Informationsbrief Juni 2017

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Aus dem Inhalt

Neues aus Kirche und Welt Aus Lehre und Verkündigung Die Wurzeln der Reformation in der Seelsorge – ein Ruf zur Mitte Thesen zum Reformationsjubiläum 2017 Johannes Calvin – Leben und Werk Ursula von Münsterberg Offener Bundesarbeitskreis in Kassel: Einer für alle: Christus allein Die reformatorischen »allein« Buchrezensionen

ISSN 1618-8306

Juni 2017 Nr. 304

Bekenntnisbewegung »Kein anderes Evangelium«


kurz+bündig Personen EJW: neuer Leiter

Zum neu­ en Leiter des Evangelischen Jugendwerkes in Württemberg (EJW) mit Sitz in Stuttgart ist der in Hechingen bei Tübingen aufgewachsene Pfarrer Corne­ lius Kuttler ernannt worden. Er folgt auf Gottfried Heizmann, der in den Vorstand der »Zieg­ lerschen« in Wilhelms­dorf gewechselt hat (vgl. Informa­ tionsbrief 301 vom Dezember 2016, S. 2). Das EJW ist der größte konfessionelle Jugend­ verband in Baden-Württem­ berg.

deskirche), seit 1997 Rektor des Instituts für Ökumenische Forschung in Straßburg, hat die Ehrendoktorwürde der Katholisch-Theologischen Fakultät Erfurt erhalten. Damit soll die akademische Leistung Dieters gewürdigt werden. Dieter habe sich bei der Erforschung der Theologie Martin Luthers um den damit verbundenen ökumenischen Dialog mit der römischkatholischen Kirche verdient gemacht.

Bibel »Einheitsübersetzung« überarbeitet

Der brasilianische Befrei­ ungstheologe Leonardo Boff berichtete, er habe Material für die Umweltenzyklika »Lau­ dato si« von Papst Franziskus geliefert. »Er hat meine ganze Literatur gelesen und immer geschätzt.« Von Kardinal Rat­ zingers Glaubenskongregation war Boff gemaßregelt worden.

Nur einen guten Monat nach der neuen Revision der Lutherbibel (Luther 2017) kam am Nikolaustag 2016 die überarbeitete Ausgabe der römisch-katholischen »Einheitsübersetzung« in den Handel. Nachdem die 1979 erschienene »Einheitsüberset­ zung« 30 Jahre in Gebrauch war, habe es einer »modera­ ten Revision« bedurft, sagte Altbischof Joachim Wanke, der Vorsitzende des Leitungsgre­ miums für die Revision. Sie sei näher am Urtext und korrigie­ re Übersetzungsfehler.

Ökumene

Evangelikale

Evangelischer Lutherforscher wird katholischer Ehrendoktor

»Christen in der Wirtschaft«: auf Stäbler folgt vom Ende

Katholische Kirche Befreiungstheologe Leonardo Boff

Der Lutherforscher Theodor Dieter (geboren 1951, Pfarrer der württembergischen Lan­ 2

bisherige Vorstandsreferent Inland und Pressesprecher bei ERF Medien (Wetzlar), Michael vom Ende (55), der auf Hans-Martin Stäbler (65) folgt, der in den Ruhestand ging. Vom Ende ist gelernter Kaufmann, Theologe und Kommunikationsfachmann und wirkte als Pastor in Frankfurt, Bad Homburg und Marburg sowie als Öffentlichkeitsreferent der Marburger Mission, bevor er zu ERF Medien wechselte. Stäbler war von 1978 bis 1990 Jugendreferent und Evangelist im Evangelischen Jugendwerk in Württemberg (ejw) und im CVJM-Landes­ verband, von 1990 bis 2012 Generalsekretär des CVJMLandesverbandes Bayern, anschließend theologischer Referent für ERF Medien. Für seine Verdienste in der Jugendarbeit erhielt er 2014 das Bundesverdienstkreuz.

Diaspora

Bischof Rentzing neuer Präsident des Martin-Luther-Bundes

Neuer Generalsekretär des Verbandes »Christen in der Wirtschaft« (Würzburg) ist der

Der Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Sachsen, Carsten Rentzing (Dres­

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den) ist neuer Präsident des Martin-Luther-Bundes. Der Martin-Luther-Bund, das Diasporahilfswerk der Vereinig­ ten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) benötigte einen neuen Präsi­ denten, da der bisherige, der ostbayerische Regionalbischof Hans-Martin Weiss (Regens­ burg), der dieses Amt seit 2008 innehatte, dieses krankheitsbe­ dingt aufgeben musste.

Kirchentag Dritter »Ökumenischer Kirchentag« in Frankfurt

Der dritte so genannte »Ökumenische Kirchentag« soll vom 12. bis 16. Mai 2021 in Frankfurt am Main stattfinden. Die ersten beiden ökumeni­ schen Treffen wurden 2003 in Berlin (200 000 Teilneh­ mer) und 2010 in München (125 000 Besucher) veranstal­ tet. Der Deutsche Evangelische Kirchentag war bereits viermal in der Mainmetropole: 1956, 1975, 1987 und 2001.

Reformationsjubiläum Mehrheit: Reformationstag soll dauerhafter Feiertag sein

68 Prozent der Baden-Würt­ temberger wünschen sich den Reformationstag als dauerhaf­ ten Feiertag in Deutschland. Deutschlandweit sprachen sich im Schnitt sogar 72 Prozent dafür aus. Zum Reformati­ onsjubiläum 2017 ist der 31. Oktober einmalig allgemeiner Feiertag in ganz Deutschland.

Ethik Homosexuelle: Mehrheit findet Ehe für alle gut

Nach einer Umfrage im Auf­ trag der Antidiskriminierungs­ stelle des Bundes (ADS) soll die große Mehrheit der Deutschen finden, dass Lesben, Schwule und Bisexuelle rechtlich kom­ plett gleichgestellt werden sollen. Demnach stimmen 83 Prozent der Aussage zu, Ehen zwischen zwei Frauen oder zwei Män­ nern sollten erlaubt sein. »Die Zustimmung zur Gleichstellung bei der Ehe war noch nie höher«, sagte die Leiterin der ADS, Christine Lüders.

kurz+bündig

Personen +++ Kirchen +++ Glauben +++ »Modernes Leben«

Folge zunehmender Säkularisierung Mehr Urnengräber

Immer weniger Menschen wünschen sich ein klassisches Grab auf dem Friedhof: Während 2004 noch 39 Prozent der Bürger als bevorzugte Bestattungsart die Sargbestattung angaben, sind es inzwischen nur noch 24 Prozent, so Thorsten Baege, der Geschäftsführer der Genossen­ schaft Badischer Friedhofsgärtner. Dadurch gebe es auf den Friedhöfen immer mehr Leerflächen und verschärfe sich die finanzielle Situation der kommunalen Friedhofsverwaltun­ gen. Gründe für diese Entwicklung seien eine zunehmende Säkularisierung, verändertes Traditionsbewusstsein und ein Wandel in der Gesellschaft, der mit mehr Mobilität einherge­ he. Daher bevorzugten immer mehr Menschen eine Wald­ bestattung, anonyme Urnengräber oder das Verstreuen der Asche über einem Aschefeld im benachbarten Frankreich.


kurz+bündig Evangelisation

Islam

Kultur

»Die Boten« –– seit 60 Jahren christliche Bühne

Angst vor Islamisierung

Europäischer Kirchen­musikpreis für Wolfgang Rihm

Vor 60 Jahren gründete die Schweizer Familie Erich und Heidi Dentler die christliche Bühne »Die Boten«. Seither ist das Familienensemble mit Ver­ kündigungsspielen unterwegs, hauptsächlich in Kirchen und Gemeindehäusern. Jährlich gibt die Familie Dentler zudem drei Mal ein 32 Seiten umfassendes Heft heraus, ebenfalls unter dem Namen »Die Boten«. »Die Boten« sind unter der folgenden Adresse erreichbar: Die Boten – Dentler’s Christliche Bühne Friedaustrasse 10 CH-8355 Aadorf TG Telefon: +41 (0)52-3653289 E-Mail: info@dieboten.ch Internet: www.dieboten.ch

Ausbildung Johanneum hat neuen ­Direktor: Martin Werth

Die Evangelistenschule Johanneum in Wuppertal hat einen neuen Direktor: Martin Werth (55). Er ist Nachfol­ ger von Burkhard Weber, der im Dezember 2016 an einer schweren Krankheit verstorben ist. Werth war zunächst CVJMSekretär und ist seit 1997 Dozent am Johanneum. Er ist stellveretretender Präses des CVJM-Westbundes, Vorstands­ mitglied des Christivals und stellvertretendes Mitglied der Kirchenleitung der Evangeli­ schen Kirche im Rheinland. 4

Die Mehrheit der Deut­ schen, nämlich 57 Prozent, hat Angst vor einer Islamisierung. Selbst jeder vierte Muslim hier­ zulande befürchtet: »Flüchtlin­ ge« bringen Kriminalität und Terror. Islamkritiker Udo Ulfkotte †

Im Alter von erst 56 Jahren ist der Publizist Udo Ulfkotte bereits zu Beginn dieses Jahres verstorben. Von 1988 bis 2003 schieb er für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Schon früh gehörte er zu den Kritikern des Islam und warnte vor einer schleichenden Islamisierung Deutschlands. In vorauseilendem Gehorsam gegenüber dem Islam werden, so Ulfkotte, Werte und das Rechtssystem in Deutschland verändert. Zudem gebe es eine Selbstzensur der Medien. Er verfasste den Bestseller »Ge­ kaufte Journalisten«.

Gesellschaft Migrationswellen befürchtet

Europa muss sich nach Einschätzung von Reiner Klingholz, dem Vorstand des Berlin-Instituts für Bevölke­ rung und Entwicklung auf eine anhaltende Einwanderung aus anderen Kontinenten einstel­ len. »Die größten Migrations­ wellen kommen erst noch.« »Wir können nicht sagen, dass wir am Ende sind.« In einer Studie hatte Klingholz von ei­ nem »Pulverfass vor den Toren Europas« gesprochen.

Der aus Karlsruhe stammen­ de und an der dortigen Mu­ sikakademie als Professor für Kompositionslehre wirkende Wolfgang Rihm (geb. 1952) erhält den diesjährigen Preis der Europäischen Kirchenmu­ sik. Damit wird gewürdigt, dass Rihm, der als der derzeit bedeutendste deutsche Kom­ ponist gelten darf, in seinem kompositorischen Schaffen immer wieder kirchenmusikali­ sche Themen aufgreift (etwa in seiner Lukaspassion). »Danke-Lied«-Komponist Martin Gotthard Schneider †

Der durch das Kirchen­ lied »Danke für diesen guten Morgen« bekannt gewordene Komponist und Theologe Martin Gotthard Schneider ist im Alter von 86 Jahren in Konstanz, seiner Geburtsstadt, verstorben. »Danke« schaffte es 1963 als bisher einziges Kirchenlied sechs Wochen lang in die deutschen Hitlisten. Es wurde weltweit in mehr als 25 Sprachen übersetzt. 1996 wurde »Danke« in das Evangelische Gesangbuch aufgenommen. Im gleichen Jahr erhielt Schneider für sein musikalisches Schaffen das Bundesverdienstkreuz am Ban­ de. Er studierte evangelische Theologie und Kirchenmusik in Heidelberg, Tübingen und Basel. Ab 1970 war er Kantor in Freiburg und von 1973 bis 1995 Landeskantor der Evangelischen Landeskirche in Baden.

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Aus Lehre und Verkündigung mm Die Sünde hat nur zwei Orte, wo sie ist. Entweder ist sie bei dir, dass sie dir auf dem Hals liegt, oder sie liegt auf Christus, dem Lamm Gottes. Wenn sie nur dir auf dem Rücken liegt, so bist du verloren; wenn sie aber auf Christus ruht, so bist du frei und wirst selig. Nun greife zu, welches du willst.

mm Dass Christus das Lamm Gottes ist, das unsere Sünden trägt, dass Christus der Weg , die Wahrheit und das Leben ist, dass kein Werk sonst daneben hilft, das ist das Bekenntnis der Reformation.

mm Bete! Durch Gebet weicht der Staub von der Seele und die Last vom Gewissen und die Angst aus dem Herzen. Der Mensch wird frei, die Fesseln fallen.

mm Weil wir auf die große Ewigkeit hoffen dürfen, stehen wir erst recht mit beiden Füßen in der Wirklichkeit unseres Lebens.

Volkmar Herntrich

Martin Luther

Hermann Bezzel

Friedrich von Bodelschwingh

mm Der Auferstandene trägt auf ewig die Nägelmale seiner Kreuzigung. Der Erhöhte erscheint dem Seher Johannes als das Lamm mit der Schächtwunde – nur so ist er der Sieger. Bischof i. R. Ulrich Wilckens

mm Wie alle alttestamentlich-jüdische Eschatologie in ihrem Wesen Theologie ist, so ist alle neutestamentliche Eschatologie Christologie oder präziser Theologie als Christologie. Sie spricht von Gottes endgültigem Heilshandeln in Jesus Christus, in seinem Wirken und in seinem Geschick. Sie setzt die Einheit Jesu mit Gott voraus, die Einheit des Sohnes mit dem Vater und des Vaters mit seinem Sohn. Weil Gott ist, indem er handelt, besteht die Einheit zwischen Vater und Sohn in der völligen Gemeinsamkeit und Übereinstimmung ihres Handelns. Weil sich diese Einheit in der Geschichte Jesu zum endgültigen Heil für alle Menschen verwirklicht hat, hat diese Geschichte endzeitliche Qualität. In ihr kommt Gottes Heilshandeln zu seinem letzten Ziel. Bischof i. R. Ulrich Wilckens

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mm Noch kämpft die Nachtm mit dem Tagm noch scheint die Finsternis zu siegenm aber Gottes Licht m kann niemand finster machenm Noch streitet die Welt m mit Gottm noch scheint die Mehrheit m zu siegenm aber Gottes Lichtm kann niemand aufhaltenm Noch bläht sich Ungeistm gegen Gottes Geistm noch scheinen die Mächtigenm zu bestimmenm aber dass Jesus siegtm bleibt ewig ausgemacht

Hermann Traub (†)m Meditation zu einer Übertragung zu 1.Johannes 2,8f.

mm Die Finsternis vergeht,m und das wahre Licht scheint jetzt.m Wer sagt, er sei im Licht,m und hasst seinen Bruderm oder Schwester, der stecktm noch in der Finsternis. Meditation von Hermann Traub (†)

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Die Wurzeln der Reformation in der Seelsorge –– ein Ruf zur Mitte Die Kirche der Zukunft wird eine Kirche der Seelsorge sein –– oder sie wird nicht sein Das Reformationsjubiläum –– Was gibt es zu feiern?

Rainer Mayer Die Anschrift des Autors finden Sie auf Seite 30

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Das Jahr 2017 bringt den Höhepunkt der Feiern zum 500. Reformationsjubiläum. Der 31. Oktober wird in diesem Jahr in allen deut­ schen Bundesländern einheitlich sogar als staat­ licher Feiertag begangen. Was gibt es zu feiern? Warum am 31. Oktober? Martin Luther, die Hauptgestalt der Refor­ mation in der abendländischen westlichen Kir­ JUNI 2017

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che – indirekt durch seine Wirkungen übrigens auch ein Reformator der römisch-katholischen Kirche – wurde am 10. November 1483 gebo­ ren und starb am 18. Februar 1546. Der im evangelischen Bereich jährlich began­ gene Reformationstag findet aber weder an sei­ nem Geburtstag im November noch an seinem Todestag im Februar statt. Der Reformationstag wird stets am 31. Oktober begangen, denn am 31. Oktober 1517 schlug Luther, so heißt die Überlieferung, 95 Thesen zum Thema Buße und Ablass an die Tür der Schlosskirche zu Wit­ tenberg an. Dass dieses Datum gewählt wurde, ist gewiss sinnvoll, denn so wird deutlich, dass es weniger um die Person Martin Luthers selbst geht, als um das, was seine Gestalt geschichtlich bewirkt hat. Und diese Wirkung nimmt ihren geradezu explosiven Ausgang beim Thesenanschlag, sie ist vielfacher Art. Die Vielfalt spiegelt sich in der Vorbereitung zum Jubiläum von 2017. Dazu hatte die Evan­ gelische Kirche in Deutschland (EKD) eine »Reformationsdekade« bzw. »Lutherdekade« ausgerufen. Jedes vorauslaufende Jahr stand un­ ter einem eigenen Thema: WW 2008: Eröffnung der »Lutherdekade« in Lutherstadt Wittenberg, denn 1508, fünfhundert Jahre zuvor, war Luther erstmals nach Witten­ berg gekommen. Er wurde damals von seinem Orden an das dortige Augustinerkloster und die neu gegründete Universität versetzt. Die weite­ ren Themen der Dekade lauteten: WW 2009: Reformation und Bekenntnis WW 2010: Reformation und Bildung WW 2011: Reformation und Freiheit WW 2012: Reformation und Musik WW 2013: Reformation und Toleranz WW 2014: Reformation und Politik WW 2015: Reformation, Bild und Bibel WW 2016: Reformation und die eine Welt. Das Jahr 2017 wird also nun mit vielen kirch­ lichen und kulturellen Veranstaltungen, Tagun­ gen und mit großen Ausstellungen sowie einem staatlichen Feiertag als Höhepunkt begangen. Schaut man sich diese Themenfülle an und auch das in diesem Zusammenhang verbreite­ te Lutherbildnis (siehe linke Seite; man nimmt zur Betrachtung am besten eine Lupe), dann fragt man sich, was in der Fülle dieser Stichwör­ ter zentral wichtig ist. In den Schriftzügen des obigen Bildes ist »Seelsorge« jedenfalls nicht zu finden. Möglicherweise versteckt sich Seelsor­ ge in den ersten Themen der Dekade. Luthers Mönchtum z.  B. und das Bekenntnis haben zweifellos auch mit Seelsorge zu tun, aber eben nur indirekt. INFORMATIONSBRIEF 304

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Die vielfältigen Wirkungen der Reformation sind unbestritten. Doch um was es zentral geht, und was diese Wirkungen auslöste, das darf in der Fülle der Themen nicht untergehen! Von was handeln denn die 95 Thesen, die ja als Aus­ gangsereignis der Reformation gefeiert werden? Genau hier müsste doch das Zentrum, der »ex­ plosive Kern« der Reformation, zu suchen und zu finden sein. Und das ist wichtig! Denn jeder Impuls wird mit der Zeit schwächer, wenn er nicht stets vom Ursprung her erneuert wird. Wir sind als Christen aufgefordert, da wir nun schon ein Reformationsjubiläum begehen, es richtig und angemessen zu begehen. Ein katho­ lischer Theologe schrieb dazu letztens: »Es ist nicht mehr Luther drin, wo Luther draufsteht […].« Dagegen nützen dann auch LutherSocken (»[…] ich stehe hier […]«), LutherPlaymobil-Männchen, Luther-Bierdeckel sowie Luther-Bonbons nicht. Ein evangelischer Uni­ versitätstheologe schrieb ähnlich über das Re­ formationsjubiläum: »Unglücklich bin ich über dessen bisherigen Verlauf. Immer wieder dräng­ te sich mir der Eindruck auf, dass der Kern von Luthers Anliegen in der Öffentlichkeit kaum noch zur Geltung gebracht worden ist. Biswei­ len schienen mir Kirche und Theologie Luther ein Staatsbegräbnis erster Ordnung bereiten zu wollen […] Worin liegt denn der Kern von Lu­ thers Denken? Gewiss nicht in seiner Polemik […] Für mich liegt er in dessen Verständnis von Gott und vom Menschen und in der Konse­ quenz in einer revolutionären Veränderung der Auffassung vom Glauben.« Man versteht nicht, warum manche Kirchen­ leute und Theologen sich über Luther betont kritisch äußern. Man misst Luther an dem, was heutzutage als wichtig und politisch korrekt gilt. Will man besser sein als Luther? Da heißt es dann, die Reformation sei gegenüber dem Katholizismus »erst einmal nicht tolerant ge­ wesen«. Luthers späte polemische Äußerungen über Juden, seien »ein belastendes Erbe«. Auch sei er »kein großes Beispiel für Toleranz gegen­ über dem Islam« gewesen. (Dabei lagen damals die Türken vor Wien!) Wiederholt wird »To­ leranz« als oberster Richtwert hervorgehoben. Aber was heißt denn Toleranz? Was gehört dazu und was nicht? (vgl. Maulbronner Kreis, Rund­ brief Nr. 38 zum Thema »Toleranz«.) Übri­ gens spielte Luthers späte Judenfeindlichkeit in der Geschichte der Evangelischen Kirche keine Rolle. Erst die Nazis haben sie wieder hervor­ gezogen. Soll man in deren Fußstapfen treten? Worauf es Luther selbst zentral ankam, spiegelt sich in einer Predigt vom 25. November 1537, in der er auf die damalige Türkengefahr einging: 7


»Ich bin nicht gern Prophet. Aber […] die Menschen sind unbußfertig, es ist kein Hören. Darum wird Deutschland überm Haufen fallen.« Wir wollen uns also dem Zentrum zuwenden.

Wie es zum Thesenanschlag kam Der Allerheiligentag (1. November) war in Wittenberg jedes Jahr ein Festtag. Kurfürst Friedrich der Weise ließ an diesem Tag die von ihm gesammelten Reliquienschätze seines Al­ lerheiligenstiftes in der Schlosskirche ausstellen. Mancherlei Merkwürdiges kam da zusammen, u. a. ein Stachel der Dornenkrone Jesu oder Stücke aus seiner Krippe, Teile von Jesu Win­ deln, Haare Marias und vieles der Art mehr. Friedrich der Weise war ein eifriger Sammler von Reliquien, die damals auch ein wertvolles finanzielles Kapital darstellten. Die Besucher der Ausstellung konnten einen Ablass abzubüßen­ der Sündenstrafen von bis zu zwei Millionen Jahren Fegefeuer erhalten. Nun wollen wir uns nicht über solch spät­ mittelalterlichen Missbrauch erheben. Derarti­ ges gibt es heute nicht mehr. Doch andererseits muss man ebenfalls wissen, was Ablass ist. Ihn gibt es heute noch. Er ist »Erlass einer zeitlichen Strafe vor Gott für Sünden, die hinsichtlich der Schuld schon getilgt sind« (Codex Iuris Cano­ nici, 992). Das heißt: In der Beichte wird dem Beichtenden die Vergebung der Schuld für die Ewigkeit vollgültig zugesprochen. Zum Zeichen der Bußbereitschaft sind jedoch noch »zeitliche Strafen« abzuleisten. Wenn das unterbleibt, wer­ den sie im Fegefeuer zu büßen sein. In der spät­ mittelalterlichen Frömmigkeit konzentrierte sich nun alles auf die Angst vor dem Fegefeuer, das als wirklich brennendes Feuer verstanden wurde, in dem man gegebenenfalls hunderte, ja tausen­ de Jahre zu verbringen hatte, bis alle zeitlichen Strafen abgebüßt sind, so dass man danach end­ lich in die ewige Seligkeit eingehen kann. Das Entscheidende war aber, dass niemand genau zu sagen vermochte, ob die »zeitlichen Strafen« hinreichend abgebüßt waren, um dem Fegefeu­ er zu entgehen. Übrigens konnte man seit 1476 Ablass auch für Verstorbene erwerben (Bestim­ mung von Papst Sixtus IV.), um deren Fegefeu­ eraufenthalt abzukürzen. Wer wollte das nicht z. B. für seine Eltern tun? Um die Fegefeuerangst zu mildern, gab es zugleich eine Hilfe der Kirche, den so genann­ ten »Plenarablass«. Erstmals gewährte Papst Urban II. 1095 den Teilnehmern am Kreuzzug als Belohnung einen Plenarablass, d. h. den voll­ ständigen Nachlass sämtlicher »zeitlichen Stra­ fen«. In besonderen »Heiligen Jahren« konnten 8

Fiktives Porträt des Johann Tetzel aus dem Jahr 1717 zum 200. Jahrestag der Reformation später solche Plenarablässe erworben werden, und zwar ab 1300 alle hundert Jahre (Bestim­ mung von Papst Bonifatius VIII.), dann alle 50 Jahre, danach alle 33 Jahre, ab 1470 alle 25 Jah­ re (Bestimmung von Papst Paul II.). Das letzte »Heilige Jahr« dauerte vom 8. Dezember 2015 bis 20. November 2016. Es war das von Papst Franziskus ausgerufene »Heilige Jahr der Barm­ herzigkeit«. Die gesamte Geschichte des Ablasswesens von damals bis heute kann hier nicht entfaltet werden. Jedenfalls war es zur Zeit Luthers im Jahre 1517 möglich, durch Geldleistungen di­ rekten Ablass zu erhalten. 1525 wurde später durch Papst Clemens VII. der Erwerb käufli­ cher Ablässe verboten. Der unmittelbare Anlass für Luthers Thesen zu Buße und Ablass war neben der Reliquienausstellung folgender: Seit April 1517 vertrieb der Dominikanermönch Johann Tetzel in Jüterbog im Brandenburgi­ schen Gebiet mit volkstümlicher Beredsamkeit und marktschreierischer Geschicklichkeit den Geldablass. Seine Parole lautete: »Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Him­ mel springt.« Das klingt wie ein Plenarablass und wurde auch vielfach als solcher verstanden. Tetzel handelte im Auftrag des Erzbischofs Albrecht von Mainz. Dieser hatte von Papst Leo X. (1513–1521) die Berechtigung zum Vertrieb des Geldablasses erhalten. Denn für ­ die Ernennung zum Erzbischof und Deutschen JUNI 2017

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Kurfürsten musste Albrecht eine hohe Summe nach Rom bezahlen. Das Geld lieh er sich beim Bankhaus Fugger in Augsburg. Nun musste das Darlehen zurückgezahlt werden. Deshalb ging das beim Ablasshandel zusammenkommende Geld zur Hälfte direkt an die Fugger, zur an­ deren Hälfte nach Rom. Dort wurde es u. a. für den Neubau des Petersdomes verwendet. Der Kurfürst von Sachsen hatte aber sein Land der Ausbeutung Tetzels verschlossen. Das hielt je­ doch viele Bürger und Studenten Wittenbergs nicht davon ab, sich die neue »Gnade« jenseits der kursächsischen Landesgrenze im nahen Jü­ terbog zu holen. Luther war 1517 nicht nur bereits Professor an der Universität Wittenberg, sondern auch zugleich Pfarrer und Seelsorger an der Stadtkir­ che. Er spürte im Beichtstuhl, welche Leicht­ fertigkeit Tetzels Ablasshandel im Volk hervor­ rief. Die Beichtenden zeigten oft keinerlei Reue über ihre Sünden. Sie verlangten dennoch von Luther sowohl Vergebung der Schuld als auch den Erlass der Sündenstrafen, indem sie einen Ablassbrief von Tetzel vorwiesen. Luther aber nahm seine Aufgabe als Seelsorger ernst. Des­ halb fühlte er sich verpflichtet, gegen eine so schwerwiegende Gewissensverwirrung einzu­ schreiten. Die Leute suchten zwar nach einem Glauben, der ihr Leben tragen konnte, doch sie fanden ihn nicht. Reue und Umkehr fehlten. Statt dessen wurde ihnen eine falsche Sicherheit vorgegaukelt. Durch den geistlichen Selbstbe­ trug entstand aber keine bleibende Glaubensge­ wissheit mit Freude im Herzen und Dank für die Vergebung Gottes im Namen Jesu Christi. Um dem schwerwiegenden seelsorgerlichen Missbrauch zu wehren, verfasste Luther seine 95 Thesen. Diese Form der Auseinandersetzung ist eine aus dem Mittelalter stammende Metho­ de akademischer Argumentation. Ein Lehrer stellte Thesen (Lehrsätze, Behauptungen) auf, die er selbst oder einer seiner Schüler gegen kri­ tische Entgegnungen und Anfragen verteidigte. Der streitbare Dialog galt im sokratischen Sinne als Mittel der Urteilsbildung und Wahrheitsfin­ dung. Auch Luthers Thesen vom 31. Oktober 1517 waren als Aufforderung zu solch einer akademischen Diskussion gedacht. Sie waren in lateinischer Sprache verfasst. Dass sie dann in Windeseile übersetzt, gedruckt und im gan­ zen Land verteilt wurden, war nicht Luthers Absicht gewesen und wunderte ihn zunächst selbst. Doch man versteht es im Nachhinein, wenn man bedenkt, dass damals beim Thema Buße und Ablass geistliche Fragen und weltliche Finanz- und Machtinteressen miteinander ver­ mischt waren. Es gab noch keine Trennung von INFORMATIONSBRIEF 304

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Staat und Kirche im heutigen Sinne. Man denke nur an die geistlichen Fürstentümer. Erzbischof Albrecht von Mainz z. B. war ja nicht nur ein Kirchenfürst mit eigenem territorialem Herr­ schaftsgebiet, sondern zugleich reichsrechtlich Kurfürst. Die Kurfürsten wählten den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches! Sie hatten also erhebliche politische Macht. Staat und Kirche waren also aufs engste verknüpft. Luther aber ging es in den Thesen allein um das geistliche Anliegen. So kam eine Lawine ins Rollen.

Statt Berechnung –– der fröhliche Tausch Wir wollen uns nun jedoch nicht im Ge­ schichtlichen verlieren, so wichtig Geschichts­ kenntnis zum Verständnis entscheidender Ent­ wicklungen sein kann. Wir wollen auch keinen konfessionellen Streit erneuern. Um was es geht, betrifft heutzutage alle christlichen Kon­ fessionen. Es ist die Lebensfrage nach dem Ver­ hältnis von Glauben und Tun. Die erste der 95 Thesen lautet: »Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: Tut Buße, will er, dass das ganze Leben seiner Gläubigen eine stete und unaufhörliche Buße sein soll.« Diese These ist wie eine Überschrift mit Dop­ pelpunkt. Die weiteren Thesen entfalten diese Grundaussage. Was ist gemeint? Wenn das ganze Leben eines Christen eine stete und unaufhörliche Buße sein soll, dann geht es um eine grundsätzliche innere Haltung und neue Einstellung Gott gegenüber. Man kann mit Gott nämlich nicht im Kaufmanns­ schema rechnen und gegenrechnen nach dem Motto: Du gibst mir Vergebung, ich gebe dir gute Werke. Vielmehr ist alles, wirklich alles, reines Gnadengeschenk, sowohl die Vergebung selbst als auch die daraus fließenden guten Ta­ ten. Denn beim Zuspruch der Vergebung im Namen von Jesus Christus wird nicht nur die Schuld vor Gott im juristischen Sinne getilgt, sondern es geschieht durch die Kraft des Hei­ ligen Geistes eine Veränderung des inneren Menschen. Zwar wird ein Christ, solange er lebt, immer wieder von Verfehlungen übereilt werden, doch Schritt für Schritt geschieht durch erneute Hingabe an Jesus Christus und die da­ bei empfangene Vergebung nach und nach eine Wesensveränderung. Der Einzelne merkt das oft selbst weniger als seine Umgebung. Das Leben bekommt eine andere Gesamtrichtung; Liebe, Freude und Friede ziehen ins Herz ein. Der Mensch wird durch die Kraft des Heiligen Geis­ tes verwandelt. 9


Luther hat das beim Generalkonvent seines glaubenden Christen geschieht nun folgender Ordens, der im April 1518 in Heidelberg zu­ Tausch: Wie Braut und Bräutigam in der Ehe sammenkam, in der letzten seiner dortigen 28 eins werden, so geschieht es auch zwischen Thesen so gesagt: »Die Liebe des Menschen ent- Christus und der Seele, »[…] so dass, was Chrissteht an ihrem Gegenstand«, also z. B. an einem tus hat, das ist eigen der gläubigen Seele; was die anderen Menschen, einem Kunstwerk oder der Seele hat, wird eigen Christi. So hat Christus alle Natur. »Aber die Liebe Gottes Güter und Seligkeit: die sind findet ihren Gegenstand nicht mm Hinzu kommt, dass das [nun] der Seele eigen; so hat die vor, sondern schafft ihn sich.« nach unserer menschliSeele alle Untugend und SünEs handelt sich um Neuschöp­ de auf sich: die werden [nun] fung! Schlicht und einfach geht chen Sicht vermeintlich Christi eigen. Hier erhebt sich es darum, dass ein Mensch im Gute auf Irrtum beruhen nun der fröhliche Wechsel […] moralischen Sinne gewiss viel kann und letztlich also gar Ist nun das nicht eine fröhliche Gutes zu tun vermag, dass er Wirtschaft, da der reiche, edle, dies aber nicht Gott gegenüber nicht gut ist. Auch können fromme Bräutigam Christus aufrechnen kann. Denn auch die Folgen einer Tat in all das arme, verachtete, böse Hürdie Kraft zum Guten ist ja ein [Seele] zur Ehe nimmt und ihren Konsequenzen häu- lein Geschenk Gottes! In seinem sie entledigt von allem Übel, Lied von 1524 hat Luther es fig gar nicht abgeschätzt zieret mit allen Gütern? So ist’s so gesagt: »[…] es ist doch un- werden, so dass unser nicht möglich, dass die Sünden ser Tun umsonst, auch in dem sie verdammen, denn sie liegen besten Leben. Vor dir niemand guter Wille manchmal gar nun auf Christo und sind in sich rühmen kann, des muss dich nicht zum Guten beiträgt. ihm verschlungen.« fürchten jedermann und deiner Und umgekehrt kann Erst also durch solche inni­ Gnade leben« (Evangelisches ge Glaubensgemeinschaft mit Gesangbuch 299,2). Hinzu Gott auch auf krummen Jesus Christus, die von allen kommt, dass das nach unserer Linien gerade schreiben. Berechnungen absieht, aber menschlichen Sicht vermeint­ ganz aus freudiger Dankbar­ lich Gute auf Irrtum beruhen kann und letztlich keit lebt, entsteht die Heilsgewissheit; wohl ge­ also gar nicht gut ist. Auch können die Folgen merkt: Gewissheit, nicht aber falsche Sicherheit einer Tat in all ihren Konsequenzen häufig gar und Gleichgültigkeit. Wer von Dankbarkeit und nicht abgeschätzt werden, so dass unser guter Freude erfüllt ist, wird nicht gleichgültig – im Wille manchmal gar nicht zum Guten beiträgt. Gegenteil, er brennt! Damit ist allen Missver­ Und umgekehrt kann Gott auch auf krummen ständnissen abgesagt, die evangelische Freiheit Linien gerade schreiben. Menschliche Aktion mit Gleichgültigkeit, ja Beliebigkeit verwech­ kann ihn jedenfalls nicht aus seiner Weltregie­ seln. Solchen Missbrauch gibt es freilich. Da rung ausschließen. wird dann die Sünde statt des Sünders gerecht­ Luther hat dem Vorwurf, durch diese Sicht­ fertigt. Falsche Sicherheit wird propagiert statt weise würde es überflüssig, Gutes zu tun, ent­ zu echter Reue und Umkehr aufzurufen. Bon­ schieden widersprochen. 1520 veröffentlichte hoeffer nannte Verkündigung dieser Art »billige er einen »Sermon von den guten Werken«. Im Gnade« und verurteilte eine derartige Entstel­ Kleinen und Großen Katechismus stellte er die lung der Rechtfertigungsbotschaft aufs Schärfs­ Zehn Gebote an den Anfang der Erklärung des te. Gnade ist kein abstraktes Prinzip, sondern Glaubens. Nein, Gutes zu tun ist weder über­ ein göttliches Geschenk, das im Lebensvollzug flüssig noch belanglos. Frei wird der Mensch erfahren wird. Die Reformation stellt keine Ver­ jedoch erst, wenn er sich ganz und vorbehaltlos billigung christlicher Lebenspraxis dar, sondern »mit Haut und Haaren« der Gnade und Barm­ ist im Gegenteil eine große Konzentrationsbe­ herzigkeit des himmlischen Vaters ausliefert. Es wegung weg vom Nebensächlichen hin auf das geht schlicht darum, von einer rechnenden und Zentrum: Bibel, Gnade, Glaube sowie vor allem berechnenden, ja letztlich auch fordernden in­ und in allem – hin zu Jesus Christus! neren Haltung gegenüber Gott loszukommen. Im zwölften Artikel seiner Schrift »Von der Lebendige Seelsorge Freiheit eines Christenmenschen« (1520) hat Luther dafür das schöne Bild vom »fröhlichen Die Wurzeln der Reformation liegen also in Tausch« gebraucht: Das Wollen und Vollbrin­ der Seelsorge. Luther ist sein Leben lang Seel­ gen des gläubigen Menschen nennt er »Seele«. sorger gewesen und hat selbst Seelsorge in An­ Jesus Christus nennt er den »Bräutigam«. Beim spruch genommen. 10

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Man kann nun zwischen Seelsorge im zent­ ralen und im weiten Sinn unterscheiden. Zum weiten Verständnis der Seelsorge gehört jedes Miteinander, das aus Glauben im Ringen um Glaube und Tat geschieht. So schrieb Luther z. B. von der Veste Co­ burg aus Trostbriefe an Philipp Melanchthon, der beim Reichstag zu Augsburg (1530) als Wortführer die evangelische Sache vertrat und doch gar keine Kämpfernatur war. Auch am Lebensende ging es bei Luther um Seelsorge. Er vermittelte in einem schlimmen Bruderstreit der beiden Landesherren Albrecht und Gebhard von Mansfeld, wo die Juristen nicht mehr wei­ terkamen. Nach erfolgreichem Abschluss sorgte er dafür, dass »die Brüder wieder Brüder wer­ den«. Das brüderliche/geschwisterliche Trösten ge­ hört zur Seelsorge. Im Zentrum allerdings steht die persönliche Beichte, von der aus die Reformation ja ihren Anfang nahm. Luther hat die persönliche Beichte nicht abgeschafft, wie oft irrtümlich behauptet wird. Er hat selbst sein Leben lang immer wieder gebeichtet. Im An­ hang des Kleinen Katechismus findet sich eine Anleitung zur persönlichen Beichte, die auf Lu­ ther zurückgeht. Im Unterschied zu der Praxis, die die 95 Thesen ausgelöst hat, enthält die Beichte (nur) zwei Hauptstücke, nämlich das ehrliche Be­ kenntnis des Herzens und vor allem die Absolu­ tion als vollmächtiger Zuspruch der Vergebung, welcher für Zeit und Ewigkeit gilt. Es war für Luther unfassbar, dass ein Christ das Angebot der Beichte abschlagen könnte. Im Großen Ka­ techismus schreibt er gar: »Willst du es aber verachten und so stolz und ungebeichtet hingehen, so schließen wir das Urteil, dass du kein Christ bist […] Denn du verachtest, was kein Christ verachten soll […] und ist auch ein gewisses Zeichen, dass du das Evangelium verachtest.« Das Gegenteil von Stolz ist die Demut vor Gott. Luther lebte in dieser Demut. Er hat sich gegen Personenkult gewehrt: »Zum ersten bitte ich, man solle meines Namens schweigen und sich nicht lutherisch, sondern Christen heißen. Was ist Luther? […] Wie käme denn ich armer stinkender Madensack dazu, dass man die Kinder Christi nach meinem heillosen Namen nennen sollte?« Dietrich Bonhoeffer erläuterte den Zusam­ menhang mit der Demut in seiner Schrift »Ge­ meinsames Leben«: »In der Beichte geschieht der Durchbruch zum Kreuz. Die Wurzel aller Sünde ist der Hochmut, die superbia […] Geist und Fleisch des Menschen sind vom Hochmut entzündet; denn der Mensch will gerade in seinem Bösen sein wie Gott. Die Beichte […] INFORMATIONSBRIEF 304

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schlägt den Hochmut furchtbar nieder.« Aber: »Es ist ja kein anderer als Jesus Christus selbst, der den Schandtod des Sünders an unserer Stelle in aller Öffentlichkeit erlitten hat […] es ist ja nichts anderes als unsere Gemeinschaft mit Je­ sus Christus, die uns in das schmachvolle Ster­ ben der Beichte hineinführt, damit wir in Wahr­ heit teilhaben an seinem Kreuz.« Gewiss kann Seelsorge auch missbraucht werden. Aber Missbrauch hebt den rechten Gebrauch nicht auf. Machtmissbrauch wird am ehesten vermieden, wenn Beichte nicht an Hierarchien gebunden wird und nur derjenige Beichte hört, der selbst in der Beichte lebt. Das ist u. a. der Sinn des »Priestertums aller Gläu­ bigen«. Abschließend eine wichtige Feststellung: Die Seelsorge im kleinen persönlichen Bereich hat bedeutende Auswirkungen im großen politi­ schen Feld. Wo viele Einzelne Buße tun, wird ein ganzes Volk verändert. In unserer Öffent­ lichkeit wird von »protestantischer Schuldkul­ tur« geredet. Das weist auf fehlende Seelsorge hin. Wo Seelsorge lebt, entsteht das Gegenteil von Schuldkultur, nämlich die dankbare Gewiss­ heit der Vergebung mit neuen »guten Früch­ ten«! Schuldkultur entsteht jedoch da, wo man die Schuld autonom »abarbeiten« will, statt im Namen von Jesus Christus Vergebung zu su­ chen. Das ist ein höchst gefährlicher Weg, der besonders in Deutschland verbreitet ist. Wer al­ les durch Moralismus wieder gut machen will, gerät auf die abschüssige Bahn der Selbstrecht­ fertigung durch Leistung. Das Denken ver­ krampft. Die Menschen werden selbstgerecht. Das ist dann die moderne Form von geistigem Ablassverkauf! Wenn die Wurzeln der Reformation in der Seelsorge liegen, dann auch der Bestand ihrer vielfachen Früchte. Ein Baum jedoch, den man von seiner Wurzel trennt, stirbt ab mitsamt sei­ nen guten Früchten. Eine Kirche, die Seelsorge vernachlässigt, wird zur bloßen Moralanstalt. Der Moralismus strahlt aus bis auf die Politik. Schließlich spaltet sich die Gesellschaft in Grup­ pen, die sich gegenseitig beschuldigen. Jede Sei­ te beruft sich auf Moral. Heute sagt man »Wer­ te«. Der Staat kann schließlich seine ordnende Aufgabe nicht mehr wahrnehmen. Befinden wir uns auf einem solchen Weg? Darum: Zurück zu Jesus Christus, zurück zum Zentrum der Reformation. Die Kirche im Sinne der lebendigen Gemeinde Jesu Christi wird nicht untergehen. Für die verfasste Kirche mit all ihren Institutionen und Strukturen gilt jedoch: Die Kirche der Zukunft wird eine Kirche der Seelsorge sein – oder sie wird nicht sein! W 11


Zum Reformationsjubiläum 1517––20171

»Unser Gott kommt und schweiget nicht« (Psalm 50,3) »Wer Ohren hat zu hören, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt« (Offenbarung 2,7 u. ö.) Entscheidungen und Scheidungen, die der Dreieinige Gott durch sein Wort bewirkt und in seinem Wort zu erkennen gibt Reinhard Slenczka

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as Wort Gottes ist der Ursprung und Grund des rechten Glaubens und der wah­ ren Kirche; der Dreieinige Gott wirkt darin in Gnade und Gericht, in Verstehen und Versto­ ckung – früher wie heute. Dies ist das Zeugnis des Wortes Gottes von sich selbst: »Umso fester haben wir das prophetische Wort, und ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen. Und das sollt ihr vor allem wissen, dass keine Weissagung in der Schrift eine Sache eigener Auslegung ist. Denn es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht worden, sondern getrieben von dem Heiligen Geist haben Menschen im Namen Gottes geredet« (2.Petrus 1,19–21). »Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk geschickt« (2.Timotheus 3,16). »Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und

Reinhard Slenczka Die Anschrift des Autors finden Sie auf Seite 30

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aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen« (Hebräer 4,12f.). »[…] so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende« (Jesaja 55,11). »Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort recht. Wie reimen sich Stroh und Weizen zusammen? spricht der Herr. Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt? Darum siehe, ich will an die Propheten, spricht der Herr, die mein Wort stehlen einer vom andern. Siehe, ich will an die Propheten, spricht der Herr, die ihr eigenes Wort führen und sprechen: ›Er hat’s gesagt.‹ Siehe, ich will an die Propheten, spricht der Herr, die falsche Träume erzählen und verführen mein Volk mit ihren Lügen und losem Geschwätz, obgleich ich sie nicht gesandt und ihnen nichts befohlen habe und sie auch diesem Volk nichts nütze sind, spricht der Herr« (Jeremia 23, 28–32). »Ihre Propheten sind leichtfertig und voll Trug; ihre Priester entweihen das Heiligtum und deuten das Gesetz freventlich« (Zefanja 3,4; M ­ icha 3,11). »Und er sprach: Geh hin und sprich zu diesem Volk: Höret und verstehet’s nicht; sehet und merket’s nicht! Verstocke das Herz dieses Volks und lass ihre Ohren taub sein und ihre Augen blind, dass sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und genesen« (Jesaja 6,9f.; Matthäus 13,14f.; Markus 4,12; Lukas 8,10; Apostelgeschichte 28,26f.; Römer 11,8). JUNI 2017

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»[…] wenn jemand predigt, dass er’s rede als Luthers Warnungen und Gottes Wort; wenn jemand dient, dass er’s tue Mahnungen zum aus der Kraft, die Gott gewährt, damit in allen 4 Dingen Gott gepriesen werde durch Jesus Chris- Reformationsjubiläum tus. Sein ist die Ehre und Gewalt von Ewigkeit zu »[…] Gott ist in allen seinen Worten, ja SilEwigkeit! Amen« (1.Petrus 4,11). ben, wahrhaftig; wer eins nicht glaubt, der glaubt »Denn ihr wisst, dass wir, wie ein Vater seine keins. Es muss alles geglaubt sein, wie Christus Kinder, einen jeden von euch ermahnt und ge- sagt« (Matthäus 5,18). 5 tröstet und beschworen haben, euer »Und bedenke wohl, die Kraft Leben würdig des Gottes zu führen, mm »Wer einen Gott der Schrift besteht nicht darin, dass der euch berufen hat zu seinem hat ohne sein Wort, sie sich dem anpasst, der sie stuReich und zu seiner Herrlichkeit. diert, sondern dass sie denjenigen, Und darum danken wir auch Gott der hat keinen Gott; der sie liebt, in sich und ihre Kräfte ohne Unterlass dafür, dass ihr das denn der rechte Gott verwandelt.«6 Wort der göttlichen Predigt, das ihr »Wer einen Gott hat ohne sein hat unser Leben, von uns empfangen habt, nicht als Wort, der hat keinen Gott; denn Menschenwort aufgenommen habt, Wesen, Stand, Amt, der rechte Gott hat unser Leben, sondern als das, was es in Wahr- Reden, Tun, Lassen, Wesen, Stand, Amt, Reden, Tun, heit ist, als Gottes Wort, das in euch Lassen, Leiden und alles in sein wirkt, die ihr glaubt« (1.Thessalo­ Leiden und alles in Wort gefasst und uns vorgebildet, sein Wort gefasst und dass wir außer seinem Wort nichts nicher 2,13). »Demütigt euch vor dem Herrn, uns vorgebildet, dass suchen noch wissen dürfen noch so wird er euch erhöhen. Verleumsollen, auch von Gott selbst nicht det einander nicht, liebe Brüder. wir außer seinem […]«7 Wer seinen Bruder verleumdet oder Wort nichts suchen »Darum lasse es sich jeglicher verurteilt, der verleumdet und ver- noch wissen dürfen ernstlich zu Herzen gehen, dass urteilt das Gesetz. Verurteilst du man’s nicht achte, als habe es ein aber das Gesetz, so bist du nicht noch sollen, auch von Mensch geredet. Denn es gilt dir ein Täter des Gesetzes, sondern ein Gott selbst nicht […]« entweder ewigen Segen, Glück und Richter. Einer ist der Gesetzgeber Seligkeit oder ewigen Zorn, Unund Richter, der selig machen und verdammen glück und Herzeleid […]«8 kann. Wer aber bist du, dass du den Nächsten »Dies nämlich pflegt der Teufel in allen Ververurteilst?« (Jakobus 4,10–12) suchungen zu tun: Je weiter sich ein Mensch vom »Und stellt euch nicht dieser Welt gleich (nolite Wort entfernt, desto mehr hält er sich für gelehrter conformari), sondern ändert euch (reformamini) und weiser.«9 durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen »Ich erhebe nicht den Anspruch, klüger als alle könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und anderen zu sein, sondern ich will, dass allein die Wohlgefällige und Vollkommene« (Römer 12,2). Schrift herrscht; ich will sie auch nicht durch meiLuther erklärt diesen Grundtext für Refor­ nen oder irgend anderer Menschen Geist interpremation in seiner Vorlesung über den Römerbrief tieren, sondern durch ihren eigenen Geist will ich so: »Hier geht es um Fortschritt (profectus); denn sie verstehen.«10 er (Paulus) redet zu denen, die schon begonnen »Darum, wenn die Leute nicht glauben wolhaben Christen zu sein […] er meint die Erneu- len, so sollst du stille schweigen; denn du bist nicht erung des Geistes von Tag zu Tag und mehr und schuldig, dass du sie dazu zwingst, dass sie die mehr nach jenem Wort 2.Korinther 4,16: ›Der in- Schrift für Gottes Buch oder Wort halten. Ist gewendige Mensch wird von Tag zu Tag erneuert‹. nug, dass du deinen Grund darauf gibst. Wenn Epheser 4,23: ›Erneuert euch aber im Geist eures sie es dann vornehmen und sagen: ›Du predigst, Gemütes‹. Kolosser 3,10: ›Zieht den neuen Men- man solle nicht Menschen Lehre halten, so doch Peschen an, der da erneuert wird‹.«2 trus und Paulus, ja Christus auch Menschen gewesen sind‹. Wenn du solche Leute hörst, die so gar verblendet und verstockt sind, dass sie leugnen, »Dein Wort bewegt des Herzens Grund, dass dies Gottes Wort sei, oder daran zweifeln, so dein Wort macht Leib und Seel gesund, schweig nur still, rede kein Wort mit ihnen, und dein Wort ist’s, das mein Herz erfreut, lass sie fahren; sprich nur: ›Ich will dir Grund gedein Wort gibt Trost und Seligkeit.«3 nug aus der Schrift geben; willst du es glauben, so ist es gut, willst du nicht, so will ich dir nicht mehr geben‹. So sagst du: ›Ei, so muss denn Gottes Wort INFORMATIONSBRIEF 304

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mit Schanden bestehen!‹ Das befiehl du Gott. Darum ist nicht Not, dass man das soll fassen und wisse, denen zu begegnen, die jetzt aufstehen und solche Dinge vorgeben […]«11 »Die erste Bitte: Geheiligt werde dein Name.12 Was ist das? Gottes Name ist zwar an sich selbst heilig; aber wir bitten in diesem Gebet, dass er auch bei uns heilig werde. Wie geschieht das? Wo das Wort Gottes lauter und rein gelehrt wird und wir auch heilig, als die Kinder Gottes, danach leben. Dazu hilf uns, lieber Vater im Himmel! Wer aber anderes lehrt und lebt, denn das Wort Gottes lehrt, der entheiligt unter uns den Namen Gottes. Davor behüte uns, himmlischer Vater.«13

Daraus folgende Bedenken zum Reformationsjubiläum 2017 in Entscheidungen und Scheidungen, die sich durch das Wort Gottes vollziehen –– auch in unserer Zeit Die Wirklichkeit des Glaubens an Jesus Christus Eine Grundfrage: Ist Jesus Christus, der Sohn Gottes, unser Herr (1.Korinther 12,1–3) und das Licht der Welt (Johannes 8,12.23.26), den wir als Richter über Lebende und Tote (2.Ko­ rinther 5,10; Apostelgeschichte 17,3f.) erwar­ ten, oder ist er nur eine Idee neben anderen menschlichen und daher geschichtlich wandel­ baren religiösen Vorstellungen? Unter der Wirkung und als Zeichen des Hei­ ligen Geistes bekennen wir unseren Glauben »an den einen Herrn Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn […]« Durch Wort und Sakrament sind wir mit dem Dreieinigen Gott verbunden, der in seiner Kirche und damit in uns den Glau­ bensgehorsam wirkt, sofern wir in ihm und er in uns bleibt. Auf diese Weise gehören wir zu ihm: Durch den Glauben wohnt Christus in unseren Herzen (Epheser 3,17); durch die Taufe sind wir Kin­ der Gottes, die im Namen Jesu Christi Gott als Vater anrufen dürfen und sollen (Matthäus 6,9; Johannes 3,1ff.; Römer 8,15; Galater 4,5; Titus 3,5; 1.Petrus 1,3ff.; 1.Johannes 3,1). Wir sind mit Christi Tod und Auferstehung leiblich ver­ bunden und bereits jetzt im Glauben an Jesus Christus durch den Tod zum Leben hindurch­ gegangen (Johannes 6,40.47; 8,51;11,25f.; Rö­ mer 6–8). Daraus folgt: »So lasst nun die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Leibe, und leistet den Begierden keinen Gehorsam« (Römer 6,12). 14

»Der Glaube ist ein göttliches Werk in uns, das uns wandelt und von neuem gebiert aus Gott (Jo­ hannes 1,13) und tötet den alten Adam, macht uns zu ganz anderen Menschen von Herz, Mut, Sinn und allen Kräften und bringt den Heiligen Geist mit sich […]«14 Entscheidungen –– Scheidungen Wenn unser Herr Jesus Christus sagt: »Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte werden nicht vergehen« (Matthäus 24,35; 5,17– 20; Lukas 21,33; Jesaja 40,8), dann gibt er uns zu verstehen, dass das Wort Gottes nicht ein blo­ ßer Text aus unserem begrenzten menschlichen Erfahrungsbereich von Raum und Zeit, also in den Grenzen menschlicher Geistesgeschichte, ist. Das Wort Gottes kommt aus der Ewigkeit in unsere Zeit. Es offenbart uns, wer Gott ist, was er tut, was er will und was er nicht will. Durch das Wort Gottes ist die Welt geschaffen, die sichtbaren wie auch die unsichtbaren Dinge (Kolosser 1,16); durch das Wort Gottes wird die Welt erhalten und geordnet (1.Mose 1; Psalm 119,89ff.; 2.Petrus 3,5–7; Hebräer 11,13). Das Wort Gottes ist also Grund von allem, was ist und geschieht. Das Wort Gottes, der Logos, ist Gott, und es kommt in der Person Jesu Christi, dem Sohn Gottes, als Leben und Licht in die Finsternis der von Gott abgefallenen Mensch­ heit (Johannes 1,1ff.), und schließlich verheißt uns unser auferstandener Herr: »Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden […] und siehe ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende« (Matthäus 28,18–20). Das sind nicht menschliche Gedanken, sondern göttliche Tat­ sachen, Grund und Inhalt unseres Glaubens. Reformation ist nicht ein Fortschritt in der Entwicklung des menschlichen Geistes vom Mittelalter zur Neuzeit. Reformation ist auch nicht »Teil der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte«15 mit befreiender Emanzipation zur Selbst­ bestimmung des Menschen und der Menschheit durch Aufklärung. Vielmehr ist Reformation Umkehr und Erneuerung durch den Heiligen Geist, wie das zu jeder Zeit in der Kirche ge­ schieht. Daher ist das Wort Gottes nicht einfach Ge­ genstand des Glaubens im Sinn von Verstehen von Texten aus vergangenen Zeiten und de­ ren Anpassung an die heutige Zeit und für den heutigen Menschen. Das Wort selbst schafft vielmehr den Glauben aus dem Nichts, ebenso wie die Schöpfung am Anfang der Welt: »Denn Gott, der sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben, dass durch uns entstünde die Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes JUNI 2017

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in dem Angesicht Jesu Christi« (2.Korinther 4,6). Der Dreieinige Gott ist gegenAuf diese Weise geschieht Aufklärung durch wärtig um uns und in uns. Nichts das Wort Gottes. Bezeugt wird dieses Wort Gottes durch den Heiligen Geist, den »Geist der Wahr- geschieht ohne seinen Willen. heit« (Johannes 15,26; 16,5–15), der den Mut Daher die Frage: Haben wir nur Gefühle und zur Verkündigung und zugleich das Verstehen Vorstellungen von Gott und reden manches von in den Sprachen aller Völker bewirkt (Apostel­ Gott und Göttlichem, oder rechnen wir mit geschichte 2). In Geschichte und Gegenwart ha­ dem lebendigen Gott und seinem Handeln in ben wir das vor Augen, wenn unserem Leben, in der Ge­ mm Daher ist das Wort wir nicht völlig blind sind. schichte der Menschheit, in Der Heilige Geist des Drei­ Gottes nicht einfach Gegen- der Ordnung des von ihm ge­ einigen Gottes muss uns die schaffenen Kosmos? Augen öffnen für sein Wirken stand des Glaubens im Sinn Gott offenbart sich in den in uns und in dieser Welt. Die von Verstehen von Texten Schriften des Alten und des Verkündigung des Evangeli­ aus vergangenen Zeiten Neuen Testaments mit seinen ums soll den Menschen nicht Namen, mit denen er angere­ nur abholen und bestätigen, und deren Anpassung an det, verkündigt und bekannt sondern herausholen aus sei­ die heutige Zeit und für werden will. Er spricht und ner Vergänglichkeit und be­ handelt in seinem Wort und den heutigen Menschen. freien aus seinen Bindungen offenbart dadurch, wie er die an die Verderbensmächte von Das Wort selbst schafft von ihm geschaffene Welt Sünde, Tod und Teufel, die vielmehr den Glauben aus und damit auch die Geschich­ in dieser vergehenden Welt te der Völker und Menschen dem Nichts, ebenso wie die ordnet und erhält, indem er herrschen. Wenn jedoch diese grund­ Schöpfung am Anfang der segnet und straft, richtet und legende Einsicht in die Wir­ Welt. rettet. Gott führt uns in un­ kung von Gottes Wort fehlt, serem Leben, Denken und erkennen wir Gott nicht mehr als Herrn der Ge­ Handeln. Diese Einsicht wird konkret im Gebet schichte, sondern Ereignisse, Epochen und Ent­ vollzogen mit Bitte, Dank und Fürbitte um al­ wicklungen menschlicher Geschichte bekom­ les, was uns bewegt. Ohne Gebet ist der Glaube men eine normative, dogmatische Funktion; tot. sie werden hypostasiert als Personen mit Macht Gotteserkenntnis besteht daher nicht im und Autorität, so z. B. »Hinter die Aufklärung Reden über Gott, sondern im Reden mit Gott. kann man nicht mehr zurück«, »die Wissenschaft Das Gebet ist die Weise, in der wir in Lob und hat gezeigt […]«, »die Evolution […]«, »die Ge- Dank, in Bitte und Fürbitte, ja auch im Ringen schichte […]«, »[…] der heutige Mensch […]« u. a. mit Gott durch Klage und Anklage, wie wir viel­ m. Diese Größen treten in ihrer normativen und fach in der Heiligen Schrift, aber vor allem in beherrschenden Funktion an die Stelle Gottes. den Psalmen, im Buch Hiob, sowie nicht zu­ Auf diese Weise vollzieht sich unvermerkt, letzt im Todesringen Jesu (Psalm 22; Matthäus doch offensichtlich eine Vertauschung von 27,46; Markus 15,34) angeleitet werden. Dabei Schöpfer und Geschöpf (Römer 1,18ff.). Wir ist es nicht die Frage, ob unsere Gebete erhört hören, lernen und lehren dann nicht mehr, was werden, sondern wir dürfen und sollen beten, durchgehend im Alten und im Neuen Testa­ weil Gott zugesagt hat, dass er uns wie ein Vater ment bezeugt wird, wie der Dreieinige Gott in erhören will (Johannes 16,23f.). der Geschichte schafft und ordnet, segnet und »Gott will uns damit locken, dass wir glauben richtet, belohnt und straft, sondern das Wort sollen, er sei unser rechter Vater und wir seine Gottes wird selbst zum Produkt der Mensch­ rechten Kindern, auf dass wir getrost und mit heitsgeschichte oder gar lediglich der deutschen aller Zuversicht ihn bitten sollen wie die lieben Theologiegeschichte. Doch dann hört die rich­ Kinder ihren lieben Vater.«16 tende und rettende Wirkung des Wortes Gottes keineswegs auf. Das zeigt sich in dem Ringen Entscheidungen –– Scheidungen zwischen wahrer und falscher Kirche, zwischen Rechte Erkenntnis Gottes geschieht in der Christus und Antichrist sowie zwischen Kirche Weise, dass der wahre Dreieinige Gott, dessen und Welt und vor allem in dem Ringen zwischen Werke auch für die Vernunft in seiner Schöp­ dem alten Menschen im Fleisch der Sünde und fung erkennbar sind, gepriesen und ihm gedankt dem neuen Menschen im Geist Gottes als Folge wird. Wenn dies jedoch nicht geschieht, fällt der der Taufe (Römer 6–8). Mensch unter die Herrschaft der von Gott ge­ INFORMATIONSBRIEF 304

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schaffenen Dinge (Römer 1,18ff.). Es ist das Wort Gottes, das die Gemeinschaft Gottes mit seinem auserwählten Volk begründet und damit zugleich eine Entwicklung von Gottesbildern, männlich und weiblich, und deren Verehrung in Begeisterung und Furcht aufs strengste ver­ bietet (5.Mose 4,12–24). Daher ist es nicht die Frage, ob Gott ist oder nicht, sondern was mein Gott ist, woran mein Herz hängt, wovor es sich fürchtet. »Denn alleine das Trauen und Glauben des Herzens macht beide Gott und Abgott. Ist der Glaube und Vertrauen recht, so ist auch dein Gott recht, und wiederum, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zuhaufe, Glaube und Gott. Worauf du nun (sage ich) dein Herz hängst und verlässest, das ist eigentlich dein Gott.«17 Un­ gläubige und Atheisten gibt es nicht, wohl aber verschiedene Götter, die sich durchaus auch be­ kämpfen und um uns Menschen ringen. In unserer Zeit ist es eine auffallende Er­ scheinung, in welcher Weise und mit welcher Selbstverständlichkeit die Werte von Freiheit und Gleichheit der »Rasse, der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität«18 mit religiösem Anspruch auftreten und deren Anerkennung eingefordert wird, ja die auch umkämpft und aufgezwun­ gen werden. Sie haben insofern eine religiöse, dogmatische Funktion, als es dabei um tragen­ de Elemente menschlichen Zusammenlebens geht. Solche Forderungen ergreifen in dem Maße eine das menschliche Bewusstsein und Verhalten beherrschenden Funktion, wie Ord­ nung und Gebote Gottes nicht mehr verkündigt werden. Kirche und Theologie geraten dann in die Gefahr, sich diesen Erscheinungen und Be­ wegungen in der Öffentlichkeit anzuschließen und anzupassen. Es ist nicht zu übersehen, wie diese Größen früher wie auch heute an die Stel­ le von Bekenntnissen treten, die dann von Kir­ chenverwaltungen bisweilen mit Zwangsmitteln eingefordert und durchgesetzt werden, um eine äußere Einheit in der Übereinstimmung von Kirche und Gesellschaft zu sichern. Der Gottesdienst ist Ort und Mittel für die Begegnung und Gemeinschaft mit dem wahren lebendigen Gott: Gott spricht zu uns in seinem Wort und wir reden ihn an mit Lob, Dank und Fürbitte. Dies macht den rechten christlichen Gottesdienst zu allen Zeiten und in allen Kir­ chen aus. Er beginnt: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes« oder, gleich­ bedeutend: »Es komme das Reich des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes«. In seinen Na­ 16

men ist Gott selbst gegenwärtig. In den Schrift­ lesungen wird der in seinem Wort und Namen19 gegenwärtige Gott gepriesen: »Halleluja« – »Lobt Gott« bei den Lesungen aus Altem Tes­ tament und Episteln; »Ehre sei dir Herr« – »Lob sei dir, Christus« bei der Lesung des Evangeli­ ums oder auch »Wort des lebendigen Gottes«. Die Sakramente Taufe, Abendmahl sowie Beichte/ Buße haben ihre Wirkung dadurch, dass sie im Auftrag und unter der Zusage Jesu Christi in seinem Namen geschehen. Der Herr spricht und handelt hier selbst, und der Glaube wird durch dieses Wort gehalten, an das er sich halten soll. Auch das können wir hören, sehen und als rechten oder falschen Gottesdienst unterschei­ den. Wesen und Auftrag der Kirche bestehen darin, dass die von Gott in Jesus Christus vor Grundlegung der Welt erwählte Schar aus der Welt herausgerufen wird (Epheser 1,3 ff.). Wo jedoch diese Erkenntnis von Gegenwart und Handeln des Dreieinigen Gottes in Wort und Sakrament fehlt, wird der Gottesdienst zu einer Werbeveranstaltung, nach Möglichkeit mit »Team« und verteilten Rollen, die Publi­ kum bzw. Abnehmer interessieren und ihnen gefallen soll. In der Verkündigung bemüht man sich dann, einen unterstellten geschichtlichen Abstand von Texten vergangener Zeiten für den Menschen von heute zu erschließen. Doch gera­ de auf diese Weise wird durch die Vorstellung von einem zeitlichen Abstand die Gegenwart Gottes im Gottesdienst in Wort und Sakrament aufgehoben. Es geht dann nicht mehr um die Begegnung mit Gott in Wort und Sakrament, in Gnade und Gericht durch Buße und zur Stär­ kung des Glaubens (Markus 1,15), sondern um Anpassung, Bestätigung und Bedürfnisbefrie­ digung. Wenn das Wort Gottes als Gotteswort im Menschenwort aufgefasst wird, muss es auch von Menschen aktualisiert und zur Wirkung gebracht werden. Wenn die Sakramente als »nachösterliche Gemeindebildung« verstanden werden und nicht als Einsetzung durch Befehl und Verheißung Jesu Christi, verkommen sie zu einem Mittel zur Begleitung und Verschö­ nerung in den Wechselfällen des Lebens. Das Wunder, der Ernst und die heiligende Heils­ gabe werden zu einem leeren Ritus einer Ge­ fühlsreligion. Die Spendung und der Empfang der Sakramente geschieht nicht in Prüfung und Selbstprüfung, sondern als Anspruch und Gewohnheit. Die Rettung aus dem Gericht als Gabe der Taufe (Markus 16,16; Römer 6) und ebenso die Warnung vor einem Essen und Trinken »zum Gericht« (1.Korinther 11,27–32) beim Abendmahl werden versäumt oder gar ver­ achtet. Die Sakramente sind in ihrer Wirkung JUNI 2017

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die leibliche Verbindung mit dem Dreieinigen Gott, und auf diese Weise tragen sie uns durch Leben und Sterben bis wir Gott in seiner ewigen Herrlichkeit schauen von Angesicht zu Ange­ sicht (Matthäus 5,8; 1.Korinther 13,12; Psalm 11,7; 42,3). Tauferinnerung ist für die ganze Gemeinde ein unerlässlicher Bestandteil von Unterweisung und Verkündigung für Leben und Sterben. Die­ se Aufgabe gilt nicht nur für Pfarrer und Lehrer, sondern in erster Linie für Eltern und Paten, die das als Bedingung für den Empfang der Taufe gelobt haben. Dazu müssen sie unterstützt und ermutigt werden. Was an dieser Aufgabe nach Inhalt und Form versäumt wird, zerstört die tragende Kraft des Glaubens und damit die Ge­ meinde: »[…] und wo sie es nicht tun, welch eine verfluchte Sünde sie tun; denn sie stürzen und verwüsten beide, Gottes und der Welt Reich als die ärgsten Feinde beide Gottes und der Menschen.«20 Das kirchliche Amt verliert seine göttliche Würde, »Botschafter an Christi statt« (2.Korin­ ther 5,10) zu sein mit der vom Herrn gegebe­ nen Vollmacht: »Wer euch hört, der hört mich« (Lukas 10,16), und dies unter einer Begren­ zung in der Abhängigkeit eines »Sklaven Jesu Christi« (Römer 1,1), der also Eigentum seines Herrn ist und nur das tun und reden darf, was sein Herr will. Wenn das fehlt, wird das Amt, also der Sklaven­ dienst, zu einem Rechtsanspruch auf Anstellung und Versorgung nach weltlichem Arbeitsrecht, wie das jedoch nur in einer Wohlstandsgesell­ schaft möglich ist. Nach apostolischem Vorbild ist die Versorgung eines Dieners der Gemein­ de eine Freistellung von eigenem Broterwerb, soweit das einer Gemeinde möglich ist (1.Ko­ rinther 9). Das ist also nicht Zweck, sondern, soweit das möglich ist, Folge des Auftrags. Wenn das Wirken Gottes in Wort und Sak­ rament nicht mehr erkannt wird, kann es auch dazu kommen, dass der Diener Jesu Christi und der Gemeinde nicht mehr in seinem Auftrag von dem getragen und geleitet wird, was er der Gemeinde zu sagen und zu geben hat. Er muss dann krampfhaft versuchen, den Heiligen Geist durch Begeisterung zu ersetzen und dabei alles zu vermeiden, was Menschen verschrecken und zurückweisen könnte. Die dringend notwendi­ ge Seelsorge für Seelsorger kann nicht durch psychologische Selbstbespiegelung ersetzt wer­ den, die keine Verheißung Gottes hat. Die Theologie hat nicht die Aufgabe, den Gottesdienst durch menschliche und zeitge­ mäße Mittel und Techniken zu gestalten, um Publikum zu gewinnen. Wohl aber hat sie die Aufgabe, rechten von falschem Gottesdienst zu INFORMATIONSBRIEF 304

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unterscheiden, damit die Kirche in der Wahrheit bleibt. Dies aber ist eine geistliche Aufgabe un­ ter der verheißenen Wirkung des Heiligen Geis­ tes (Johannes 14,15ff.; 16,7ff. u. a.).

Die Unterscheidung von Gottes Wort und Menschenwort geschieht mit der Schrift, nicht aber an der Schrift. Denn wir stehen nicht als Richter über dem Wort Gottes (Jakobus 4,11f.), sondern wir stehen unter dem Gericht des Wortes Gottes. Der Widerspruch gegen das Wort Gottes aber gehört zur Wirkung des Wortes Gottes. Indem sich Gott in seinem Wort zu erken­ nen gibt und wirkt, ist das Wort Gottes nicht ein Erkenntnisgegenstand, sondern es ist Grund und Ursache zur Erkenntnis Gottes. Gott ruft in seinem Wort zu Umkehr und Vergebung in Gericht und Gnade, Gesetz und Evangelium, in Verstehen und Verstockung. Die Wirkung aber von Gottes Wort und damit die Begegnung mit dem lebendigen Dreieinigen Gott ist in jedem und für jeden Menschen in vielfältiger Weise er­ kennbar. Entscheidungen –– Scheidungen WW Eine meist übersehene, jedoch elementa­ re Wirkung des Wortes Gottes zeigt sich in Zweifel und Widerspruch seit Beginn der Menschheit durch die Frage der Schlange: »Ja, sollte Gott gesagt haben […]?« (1.Mose 3) Die klare und eindeutige Erlaubnis, von allen Früchten des Gartens zu essen und das eben­ so eindeutige Verbot mit dem Schutz vor dem Tod, von nur einem der Bäume nicht zu essen, wird interpretierend ins Gegenteil ver­ dreht: Die gute Botschaft, das Evangelium, »du darfst essen von allen Bäumen im Garten« wird von der Schlange in ein Verbot verkehrt, und das schützende Verbot, »von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen« in die verlockende Verheißung: »Ihr werdet sein wie Gott […]« Hier stehen wir am Anfang der kreatürlichen Diskussion von Exegese (Schriftauslegung) mit der Frage nach Textüberlieferung und -aus­ legung und Ethik mit der Frage nach der An­ wendbarkeit von Gottes Geboten. Das heutige Methodenproblem in der Schriftauslegung ist nichts Neues. Dazu gehört, dass der Mensch sich vor Gott versteckt. Gottesfürchtig sind da­ her im Grunde alle Menschen, zumal wenn sie von Gott nichts wissen wollen und sich vor ihm verstecken. WW Das Gewissen oder Herz mit der allen Men­ schen bekannten Unterscheidung von Gut 17


und Böse, ist nicht die bessere Fähigkeit von uns Menschen, das Gute zu wählen und auch zu tun, sondern es ist eine Folge des Sünden­ falls: »[…] ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist« (1.Mose 3,5). Durch das Gebot und Verbot Gottes bekam der Mensch die Freiheit, sich für oder gegen Gott zu ent­ scheiden. Seither ist das Gewissen mit der unterscheidenden Erkenntnis von Gut und Böse für alle und jeden Menschen die Kon­ frontation mit dem Gericht Gottes – ob man das will oder nicht. Kein Mensch kann dem entrinnen. Dass und auf welche Weise der Mensch diese Freiheit verloren hat, erschließt uns die Erzäh­ lung vom so genannten »Sündenfall«, in der das Wort Sünde überhaupt nicht vorkommt. Wohl aber zeigt uns Gottes Wort, dass das, was wir als Sünde bezeichnen, die Beziehung sowohl zu Gott wie unter den Menschen betrifft. Darin sind wir unentrinnbar gefangen. So ist Sünde als Trennung von Gott grundlegend ein Zustand, in dem wir uns vorfinden. Aus diesem Zustand erwächst die Sünde als Tat in der Übertretung von Gottes heilsamen und unveränderlichen Geboten, die nach dem Sündenfall Schutz vor einer Selbstschädigung menschlichen Lebens und Zusammenlebens sind sowie der Maßstab von Gottes Gericht. Jeder Mensch steht in dem Ringen von Gut und Böse, in Anklage und Verteidigung. Die­ ses innere Gericht aber verweist auf den »Tag, an dem Gott das Verborgene der Menschen durch Christus Jesus richten wird, wie es mein Evangelium bezeugt« (Römer 2,16). Gewissen/Herz ist der Ort, an dem sich die Begegnung mit Gott und seinem Wort vollzieht. Das geschieht im Hören des Wortes in vertrauendem Gehorsam oder eben in eigenwilligem Ungehorsam. Rechte christliche Ethik hat ihren Ort und ihre Aufgabe im dritten Artikel des Glaubens­ bekenntnisses; sie richtet sich auf die Seelsorge mit den Mitteln von Wort und Sakrament. Wird sie jedoch von den Gnadenmitteln gelöst, dann verselbständigt sie sich zu einer legalistischen Kasuistik. Sie richtet sich dann ganz auf die Be­ antwortung der dem klaren Gebot ausweichen­ den Scheinfrage »was soll ich tun?« (conscientia antecedens) Sie verkommt zu einem Gesetzes­ kommentar für eine zeitgemäße Anpassung von Bibeltexten. Dasselbe war in der Reformations­ zeit an der legalistischen Praxis von Buße und Beichte zu beobachten. Die Wirkung des Wortes Gottes und der Sakramente jedoch in Verkündigung, Unter­ weisung und Seelsorge zielt auf das Gewis­ sen mit der Erkenntnis »was habe ich getan?« 18

(conscientia subsequens) (2.Samuel 12; Matthäus 19,16–26). Interpretation von Texten ist etwas völlig anderes als die Begegnung der Gewissen mit dem richtenden und rettenden Wort Gottes. Wenn in Kirche und Theologie die Wirkung des Wortes Gottes auf die Gewissen nicht be­ achtet wird, kommt es zu einer Verunsiche­ rung der Gewissen (Römer 14,23). Menschen werden durch kirchenamtliche und synodale Entscheidungen verführt und auf diese Weise dem Gericht Gottes ausgeliefert. Deshalb wer­ den die von Gott eingesetzten Wächter in al­ ler Deutlichkeit und Strenge gewarnt, weil sie sich durch ihre Versäumnisse Gericht und Strafe Gottes selbst zuziehen (Matthäus 7,15–21; Lu­ kas 6,43–45; Römer 1,32; Hesekiel 3,16–21; 13,17–23; 33,1–20; Hebräer 13,17). WW Die Wirkung von Gottes Wort ist immer zweifach: Gericht und Gnade, Verstehen und Ver­ stockung, Glaube und Unglaube. Diesem Vorgang kann sich kein Mensch entziehen, und keine exegetische Methode oder ethische Frage kann das aufheben, wohl aber verdecken und verleugnen durch so genannte Verste­ hensfragen. Auch Beschlüsse und Erklärungen von Personen und Gremien einer Kirchenver­ waltung können das niemals mit Mehrheitsbe­ schlüssen und Disziplinarmaßnahmen durch­ setzen. Denn es ist Gott, der hier in seinem unveränderlichen und unwiderstehlichen Wort am Werk ist (Jesaja 55,8–11) (s. o.). WW Gesetz (Richtstuhl) und Evangelium (Gnadenstuhl), tötender Buchstabe und lebendigmachender Geist (2.Korinther 3): Wo der Geist Gottes nicht wirkt, wirkt das Wort Got­ tes als Anklage, weil nur Gott Sünden verge­ ben kann (Markus 2,7). Durch Mehrheits­ beschlüsse irgendwelcher Gremien kann das eindeutige Kriterium für das Urteil Gottes in seinem Gericht niemals aufgehoben werden, auch wenn kirchliche Instanzen sich mit sol­ chen Beschlüssen im Widerspruch zu Gottes klarem Wort an die Stelle Gottes setzen. Wenn in Kirche und Theologie die Botschaft vom Gericht Gottes und von der Rettung aus dem Gericht durch den Glauben an Jesus Chris­ tus verschwiegen wird, dann werden in der Welt die Forderungen nach Bekenntnis der Schuld, Wiedergutmachung etc. umso lauter: Schuld kann in der Welt offenbar nicht vergeben, son­ dern nur nachgetragen und bestraft werden. WW Alter Mensch im Fleisch der Sünde, neu­ er Mensch durch den Geist Gottes (Römer 6–8). Das Ringen zwischen dem alten Men­ schen im Fleisch der Sünde und dem neuen Menschen durch den Geist Gottes geschieht durch die Taufe, zu der im Auftrag des auf­ JUNI 2017

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erstandenen Herrn alle Völker zu rufen sind: »Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe« (Matthäus 28,19f.). »Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur. Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden« (Markus 16,16). Dieses Ringen, das sich als Folge der Taufe in jedem Christen vollzieht, führt zugleich unaus­ weichlich zu einer Entfremdung von der Welt (1.Petrus 4,1–6) und zum Hass der Welt (Mat­ thäus 5,10–12; Johannes 15,18 u. a.). Daher sagt der Herr zu seinen Jüngern: »In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden« (Johannes 16,33).

Nicht Dogmenentwicklung, sondern Dogmengegensatz Daher können für Theologie und Kirche zu­ fällige geschichtliche Ereignisse und menschli­ che Ansichten, Forderungen und Verhaltens­ weisen niemals eine normative – dogmatische – Funktion beanspruchen: »Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Wort Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.«21 Entscheidungen –– Scheidungen Von Amtsträgern und kirchenamtlichen In­ stitutionen wird dekretiert:22 »Gott braucht kein Sühnopfer […]«, – »Wenn Jesus heute leben würde, wäre wahrscheinlich sein Verständnis von Sexualität das von heute […]«, – »Das Sola Scriptura (die Schrift allein) lässt sich heute nicht mehr in der gleichen Weise verstehen wie in der Reformationszeit«, – »Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben […]«, – »Paulus kannte noch nicht […]«, – »[…] nach der Aufklärung kann man nicht mehr […]«, – »die Aufklärung muss nachgeholt werden […]«. Es werden Forderungen und Programme auf­ gestellt wie: »ein artgemäßes Christentum« her­ zustellen (1933) und »Kirche geschlechtergerecht gestalten« (7. April 2015).23 »Die überwiegende Mehrheit der Juden und Christen zieht die aufgeklärte der fundamentalistischen Bibeldeutung vor […] In solchen Drohungen und Gewaltszenarien INFORMATIONSBRIEF 304

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spiegeln sich die Vorstellungen früherer Generationen von gerechter Strafe und Denkzettelpäda­ gogik wider, nicht aber die Auffassung heutiger Gläubiger. Beide Religionen (Christentum und Judentum R. S.) haben sich weiter- und dabei stark auseinander entwickelt […]« – »Jesus, der Gottesmann und Meister, ist tot. Sein Leib wird vergehen wie jeder Menschenleib. Aber das, was in ihm göttlich war, seine Sache, seine Haltung, seine Leidenschaft und sein Einsatz für das wahre Leben, das ist mitnichten tot. Es lebt – wenn sie, die Nachfolger es wollen. Durch sie und mit ihnen wird es leben […]« Alle diese und viele ähnliche Dekrete sind Anpassungen an geschichtliche Entwicklun­ gen und gesellschaftspolitische Forderungen im offenen Widerspruch zu Gottes Wort in der Heiligen Schrift. Das ist nicht nur theologische Unkenntnis, sondern Verleugnung und offen­ sichtliche Irrlehre, die stets darin besteht, dass man sich den Vorstellungen, Wünschen und Forderungen der Umwelt anpasst: »[…] denn ich fürchtete das Volk und gehorchte seiner Stimme« (1.Samuel 15,24, vgl. das goldene Kalb 2.Mose 32,21–24). Theologische Sachkenntnis wird auf diese Weise durch politische Interessen ersetzt und mit entsprechenden Zwangsmaßnahmen durch­ gesetzt.24 Auf diese Weise wird die Wahrheit des Wortes Gottes durch eine herrschende öffentli­ che Meinung ersetzt. Wenn man hier von einem Pluralismus von Theologien spricht, dann sind das Subjekt sol­ cher Theologien Menschen mit ihren Gottes­ vorstellungen oder auch Gotteserfahrungen. So trifft man auch in der Fachtheologie im­ mer wieder auf die Analyse so genannter »Gottesbilder«, »Gottesbegriffe«, von »Gottesbewusstsein«. Man muss dann schon fragen, wie steht es mit der strengen und ernsten Warnung Gottes »Du sollst dir kein Bild und Gleichnis machen […] Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen […]« (2.Mose 20,4ff.; 5.Mose 5,8ff.;), »geheiligt werde dein Name« (Matthäus 6,9; Lukas 11,2)? In Heiligkeit und Heiligung des Namens Gottes liegt die Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf: Gott begegnet seinem erwählten Volk nicht im Bild von Geschaffenem, sondern in seinem Wort (5.Mose 4,1–23). Es handelt sich in Wirklichkeit nicht um eine Dogmenentwicklung, sondern um einen Dogmengegensatz: An die Stelle des Wortes Gottes der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments treten Einsicht von Menschen und Anspruch von kirchlichen Instanzen. Wenn gilt, dass »sich alle historische Wahrheit grün19


det auf menschlichen Glauben an menschliches Zeugnis«25 dann haben wir es hier mit einem anderen, nichtchristlichen Glauben zu tun. Die Vorstellung von einer Veränderung durch ge­ schichtliche und gesellschaftliche Entwicklung verhüllt lediglich die Entscheidung, bei der es in Wahrheit um Bekennen und Verleugnen geht (Matthäus 10,32f.; Markus 8,32–38). Man muss mit aller Deutlichkeit sehen und sagen: Mit dieser Auffassung von der Heiligen Schrift und dem Wort Gottes wird dem Glauben an Jesus Christus die Grundlage entzogen, und der Gottesdienst wird zu einer gefühlsbetonten oder gesellschaftspolitischen Publikumsveran­ staltung, weil der Dreieinige Gott in seinem ge­ genwärtigen Handeln darin nicht mehr Subjekt, sondern Objekt ist. Wenn das Wort Gottes der Heiligen Schrift als Text der Antike und die Sakramente als »nachösterliche Gemeindebildung« aufgefasst und entsprechend verwaltet werden, dann wer­ den sie zu leeren Riten zur Begleitung in den Wechselfällen des Lebens und zur Befriedigung religiöser Bedürfnisse. Dazu Luther: »Darum soll man das Evangelium nicht messen nach der Meinung derer, die es hören, sondern nach dem kleinen Häuflein derer, die es fassen; dieselben scheinen nicht, man sieht sie nicht an, und Gott handelt verborgen in ihnen.«26

»Ich aber sage euch …« In seiner Bergpredigt (Matthäus 5–7) hebt der Sohn Gottes die Gebote Gottes nicht auf und passt sie auch nicht den Forderungen und Bedürfnissen der Zeit an. Er führt vielmehr von menschlichen Deutungen und Änderungen zurück zu dem ursprünglichen Willen Gottes. Er prüft, was in den Tiefen eines Menschenherzens vorgeht. Er warnt vor dem Gericht Gottes. Entscheidungen –– Scheidungen Es ist erschütternd, mit welcher Leichtfertig­ keit und welchem Hochmut in theologischen und kirchenamtlichen Äußerungen mit diesem göttlichen Anspruch »Ich aber sage euch […]« klare göttliche Gebote, Ordnungen und Weisun­ gen außer Kraft gesetzt werden. Die Ehe wird nicht mehr als Schöpfungsordnung unter dem Segen und Auftrag Gottes (1.Mose 1,26–30; 2,18–24) sowie nach dem Sündenfall durch sein Verbot »Du sollst nicht ehebrechen« geschützt, erkannt. Vielmehr folgt man einer verbreiteten Auffassung,27 nach der die Triebbefriedigung mit sämtlichen Sexualpraktiken, die vom Wort Gottes als Strafe Gottes und als »widernatür­ lich« (Römer 1,18–32) verurteilt werden, nicht 20

nur anerkannt, sondern sogar gesegnet werden. Welche Anmaßung von kirchlichen Amtsträgern ist es, wenn sie aller Welt durch Wort und bis­ weilen leider auch durch schlechtes Beispiel pro­ klamieren, dass Gottes Tat und Wort sich dem Verhalten von Menschen anzupassen habe? Die göttlichen Straffolgen sind durchaus er­ kennbar für jedermann, auch wenn sie als Gesell­ schaftslügen eifrigst verdrängt und beschönigt werden. Z. B.: Das seit alten Zeiten auftretende soziale Problem der »Alleinerziehenden«, wenn ein Elternteil sich der Verantwortung für das ge­ meinsame Kind entzieht; »Lebenspartner«, also Konkubinate, in denen auf Recht, Schutz und Würde durch die förmliche Ehe – meist für die Frau, aber auch mit Folgen für die Kinder – ver­ zichtet wird;28 physische Strafen wie HIV, He­ patitis, Geschlechtskrankheiten, die als Leiden beschönigt werden; psychische Schädigungen bei Erwachsenen und nicht zuletzt die unabsehba­ ren folgenreichen Störungen bei Kindern in den Entwicklungsjahren u. a. m.29 In alledem hätten die Amtsträger der Kir­ che ihr Wächteramt wahrzunehmen (Hesekiel 3,17–21; 33,7–20) und die ganze Gemeinde die Vorbildlichkeit ihrer Lebensführung (Matthäus 5,13–20). Gerade bei diesem Lebenszeugnis geht es, zumal für Amtsträger, nicht darum, sich herrschenden Verhaltens- und Lebensweisen anzupassen, sondern die gute Ordnung und das heilsame Recht Gottes gerade auch für die Au­ ßenstehenden zu bezeugen (1.Timotheus 3,7).

Wo Christus ist, da ist auch der Antichrist am Werk Das ist im Ringen zwischen wahrer und falscher Kirche sogar ein unübersehbares Zeichen für das Vorhandensein von Kirche und von der Wirkung des Wortes Gottes. Das ist auch in unserer Zeit zu erkennen. So Luther: »Wo also Wort und Sakrament in rechter Weise bleiben, da ist die heilige Kirche, ganz gleich, selbst wenn der Antichrist dort herrscht.«30 Entscheidungen –– Scheidungen Der schlimmste Fehler in kirchlicher Ver­ kündigung und Unterweisung geschieht dann, wenn an die Stelle der Rechtfertigung des Sün­ ders durch Umkehr, Buße und Vergebung eine Rechtfertigung der Sünde durch Umdeutung oder Aufhebung der heiligen, klaren und unver­ änderlichen Gebote Gottes tritt. Vom Herrn ist das Auftreten des Antichrists sowie der Irrlehrer und Lügenpropheten als Zeichen der Endzeit angesagt (Markus 13pp.; 2.Timotheus 3,1–9). Wir erfahren aber auch (z. B. Jeremia 7,18ff.; JUNI 2017

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44,15ff.; Hesekiel 13 u. a.), wie falsche Pro­ pheten und Prophetinnen in der Geschichte des Alten Bundes ihr Unwesen treiben, indem sie ihre eigenen Worte und Träume als Gottes Wort ausgeben, indem sie sich den Fruchtbar­ keits- und Sexualkulten von Baal und Astarte bis hin zu Menschenopfern der umliegenden Völ­ ker anschließen (3.Mose 18; 20,2–5; 2.Könige 23; Jeremia 32,26–35) und vieles andere mehr, was uns auch in unserer Zeit begegnet. Es ist ein unübersehbares Zeichen für die Wirkung des Wortes Gottes, dass die Schriften des Alten Bundes genau auf die Missstände gerichtet sind, die wir heute vor Augen haben. Durchgehend handelt es sich damals wie heute darum, dass Gottes Wort durch Menschenworte aufgehoben und ersetzt wird. In aller Deutlichkeit werden in 2.Thessaloni­ cher 2 dafür die Augen geöffnet: »Der Mensch der Bosheit« – in genauer Übersetzung: »der Mensch der Gesetzlosigkeit«: »Er ist der Widersacher, der sich erhebt über alles, was Gott oder Gottesdienst heißt, so dass er sich in den Tempel Gottes setzt und vorgibt, er sei Gott. Erinnert ihr euch nicht daran, dass ich euch dies sagte, als ich noch bei euch war? Und ihr wisst, was ihn noch aufhält, bis er offenbart wird zu seiner Zeit. Denn es regt sich schon das Geheimnis der Bosheit; nur muss der, der es jetzt noch aufhält, weggetan werden, und dann wird der Böse offenbart werden. Ihn wird der Herr Jesus umbringen mit dem Hauch seines Mundes und wird ihm ein Ende machen durch seine Erscheinung, wenn er kommt. Der Böse aber wird in der Macht des Satans auftreten mit großer Kraft und lügenhaften Zeichen und Wundern und mit jeglicher Verführung zur Ungerechtigkeit bei denen, die verloren werden, weil sie die Liebe zur Wahrheit nicht angenommen haben, dass sie gerettet würden. Darum sendet ihnen Gott die Macht der Verführung, so dass sie der Lüge glauben, damit gerichtet werden alle, die der Wahrheit nicht glaubten, sondern Lust hatten an der Ungerechtigkeit« (2.Thessaloni­ cher 2,4–12).

Gottes Gnade im Gericht: »Herr, du bist gerecht, und alle deine Gerichte sind lauter Güte und Treue« (Tobias 3,2) Durch sein Wort offenbart uns der Dreieinige Gott den Grund der Welt und ihrer Ordnung. Gott ist ebenso Herr über die Geschichte und alles, was darin geschieht: »Ich bin der Herr, und sonst keiner mehr, der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis, der ich Frieden gebe und schaffe Unheil. Ich bin der Herr, der dies alles tut« (Jesa­ INFORMATIONSBRIEF 304

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ja 45,6f.). »Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht annehmen?« (Hiob 2,10) So führt uns Gottes Wort zum Gebet, indem darin die erfahrene Wirklichkeit unseres Lebens aufgenommen und vor Gott gebracht wird. Dazu werden wir durch die Psalmen angeleitet. Entscheidungen –– Scheidungen Es ist eine natürliche Reaktion von uns Men­ schen allen, allem auszuweichen und alles zu verdrängen, was irgendwie mit Gericht und Strafe Gottes zu tun hat. Doch gerade darin manifestiert sich unsere Begegnung mit Gott und unser Verhältnis zu ihm, nämlich eine natürliche Gottesfurcht. Außerdem zeigt sich aber auch das krampfhafte Bemühen, dass man sich selbst einen Gott nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen macht, so wie Aaron un­ ter dem Druck des Volkes ein »goldenes Kalb« machte (2.Mose 32), für das man alle Wertge­ genstände opferte, um etwas Greifbares und Anschauliches zu bekommen, das – zumal in einer Wüste – die Volksgemeinschaft verbindet und trägt. Wir Menschen brauchen etwas, was Richtung, Halt und Zusammenhalt bietet. Das ist für jeden Menschen und für jede menschliche Gemeinschaft eine elementare Notwendigkeit. Auf diese Weise wird die Widrigkeit unserer Lebenswirklichkeit, wenn nicht aufgehoben, so doch verdeckt. Religion wäre demnach eine Er­ füllung von unerfüllten Herzenswünschen, wie das Ludwig Feuerbach (1804–1872) formulier­ te, oder, marxistisch, »Opium des Volkes«. Gottes Wort, die Heilige Schrift, jedoch be­ zeugt von Anfang bis Ende, dass wir keineswegs einen nur lieben und barmherzigen Gott haben, sondern Gottes Gerechtigkeit zeigt sich gerade darin, dass er als Richter sowohl Strafe wie Gna­ de austeilen kann. Der Maßstab dafür sind seine unveränderlichen Gebote (z. B. 2.Mose 20,5f.). Diese Erkenntnis von Segen und Fluch (5.Mose 27–28), von Gnade und Gericht ist je­ doch keine leere Theorie oder Weltanschauung, sondern darin vollzieht sich ganz unmittelbar, aber auch unausweichlich die Wirkung von Got­ tes Wort und Handeln. D. h., man kann dieses durchgehende Zeugnis von Gottes Handeln an seiner Schöpfung und seinen Geschöpfen ver­ drängen und verschweigen; doch man kann es nicht beseitigen. Denn gerade wo und wenn es verschwiegen wird, vollzieht sich unweigerlich das Gericht Gottes: »Deine Propheten haben dir trügerische und törichte Gesichte verkündet und dir deine Schuld nicht offenbart, wodurch sie dein Geschick abgewandt hätten, sondern sie haben dich Worte hören lassen, die Trug waren und dich 21


verführten« (Klagelieder 2,14). Gott leitet uns in seinem Wort an, die Wirklichkeit dieser Welt und die Erfahrungen unseres Lebens nicht nur zu verstehen, sondern auch zu bestehen. Ist es nicht auffallend, wie im Alten Testa­ ment die Verkündigung der Propheten durch­ gehend in Gericht und Gnade, in Segen/Lohn und Strafe sowohl für die Völker der Welt wie auch für den einzelnen Menschen besteht? Es zeigt sich dabei aber auch, wie diese Propheten wegen ihrer Verkündigung verfolgt, vertrieben und sogar getötet werden. Die Heilspropheten haben immer den größeren Zulauf (vgl. 5.Mose 18,9ff.; Jesaja 28,7ff.; Jeremia 7; 15,10ff.; 23; 19; 28; Amos 7,10ff. u. a. m.). So hören wir auch die Klage des Propheten: »Ach, mit wem soll ich noch reden, und wem soll ich Zeugnis geben? Dass doch jemand hören wollte! Aber ihr Ohr ist unbeschnitten; sie können’s nicht hören. Siehe, sie halten des Herrn Wort für Spott und wollen es nicht haben« (Jeremia 6,10). So vollziehen sich, ob wir das wollen oder nicht, ob wir das predigen oder verschweigen, das Gericht und die Strafen Gottes in unserer Welt und Geschichte. Das Evangelium Jesu Christi aber ist die Ver­ kündigung: »Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!« (Markus 1,15) Damit ist Gericht und Strafe Gottes nicht beseitigt, wohl aber aufgehoben: »Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn« (Jesaja 53,4–6). Die Größe der Gnade Gottes wird überhaupt erst verständlich, wenn wir das erkennen und empfangen, was uns durch den Sohn Gottes geschenkt wird.

»Der Geist der Bourgeoisie gewinnt immer dann die Oberhand unter Christen, wenn die irdische Stadt mit der himmlischen verwechselt wird und wenn Christen sich nicht mehr als Pilger in der Welt erfahren.«31 Entscheidungen –– Scheidungen Der Tag des Herrn ist das uns im Alten wie im Neuen Testament angekündigte Ziel und 22

Ende der Geschichte mit dem Zusammenbre­ chen von Himmel und Erde (2.Petrus 3,10). Christus wird wieder erscheinen als Richter über Lebende und Tote. Geschichte im Licht des Wortes Gottes ist da­ her nicht eine Fortentwicklung der Menschheit durch Emanzipation und Selbstbestimmung. Die wahre Kirche hat vom Herrn den Auftrag, das Evangelium, die frohe Botschaft von Um­ kehr und Rettung aus dem kommenden Gericht aller Welt zu verkündigen. In der Erwartung eines Endgerichts mit der Wiederkunft eines Messias stimmen die drei großen Religionsgemeinschaften Juden, Chris­ ten, Moslems, überein, selbst wenn sie Jesus Christus, den Sohn Gottes, nicht anerkennen. Sie stimmen auch im Wesentlichen überein in den göttlichen Geboten als Kriterium für die Gerichtsentscheidung. Hier hätte ein sinnvolles Gespräch zwischen den Religionsgemeinschaf­ ten einzusetzen. Wenn der Messias als Richter und Retter kommt, werden alle Menschen, le­ bende und tote, ihn erblicken, und er wird die Seinen zu sich nehmen in seine himmlische Herrlichkeit (Johannes 19,37; Weisheit 1,2.10; Offenbarung 1,7). Wenn die Kirche sich um eine Anpassung an die Welt bemüht, hat sie ihren Auftrag, der aller Welt und allen Menschen gilt, verfehlt und ihr göttliches Wesen verleugnet. Sie wird zu einer gesellschaftspolitischen Einrichtung, die ihren Nutzen und vor allem ihre Anerkennung in der Öffentlichkeit sucht. Als »Salz der Erde, Licht der Welt und Stadt auf dem Berge« (Matthäus 5,13f.) taugt und wirkt sie dann nicht mehr (Lukas 14,33–35).

Die Kirche hat weder Auftrag noch Möglichkeit, das Reich Gottes und das durch menschliche Schuld v ­ erlorene Paradies auf Erden ­wiederherzustellen Wohl aber hat sie den Auftrag, alle Welt auf das kommende Gericht über Lebende und Tote durch die Verkündigung des Evangeliums im Glaubensgehorsam gegenüber Jesus Christus, den Richter und Retter aller Menschen, vorzubereiten. »Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir« (Hebräer 13,14). »Es spricht, der dies bezeugt: Ja, ich komme bald. – Amen, ja, komm, Herr Jesus! Die Gnade des Herrn Jesus sei mit allen!« (Offenbarung 22,20f.) JUNI 2017

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Eine Ermahnung Luthers zum Reformationsjubiläum »[…] Das sollt ihr aber tun: Ihn sollt ihr heiligen, das ist, heilig halten und preisen, welches ist nichts anderes, denn seinem Wort glauben, dass ihr an ihm wahrhaftig solchen Gott habt, der euch, so ihr um Gerechtigkeit willen leidet, nicht vergessen noch verlassen habe, sondern euch gnädiglich ansehe und gedenke selbst zu helfen und an euren Feinden zu rächen. Denn solcher Glaube und Bekenntnis tut ihm die Ehre, dass er wahrhaftiger Gott ist, und kann ihn tröstlich und fröhlich anrufen, von ihm Hilfe erwarten und alle sein Herz auf ihn wohl zufrieden stellen; denn er weiß, dass sein Wort und Verheißung als die gewisse Wahrheit nicht trügen noch fehlen kann. Dagegen die anderen, so nicht glauben, die können auch Gott nicht heiligen noch ihm Ehre tun, die ihm als Gott gebührt, ob sie schon viel von Gott rühmen und großen Gottesdienst vorgeben. Denn sie Gottes Wort nicht für wahr halten, sondern immer im Zweifel bleiben und denken (wenn sie etwas leiden sollen), sie seien gar von Gott vergessen und verlassen. Darum murren und zürnen sie mit großer Ungeduld und Ungehorsam wider Gott, fahren darob zu und wollen sich selbst durch eigene Gewalt schützen und rächen. Damit geben sie sich selbst an den Tag, dass sie sind solche Leute, die da wahrhaftig keinen Gott haben noch wissen […]«32 W

1) Dieser Text fasst zusammen, was ich in letzter Zeit in verschie­ denen Texten und an verschiedenen Orten im Hinblick auf das Reformationsjubiläum behandelt habe. 2) WA 56, 441ff. 3) Johann Olearius (1611–1684), EG 197,2. 4) Die Lutherzitate sind sprachlich geglättet bzw. aus dem ­Lateinischen übersetzt. 5) WA TR 2, 287,21–28. 6) WA 3, 397,9–11. Erste Psalmenvorlesung 1513–1516. 7) WA 30, III, 213,34. Von Ehesachen 1530. 8) Großer Katechismus, zum 1. Gebot, BSLK 570, 13. 9) WA 42, 120,36f. 10) Martin Luther, Assertio omnium articulorum 1520. WA 7, 98, 40–99, 2. 11) WA 12, 362,17–29. Epistel S. Petri gepredigt und ausgelegt, 1523. 12) Kleiner Katechismus. Drittes Hauptstück, Das Vaterunser, erste Bitte. 13) Kleiner Katechismus. Drittes Hauptstück, Das Vaterunser, erste Bitte. 14) WA DB 7, 11,6ff. Vorrede zum Römerbrief. 15) So die Behauptung im »Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. ›Rechtfertigung und Freiheit‹« vom Mai 2014, S. 37. 16) Kleiner Katechismus, Vaterunser, Anrede. 17) Großer Katechismus, Auslegung des 1. Gebots. 18) So in dem deutschen »allgemeinen Gleichstellungsgesetz« vom 14. August 2006. 19) Daher wird in Artikel 1 der Confessio Augustana ausdrücklich betont: »[…] dass ein einig göttlich Wesen sei, welchs genannt wird und wahrhaftiglich ist Gott […]«: Der Name Gottes INFORMATIONSBRIEF 304

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ist Gott selbst, nicht also eine Theologenerfindung oder Zeiterscheinung!­ 20) Kleiner Katechismus. Vorrede (BSLK 505, 23–28). 21) Barmer Theologische Erklärung, 1934, These 1. 22) Da es hier nicht um einzelne Personen geht, sondern um die zu jeder Kirche und jeder Zeit auftretende Erscheinung von falscher Kirche und Lehre in der Kirche, wird ausdrücklich auf eine Personalisierung mit Quellenangaben verzichtet. Für jede Aussage sind jedoch die Belege vorhanden. Das Ringen zwi­ schen wahrer und falscher Kirche ist Kennzeichen von Kirche. 23) Die blinde Wiederholung kirchenamtlicher Fehlentscheidungen ist schon erschütternd: Bei dem »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 (Arierparagraf) war keine Übernahme des staatlichen Gesetzes von den Kirchen gefordert worden. Die Marburger wie auch die Erlanger Theo­ logische Fakultät hatten in ihren Gutachten auch ausdrücklich davor gewarnt. Gleichwohl folgten die Generalsynode der Altpreußischen Union sowie die Synoden von Braunschweig, Sachsen, Lübeck und Hessen-Nassau eilfertig und ohne jeden Zwang der gesellschaftspolitischen Bewegung der Zeit. Die Forderungen des »Gender Mainstreaming mit dem Allge­ meinen Gleichstellungsgesetz« (Antidiskriminierungsgesetz) vom 14. August 2006 wurden von der EKD mit allen Landes­ kirchen und unter Mitwirkung aller Theologischen Fakul­ täten übernommen, obwohl bei diesem für das Arbeitsrecht geltenden Gesetz sogar ausdrücklich (§§ 8 und 20, 4) »eine zulässige unterschiedliche Behandlung wegen der Religion und Weltanschauung« vorgesehen ist. Wenn es früher noch »intakte Landeskirchen« und verantwortliche Fakultäten gab, so ist davon heute offenbar nichts mehr wahrzunehmen: Man folgt ohne Zwang dem, was als gesellschaftlicher Fortschritt in der Entwicklung der Menschheit angesehen wird. 24) Dies ist bei osteuropäischen Kirchen zu beobachten. Sie haben unter der Sowjetherrschaft das Martyrium überstanden; heute werden sie vom Meinungszwang aus Schwesterkirchen einer Wohlstandsgesellschaft unterdrückt, indem ihnen notwendige und zugesagte Finanzhilfen entzogen werden, wenn sie sich den gesellschaftspolitischen Forderungen etwa der Frauen­ ordination bzw. der Segnung homosexueller Partnerschaften deshalb verweigern, weil sie dem Wort Gottes widersprechen. 25) Chr. M. Wieland (1733–1813 – ein Aufklärungsphilosoph!!), Geschichte der Abderiten, Reclam 331, Stuttgart 1958, S. 347. 26) WA 12, 509,12–14. Predigt am 3. Ostertag, 7. April 1523, zu Lukas 24,36ff. 27) Was auf diesem Gebiet als wissenschaftliche Erkenntnis behauptet und verbreitet wird, ist bei näherem Zusehen in der Regel eine Selbstrechtfertigung von eigenen Formen von Triebbefriedigung. 28) Die christliche Kirche hat von Anfang an Konkubinate als volle Ehe angesehen und daher deren Auflösung als Ehebruch. Dazu: R. Slenczka, Aufklärung zur Ehe: Theologische Stel­ lungnahme zur Orientierungshilfe des Rates der Evangeli­ schen Kirche in Deutschland: »Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässlich Gemeinschaft stärken« (Gütersloh 2013), in: Neues und Altes Bd. 4, Neuendettelsau 2016, 375–399; und Informationsbrief Nr. 279, Juli 2013. 29) Kann man eigentlich noch übersehen, dass in unserer Ge­ sellschaft ein Zustand eingetreten ist, wovor Papst Paul VI. in seiner (Pillen-)Enzyklika »Humanae Vitae« vom 25. Juli 1968 gewarnt hat: »Man kann die Befürchtung haben, dass der Mann, wenn er sich an die Anwendung empfängnisverhü­ tender Mittel gewöhnt, damit endet, dass er die Achtung vor der Frau verliert und, ohne sich weiter um ihr physisches und psychologisches Gleichgewicht Sorge zu machen, dahin verirrt, sie einfach als Werkzeug selbstsüchtiger Befriedigung und nicht mehr als eine Gefährtin zu betrachten, der er Achtung und Liebe schuldet.« 30) WA 40, I, 71,21–23. 31) N. A. Berdjaev (1874–1948), Carstvo Božie i carstvo kesarija (Das Reich Gottes und das Reich des Kaisers) Putj 1, 1925, S. 53. 32) Martin Luther, Predigt über 1.Petrus 3,8–15, WA 22, 73, 10–29.

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Johannes Calvin –– Leben und Werk Teil 3 von 3 Karl Müller

Johannes Calvins Theologie Das zweite Gebot Wenn man eine von Zwinglis und Calvins Reformation herkommende reformierte Kirche betritt, so fällt einem immer – wenn sie echt reformiert ist! – ihre Schlichtheit auf. Kein Al­ tar, sondern ein Abendmahlstisch, keine Bilder, Kreuze oder gar Kruzifixe, Kerzen usw. Woher kommt das? Ist das falsche Sparsamkeit, Armut oder eine Art von Kargheitsfanatismus? Nein. Das rührt von dem Wissen her, dass ein Kir­ chengebäude nur den einen einzigen Zweck hat, dass nämlich die Gemeinde in ihm zusam­ menkommt, um Gottes Wort zu hören, zu sin­ gen, zu beten, Taufe und Abendmahl zu feiern. Deshalb geht es im evangelischen, speziell im reformierten Gottesdienst allein um die Bibel. Und alles, was vom Hören des Wortes Gottes ablenken könnte und ablenkt, soll vermieden werden. Eine Kirche ist schließlich auch keine Bildergalerie oder ein Museum. Dass es auch keine Kreuze darin gibt, hängt mit der Erfah­ rung zusammen, dass alle Symbole (wie auch Kreuze) vom eigentlichen Gegenstand, auf den sie hinweisen sollen, ablenken. Bilder von Jesus z. B., die angeblich nur »verehrt« werden sollen, oder gar Kruzifixe, pflegen immer und überall an die Stelle Jesu Christi zu treten. Zwingli und

Karl Müller Die Anschrift des Autors finden Sie auf Seite 30

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Calvin und überhaupt die reformierten Kirchen haben das zweite Gebot »Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen […]« (2.Mose 20,4–6) ganz ernst genommen und be­ folgt. Dieses verbietet eindeutig jedes Bild von Gott Vater wie vom Sohn und dem Heiligen Geist; ein Kruzifix ist deshalb ausgeschlossen. Hier liegt wieder ein gewichtiger Unter­ schied zu Luther vor, der in seinen beiden Ka­ techismen das zweite Gebot weggelassen hat – genau wie die römisch-katholische Kirche, die im frühen Mittelalter aus den Zehn Geboten das zweite Gebot entfernt, also gestrichen hat, weil es angeblich nur für Israel galt. Für Zwingli wie Calvin war klar: Wenn Gott es sich eindeu­ tig verbittet, von ihm ein Bild zu machen, dann gilt das für den Vater wie für den Sohn und den Heiligen Geist. Gott ist ja doch durch sein Wort und den Heiligen Geist in seiner Gemeinde ge­ genwärtig. Da bedarf es keiner figürlichen oder sonstigen Darstellung. Die bleibt verboten. Ge­ horsam gegen das zweite Gebot! Das Heilige Abendmahl Was das Heilige Abendmahl betrifft, so nahm Calvin eine zwischen Zwingli und Luther ver­ mittelnde Stellung ein. Während bekanntlich Luther in Marburg beim Religionsgespräch 1529 meinte, die Abendmahlsworte »Das ist mein Leib« und »Das ist mein Blut« seien wört­ lich zu verstehen, erklärte Zwingli, das dürfe man nicht wörtlich verstehen, sondern das wäre symbolisch zu verstehen im Sinne von »Das be­ deutet mein Leib« bzw. »Das bedeutet mein Blut«. Auch Zwingli hat von Anfang an Ge­ wicht darauf gelegt, dass im Abendmahl »durch den Glauben unserer Seele der ganze Christus, auch seine Leiblichkeit gegenwärtig ist«, wie der große Zwingli-Forscher Gottfried W. Locher schreibt.42 Da war Luther, was das Abendmahl JUNI 2017

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betrifft, noch etwa im römisch-katholischen Denken stecken geblieben, auch wenn er das Zentrale, die Lehre von der Wandlung (Trans­ substantiationslehre) der römischen Kirche ab­ lehnte. Calvin hat Zwinglis Aussage aufgenom­ men und gelehrt, dass Christus natürlich nicht im Brot und im Wein enthalten ist, sondern dass Christus durch den Heiligen Geist in der Ge­ meinde beim Abendmahl gegenwärtig ist. Cal­ vin hat also Zwinglis Aussagen weitergeführt. Die Prädestinationslehre Da müssen wir noch eine Lehre benennen, die Calvin besonders wichtig war, die so ge­ nannte Prädestinationslehre. Da hat man oft, auch in Schulbüchern, behauptet, dass Calvin den Christen die »abscheuliche Lehre von der Gnadenwahl aufgehalst habe«.43 So erscheint oft auch in Schulbüchern die Behauptung, der Genfer Reformator habe die Prädestinationsleh­ re erfunden. Doch das ist falsch. Erstens geht die Lehre von der Erwählung auf die Heilige Schrift selbst zurück, wenn es in Epheser 1,4 heißt: »Denn in ihm [d. h. in Christus] hat Gott uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war.« Erwählung der Gemeinde Jesu Christi also bereits vor der Erschaffung der Welt! Das müssen wir fest im Auge behalten. Die Lehre von der Erwählung ist also biblische Lehre und nicht Calvins Erfindung. Zweitens haben alle Reformatoren, gerade auch Luther, eine Erwählungslehre, eine Prädestinationslehre gelehrt. Calvin ist also nicht der Urheber dieser Lehre.44 Johannes Calvin unterschied sich jedoch von Luther und anderen, die auch die Prädes­ tinationslehre vertraten, darin, dass er glaubte, Gott habe die einen dazu erwählt zu glauben an Christus und deshalb am ewigen Leben teil­ zuhaben. Und Gott habe ebenso beschlossen, dass ein anderer Teil der Menschen dazu be­ stimmt sei, für immer in der Dunkelheit, d. h. in der Verlorenheit zu bleiben.45 Seiner Meinung nach bedeutete Gottes Entscheidung, einen Teil der Menschen zu erwählen, dass Gott eben den anderen Teil der Menschen nicht zu sich holen werde. Doppelte Prädestination also. Es gibt Stellen in der Bibel, aus denen man auf diese doppelte Prädestination schließen kann, und Johannes Calvin als vorzüglicher Bi­ belkenner kannte die Stellen genau. Aus Ephe­ ser 1,4 kann man darauf schließen. Aus Römer 9,11, wo von Gottes freier Wahl Jakobs die Rede ist, besonders aus Römer 9,15 kann man darauf schließen, wo es heißt: »Wem ich gnädig bin dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich«. Ganz be­ INFORMATIONSBRIEF 304

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sonders Römer 9,18 kann man die Lehre von der Verwerfung, also der Nicht-Erwählung ent­ nehmen: »So erbarmt er sich nun, wessen er will, und verstockt, wen er will!« Auch Römer 9,21f. weisen darauf hin, wenn da von »Gefäßen des Zorns, die zum Verderben bestimmt waren« die Rede ist. Und in Psalm 139,16 steht: »Deine [Gottes] Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein [Got­ tes] Buch geschrieben.« Doch die Prädestinationslehre ist nicht Cal­ vins Zentrallehre, wie man lange Zeit falsch behauptet hat. Aber sie ist ihm eine wichtige Lehre, weil sie zunächst einmal in ihrer einfa­ chen Form, die ja auch Luther lehrte, biblisch ist. Calvins Interesse im Blick auf die Prädesti­ nationslehre lag vor allem daran, die Majestät Gottes zu bewahren.46 Aber dass man an äuße­ ren Umständen ablesen könne, ob ein Mensch erwählt oder verworfen ist, das war für Calvin ausgeschlossen. Die Betonung liegt also bei dem Reformator auf der Erwählung zur Verge­ wisserung der Glaubenden.47 Calvins Lehre von der Prädestination unterstreicht die Souveräni­ tät Gottes und bringt gleichzeitig Gottes Liebe zum Ausdruck.48 Die Prädestination bringt den Menschen Gewissheit und Trost, betont der Re­ formator.49 Sie war allen verfolgten Hugenot­ ten ein starker Trost in Verfolgung und Not.50 Sie wussten im Glauben ganz fest: Christus hat mich erwählt, ich gehöre also ihm, was auch mit mir geschehen mag. Was aber nun die Nicht-Erwählung, die Ver­ werfung betrifft, so müssen wir sachlich feststel­ len, dass Calvin an den Bibelstellen, die von der Erwählung reden, weiter zu denken wagte. Na­ türlich betonte auch er 1.Timotheus 2,3: »Gott will, dass allen Menschen geholfen werde.« Als ausgezeichnetem Bibelkenner war ihm diese Botschaft völlig klar. Wenn er aber an Epheser 1,4 dachte, wo es ja heißt, dass Gott die Ge­ meinde, die Kirche vor Grundlegung der Welt erwählt hat, so musste er zweifelsohne daran denken: Was ist denn dann mit den anderen, die nicht erwählt sind? Calvin dachte eben dort weiter, wo das Ge­ heimnis anfängt, wie Professor Dr. Otto Weber einmal gesagt hat. Und Denken war noch nie von Gott verboten. Aber der glaubenden Ge­ meinde predigte Calvin, dass sie um ihre Erwäh­ lung in Jesus Christus wissen und deren ganz gewiss sein solle. Was Gott aber darüber hinaus, außerhalb der Erwählung tue, das solle die Ge­ meinde nicht kümmern. Ihre Aufgabe ist und bleibt, Menschen zum Glauben an Jesus Chris­ tus zu rufen, bis er wiederkommt in Herrlich­ keit. 25


Auswirkungen von Johannes Calvins Reformation Im Jahre 1559 gründete Johannes Calvin die Genfer Akademie, die Vorstufe der heutigen Genfer Universität. Unzählige Studenten aus ganz Europa studierten hier bei Calvin, auch aus Rheinhessen, aus Nassau-Dillenburg, auch aus Herborn. Sie brachten dann die reformatorische Botschaft zurück in ihre Heimatländer, z.  B. nach Schottland, England, die Nieder­ lande, Frankreich, Schweiz, Ungarn, Polen, Kurpfalz, Nordnassau, wo überall reformierte Kirchen gegründet wurden. Den Hugenotten lieferte der Reformator das Glaubensbekennt­ nis, die »Confessio Gallicana«. Die anglikani­ schen Glaubensartikel der englischen Kirche und das Schottische Bekenntnis sind von Cal­ vins Geist bestimmt. Ebenso der z. B. auch in Rheinhessen wie in vielen anderen Territorien gebrauchte Heidelberger Katechismus ist von ihm beeinflusst.

Johannes Calvins Weltbedeutung Der Genfer Reformator Johannes Calvin war neben Huldrych Zwingli in Zürich und Mar­ tin Luther in Wittenberg nicht nur der größte Reformator, sondern zugleich die größte ge­ schichtliche Persönlichkeit des 16. Jahrhun­ derts, die das Gepräge der westlichen Welt bis heute in weitem Maße bestimmt hat und da­ mit in seiner weltweiten Wirkung auch Luther übertroffen hat.51 Er wurde nach Luthers Tod (1546) neben Heinrich Bullinger, dem Nach­ folger Zwinglis in Zürich, der herausragende geistige und geistliche Führer der evangelischen Christenheit überhaupt. Seine Theologie und Predigt waren tief im Worte Gottes gegründet. Auch die Heidenmission lag Calvin am Herzen, so dass er 1555 einige Prediger nach Brasilien schickte zur Verkündigung des Evangeliums un­ ter den dortigen Eingeborenen. Die absolute Majestät Gottes und unsere in­ nige Gemeinschaft mit Jesus Christus, das waren die beiden Pole, um die Calvins Theologie sich drehte.52 So steht es bereits in der »Institutio«. Johannes Calvins geistlicher Horizont war weit, er umfasste den gesamten europäischen Raum. Er hat Luthers Gedanken reich und tief bewahrt und ist doch nicht bei Luther stehen geblieben, sondern Calvin hat – wie Zwingli – die Refor­ mation weitergeführt und vollendet, indem er überall versuchte, die Kirche zum Neuen Testa­ ment, also zu ihrem Ursprung zurückzuführen. Hans Ulrich Reifler schreibt:53 Calvins Einfluss auf die weltweite evangelische Gemeinde­arbeit 26

wurde u. a. im evangelischen Gottesdienst sicht­ bar, dessen zentrale Mitte die Predigt des Evan­ geliums und Gottes Anbetung durch die Psal­ mengesänge war. Laien wurden miteinbezogen in die Gemeindeleitung und Ausbreitung des Evangeliums. Generationen von vollmächtigen Verkündigern wurden in Genf ausgebildet, un­ ter ihnen die ersten reformierten Missionare La­ teinamerikas.

Unterschiede zu Luther Luther ist ja, bei all seinem Mut und seiner Größe, wie bereits gesagt, in so manchem Punkt ein wenig im Katholizismus hängen geblieben, etwa bei der Zählung der Zehn Gebote, bei der er die gekürzte Form der römischen Kir­ che beibehielt. So fehlt in Luthers beiden Ka­ techismen das zweite Gebot »Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen. […]« So fehlt im ersten Gebot die wichtige, evange­ lische Mitte »der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft erlöst habe«. So ist das vierte Gebot »Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest […]« zum simplen »Du sollst den Fei­ ertag heiligen« zusammengeschrumpft. Und so ist das zehnte Gebot in zwei Teile geteilt. Gegen »Altäre« hat Luther nichts unternom­ men, obwohl es doch nach dem Neuen Testa­ ment gar keinen Altar mehr geben kann, da das Opfer durch Jesus Christus ein für alle Mal (He­ bräer 9,12.26f.; 10,10) auf Golgatha vollbracht ist. In den reformierten Kirchen gibt es daher keinen Altar mehr, sondern einen Abendmahls­ tisch entsprechend 1.Korinther 10,21. Bei der Liturgie war Luther ebenfalls sehr konservativ und ängstlich, hat aus der römischen Messe nur das Entscheidende, die so genann­ te Wandlung (Transsubstantiation) entfernt und ansonsten die Messform mit ihren Pries­ tergesängen beibehalten. In der reformierten Schweiz, im gesamten südwestdeutschen und westdeutschen Raum, in lutherischen Gebieten wie Württemberg und der alten lutherischen Landgrafschaft Hessen wie in reformierten Ge­ bieten wie Kurpfalz und Nassau bis hinauf in den Nordwesten nach Bremen und Ostfriesland usw. wurde die Messe abgeschafft und der ein­ fache oberdeutsche Predigtgottesdienst ohne Priestergesänge eingeführt, wo die Predigt kla­ rer und eindeutiger Mittelpunkt war. Diesen Gottesdienst nennt man genau den »oberdeut­ schen Gottesdienst«. Die Rechtfertigungslehre, dass wir Menschen gerecht werden vor Gott allein durch den Glau­ ben an Jesus Christus aus Gottes Gnade haben alle Reformatoren vertreten; da gab es keinen JUNI 2017

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Johannes Calvin auf dem Sterbebett (Ultimos Momentos De Calvino, Montaner y Simón, Barcelona, 1880–1883)

Unterschied. Aber Calvin hat betont, dass man sich auf dieser wunderbaren Lehre nicht »aus­ ruhen« darf, sondern dass der rechte Glaube an Jesus Christus auch zum rechten Gehorsam, zum entsprechenden christlichen Lebenswandel führen muss. Das Gesetz Gottes, das nach Lu­ ther vor allem zur Erkenntnis der Sünde führen soll, hat Calvin viel positiver gesehen als Luther. Es hilft den durch den Glauben gerechtfertigten Christen zu einem Leben in Dankbarkeit.

Johannes Calvins Heimgang 1564 Johannes Calvin, von vielen Krankheiten ge­ plagt, starb am 27. Mai 1564 in Genf im tie­ fen Glauben an Christus im Alter von erst 54 Jahren. Der Genfer Stadtrat, also ein weltliches Gremium, bezeugte ihm nach seinem Tod: »Gott hatte seinem Wesen eine so große Erha­ benheit [Majestät] eingeprägt.«54 Ständig war Calvin um evangelische Einheit bemüht. Von seinem Sterbebett aus nahm er von allen Ab­ schied und bat dabei um Vergebung, wenn er einmal zu hart zu jemand gewesen sei. Für seine Beerdigung verbat er sich jedes Gepränge. Sein Grab sollte ganz einfach sein wie das jedes an­ deren Genfer Gemeindegliedes. Er wollte damit verhindern, dass es einmal zu einer Wallfahrts­ stätte werde. Als die Nachricht vom Heimgang des großen Genfer Reformators nach Bern kam, rief der Berner Reformator Berthold Haller – im Gedanken an den Heimgang des Propheten Elia (2.Könige 2,12) – erschüttert aus: »Mein Vater, mein Vater, Wagen Israels und seine Reiter!«55 INFORMATIONSBRIEF 304

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Und für die heute manchmal so verzagte evan­ gelische Kirche, die sich hier und da mit allen möglichen und unmöglichen Finessen meint anziehend zu machen, weil sie letztlich dem Worte Gottes nicht mehr so ganz traut, gilt, was Johannes Calvin geradezu prophetisch in der Auslegung des Propheten Micha (4,6) geschrie­ ben hat: »Obwohl sich die Kirche zurzeit kaum von einem toten oder jedenfalls schwer verwun­ deten Menschen unterscheidet, darf man nicht verzweifeln. Denn plötzlich richtet der Herr die Seinen auf, wie wenn er Tote aus dem Grab auf­ erweckte. Das müssen wir sorgfältig beachten. Denn sobald die Kirche nicht leuchtet, meinen wir, sie sei ganz und gar erloschen und erledigt. […] Halten wir fest: Das Leben der Kirche ist nicht ohne Auferstehung, ja noch mehr: Es ist nicht ohne viele Auferstehungen.« W 42) Gottfried W. Locher »Zwingli, Ulrich (1484–1531)«, II. Theologie (RGG, Bd. 6, Tübingen 1962³, Sp. 1960–1969) Sp. 1967. 43) Herman J. Selderhuis (s. Anm. 2), S. 244. 44) Ebd., S. 227. 45) Vgl. ebd., S. 228. 46) Christoph Strohm »Die Eigenart der Theologie Calvins« (»Der Umstrittene. Johannes Calvin 1509–1564. Vortragsreihe zum 500. Geburtstag des europäischen Reformators«, hrsg. vom Consistorium der Französischen Kirche zu Berlin [Schriftenreihe der Französischen Kirche zu Berlin, H. 2], o. O. [Berlin] 2009 S. 50–63), S. 58. 47) Reiner Rohloff (s. Anm. 2), S. 64. 48) Ebd., S. 65. 49) Herman J. Selderhuis (s. Anm. 2), S. 228. 50) Reiner Rohloff (s. Anm. 2), S. 65. 51) Werner Wiesner (s. Anm. 19), S. 382. 52) Christoph Strohm (s. Anm. 2), S. 108f. 53) Hans Ulrich Reifler (s. Anm. 2), S. 53. 54) Emanuel Stickelberger (s. Anm. 2), S. 196. 55) Ebd., S. 197.

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Ursula von Münsterberg K a r l - H e rm a n n K a n d l e r 1528 erregte ein Vorkommnis besonderer Art die Freiberger Bürger. Die Herzogin Ursula von Münsterberg und Troppau und Gräfin von Glatz floh aus dem Freiberger Nonnenkloster. Eine solche Flucht war damals keine Seltenheit – denken wir an Katharina von Bora –, aber brisant war sie vor allem dadurch, dass Ursula die Cousine der beiden sächsisch-albertinischen Herzöge, Georg des Bärtigen und Heinrichs des Frommen war. In einem Brief an die bei­ den – »meine freundlichen lieben Herren und Ohme« redete sie diese an – hat sie ihre Beweg­ gründe zu diesem Schritt ausführlich dargelegt. Im Festzug zur 800-Jahr-Feier Freibergs 1986, noch zu DDR-Zeiten, wurde auch dieses Ereignis vom Entlaufen einer Nonne aus dem Kloster dargestellt. Damit sollte sicher eine pi­ kante Gedankenverbindung hergestellt werden. Die Sache aber verhielt sich ganz anders. Herzog Heinrich war von verschiedenen Freiberger Bürgern und auch von Nonnen aus dem Nonnenkloster des Maria-MagdalenenOrdens, die alle Adlige waren, aufgefordert worden, reformatorische Predigten in der Stadt zuzulassen. Heinrich aber verweigerte das zu dieser Zeit noch, denn die »Widrig-Gesinnten« und Herzog Georg wandten sich entschieden dagegen. Ursula von Münsterberg hielt sich aber nicht an Heinrichs Verbot. Sie sorgte da­ für, dass für sie im Kloster dem Evangelium ge­ mäß gepredigt wurde. Als der Prediger aber das Kloster nicht mehr betreten durfte, floh Ursula mit zwei anderen Nonnen »aus Angst und Not ihres hochbelästigten Gewissens«. In ihrem Schreiben betont sie, dass ihre Flucht »aus keiner Leichtfertigkeit geschehen« sei, »sondern dieweil ich schuldig bin für Gottes Gericht Rechenschaft zu geben für meine See­ le«. Ihr Heil und Leben bestehe allein auf Chris­

Karl-Hermann Kandler Die Anschrift des Autors finden Sie auf Seite 30

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Titelseite von » Christlich vrsach des verlassen Klosters zu Freyberg«, verfasst von Ursula von Münsterberg, gedruckt von Georg Wachter in Nürnberg, erschienen 1529 (Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt) tus, wenn wir an ihn glauben, alles andere führe zur Verdammnis. Das Heil sei in der Taufe ge­ schenkt; das Klostergelübde aber führe zu einer falschen Sicherheit, so als ob man dadurch das Heil gewinnen könne. Es ging ihr also um die in der Reformation neu aufgebrochene Frage, ob Gottes Gnade allein oder ob menschliche Werke das Heil geben. Martin Luther hat diesem Schreiben, als es gedruckt wurde, eine Vorrede beigegeben. Er schreibt: Das Evangelium sei zuerst Fischern und Bettlern verkündigt worden, heute Gläubi­ gen aus allen Ständen. Die Heilige Schrift wer­ de erfüllt, dass der »Könige Töchter in Christus Schmuck gehen. Solch Hofjungfräulein muss dieser König haben, die […] Schmach und Spott für die Welt tragen. Das sind die rechten Nonnen und erwählte Bräute Christi, die nicht mit eigenen Werken und äußerlichem Scheine, sondern mit rechtem beständigen Glauben in seinem heiligen Wort« ihm vertrauen. Ihm sei »kein Kloster zu hart verschlossen, und kein Ty­ rann so mächtig noch fleißig, der ihm die Seinen endlich möge vorenthalten«. Ursula von Münsterberg hatte erkannt, dass sie ohne eigene Verdienste nur gerecht werden kann durch den Glauben an Jesus Christus. Darum hat sie das Kloster verlassen. Nach ih­ rer Flucht hielt sie sich zunächst einige Zeit im Wittenberger Schwarzen Kloster auf, also in Lu­ thers Familie. W JUNI 2017

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Veranstaltung der Bekenntnisbewegung 23. bis 24. September 2017 in Kassel

Einer für alle: Christus allein Die reformatorischen »allein« M i t P f a rr e r T h o m a s H i l s b e r g Im Gedenkjahr der Reformation will die Bekenntnisbewegung »Kein anderes Evangelium« Grundlegendes reformatorischer Erkenntnis, nämlich die Besin­ nung auf den Exklusivpartikel ­»allein« zur Sprache bringen. Dazu lädt sie Pfarrer, Mitarbeiter in Gemeinden und alle Interes­ sierten zu einem Studientag ein. ­Referent wird Thomas H ­ ilsberg sein, Pfarrer der badischen Landeskirche aus Radolfzell am Bodensee. Thomas Hilsberg arbeitet seit vielen Jahren bei der ChristusBewegung Baden mit, der badischen Bekenntnisbewegung. Das detaillierte Programm und weitere Einzelheiten werden im kommenden Informationsbrief, der Anfang August erscheint, bekanntgegeben.

Samstag, 23. bis Sonntag, 24. September 2017 in Kassel im Gemeindezentrum der Evangelisch-Lutherischen St. Michaelsgemeinde Programm Samstag, 23. September 11.30 bis 15.30 Uhr – Einer für alle: Christus allein! WW Wissen was zählt: Die Schrift genügt! WW Alles geschenkt: Die Gnade genügt! WW Worauf du dich verlassen kannst: Der Glaube genügt! Sonntag, 24. September 11 Uhr – Bekenntnisgottesdienst Predigt: Pfarrer Johannes Frey, Vorsitzender der Bekenntnisbewegung »Kein anderes Evangelium« Tagungsanschrift Gemeindezentrum der Evangelisch-Lutherischen St. Michaelsgemeinde Tischbeinstraße 69–73, 34121 Kassel, www.selk-kassel.de Anreise Bahnstation ist Kassel-Wilhelmshöhe, Intercity-Bahnhof. Der Tagungsort ist mit der Straßenbahn (Linie 1 oder 3) zu erreichen.

Buchrezension Georg Steinberger In den Spuren Jesu Gesammelte Schriften Georg Steinberger (1865–1904) lebte am Ende des 19. Jahrhunderts und war ein bekann­ ter und begnadeter Schriftsteller und Seelsor­ ger. Nach seiner Ausbildung auf St. Chrischona, Schweiz, war er zunächst als Prediger und Evan­ INFORMATIONSBRIEF 304

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gelist tätig und folgte 1899 einem Ruf in das Erholungsheim Rämismühle bei Zürich. Immer wieder war er in der Schweiz und in Deutsch­ land zu Evangelisationen und Bibelstunden un­ terwegs. In seinem kurzen Leben wurde er vie­ len Menschen durch seine Verkündigung, seine Seelsorge und seine Schriften zum Segen. Das vorliegende Buch ist eine Zusammenstellung seiner bekanntesten Bücher wie »Der Weg dem Lamme nach«, »Kleine Lichter auf dem Weg der Nachfolge« usw. sowie eine Anzahl weite­ rer kleiner Schriften, die nun nach Jahrzehnten in diesem Band erstmals wieder erscheinen. Sie wurden von Rudolf Kretzek überarbeitet und neu herausgegeben. Eine kurze Biografie über sein Leben zeugt von der Prägung der Hei­ ligungsbewegung und von einem Lebensstil, dem er seit seiner Bekehrung treu geblieben ist: Glauben, Vertrauen, Gehorsam, Selbstver­ leugnung und Leidensbereitschaft. Themen wie »Die notwendigste Lebensfrage – was muss ich tun?«, »Komm zum Kreuz!«, »Buße, ein himm­ lisches Geschenk« weisen suchende Menschen auf Jesus hin. Es folgen glaubensvertiefende Themen wie »Das Geheimnis eines siegreichen Lebens« oder »Der Weg dem Lamme nach« oder »Gesegnetes Bibellesen«. Besonders empfehlen kann ich den Abschnitt »Der Weg dem Lamme nach«. Es gibt kaum eine Auslegung über Offenbarung 14,4 im christlichen Bereich wie diese, obwohl gerade diese Bibelstelle für Christen eine ganz zentrale ist! Entdecken auch Sie den Herrn Jesus auf eine ganz neue und hilfreiche Art! Martin Schunn Georg Steinberger In den Spuren Jesu Gesammelte Schriften herausgegeben und überarbeitet von Rudolf Kretzek Selbstverlag, zu beziehen bei CLV-Verlag

Kleinschrifttum Heinrich Hermanns Freude am Alltag –– biblische ­Ratschläge und Lebensweisungen Der tägliche Alltag wird in den Blick genom­ men: Gespräche, Begegnungen mit Tiefgang, Gespräche mit Nachbarn und Verwandten, Freunden, Mitarbeitern, generationenübergrei­ fend. Essen und Trinken miteinander, in der Haltung des Dankes gegen Gott, die Wieder­ entdeckung der Grundbedürfnisse des Lebens. Alttestamentliche Lebensweisheit wird vor­ gestellt, gespeist aus den Sprüchen Salomo und dem Prediger Salomo. In den Tugend- und Las­ terkatalogen geht es um eine Übernahme bibli­ scher Maßstäbe. Ein eigens Kapitel widmet sich den Erfah­ rungen anderer an Lebensweisheit (Aristote­ les: Ethische Tugenden und Erkenntnistugen­ den; Versuchungen der Mönche; Bernhard von Clairvaux; die Zehn Gebote). Aus der Arbeit der Seelsorge entstanden ist das Trostbüchlein des Urbanus Regius 1536 an die Christen zu Hannover, wider der Papisten Wüten und Lästern. Heinrich Hermanns, geboren 1939, wurde als Pfarrer und Dekan in Bayern zum Landes­ bischof der Evangelisch-lutherischen Kirche in Schaumburg-Lippe berufen. Er übte dieses Amt von 1991 bis 2001 aus. Martin A. Bartholomäus Kleinschrifttum Heinrich Hermanns Freude am Alltag –– biblische ­Ratschläge und Lebensweisungen 2. Auflage Neuendettelsau 2011 Freimund-Verlag 76 Seiten ISBN: 9783865400628

Mitarbeiter an diesem Heft: Pfarrer i. R. Martin A. Bartholomäus Föhrenstraße 11 91564 Neuendettelsau Telefon (09874) 4270 Kirchenrat, Professor Dr. Karl-Hermann Kandler Enge Gasse 26 09599 Freiberg Telefon (03731) 23545 Fax (03731) 218150

Professor Dr. Dr. Rainer Mayer Malachitweg 3 70619 Stuttgart Telefon (0711) 442260 Fax (0711) 413098 E-Mail: dr.r.mayer@web.de Pfarrer Karl Müller Platz de Plombieres 4 35708 Haiger-Sechshalden Telefon (02771) 42255 E-Mail: Karl-Esther@web.de

Walter Rominger Mehlbaumstraße 148 72458 Albstadt Telefon und Fax (07431) 74485 E-Mail: w.rominger@t-online.de Martin Schunn Hölderlinstraße 9 75334 Straubenhardt Telefon (07082) 20275 E-Mail: cmschunn@gmail.com

Professor Dr. Reinhard Slenczka, D. D. Spardorfer Straße 47 91054 Erlangen Telefon und Fax (09131) 24139 E-Mail: Grslenczka@aol.com

Für den Inhalt der Artikel sind die jeweiligen Verfasser verantwortlich. Die Meinung des Verfassers deckt sich nicht in allen Fällen mit der des Schriftleiters.

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JUNI 2017

INFORMATIONSBRIEF 304


Weitere Exemplare des Informationsbriefes für Juli 2013, Heft 279 und für Juli 2014, Heft 286 sowie die Traktate »Falsche Propheten sind unter uns«, »Ist Gott interreligiös?«, »Gemeinsame Feier des Reformations­ jubiläums 2017?« sowie der Sonderdruck »Gleichgeschlechtliche Beziehungen im evangelischen Pfarrhaus?« können –– auch in größerer Stückzahl –– bei der Geschäftsstelle bestellt werden. Geschäftsführender Ausschuss Vorsitzender Pfarrer Johannes Frey Ofener Weg 3 28816 Stuhr Telefon (04 21) 5 22 89 10 E-Mail: johannes.frey@kabelmail.de Schriftführer Walter Rominger Mehlbaumstraße 148 72458 Albstadt Telefon und Fax (0 74 31) 7 44 85 E-Mail: w.rominger@t-online.de Kassenwart Hans Lauffer Osterstraße 25 70794 Filderstadt Telefon (0 71 58) 48 31 Fax (0 71 58) 94 78 73 E-Mail: hans.lauffer@t-online.de

Weitere Mitglieder des Geschäftsführenden Ausschusses Gabriele Reimer Beurhausstraße 31 44137 Dortmund Telefon (02 31) 5 84 46 96 Fax (02 31) 5 89 36 37 E-Mail: Gabriele.Reimer@gmx.de Martin Schunn Hölderlinstraße 9 75334 Straubenhardt Telefon (0 70 82) 2 02 75 E-Mail: cmschunn@gmail.com

Bekenntnisbewegung »Kein anderes Evangelium« e. V. Geschäftsstelle: Walter Rominger Mehlbaumstraße 148 72458 Albstadt Telefon und Fax (07431) 74485 E-Mail: w.rominger@t-online.de www.keinanderesevangelium.de

Helmut Schlee Gartenstraße 15 a 47506 Neukirchen-Vluyn Telefon (0 28 45) 9 49 09 50 E-Mail: HelmutSchlee@gmx.de

Mit Fragen bezüglich der Spendenbescheinigungen wenden Sie sich bitte an unseren ­Kassenwart Hans Lauffer. Sie erreichen ihn telefonisch unter (0 71 58) 48 31, per Fax 94 78 73 oder per E-Mail hans.lauffer@t-online.de Bankkonten Volksbank Filder e. G., (BLZ 611 616 96) Konto-Nr. 65 500 016 IBAN DE34 6116 1696 0065 5000 16 BIC (SWIFT)-Code: GENO DE S1 NHB Postgirokonto Schweiz: Postgiroamt Bern Nr. 30-195 56-2 IBAN CH21 0900 0000 3001 9556 2 BIC POFICHBEXXX

Bitte nutzen Sie nur noch Einzahlungsscheine ab Heft April 2016. Nachsendeanträge bei der Post kommen bei der Bekenntnisbewegung nicht als Adressänderung an. Deshalb auch bei Umzügen die Adressänderung durch untenstehenden Abschnitt an die Geschäftsstelle weitergeben. Für Neubestellung, Adressänderung und Abbestellung ausschneiden und einsenden an: Bekenntnisbewegung »Kein anderes Evangelium« Geschäftsstelle: Mehlbaumstraße 148, 72458 Albstadt

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Wenn unser Meister und Herr Jesus Christus spricht: »Tut Buße!« so will er, dass die Menschen sich nach seiner Lehre formen sollen; er formt aber die Lehre nicht nach den Menschen, wie man jetzt tut, dem veränderten Zeitgeist gemäß. Claus Harms (1778–1855) erste der 95 Thesen zum Reformationsjubiläum 1817


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