gottes ist und zum Glauben ruft und diesen schafft und erhält und somit Heilige Schrift ist, dann haben durchaus ganz verschiedene Methoden wissenschaftlicher Exegese mit Ausnahme der »Sachkritik«, welche auszuscheiden ist, ihre Bedeutung und ihre Berechtigung, wie Wilckens in seinem letzten Abschnitt deutlich macht (S.  158ff.). Das Buch zeugt von großer Kenntnis. Wer wissen will, wie es zu diesem beklagenswerten

theologischen Kahlschlag, unter dem wir leiden, gekommen ist, der erfährt dies. Überzeugend ist das Buch deshalb, weil es nicht beim Aufzeigen und der Analyse von Fehlern und Irrwegen stehen bleibt, sondern auch den überzeugenden Versuch unternimmt, einen Ausweg aus dieser empfundenen Sackgasse zu weisen. Ist es auch nicht so nebenbei zu lesen, sondern verlangt eine gehörige Portion an Gedankenarbeit, so ist seine Lektüre doch ein großer Gewinn. Dieses Alterswerk des greisen Bischofs ist nachhaltig zu empfehlen. Walter Rominger Ulrich Wilckens Kritik der Bibelkritik Wie die Bibel wieder zur Heiligen Schrift werden kann 2. Auflage Neukirchen 2014 (1. Auflage 2012) Neukirchner Verlagsgesellschaft Neukirchner Theologie 172 Seiten, 16,99 Euro ISBN 978-3-7887-2603-4

Liebe Leserinnen und Leser, Seit 1. Februar gelten neue Regeln für den europaweiten Zahlungsverkehr. Banken und ­Sparkassen dürfen keine Zahlungsaufträge mehr mit der Angabe der Kontonummer und ­Bankleitzahl entgegennehmen. Es muss bei Überweisungen und Lastschriften die IBAN ­angegeben werden. Wir bitten Sie daher nur noch Einzahlungsscheine ab Heft April 2016 zu verwenden!

Mitarbeiter an diesem Heft: Pfarrer i. R. Johannes Kuhn Teutonenstraße 15 70771 Leinfelden-Echterdingen Pfarrer Gerhard Naujokat In den Sandbergen 7 27283 Verden an der Aller Telefon (04231) 8705340

Walter Rominger Mehlbaumstraße 148 72458 Albstadt Telefon und Fax (07431) 74485 E-Mail: w.rominger@t-online.de

Professor Dr. Reinhard Slenczka, D. D. Spardorfer Straße 47 91054 Erlangen Telefon und Fax (09131) 24139 E-Mail: Grslenczka@aol.com

Pfarrer Markus Sigloch Marbacher Straße 23 71563 Affalterbach Telefon (07144) 37014 Fax (07144) 881084 E-Mail: markussigloch@web.de

Für den Inhalt der Artikel sind die jeweiligen Verfasser verantwortlich. Die Meinung des Verfassers deckt sich nicht in allen Fällen mit der des Schriftleiters.

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Nachfolge f端hrt nicht zum Erfolg, sondern in die Verfolgung. Reinhard Slenczka


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