Informationsbrief April 2018

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Aus dem Inhalt

Neues aus Kirche und Welt Aus Lehre und Verkündigung Predigt zu Karfreitag Das Wunder am Kreuz (Lukas 23,32–43) Mobilfunk im Licht christlicher Ethik Der Weg in und durch die Postmoderne – und die Antwort der christlichen Verkündigung Aus Kirche und Gesellschaft Aus den Bekennenden Gemeinschaften Bekenntnistag in Kassel Buchrezensionen

ISSN 1618-8306

April 2018 Nr. 309

Bekenntnisbewegung »Kein anderes Evangelium«


kurz+bündig Kirche in Deutschland

Kirchenamt der VELKD ­integriert

Das Kirchenamt der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) ging zum 1. Januar 2018 in der Verwaltung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) auf. Die EKD-Synode hatte auf ihrer Tagung im November 2017 einer Änderung der Grundordnung zugestimmt, wonach das Amt der VELKD künftig zum Amtsbereich im EKD-Kirchenamt wird. Seit einigen Jahren verzahnen sich die EKD und die beiden konfessionellen Zusammenschlüsse von VELKD und Union Evangelischer Kirchen (UEK) miteinander, um Kräfte zu bündeln und Doppelstrukturen zu vermeiden. Luther-Jubiläum teurer als geplant

Das 500. Reformationsjubiläum wird für die EKD deutlich teurer als geplant. Sie muss bis zu zwölf Millionen Euro nachschießen, den überwiegenden Teil für den Verein Reformationsjubiläum, der die Veranstaltungen in Wittenberg sowie die Weltausstellung Reformation koordiniert hat. Grund dafür seien unter ande2

rem erhöhte Sicherheitsvorkehrungen sowie weniger verkaufte Eintrittskarten und geringere Sponsoring-Erlöse. Reformierte beschließen ­einstimmig »Homo-Trauung«

Die Evangelisch-reformierte Synode in Leer ermöglicht künftig die Trauung homo­ sexueller Partnerschaften. Nach einem 14-jährigen Diskussionsprozess beschloss die Synode Ende November 2017 einstimmig die Einführung einer Liturgie für Trauungen, die sowohl für Ehen zwischen Männern und Frauen als auch für gleichgeschlechtliche Partnerschaften gilt. In einzelnen Gemeinden wurden bisher bereits Segnungen gleichgeschlechtlicher Partnerschaften durchgeführt. Damit ist die Reformierte Kirche (177 000 Mitglieder in 146 Gemeinden) die fünfte Landeskirche in Deutschland, die homosexuelle Paare traut.

ode zu stellen, wiewohl das Bischofswahlgesetz mehrere Amtsperioden und damit Wiederwahl zulässt. Junkermann, vordem Personaldezernentin im Stuttgarter Oberkirchenrat, bedauerte das Votum. Neben anderem, das offensichtlich nicht gut ankam, war in jüngster Zeit Frust über einen »eigentümlichen« Führungsstil laut geworden. Auch ihre permanente Kritik an fast nur einer Partei, der AfD, kam schlecht an. Sie selbst räumte ein, bei einigen Themen zu forsch vorgegangen zu sein.

Mitteldeutsche Kirche: ­Amtszeit von Landes­ bischöfin Junkermann nicht verlängert

Während Jan Janssen als Bischof von Oldenburg freiwillig aufhört, liegt es bei der Bischöfin der mitteldeutschen Kirche Ilse Junkermann (60, Magdeburg) gerade anders. Sie muss im August 2019 nach zehn Jahren ihr Amt als Bischöfin abgeben. Der 22-köpfige Landeskirchenrat (Kirchenleitung) hat in geheimer Abstimmung beschlossen, keinen Antrag auf Amtszeitverlängerung bei der Landessyn-

Westfalen: neuer Theologischer Vizepräsident

Die Evangelische Kirche von Westfalen bekommt einen neuen theologischen Vizepräsidenten. Der 55-jährige theologisch liberale Superintendent von Dortmund Ulf Schlüter wird Nachfolger von Albert Henz (63), der dieses Amt seit 2010 innehat und in den Ruhestand tritt.

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Pietismus Frankfurter Stadtmission nun beim Starkenburger ­Gemeinschaftsverband

Im Süden Hessens haben sich die zwei dort tätigen pietistischen Gemeinschaftsverbände zu einem neuen Verband formiert: dem Evangelischen Gemeinschaftsverband RheinMain. Dazu haben sich die vier Gemeinden des Stadtmissionsverbandes Frankfurt am Main dem Starkenburger Gemeinschaftsverband angeschlossen.

rung und Stärkung im Glauben bieten und Pastoren und Gemeindeglieder beraten. (www.bibelundbekenntnis.de)

Ausbildung Neuer Direktor am ­Stuttgarter Pfarrseminar

Karl Hardecker (60, Synodaler der linksliberalen »Offenen Kirche«), bisher geschäftsführender Pfarrer in Stuttgart-Botnang, wird Direktor des Pfarrseminars mit Sitz in Stuttgart-Birkach. Er folgt auf Susanne Edel (58).

Evangelikale Karl-Heinz Stengel erneut Präses des CVJM

Karl-Heinz Stengel (Wilferdingen bei Karlsruhe) ist als aktiver Ruheständler erneut zum ehrenamtlichen Präses des CVJM Deutschland gewählt worden. In seinem Bericht vor den Delegierten freute er sich über das Engagement der Mitgliedsverbände, die für Kinder und Jugendliche gute christliche Angebote machen. Stengel engagiert sich auch in der Diakonie. Mitarbeiter für Netzwerk »Bibel und Gemeinde«

Das von Ulrich Parzany (Kassel) initiierte Netzwerk »Bibel und Gemeinde« hat Pfarrer Christian Schwark (Seelbach bei Siegen) gewonnen, um Seminare für Gemeinden anzubieten, die biblische Lehre und missionarische Arbeit miteinander verbinden. Das Netzwerk will Orientie-

Kirche in Deutschland Oldenburger Bischof will ­wieder Pfarrer sein

Der Bischof der EvangelischLutherischen Kirche in Oldenburg, Jan Janssen (54), hat nach über neun Jahren seinen Verzicht auf das Bischofsamt erklärt. Jan Janssen erklärte seinen Rücktritt, »da er die Verantwortung für die Weiterführung des Amtes nicht mehr tragen zu können glaubt«. Im Herbst 2018 soll er die Stationsleitung der Seemannsmission in Rotterdam (Niederlande) übernehmen.

kurz+bündig

Personen +++ Kirchen +++ Glauben +++ »Modernes Leben«


kurz+bündig Mission

Ökumene

Diakonie

amzi mit neuem ­Geschäftsführer

DEA will sich für Katholiken öffnen

Vorstandssprecher Diakonie Niedersachsen

Bernhard Heyl (56, Basel) ist neuer Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft für das messianische Zeugnis an Israel (amzi). Heyl war unter anderem Pastor der Stadtmission Speyer. Die 1968 gegründete amzi gehört zum Chrischona Verband; theologischer Leiter ist der badische Pfarrer Martin Rösch.

Bibel

SELK benutzt nicht ganz Luther 2017

Die revidierte Lutherübersetzung wird nun auch von der Selbständigen EvangelischLutherischen Kirche (SELK) offiziell verwendet. Doch trotz einer deutlichen Mehrheit für die revidierte Fassung hatte der Allgemeine Pfarrkonvent, das Entscheidungsgremium, bei einigen Formulierungen Bedenken. In »begründeten Einzelfällen« wird daher für die Lesungen in Gottesdiensten die alte Textform von 1984 beibehalten. Bemängelt wurde unter anderem die Übersetzung des griechischen Wortes adelphoi (»Brüder«) mit »Brüder und Schwestern«. 4

Die Deutsche Evangelische Allianz (DEA) will sich stärker »katholischen Geschwistern« öffnen. Nur so könne man Jesus Christus nachfolgen, damit die Allianz »die Einheit gemäß der Glaubensbasis« leben kann. Das erklärte der Vorsitzende Ekkehard Vetter. Mehrheit der Briten nicht mehr religiös

Erstmals bezeichnet sich die Mehrheit der Engländer als nicht religiös. In einer regelmäßig erhobenen Umfrage erklärten dies 53 Prozent. Vor allem junge Leute können mit Religion immer weniger anfangen. Von den 18- bis 25-Jährigen sagten mehr als siebzig Prozent, sie fühlten sich keiner Religion zugehörig. Die Wissenschaftler des Umfrageinstituts gehen davon aus, dass der Trend zu weniger Religiosität anhält.

Ökumene der Religionen Evangelische Kirche für ­interreligiöse Kita in ­Pforzheim

Hans-Joachim Lenke (59) wird Vorstandssprecher der Diakonie in Niedersachsen. Seit 2011 ist er Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Diakoniewerks Schwäbisch Hall.

Ethik Werbeverbot für Abtreibung abschaffen?

SPD, Linke und Grüne wollen das Abtreibungsrecht ändern, um das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche abzuschaffen. Nach der Linksfraktion und der SPD im Bundestag kündigte auch der Berliner Justizminister Dirk Berendt (Grüne) im »Spiegel« eine Initiative im Bundesrat an. Für Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) ist der Paragraph 219a ein »Relikt aus der NS-Zeit«, das Frauen in Not den Zugang zu Informationen erschwere.

Islam

Pforzheim soll auf Wunsch der örtlichen Religionsvertreter eine interreligiöse Kindertageseinrichtung mit 100 Plätzen erhalten. Dieses Anliegen unterstützt auch die dortige evangelische Kirche. Ihre Stadtsynode sprach sich mit großer Mehrheit dafür aus, das Projekt weiterzuverfolgen. Die Einrichtung soll auch zum Frieden der Religionen beitragen.

Weihnachtsfeier verlegt

Nach der Beschwerde einer muslimischen Schülerin veranstaltete das Lüneburger Gymnasium Johanneum im vergangenen Jahr keine verpflichtende Weihnachtsfeier während der Unterrichtszeit. Die Feier wurde stattdessen auf den Nachmittag verlegt.

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Aus Lehre und Verkündigung mm Was wir brauchen, ist eine nochmalige Kehre zu einem Mut, den für uns gekreuzigten und wahrhaft auferstandenen Christus nicht nur als theologi­ schen Gedanken oder nur als Ausdruck psychischen Empfindens, sondern als unser aller lebendigen Herrn zu bekennen, seine persönliche Nähe und trostvolle Ansprache im Gottesdienst konkret zu erfahren und uns im Glaubensgehorsam ihm ganz hinzugeben. Die entscheidende Voraussetzung dazu ist das Widerfahrnis, Gott in der Wunderbarkeit seines Handelns als geschichtliche Wirklichkeit ernst zu nehmen, wie sie sein Name von 2.Mose 34,6f. ausspricht. Davon in fröhlicher Gewissheit zu erzählen und die Wahrheit dieses Erzählens auch vernünftig zu bezeugen, ist in der langen, wechsel­ vollen Geschichte des Lebens des alt- und neutesta­ mentlichen Gottesvolkes mit seinem Gott in großer Vielfalt geschehen und ist auch in der Geschichte der Kirche immer neu erfahren worden.

mm Wenn die Christenheit diesseits und jenseits des Meeres sich besinnen wollte, wie unermesslich viel sie zu tun hat, um das Elend zu lindern, die Versinkenden zu retten, den Heimat­ losen eine Heimat zu schaffen und das Licht des Evangeliums in die dunkelsten Winkel scheinen zu lassen, wir hätten wahrhaftig keine Zeit, uns zu zanken um irdische Dinge.

mm Der Geist [Gottes] wirkt auch in unseren ­Gottesdiensten. Er kann den Predigern dazu helfen, Gottes Wort zu verkündigen, wenn sie ihn darum bitten. Und er verbindet die Kommunikanten beim eucharistischen Mahl [Abendmahl] mit dem wun­ derbar gegenwärtigen Christus und schafft eine Ge­ meinschaft mit ihm und untereinander, auf die man sich die ganze folgende Woche hindurch verlassen kann. So wird der Gottesdienst zur zentralen Heimat und zur Lebensmitte der Kirche. Hier ist darum auch der Ort beständiger weltweiter Fürbitte der Kirchen füreinander.

Walter Lüthi (1901–1982)

Bischof i. R. Ulrich Wilckens

Bischof i. R. Ulrich Wilckens

mm Gott ist in der Heiligen Schrift als barmherzig be­ zeugt. Die gegenwärtige Welt ist dagegen eine Welt ohne Barmherzigkeit – und dies kann angesichts ihrer Verdrängung Gottes gar nicht anders sein. Günther Rohrmoser

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Friedrich von Bodelschwingh d. Ä. (1831–1910)

mm Man kann getauft sein und abfallen. Aber man ist dann nicht so, als wäre man nie getauft gewesen. Man ist dann nicht Heide. Wer einmal Christ war, kann nicht mehr Heide werden; er wird dann Schlimmeres, wird Abgefallener, Abtrünniger, Feind Christi, Antichrist.

mm Die ganze Welt ist voller Hinwei­ se auf die Auferstehung. Aus einem Baume und hartem Holz wächst eine schöne Blume, es wachsen Blätter, Zweige, schöne liebliche Früchte […] Alle Kreaturen sind eine Figur und ein Bild der künftigen Auferstehung; denn um die Sommerzeit werden sie aus dem Tode wieder lebendig, wachsen und grünen, welches im Winter nie­ mand glauben würde, dass es gesche­ hen könnte, wenn er es zuvor nicht erfahren und gesehen hätte. Bei uns Christen ist alle Tage Ostern, nur dass man einmal im Jahr Ostern besonders feiert, was nicht unrecht, sondern fein und löblich ist, dass man auch die Zeit einhält, zu der Christus gestorben und auferstanden ist. Martin Luther

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Ein (nicht ganz) fiktives Lebensbild als Lehrstück von Hass und Gnade Predigt zu Karfreitag M a r t i n F r o mm »Komm raus, Barabbas, du bist frei!«, schnaubt ein Wächter in den dunklen, von Gefangenen überfüllten Kerker: »Der Statthalter hat dich begnadigt, ein anderer muss dran glauben! Die Menge wollte es so! Dummes Pack!« Barabbas drängt sich mühsam durch die anderen Gefangenen zur Tür. Einige starren ihn bitter an, andere schauen gleichgültig. Zwei reichen ihm die Hand, nicken ihm wortlos zu – seine Kameraden Levi und Jochanan, Zeloten wie er. Endlich hat Barabbas die Tür erreicht, steht vor dem Soldaten. Der Wächter spuckt vor Barab­ bas aus, seine Rechte liegt auf seinem Kurzschwert: »Hau ab, wenn dir dein Leben lieb ist, du Schwein! Wenn ich nur daran denke, wie ihr die Einheit von Marcus überfallen und alle niedergemacht habt. Am liebsten würde ich dich abstechen.« Der Hass steig in dem Soldaten hoch: »Da begnadigt der Statthalter ausgerechnet dich, weil der Pöbel das so will. Keine Courage, der Mann! Wenn das der Kaiser wüsste.« Der Soldat schlägt einmal, zweimal zu, lehnt sich dann schwer atmend an die Tür und schreit: »Verschwinde, aber sofort!« Da rennt Barabbas los, rennt an den Wachen vorbei auf die Straße, rennt vorbei an Häusern, an Menschen – raus aus der Stadt, die sein Grab werden sollte – heute, an diesem Freitag. Erst als er die Stadtmauer hinter sich hat, geht er langsamer. Seine Brust zittert, sein Atem fliegt, er dampft vor Schweiß. Plötzlich fällt er auf die Knie, sein Leib schüttelt sich wie in Krämpfen: Er lacht, lacht, lacht, bis ihm die Luft wegbleibt. Hat er es also doch wieder geschafft. Er, Barabbas, den sie den Satanskerl nennen, weil er einfach nicht tot zu kriegen ist.

Martin Fromm Die Anschrift des Autors finden Sie auf Seite 30

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Ja, so ist er! Aber diesmal hätte er nicht gedacht, dass er dem Henker entkommt, diesmal schien er keine Chance zu haben. Barabbas denkt zurück – das Bild seiner Mutter entsteht vor ihm: bitter und müde, aufgezehrt vom harten Leben in Armut, von der Sorge um den einzigen Sohn, den sie ohne Mann großziehen musste. Irgendwann erlöschte die Mutter wie eine herab gebrannte Kerze, sie wurde begraben, wie sie gelebt hatte: arm und einsam – im Leben und im Tode nicht der Rede wert. Barabbas hielt nun nichts mehr. Aller Hass, den er in seinen 15 Lebensjahren angestaut hatte, brach aus ihm hervor. Erst waren es nur Schlägereien und kleine Diebstähle – aber bald schloss er sich einer Gruppe von Zeloten an. Die Zeloten waren Kämpfer, die sich nicht damit abfinden wollten, dass Israel den Römern gehörte. Sie wehrten sich gegen die fremden Besatzer, die das Land auspressten, gegen die feige Bande des Hohenrats, die mit den römischen Herren gemeinsame Sache machte, gegen die reichen Kaufleute, die nur auf den eigenen Vorteil schauten. Barabbas stieg schnell auf in den Reihen der Zeloten, bald führte er die Gruppe, verbreitete mit seinen Kameraden Angst und Schrecken – um die Römer aus dem Lande zu jagen und den Weg zu bereiten für den Messias, den König der Juden. Tausendmal hatten sie der Gefahr getrotzt, tausendmal das Schicksal herausgefordert, rechts und links von ihm waren Kameraden gefallen, aber er hielt stand, ein ums andere Mal: Barabbas, der Satanskerl! Alles ging gut – bis zu diesem verhängnisvollen Tag im März. In der Nacht hatten sie eine lagernde römische Einheit überfallen, hatten den etwas zu nachlässigen Wachen lautlos die Kehle durchgeschnitten – und dann die anderen Soldaten im Schlaf niedergemacht. Aber irgendetwas musste doch schief gegangen sein, denn am gleichen Nachmittag hatte sie APRIL 2018

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eine römische Kohorte in ihrem Versteck umzingelt. Natürlich hatten sie sich gewehrt, aber die Übermacht der Römer war einfach zu groß gewesen – ein Zelot nach dem anderen fiel. Zuletzt waren sie nur noch zu dritt. Erst gab Jocha­nan auf, dann Levi und schließlich musste auch er, Barabbas, aus mehreren Wunden blutend, die Waffen strecken. An das, was folgte, wollte er nicht lange denken: Die Folter durch die römischen Soldaten, die Verurteilung im Eiltempo, die Tage im überfüllten, dreckigen Kerker, wo er viel Zeit hatte, über die Frage nachzudenken: Wie waren ihnen die römischen Truppen auf die Schliche gekommen? Hatten sie einen Fehler gemacht? War es Zufall? Oder doch Verrat? Aber was heißt schon viel Zeit – wenn einem nur noch ein paar Tage bleiben; denn das war klar: Vor dem Passah-Fest würde er sterben. Langsam und qualvoll sterben am Kreuz. Und nun das Undenkbare: Er lebt, mehr noch, er lebt und er ist frei! Was hatte ihm der Wächter bei der Entlassung aus dem Kerker gesagt? Ein anderer muss dran glauben! Barabbas kommt ins Nachdenken: Wer das wohl sein mag? Wer wird wohl an seiner Stelle am Kreuz verrecken – für ihn, den Satanskerl Barabbas! Er kommt davon – aber der andere nicht. Und seine beiden Kameraden, Jochanan und Levi, die auch nicht. Barabbas steht langsam auf: Er wendet sich zurück nach Jerusalem. Es zieht ihn in die Stadt, in der er jetzt sterben sollte. Er kann nicht anders – er muss zum Richtplatz, zur Schädelstätte Golgatha. Er will zu seinen Kameraden; aber vor allem will er zu dem Mann, der an seiner Stelle sterben muss. Die Nachmittagssonne brennt vom Himmel auf ein trockenes Stück felsiges Land vor den Mauern der Stadt – Golgatha. Viele Menschen haben sich versammelt, Schaulustige, die sich am Elend der Allerelendsten weiden. Soldaten stehen Wache, damit keiner die Exekution stört. Barabbas schaut auf die Todeskandidaten – nackt hängen sie an Holzpfählen, die Körper von Peitschenhieben zerrissen, die Gesichter schmerzverzerrt. Barabbas sieht seine Kameraden Levi und Jochanan – aber sein besonderes Interesse gilt dem Kreuz zwischen ihnen. Das wäre seins gewesen. Hier hätte er hängen sollen, hier sollte er bluten, hier sollte er verrecken. Hier sollte er sühnen für ein Leben voller Hass, voller Gewalt, voller Tod. Aber nicht er, ein anderer sühnt für ihn. »König der Juden« steht auf einer Tafel über seinem Kopf. So also stellen sich die Römer einen Judenkönig vor: Ein Kranz von Dornen ist INFORMATIONSBRIEF 309

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seine Königskrone. Ein Schandpfahl sein Thron. Eine Welle von Zorn und Empörung überflutet Barabbas: »Selbst hier verspotten die Römer uns noch!« Aber – so fährt es ihm plötzlich durch den Kopf: »Hat denn unser Kampf den Messias gebracht? Wo ist er denn, der starke Held, für den ich getötet habe? Herrscht denn jetzt ein machtvoller König in Jerusalem, der die Römer ins Meer jagt? Nein! Wir haben viel Blut vergossen – aber den Frieden hat uns das nicht gebracht. Der ›König der Juden‹ da am Kreuz, der hat wohl nie einen umgebracht – aber jetzt laden ihm die Mächtigen all die Morde auf, die wir begangen haben!« Barabbas muss näher ran an diesen Mann, der da stellvertretend für ihn stirbt. Die Menschenmenge drängelt, man schimpft und lacht. Es ist ein Volksfest ganz eigener Art: »He«, schreit einer, »he, Messias, wolltest du uns nicht erlösen? Jetzt zeig uns mal, was du kannst!« Barabbas zuckt zusammen: Er weiß, was dieser Judenkönig kann. Er kann an seiner Stelle leiden und sterben. Der Judenkönig hebt seinen schmerzerfüllten Blick zum Himmel: »Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!« »Der betet doch tatsächlich für seine Richter und Henker!« Barabbas durchzuckt es heiß: »Der betet doch tatsächlich für mich!« Erschüttert schaut Barabbas auf seine Kameraden Levi und Jochanan. Um Jochanans Mundwinkel zuckt es grausam. »Bist du nicht der Messias?«, fragt er mit bitterbösem Spott den Judenkönig an seiner Seite: »Hilf dir selbst und uns!« Aber bevor der etwas erwidert, ergreift Levi das Wort: »Schäm dich«, hört Barab­bas ihn sagen, »lass ihn zufrieden. Wir kriegen nur, was wir verdienen. Aber er hat nichts Böses getan.« Und dann blickt er auf den Judenkönig und sagt: »Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst.« Barabbas hört genau hin: Was wird dieser Jesus zu Levi sagen – dem Kameraden, dem Zeloten, dem Mörder? »Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein!« Barabbas verschleiern sich die Augen, was für eine Verheißung für einen, der sein Leben verwirkt hat und unter Schmerzen stirbt: »Ich nehm dich mit in Gottes Arme.« Da schreit der König der Juden plötzlich auf. Sein Brustkorb fällt zusammen, der Kopf sinkt an die Brust. Er ist tot. Der römische Hauptmann, der unter dem Kreuz Wache hält, schaut auf den toten Körper: »Ja, dieser Mann war Gottes Sohn!« Seine Stimme zittert. Barabbas stöhnt auf: Nicht er, der Satanskerl, der Gottessohn musste sterben 7


– er darf leben. Und seinem Kameraden Levi hat dieser Jesus noch mehr versprochen: Ewiges Leben im Paradies, an seiner Seite in der Herrlichkeit Gottes. Plötzlich wird Barabbas bewusst, wie ihn seine Mutter genannt hatte, ihn, den vaterlosen Jungen, damals nach seiner Geburt: Bar Abbas – Sohn des Vaters. »Weil du auf Erden keinen Vater hast, soll Gott dein Vater sein« – so hatte sie ihm das später erklärt. Geht das: Kann ein Satanskerl ein Sohn des Vaters, ein Kind Gottes werden? Gemeinde des Herrn Jesus Christus, Schwestern und Brüder, ja – er kann! Und nicht nur er, wir alle können Kinder Gottes werden. Egal,

wie unser Leben verlaufen ist, egal was wir getan oder nicht getan haben, egal welchem Stern wir bisher gefolgt sind oder welcher Schicksalsmacht wir uns verschrieben hatten – wir können Gottes Kinder werden. Denn nicht nur für Barabbas, sondern für alle in Schuld gefallenen Menschen hat Jesus sich kreuzigen lassen, für alle hat er gebetet: Vergib ihnen, Vater! Allen hat er angeboten, sie ins Paradies zu bringen. Alle, wir alle können Gottes Kinder werden – wenn wir uns an Jesus halten, den Sohn Gottes, den König der Juden, den Heiland der Welt. Ihm sei Ehre, Lob, Preis und Anbetung jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen. W

Das Wunder am Kreuz (Lukas 23,32––43) »Dieser aber hat nichts Unrechtes getan« (Lukas 23,41) Eduard Haller

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ie seit je bei öffentlichen Hinrichtungen drängt sich auch bei der Kreuzigung Jesu die Menschenmenge um das erschütternde Schauspiel: Neugierde und Sensationslust, aber auch Grauen und Ratlosigkeit nach so viel aufwühlender Unruhe in Jerusalem, Geschwätz, ja Spott. Dazwischen aber verläuft sich wieder der laute Trubel. Dann wird es still, so zwischen neun Uhr vormittags und drei Uhr nachmittags, still um die drei in Sterbensnot ringenden Gekreuzigten.

Eduard Haller Die Anschrift des Autors finden Sie auf Seite 30

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Kreuzigung war im römischen Recht die grausamste Form der Strafe. Wer das römische Bürgerrecht besaß, durfte nicht so gänzlich entehrend gekreuzigt werden. Ein solcher musste enthauptet werden, wie später der selbst angeklagte Paulus. Die drei Sterbenden haben den spöttischen Zuruf jüdischer Ankläger gehört (Vers 35): »Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst!« In einer solchen stillen Pause nimmt der eine der beiden Verbrecher dieses Wort wieder auf und ruft zum Kreuz Jesu hinüber: »Hilf dir selbst und uns!« (Vers 39) Der andere Verbrecher aber schweigt zunächst. In den stillen Pausen jener Stunden geht in ihm etwas Geheimnisvolles, etwas Entscheidendes vor, das niemand erklären kann. Er ahnt: Dieser Jesus ist anders als wir. Er stirbt anders als wir. Und so ruft er zu seinem sterbenden Kameraden hinüber: »Wir beide haben schließlich verdient, was jetzt mit uns zwei Revolutionären geschieht. Jener aber, dieser Jesus, hat es nicht verdient. Er stirbt unschuldig. ›Er hat nichts Unrechtes getan.‹« APRIL 2018

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Dieses schlichte Wort ist in unseren Bibelübersetzungen viel zu farblos. Es ist im griechischen Text des Lukas ein ungeheures Wort, ein ganz treffendes Wort. »Unrecht« heißt hier »oudèn átopon«, »nichts, was nicht am rechten Ort gewesen wäre«. Dieses Wort erfasst eigentlich alles, was die erzählenden Evangelien von Jesus berichten. Bei ihm »war alles am rechten Ort«. Alles, was Jesus getan hat, war bei ihm »richtig« und »wahr«: bei ihm als Person, als Mensch, der er ist, war alles »richtig«, ohne Selbstwiderspruch, es war alles ganz eindeutig. Und es war genau »am rechten Ort« in der Existenz eines jeden Einzelnen, mit dem Jesus gerade sprach, an dem er handelte, dem er begegnete, auch bei denen, mit denen er im Streitgespräch war. Und es war auch »am rechten Ort« bei dem Gott, den Jesus »mein Vater« genannt hat. Ja, alles war bei ihm »am rechten Ort«, all sein Reden und Tun. In ihm war kein Widerspruch. Er führte kein Versteckleben. Er war ein Mensch ohne Doppelleben. Ihm konnte man glauben. Ist er nicht doch vielleicht wirklich »der König der Juden«? Er hat Kenntnis von einem Reich, das nicht von dieser Welt ist und das ihm gehört und das er »das Himmelreich« genannt hat. Von dieser umfassenden Bedeutungsschwere kann der sterbende Verbrecher eigentlich gar nichts wissen. Er erlebt nur, dass dieser Jesus anders stirbt als er selbst. Dieser aufdämmernde Glaube, das Zutrauen zu diesem Jesus, ist das Karfreitagswunder schlechthin, diese Erkenntnis: »Wir sind schuldig und haben es verdient, dieses Elend unseres Sterbens, jener aber hat es nicht verdient, er stirbt in seinem Sterben unser Sterben.« INFORMATIONSBRIEF 309

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Und nun möchte dieser Verbrecher, dass sein schuldiges Sterben aufgenommen wird vom unschuldigen Sterben Jesu: »Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!« Jesus hört diese Bitte und erfüllt sie, wie er jeden Hilferuf, der an ihn gerichtet war, erhört hat: »Wahrlich, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.« In den Sterbestunden zwischen neun Uhr und drei Uhr schenkt der Vater Jesu seinem sterbenden Sohn noch einen glaubenden Menschen. Das ist das Karfreitagswunder, Karfreitagsglaube in seiner Schwachheit als Karfreitagsbitte und ewig gültige Verheißung, den Eingang in den Frieden Jesu als den wahren Frieden mit Gott. Das ist geschrieben für uns, damit wir das Geheimnis des Sterbens Jesu fassen. »Niemand kann das Geheimnis des Sterbens Jesu fassen, der nichts von eigener Schuld weiß« (Friedrich von Bodelschwingh). Das Gottesgericht, das Jesus auf sich nimmt, streicht als »átopon« unseres Lebens, alles Verfehlte, Lieblose, Hilflose, all unsere Verwirrungen durch mit der Antwort, die Jesus seinem mitgekreuzigten Verbrecher gibt. Das Urteil Gottes, das Gericht über uns alle, das trägt er, Jesus, »der König der Juden«, und das vollkommene Erbarmen Gottes, seines Vaters, spricht er uns zu. Dieses Karfreitagswunder, das mit der Erkenntnis beginnt »Es gibt keinen Frieden ohne das Kreuz Jesu«, verwandelt Tag um Tag unsere Wege schon hinein in österlich hellen Trost, zum Frieden über Bitten und Verstehen, zu unzerstörbarer Hoffnung. W 9


Mobilfunk im Licht christlicher Ethik Fortschritt als Fortschreiten weg von der Menschenwürde? Werner Thiede

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ie digitale Revolution verdankt ihre Attraktivität und ihre Zukunftsaussichten technologisch vor allem der Allgegenwart elektromagnetischer Strahlung von Mobil- und Kommunikationsfunk. Gründen doch ihre In­ novationen und Pläne für morgen auf dem mobil gewordenen Internet, kraft dessen alle Dinge, Orte und Menschen, ja auch Tiere und Pflanzen miteinander aufs Schnellste vernetzt werden können und sollen. Diese wunderbare, geradezu magisch, ja »göttlich« anmutende Omnipräsenz gibt sich als Ausdruck von Fortschritt schlechthin. Doch bei näherem Hinsehen drängt sich die Frage auf, ob der allgegenwärtige Mobil- und Kommunikationsfunk tatsächlich einen Fortschritt in der Menschheitsentwicklung darstellt – oder ob er nicht vielmehr ein Fortschreiten weg von der Menschenwürde bedeutet. Dass menschlicher Fortschritt oft genug Ambivalenzen in sich trägt, hat sich schon ein Stück weit herumgesprochen. Gerade die Ambivalenzen des Mobilfunks werden aber mit erstaunlicher Vehemenz von der offiziellen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft bestritten oder zumindest kleingeredet. Christliche Ethik sollte hier zu einem anderen, widerständigen Blick zu Gunsten der Geschädigten von heute und morgen ermutigen.

Werner Thiede Die Anschrift des Autors finden Sie auf Seite 30

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Die sich zuspitzende Problematik kommt in folgendem aktuellem Großzitat zum Ausdruck, das einem von mehreren Professoren (auch von mir) gezeichneten und von 18 Organisationen unterstützten Beitrag entnommen ist: »Während die deutsche Mobilfunkpolitik des Jahres 2017 in besonderer Weise im Zeichen der ›Digitalen Agenda‹ stand, soll 2018 offenbar besonders der Einführung der neuen 5G-Technologie gehören. Gemeinsam ist beiden Vorgängen, dass sie Funkstrahlungen in unsere Lebenswelt einführen, ohne ihre Wirkungen auf die lebenden Organismen ausreichend zu beachten. Als zusätzliches Risiko eigener Art wirkt sich dabei die Tatsache aus, dass der deutsche Strahlenschutz seiner Aufgabe nicht gerecht wird und Gesundheit und Umwelt nur unzureichend schützt. In der Überschau des zurückliegenden Jahrzehnts zeigt sich das nicht nur am verharmlosenden Umgang mit dem Stand internationaler Risikoforschung. Es zeigt sich auch in der Verteidigung von Grenz- und Richtwerten, die auf überholten wissenschaftlich-medizinischen Annahmen beruhen, statt mit dem aktuellen Stand der Erkenntnis überfällige Maßnahmen der Vorsorge und Gefahrenabwehr zu verlangen. Die Schwächen und Versäumnisse im Gesundheits- und Umweltschutz gehen dabei Hand in Hand mit beobachtbaren Defiziten der Verwirklichung des demokratischen Rechtsstaats.«1 Tatsächlich ignoriert, wer glaubt, wissenschaftlich sei doch ungefähr alles zu Gunsten einer weitgehenden Unbedenklichkeit von Mobilfunk gesagt, eine ganze Phalanx kritischer, industrieunabhängiger Forscher mit ihren warnenden Aussagen. Der Verwaltungsrichter i. R. Bernd I. Budzinski fordert auf diesem Hintergrund, Mobilfunkwellen sollten rechtlich geneAPRIL 2018

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rell genauso wie schwache radioaktive Strahlung behandelt werden.2 Einer der weltweit größten Rückversicherer, die Swiss Re, hat den Mobilfunk bereits 2013 in die höchste von mehreren potenziellen Risikostufen eingruppiert.3 Unter rein technischen Gesichtspunkten wären Mobil- und Kommunikationsfunk zweifellos dann zu begrüßen, wenn keinerlei gesundheitliche Bedenken gegen sie bestünden – oder wenn Lösungen gefunden und realisiert würden, die die Risiken beseitigen oder extrem minimieren. Doch derzeit sieht es in dieser Hinsicht leider eher düster aus. 2012 wurde der »Internationale Ärzte-Appell« veröffentlicht, in dem es bereits heißt: »Technisch erzeugte Felder können mit ihren sehr niedrigen bis sehr hohen Frequenzen die biologischen Stoffwechsel- und Kommunikationsvorgänge der Zellen tiefgreifend stören.«4 Als ein zentraler Wirkmechanismus der Strahlung des Mobil- und Kommunikationsfunks zeichnet sich immer deutlicher oxidativer Zellstress ab – eine Hauptursache vieler Krankheiten.5 Die BioInitiative Working Group berichtet, dass immer mehr Beweise für ein Gesundheitsrisiko in Verbindung mit Wireless-Technologie vorliegen.6 Schon 2014 ist ein Vortragsband der Kompetenzinitiative e. V. erschienen, in der sich mobilfunkkritische Wissenschaftler und Ärzte zusammengeschlossen haben: Hier sind negative Langzeiteffekte durch Mobilfunk gut dokumentiert.7 2016 hat Professor Wilfried Kühling, 1. Vorsitzender im Wissenschaftlichen Beirat des Bunds für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND e. V.), gesundheitliche Effekte durch hochfrequente Felder aufgezeigt.8 Dass Mobilfunk-Strahlung Pflanzen, Tiere und Menschen tangieren kann, habe ich bereits in meinem Buch »Mythos Mobilfunk. Kritik der strahlenden Vernunft« (2012) und später erneut dargelegt.9 Exemplarisch sei hier von der Biologin Marie Claire Cammaerts von der Universität Brüssel berichtet. Sie untersuchte 2014 die Auswirkungen von Handystrahlung auf Ameisen: Die Insekten zeigten Schwierigkeiten, die Beine zu bewegen, waren fast gelähmt. Bei Bestrahlung durchs Smartphone reagierten sie ähnlich, beim DECT-Telefon war das abweichende Bewegungsmuster sogar noch etwas stärker ausgeprägt. Als das Mobiltelefon im Stand-by-Modus war, nahmen die Ameisen ihre Brut, trugen sie weit weg – und kehrten zurück, nachdem das Gerät ausgeschaltet war. Die Insekten waren der Strahlung nur drei Minuten ausgesetzt gewesen, brauchten aber bis zu vier Stunden, um ihr normales Laufverhalten wieder zu erreichen. INFORMATIONSBRIEF 309

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Als der WLAN-Router eingeschaltet wurde, zeigten sie schon nach wenigen Sekunden gestörtes Verhalten, das nach 30 Minuten noch stärker war. Beim Notebook-Einsatz reagierten die Tierchen innerhalb von Sekunden verstört; sie wirkten krank, sobald die WLAN-Funktion eingeschaltete wurde. Wie werden sich Funk und Radar auf unseren Straßen gesundheitlich auswirken, wenn das autonome Fahren kommt? Was bewirkt Strahlung schon heute in High-tech-Autos? Hierüber informierte ein Beitrag der RTL-Fernsehsendung »Explosiv« vom 28. Oktober 2017: Ein wissenschaftliches Experiment mit einem Arzt als Fahrer eines elektronisch bestens ausgestatteten Pkws, überwacht durch Professor Wolfgang Schöllhorn vom Institut für Sportwissenschaft der Universität Mainz, zeigte drastische Resultate: Es kam zu einer überraschend großflächigen Aktivierung über ungefähr alle Hirnareale hinweg, insbesondere unter WLAN-Strahlung. Die zunehmende E-Smog-Belastung des Gehirns löste Symptome aus, wie sie normalerweise nur unter hohem Stress vorkommen und sich dann auch aufs Herz auswirken können – wobei der Fahrer während des Experiments subjektiv nichts zu spüren meinte. Stärkere Abgeschlagenheit, Müdigkeit und mangelnde Konzentrationsfähigkeit gelten als Folgen solcher Zustände. Schöllhorn beschloss auf Grund der Resultate, jedenfalls die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu alarmieren. Bei einem zweiten Versuch eine Woche später zeigte sich, dass das im Auto durch allerlei Strahlung (auch Bluetooth!) erzeugte magnetische Wechselfeld um ein Mehrfaches über der Grenze lag, ab der Krebsgefahr besteht. Die Testperson nahm sich vor, künftig ohne eingeschaltetes WLAN zu fahren. Offenbar stellt die massive Durchsetzung aller Lebensbereiche mit gepulstem Mobilfunk eine Art von ökologischer Gewaltanwendung im großen Stil dar. Das gilt insbesondere auch im Hinblick auf diejenigen, die immer wieder schon nach kurzer Frist von ihr betroffen sind, nämlich elektrosensible Mitmenschen.10 Sie bekommen unter Einfluss elektromagnetischer Strahlung, namentlich durch die gepulste Hochfrequenzstrahlung des Mobilfunks regelrecht Schmerzen, Herz- und Drüsenbeschwerden, Kopfweh und/oder nervöse Missempfindungen. Ihre Menschenwürde wird in vielen Ländern bis heute nicht nur durch die rücksichtslose, bis in die verborgensten Winkel reichende Strahlung verletzt, sondern auch dadurch, dass ihre Krankheit als rein psychisch ausgelöst interpretiert wird. Sie werden gewissermaßen als »Elektrochonder« abgetan – und 11


das, obwohl es genügend Studien gibt, die auf flusst werden könnten«, im Voraus vollständig Verursachung durch Mobilfunkstrahlung und abzuklären (warum dann bitte nicht wenigstens nicht nur durch Angst oder Einbildung hindeu- teil­weise?). Gemäß dem Vorsorgeprinzip sollten ten.11 Der namhafte französische Krebsforscher die Emissionen »so weit begrenzt werden, als Professor Dominique Belpomme hat über 1 200 dies technisch und betrieblich möglich und wirtElektrosensible behandelt und betont: »Es schaftlich tragbar ist, mindestens aber so weit, geht nicht darum, jeglichen technischen Fort- dass nachgewiesene Risiken für die Gesundheit schritt rückgängig zu machen, ausgeschlossen werden können«. aber Staat und Verbände müssen mm Wo bleiben die Technische und wirtschaftliche handeln. Man muss beispielsweise öffentliche und auch Tragbarkeit scheint hier maßdie Schaffung elektrosmog-freier geblich zu sein – nicht aber die Zonen anregen. Derzeit leugnen kirchliche Diskussion Toleranz­grenze elektrosensibler die Politiker das Problem völlig. über diese neuen Menschen? Welch bedrohliche Gesundheitlich zahlen wir dafür Horizonte für Betroffene tun sich Funktechnologien, einen hohen Preis […]«12 da auf? Trägt die politische PlaInsbesondere für Elektro- die ungefähr alle bio­ nung, 5G-Mobilfunk hierzulansensible dürfte der angekündig- logischen Lebewesen de flächendeckend zu be­ treiben, te, von der neuen Regierung in nicht insofern totalitär anmutende Deutschland geförderte 5G-Mo- betreffen dürften? Züge, als keineswegs die ganze bilfunk-Standard kritisch werden. Bevölkerung solch hochprobleDie hochfrequenten Mik­ rowellen im Bereich matische »Versor­gung« wünscht, ja sie zum Teil von sechs bis 100 Gigahertz haben nämlich sehr sogar entschieden ablehnt? kurze Wellenlängen, die bei Frequenzen über Freilich muss man sich darüber im Klaren 20 Gigahertz primär von der Haut absorbiert sein, dass eine Anerkennung der Verursa­chung werden. Zwar soll 5G in einem ersten Schritt von Krankheiten durch Mobil- und Kommuniin den bis­herigen längerwelligen Frequenzbe- kationsfunk sich angesichts der Stra­tegien der reichen eingefügt und erst in einem zweiten inten­ sivierten digitalen Revo­ lu­ tion und ihrer Schritt – in ungefähr zehn Jahren – die Nut- technizistischen Logik eigent­lich ver­bietet. Entzung von Frequenzen in Millimeterwellenband sprechend sieht das Bild bis heute global aus. über 20 Gigahertz zum Tragen kommen. Aber Elektrosensible Mitmenschen sind in den meisbislang gibt es jedenfalls keine Untersuchungen ten Ländern bis heute alleingelassen, ja verbreihinsichtlich der biologischen Gesamtwirkungen. tetem Zynismus anheim gegeben. Immerhin Eine international präsentierte Studie der Heb- sind sie in Schweden als Kranke anerkannt.13 räischen Uni­versität in Jerusalem unter Leitung Theologie und Kirche aber pflegen zu dieser von Physikprofessor Yuri Feldman hat mögli- Problematik in der Regel noch immer weitestche Gefahren einer Strahlung oberhalb von 50 gehend zu schweigen. Gigahertz (wie sie bisher für Waffen geprüft Doch Christen sollten sich gerade auch für die worden ist!) aufgelistet: »Die Schweißdrüsen Minderheit der Elektrohypersensiblen einsetzen in der Haut, zwei bis vier Millionen im Schnitt, und die brutale Digitalisierungs- und Mobilreagierten auf diese kurzwellige Strahlung ›wie funkpolitik unserer Zeit entsprechend deutliAntennen‹. Deshalb müssten mög­ liche Ge- cher Kritik unterziehen. Mit Recht mahnt der sundheitsgefahren unbedingt abgeklärt werden, bayerische Landesbischof und EKD-Ratsvorbevor die Menschheit ›einem gigan­tischen un- sitzende Heinrich Bedford-Strohm, angesichts kontrollierten Experiment‹ ausgesetzt würde.« der heutigen technologischen Möglichkeiten Tatsächlich haben im Herbst über 180 Ärzte und Realitäten seien auch gerade diejenigen und Wissenschaftler aus 36 Ländern im so ge- gründlich zu hören, die selbst keine unmittelnannten 5G-Appell ein Mora­torium gefordert: baren Interessen mit deren Nutzung verbinden: Sie warnen davor, Millionen von Menschen »Sie müssen insbesondere dann gehört werden, einem Experiment mit unkla­ ren Auswirkun- wenn ihre Lebensmöglichkeiten dadurch sogar gen auf die Gesundheit auszusetzen. Auch die eingeschränkt werden.«14 Wird es nicht höchste Schweizer Ärzte für Um­weltschutz warnten vor Zeit, damit zu beginnen, nachdem bereits das einer zu schnellen Ein­führung von 5G. Doch bedenkliche 5G-Funknetz getestet, in naher das Schweizer Bundesamt für Umwelt hielt da- Zukunft aufgebaut und auch schon am 6Ggegen: Die gut gemeinte Forderung nach einem System gearbeitet werden soll?15 Wo bleiben Moratorium sei aus prinzipiellen Gründen nicht die öffentliche und auch kirchliche Diskussion umsetzbar. Es sei unmöglich, die »sehr vielen über diese neuen Funktechnologien, die unbiologischen Funktionen, die potenziell beein- gefähr alle biologischen Lebewesen betreffen 12

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dürften? Warum beispielsweise nehmen Kirchen le Kirchtürme mit Mobilfunkmasten bestückt? nicht protestierend Stellung, wenn politisch auf Allzu bereitwillig hören Kirchenleitungsorgane der Tagesordnung steht, Wohnungs- und Haus- meist auf die zynische Unterstellung, Betroffene eigentümer sollten künftig dem Einbau und seien doch lediglich psychisch krank. So ignorieBetrieb elektronischer Wasserzähler mit Funk- ren sie weithin die einschlägigen Hinweise aus modul nicht mehr widersprechen dürfen – und Medizin und Forschung, die biologische Auswenn zu diesem Zweck sogar Grundrechte ein- wirkungen von Funkstrahlung belegen. Laut geschränkt werden sollen?16 Wo Dietrich Bonhoeffer ist christlibleibt der mit Elektrosensiblen mm Wie können Kir­ che Kirche wesentlich »Kirche für solidarische Aufschrei angesichts chen – in ungefähr andere«. Wie kann da die EKBO solcher und ähnlicher Bestrebunein Technik-Projekt vorantreigen? Warum schweigen die kirch- allen Konfessionen ben, das anstelle von Nächstenlichen Umweltbeauftragten zur kommt das vor – zum liebe von einer unethischen, weil Funkproblematik seit langem? ebenso ignoranten wie unbarmZweck des Geldma­ Wie unsensibel bislang kirchherzigen Haltung zeugt? Wie lich mit der Funkproblematik chens ihre Gebäude können Kirchen – in ungefähr aloft umgegangen wird, zeigt das und Heilssymbole len Konfessionen kommt das vor Beispiel der Evangelischen Kirche – zum Zweck des Geldmachens Berlin-Brandenburg-schlesische mit Sendern einer ihre Gebäude und Heilssymbole Oberlausitz (EKBO): »Godspot« gesundheitlich um­ mit Sendern einer gesundheitlich heißt deren Angebot von freiem strittenen Strahlung umstrittenen Strahlung ausstatWLAN in vielen ihrer Kirchen ten? Sollten sie nicht vielmehr und Gebäuden.17 Kostenlose ausstatten? Sollten Wahrheitsliebe und Empathie Hotspots auf dem Kirchturm sie nicht vielmehr ausstrahlen? Kirchen sind keinessollen offenbar eine »frohe Bot- Wahrheitsliebe und wegs eine Art Marktplatz, sonschaft« sein. Ziel sei es, allen dern wollen heilige Orte sein, die 3  000 Kirchen und kirchlichen Empathie ausstrah­ zu Gottesdienst, Besinnung und Gebäuden in der EKBO solch len? Kirchen sind Rückzug einladen. Nicht von ungöttliche Hochfrequenz-Pulsungefähr hat der Verein Deutsche keineswegs eine Art gen zur Verfügung zu stellen. Sprache wegen der BegriffsschöpWas vor einem halben Jahrzehnt Marktplatz, sondern fung Godspot die evangelische lediglich eine Satire-Meldung wollen heilige Orte Kirche zum »Sprachpanscher war: »Einrichtung von Wireless des Jahres 2017« gekürt. Die LAN soll leere Kirchen wieder sein, die zu Gottes­ Verbraucherschutz-Organisation füllen«, das ist heute bereits irri- dienst, Besinnung und »Diagnose:Funk« kritisiert: »Der tierende Realität. Rücksicht ist da Rückzug einladen. allwissende Gott wird ersetzt offenbar ein Fremdwort: »Solandurch seine profane Variante: Big ge die Normungs-, Zulassungs- und Überwa- Data für den Big Brother.« Godspot wird zum chungsinstitute in Deutschland den Betrieb von Gottesspott. WLAN nicht verbieten oder deren nur eingeWenn Pfarrerinnen und Pfarrer, Kirchenvorschränkte Verwendung empfehlen, wird sich die stände und Gemeindemitglieder, Synoden und Kirche der Meinung dieser Überwachungsinsti- Bischöfe solche Kritik wahrnehmen, ernstnehtute anschließen können.« Damit werden nicht men und aufnehmen, können sie nicht gleich­ bloß Beschwerden Elektrosensibler, sondern zeitig von dem seit heuer bundesweit angeboauch sämtliche kritischen Hinweise auf die Pro- tenen »Godspot« begeistert sein. Was, wenn sie blematik des Zustandekommens solcher Beur- in den Gemeinden und Leitungsgremien geteilungen ignoriert, ja überhaupt alle kritischen bührenden Widerstand leisten? Es wird höchsStudien, denen zufolge WLAN biologisch be- te Zeit, dass sich kirchlich ein klares, kritisches denkliche Wirkungen hat.18 Bewusstsein hinsichtlich der omnipräsenten, Freilich gibt es auch entwarnende Studien unsichtbaren, aber keineswegs risikolosen Strahund Auskünfte. Aber im Falle widersprüchli- lung entwickelt. Für christliche Ethik versteht es cher Auskünfte und Prognosen gilt ethisch das sich von selbst, dass sie sich an dem biblischen sogenannte Vorsorgeprinzip, das zumindest zu Wort zu orientieren hat: »Der Herr schafft Geentsprechend vorsichtiger und abwägender Hal- rechtigkeit und Recht allen, die Unrecht leiden« tung verpflichtet. Gerade Kirchen sollten daher (Psalm 103,6). mit WLAN und Mobilfunk äußerst zurückhalDaraus folgt Lust am Engagement für Betend hantieren. Warum sind aber heutzutage vie- nachteiligte, Diskriminierte, Verfolgte und anINFORMATIONSBRIEF 309

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dere Unrechtsopfer – geboren aus der Einsicht in die liebevolle Gerechtigkeit Gottes, wie sie nach neutestamentlicher Bezeugung in Jesus Christus unüberbietbar offenbar geworden ist und am Ende dieser Welt universal offenbar werden wird. Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Solidarität sind von daher Grundmerkmale christlicher Ethik. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof sagt insofern aus gutem Grund: »Kirchliche Lehre und rechtliche Lehre müssen Störenfriede sein.«19 Die aufgezeigten Befunde hinsichtlich der Funkstrahlung in unserer immer mehr digitalisierten Kultur können Christenmenschen nicht gleichgültig lassen. Sie haben vielmehr begründeten Anlass, den digitalen Scheinfrieden zu stören und gegen den digitalisierten Zeitgeist auf eine technologische Ausrichtung zu bestehen, die sich ethisch nicht an einer letztlich utopischen Technokratie orientiert, sondern im Namen Jesu Christi an der von ihm verkündeten und eröffneten Gottesherrschaft. Mitarbeit in funkkritischen Initiativen vor Ort oder/und beispielsweise Mitgliedschaft in einer Dachorganisation wie »Diagnose:Funk« sowie Einsatz zu Gunsten von Aufklärung und Strahlenschutz in der eigenen Kirchengemeinde sind von daher unter den heutigen Bedingungen dringend angesagt. Diese ethische Haltung schließt freilich nicht aus, sondern ein, dass die innere Einstellung eines Christenmenschen zu den betreffenden Problemen und Nöten nicht von übermächtigen Sorgen und Ängsten beherrscht werden sollte. So hat die Mystikerin Teresa von Avila auf der Basis einer konzentrierten Glaubensperspektive eindrucksvoll verdeutlicht: In der Ausrichtung auf Gott relativieren sich sämtliche denkbaren irdischen Leiden und Freuden. Sind doch Schmerz und Leid allemal geringer als das Leiden der erkennenden Seele an der immer noch teilweise bestehenden Gottesferne. Und ist nicht das unfassbare Geschenk der Freundschaft mit Gott erfreulicher als jedes Glück dieser vergänglichen Welt?20 W 1) Karl Richter u.a.: Gegen Irrwege der Mobilfunkpolitik – für Fortschritte im Strahlenschutz. Scheinwissenschaftlich legitimiertes staatliches Handeln und seine sozialen Folgen, in: Kompetenzinitiative zum Schutz von Mensch, Umwelt und Demokratie e. V. (Hg.): Gegen Irrwege der Mobilfunkpolitik – für Fortschritte im Strahlenschutz. Kritische Bilanz nach einem Vierteljahrhundert des Mobilfunks (Wirkungen des Mobil- und Kommunikationsfunks 10), St. Ingbert 2017, 7–24, hier 7f. 2) Bernd I. Budzinski: Mobilfunk heute – fern von Recht und Haftung?, in: Karl Richter u. a.: Langzeitrisiken des Mobilund Kommunikationsfunks, St. Ingbert 2014, 71–81, bes. 73 und 77. »Es ist höchste Zeit, dass der Mobilfunk aus der gegenwärtigen Rechtsferne wieder der Rechtsordnung unterstellt wird« (77). 3) Siehe http://www.diagnose-funk.org/ueber-diagnosefunk/ pressemitteilungen/versicherer-befuerchtet-

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schadensersatzansprueche.php (Zugriff 17.5.2014). Der große Rückversicherer warnt in dem Heft »Swiss-Re-SONAR« (Juni 2013) unter dem Titel »Unvorhersehbare Folgen elektromagnetischer Felder« die Kundschaft deutlich vor den Risiken, die ihnen die Sparte Produkthaftpflicht bei Mobiltelefonen und Sendeanlagen bescheren könnte. 4) http://freiburger-appell-2012.info/media/Internationaler_ Aerzteappell_2012_11_21.pdf (Zugriff 24.5.2014). Ungekürzt habe ich dieses hier abgekürzte Zitat und auch einige andere Gedanken im vorliegenden Aufsatz bereits gebracht in dem Beitrag »Der mächtige Geist der Digitalisierung« im Informationsbrief Nr. 306 (Oktober 2017), 10–14. 5) Vgl. Ulrich Warnke/Peter Hensinger: Steigende »Burnout«-Inzidenz durch technisch erzeugte magnetische und elektromagnetische Felder des Mobil- und Kommunikationsfunks, in: Umwelt – Medizin – Gesellschaft 26 (2013), 31–38. Auch eine ukrainische Forschergruppe um Igor Yakymenko am Kiewer Institut für experimentelle Pathologie, Onkologie und Radiobiologie sieht es als bewiesen an, dass Mobilfunkstrahlung zu schädigenden Oxidationsprozessen in Zellen durch die Überproduktion von Freien Radikalen führt (Näheres in: Diagnose-Funk kompakt Nr. 3–4/2014, 4). 6) Siehe auch das Themenheft Nr. 33 »Mobilfunk und Elektrosmog« der Zeitschrift »raum & zeit«, 2017. 7) Karl Richter u. a.: Langzeitrisiken des Mobil- und Kommunikationsfunks, St. Ingbert 2014. 8) Wilfried Kühling: Gesundheitliche Effekte durch hoch- und niederfrequente Felder, in: Internistische Praxis 2016, 593–603. 9) Vgl. Werner Thiede: Mythos Mobilfunk. Kritik der strahlenden Vernunft, München 2012, 177ff.; ders.: Strahlenschäden bei Pflanzen und Tieren, in: raum & zeit thema 9 (2017), Nr. 33: Mobilfunk und Elektrosmog, 100–106. 10) Dazu mein Aufsatz »Elektrosensibilität. Greifen beim Mobilfunk biologische Wirkmechanismen?« in: Paracelsus Magazin 5/2015, 6–8, sowie Christine Aschermann/Cornelia Waldmann-Selsam: Elektrosensibel. Strahlenflüchtlinge in einer funkvernetzten Gesellschaft, Aachen 2018. 11) Vgl. näherhin Thiede: Mobilfunk, a. a. O. Kap. VII. 12) http://www.arte.tv/magazine/futuremag/de/gegen-denstrom-gesprach-mit-dominiquebelpomme-futuremag (Zugriff 1.3.2016). 13) Vgl. aus diesem Land das Büchlein von Gunilla Ladberg: Ein schönes Gefängnis. Auf der Flucht vor Elektrizität und Mobilfunkstrahlung, 2. Auflage, Tirschenreuth 2009. 14) Heinrich Bedford-Strohm: Position beziehen. Perspektiven einer öffentlichen Theologie, München 2013, 105f. 15) Vgl. den internationalen Appell zu 5G »Potentiell ernste gesundheitliche Auswirkungen« (http://kompetenzinitiative.net/ KIT/KIT/internationale-wissenschaftler-zu-5gpotentiellernste-gesundheitliche-auswirkungen/ (Zugriff 12.11.2017). 6G soll dann 400 Gigabit pro Sekunde transportieren und Glasfasertechnologie mit der Richtfunkübertragung verbinden; die Frage, welche Wirkungen Terahertz-Frequenzen für Biosysteme bedeuten, stellt man offenbar nicht ernsthaft. 16) Dazu mein Artikel »Widerspruch vergeblich? Bayern will Wasserzähler mit Funkmodul in jedes Haus bringen« in: Bayerische Staatszeitung Nr. 49 vom 8.12.2017, 18. Inzwischen zeichnet sich eine verbesserte Lösung im Landtag ab (Stand: Februar 2018). 17) Wenn Fabian Kraetschmer als IT-Leiter im Konsistorium der EKBO formuliert, man schicke sich an, »der größte Anbieter von offenem WLAN in Deutschland zu werden«, so geht da­ raus das Bewusstsein hervor, dass es sehr wohl auch andere Anbieter gibt. Doch weil ganze Regionen in Deutschland derzeit mit freiem WLAN überzogen werden sollen, braucht es kein freies WLAN vom Kirchturm, zumal das ein Teil der Gemeindeglieder ohnehin eher als Fluch denn als Segen empfindet. 18) Zu finden auf dem Portal der Verbraucherschutzorganisation Diagnose:Funk (https://www.diagnose-funk.org/). 19) Äußerung beim Diözesan-Empfang des Bistums Würzburg Anfang 2012 (laut epd-Bayern 3/2012, 3). 20) Die Seele, in der der Durst nach Gott sehr stark brennt, fürchtet kein Leiden mehr; sie verachtet die Welt noch mehr als je zuvor, weil sie begriffen hat, dass nichts Irdisches diesem Durst abhelfen kann. Teresa versichert: »Habt ihr einmal die Wonnen dieser Burg erfahren, werdet ihr in allen Dingen Ruhe finden – seien sie auch voller Qual und Mühe –, aus der Hoffnung, dass ihr dorthin zurückkehren könnt. Diese Hoffnung kann euch niemand rauben« (Teresa von Avila: Die innere Burg, hg. und übersetzt von F. Vogelsang, Augsburg 2009, 253; vgl. 217f.). APRIL 2018

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Der Weg in und durch die Postmoderne –– und die Antwort der christlichen Verkündigung Vortrag für die Arbeitsgemeinschaft Bekennende Gemeinde Oktober 2017 –– der Vortragsstil wurde beibehalten –– Teil 1 von 2 S t ef a n F e l b e r Geistliche Vorbesinnung aus 1.Johannes 5,4 und Offenbarung 12,11

»Denn alles, was von Gott geboren ist, überwindet die Welt; und unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat« (1.Johannes 5,4). Glaube, Welt, Sieg: Drei Stichworte, drei Ge­danken vorab! Glaube kann nicht von der Welt sein, sonst kann er die Welt nicht überwinden (ähnlich Johannes 2,17!). Glaube darf auch nicht menschlicher Natur sein, sonst hätte er nicht die Macht über den Teufel. Glaube muss göttlich (»von Gott geboren«) sein oder er ist so vergänglich und sündig wie die Welt selbst. Welt: Welche eigentlich? Jede beliebige? Jede Epoche? Ja, jede. Johannes spricht allgemein von der Welt, die dem Glauben entgegensteht. Keine spezielle Welt, sondern jede Welt, jedes Zeitalter, egal wie aufgeklärt, egal wie emanzipiert, ob vormodern, modern oder postmodern. Sieg: Es ist sehr anspruchsvoll und wahrheitsgewiss, vom Sieg zu reden. In unserer Zeit klingt es anmaßend, ja verhasst. Gottes Wahrheit in dem einen Gesetz und dem einen Evangelium ist für jede Epoche ein und dieselbe (Epheser 4), denn es gibt nur einen Mittler zwischen Gott und den Menschen (1.Timo­ theus 2). Die eine Wahrheit wird allerdings von den sündigen Menschen je nach Epoche in verschiedener Weise angegriffen, sei es durch Gesetzlosigkeit oder gesetzliche Werkgerech-

Stefan Felber Die Anschrift des Autors finden Sie auf Seite 30 INFORMATIONSBRIEF 309

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tigkeit, Libertinismus oder Pharisäismus, Autonomie oder Unterwürfigkeit usw. Über all diese Dinge wird im Wort Gottes der Sieg ausgerufen! Nur durch den Sieger selbst können wir am Sieg Anteil haben. Wie geschieht der Sieg? Offenbarung 12,11: »Sie haben ihn überwunden durch des Lammes Blut und durch das Wort ihres Zeugnisses und haben ihr Leben nicht geliebt bis hin zum Tod.« Also: Durch das Blut des Lammes, das Wort des Zeugnisses, und durch die Liebe zu Gott, die größer ist als die Liebe zum irdischen Leben.

Was ist Wahrheit, und wer bestimmt sie? Eine knappe geistesgeschichtliche ­Orientierung Der Weg bis ins 20. Jahrhundert Lassen Sie mich in ein paar groben Strichen Revue passieren, welchen Weg das menschliche Denken seit der Antike genommen hat, damit wir verstehen, wo wir heute angekommen sind! Haben Sie bitte Verständnis, dass dabei viele Aspekte nur genannt werden, ohne sie hinreichend zu differenzieren oder zu entfalten. Doch nur so kann in einem kurzen Zeitraum so etwas wie ein Gesamtbild unserer Herkunft und unserer heutigen Lage entstehen. Als wesentliche Kriterien, die Epochen voneinander abzugrenzen, verwende ich den Wahrheitsbegriff und die für die Wahrheit bestimmende Instanz.1 Wenn wir wissen wollen, wovon unsere Zeit im Innersten geprägt ist, wenn wir ahnen wollen, was Zeitgenossen empfinden, die täglich vier Stunden Medien konsumieren, sollten wir untersuchen, was die vorherrschenden Strömungen sind. Auch Paulus hat sich auf dem religiös-philosophischen »Markt« umgesehen, 15


bevor er den Athenern predigte. Beim Herumgehen fand er eine bunte religiöse Vielfalt vor. Er stellte fest, dass er als Anknüpfungspunkt für die biblische Offenbarung allenfalls den unbekannten Gott benennen kann. Keinesfalls aber gibt er einen der namentlich oder bildlich bekannten Götter für den biblischen Gott aus (Apostelgeschichte 17). Die Vielfalt der Kulte, sicher die religiöse Intensität der einen neben der Gleichgültigkeit der anderen Menschen im alten Athen, erinnert ja in mancher Hinsicht an die heutige Vielfalt. Dennoch dachte der antike Mensch kaum je (von Skeptikern und Sophisten abgesehen), jeder habe seine eigene Wahrheit. Die maßgebenden Philosophen und vor allem Staatsmänner hielten daran fest, dass es objektive Wahrheit gibt. Natürlich ist, so dachten sie, unsere Erkenntnis begrenzt, und wir müssen oft um die rechte Erkenntnis streiten, aber dass es sie gibt, und dass sie sagbar ist, blieb im Wesentlichen unbestritten. Nach Aristoteles ist Philosophie die Theorie bzw. Wissenschaft der Wahrheit; nach ihm verhält »sich jedes Seiende so zur Wahrheit, wie es sich zum Sein verhält«.2 In den ersten Jahrhunderten nach Christus trat das Evangelium seinen Siegeszug durch die hellenisierte, griechisch und lateinisch sprechende römische Welt an. Stück für Stück geriet das, was als wahr galt, unter die Herrschaft der christlichen Kirche. Kontinuität und Diskontinuität: Die Wahrheit war und blieb eine, und was wahr ist, bestimmten bald nicht mehr die Philosophen(schulen), sondern kirchliche Synoden und Päpste. Für den christlichen Glauben liegen Einheit und Ursprung der Wahrheit in dem einen Gott, der alles geschaffen hat. Gott ist nur einer, er ist und er hat die Wahrheit – und darum kann (logischerweise) die Wahrheit nur eine, das Gebäude der Wahrheit auch nur eines sein. Das blieb der beherrschende Zug für viele Jahrhunderte, von der Spätantike über das Mittelalter bis zur frühen Neuzeit, sagen wir grob von 400 bis 1 700, mit vielen Schattierungen und Übergängen, z. B. in René Descartes im 17. Jahrhundert. Descartes deklariert in seiner Abhandlung über die Methoden des Denkens (1637) den Zweifel an allem, nur nicht am Zweifeln selbst als den einzig sicheren Ausgangspunkt des Denkens: Ich zweifle, also weiß ich: Ich denke, also weiß ich: Ich existiere, kurz: Ich denke, also bin ich, cogito ergo sum.3 In der so genannten Aufklärung und in der Epoche der Moderne hielt die Öffentlichkeit grundsätzlich daran fest, dass die Wahrheit nur eine ist.4 Allerdings wurde jetzt das, was als 16

Wahrheit zu gelten hat, aus der Vorherrschaft der Kirche herausgelöst und unter die Herrschaft einer autonomen, sich selbst genügenden, sich selbst Gesetze des Denkens gebenden Vernunft gestellt. Das war der beherrschende Zug der Neuzeit, etwa vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Klassisch formuliert Kant sein »Sapere aude […]« – »Habe Mut, dich deines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen«. Jetzt übernahm im Prinzip die Philosophie wieder die Macht zurück und mit ihr die Naturwissenschaften. Neu etablierten sich oder verselbständigten sich, unabhängig von Theologie und Kirche die Sozialwissenschaften: Soziologie, Psychologie etc. Was es um den Menschen war und ist, wird nun immer mehr losgelöst von der Heiligen Schrift und immer mehr im Gegensatz zu ihr dargestellt und studiert. Was der Mensch ist, definiert der Mensch selbst,5 der nicht mehr Gott, sondern sich selbst zum Gegenstand macht: »The proper study of mankind is man« (Pope). Die Folgen, die uns bis heute (in verschiedenem Ausmaß) begleiten, sind offensichtlich und vielfach (jedoch nicht immer) aus christlicher Sicht negativ: Säkularisierung6 bzw. Entkirchlichung (Kommunistisches Manifest: »Alles Heilige wird entweiht«), zunehmende Höherwertung des Neuen gegenüber dem Alten (daher »Neuzeit« als passender Epochenbegriff), Traditionsabbruch, Rationalisierung, Differenzierung und Individualisierung,7 Demokratisierung (und damit periodischer Austausch von Regierungen) und Erwachen der Nationalsprachen und -staaten, zunehmende Höherwertung der Natur- über die Geisteswissenschaften (die Naturwissenschaften vermögen Wissen neu zu schaffen, in den Geisteswissenschaften ist dies kaum möglich8); Ökonomisierung bzw. Ausrichtung auf Innovationen für materielles Wachstum (z. B. Automatisierung), ja strukturell verfestigter Zwang zu Wachstum und Beschleunigung. Die Pole Kapitalismus gegen Marxismus werden zur herrschenden ideologisch-ökonomischen Matrix. Das 20. Jahrhundert und die Postmoderne Nun aber, im 20. Jahrhundert, bzw. vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg, nachdem die großen Ideologien der Neuzeit ihren Glanz verloren hatten, tritt etwas Neues auf den Plan.9 Die Vorstellung, dass es nur eine Wahrheit geben könne, löst sich auf hinter der Vielfalt an Meinungen, Wissenschaften, und der Erinnerung an die Konfessionskriege. Die Vorstellung von der Einheit der Wahrheit (oder APRIL 2018

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die Hoffnung auf eine solche Einheit) verschwindet, ja wird bekämpft als autoritär, patriarchalisch, freiheits-, friedens-, frauen- und/ oder klassenfeindlich. Religionsausübung bzw. Frömmigkeit zieht sich immer weiter ins Private, ja Unsagbare zurück (Wittgenstein), der Traditionsabbruch verschärft sich. Was Wahrheit ist, wird nun weder von der Kirche definiert noch von der Vernunft (bzw. den jeweils klügsten einer Zeit), sondern von jedem Einzelnen selbst. Man gibt auch die Vorstellung auf, Europa könnte dem Rest der Welt ethische oder religiöse Maßstäbe geben; man will nur noch Technologieführer bleiben – materialistisch! Kontinuität und Diskontinuität: Die Moderne hat den Glauben an das Vorgegebensein von Wahrheit diskreditiert; sie hat postuliert, die Vernunft könne sie von sich aus finden. In der Postmoderne nun wird die Vorstellung der einen Wahrheit selbst eliminiert. Jetzt leidet man nicht mehr daran, dass man sich nicht mehr auf eine gemeinsame Vorstellung von Wahrheit einigen kann, sondern man erhebt es zur Tugend. Zum ersten Mal in der Geschichte wird dieser Freiheitsgewinn für jeden Einzelnen ausdrücklich begrüßt. Vorher wurde noch oft die Uneinigkeit der Meinungen und Wissenschaften und der gesellschaftlichen Gruppen beklagt. Jetzt wird die Pluralität begrüßt und damit zum Prinzip, zum Pluralismus erhoben. Zugleich wird das Fortschrittsdenken der Neuzeit mit seiner ständigen Beschleunigung immer mehr als Wettbewerb erlebt, der die ökologischen und anthropologischen Ressourcen zerstört (Umweltproblematik, Burnout der Workaholics); Knappheiten werden nicht mehr überwunden, sondern erst erzeugt;10 der Sozialstaat ufert aus und wird zum paternalistischen Krebsgeschwür u. a. Lassen Sie mich kurz ein paar Namen und konkrete Stufen benennen, die für diesen Weg in die Postmoderne stehen, bevor ich dann die aus meiner Sicht neueste Entwicklung in den Blick nehme. Der Begriff Postmoderne (obwohl zuerst schon 1917 verwendet, aber wieder vergessen) tauchte zunächst in einer Diskussion um neuere amerikanische Literatur in den 1950er Jahren auf. Einige Literaturkritiker empfanden die Literatur ihrer Gegenwart als Erschlaffung, als Abfall von der Höhe der »modernen« Literatur. Der ursprünglich als Schimpfwort verwendete Begriff wurde im Verlauf der Diskussion aufgenommen und mit positiver Erfüllung verwandt. Leslie Fiedler (1917–2003) machte den Begriff zum Schlagwort eines neuen Kunstverständnisses. Das Besondere der neueINFORMATIONSBRIEF 309

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ren Kunst bestand für ihn in der prinzipiellen Mehrdimensionalität eines Kunstwerks, in der Überwindung alter Unterscheidungen wie Elite und Massenkultur, Realismus und Phantastik u. a. Damit war zum ersten Mal ein fester Begriff von »Post-Moderne« gewonnen, der sich grundsätzlich bis heute durchgehalten hat. Von dort aus hat der Begriff auf die Diskussion über die moderne Architektur übergegriffen. An dem Ideal der modernen Architektur, der Einheit von Form und Funktion, wurde schon länger Kritik geübt. Postmoderne Architektur bedeutet demgegenüber eine neue Lust am Verschnörkelten und Verzierten, betont nicht Funktionalen, im Verzicht auf Einheit und Uniformierung des Baustils. Dies bedeutet stilistisch das Programm eines radikalen Eklektizismus, d. h. eines vom jeweiligen Verantwortlichen rein gegenüber sich selbst verantworteten Auswählens. Aus diesen Dingen erwuchs eine Diskussion über den Standort von Gesellschaft und Kultur überhaupt; es erwuchs die Frage, ob in der Gegenwart nicht ein tiefgreifender Paradigmenwechsel stattfindet. Diese Diskussion fand und findet auf den verschiedensten Ebenen statt, und man könnte bereits ihre Unübersichtlichkeit als Indiz einer real existierenden Postmoderne werten. Soweit das Grundsätzliche. Diese Beschreibung des geistesgeschichtlichen Vorgangs, die wir jetzt gehört haben, wird in der Regel11 auch von Nichtchristen, Philosophen und Soziologen geteilt. Jean-Francois Lyotard (1924–1998) etwa diagnostiziert den Wandel in unserer Kultur sehr ähnlich so: Das bisherige Wissen, so Lyotard, habe die Form der Einheit gehabt. Lyotard sagt für Einheitsdenken auch »Rahmenerzählung« (grand récit; der Marburger Philosoph Odo Marquard [1928–2015], dem alles Prinzipielle verdächtig war, sprach von der »großen Erzählung«12). Die Bibel bietet so eine Rahmenerzählung, weil sie dem Menschen die übergeordneten Gesichtspunkte gibt, unter denen der Mensch sich selber begreift, die übergeordneten Gesichtspunkte, von denen her er sein Handeln legitimiert, wodurch das Leben (persönlich und einer ganzen Epoche) überhaupt erst als Ganzes erfahren wird. Ohne so eine »Rahmenerzählung« könnten wir unser Leben nirgendwo einordnen, würden wir unser Leben nicht als einheitlich erfahren können. Eine Rahmenerzählung hat sinnstiftende Funktion. Aus ihnen speist sich das Ethos einer Gemeinschaft. Lyotard nennt mehrere solcher Rahmenerzählungen. Die Rahmener17


zählung der Aufklärung sieht er im Gedanken der »Emanzipation der Menschheit«. D. h. der Emanzipationsgedanke ist für den Menschen im Zeichen der Aufklärung die höchste Norm. Man könnte sagen, von diesem Gedanken wird dann der Unterschied zwischen Gut und Böse bestimmt: gut ist, was der Emanzipation dient; böse ist, was ihr entgegensteht. Rahmenerzählungen, so Lyotard, waren bis vor kurzem das Einheitsband, welches das Zusammenleben der Menschen bestimmte. Das Neue ist nun, dass dieses Einheitsband nicht mehr besteht. Rahmenerzählungen seien hinfällig geworden. Nicht etwa in dem Sinne, dass jetzt neue Rahmenerzählungen aufkämen, sondern in dem Sinne, dass Rahmenerzählungen überhaupt nicht mehr möglich seien. Wir seien in eine grundsätzlich neue Zeit eingetreten. Weder die Vorherrschaft von Kirche und göttlicher Offenbarung noch die Vorherrschaft der Vernunft könne mehr die verbindende Rahmenerzählung stiften. Postmoderne beginnt also, wo die Einheit sich auflöst und diese Auflösung zugleich begrüßt wird, weil wir in eine Zeit des freien Experimentierens eintreten. Ein gigantisches Experiment, das die ganze westliche Welt durchläuft und beinahe die weltweite Bildungslandschaft mit sich reißt, wo immer sie von den westlich-emanzipatorischen Eliten bestimmt ist. Lyotard starb 1998. Liefen die letzten 20 Jahre seither ebenso ab? Ist die Postmoderne vorbei? Ist die Moderne vorbei? Unser zeitlicher Abstand ist noch zu klein, um bereits klar die Umrisse einer Post-Postmoderne aufzuzeigen – wo wir ja noch nicht einmal für die Postmoderne einen passenden Eigennamen gefunden haben. Meine folgenden Überlegungen sind also recht vorläufig und möglicherweise bald wieder angreifbar. Was kommt nach der Postmoderne? Das 21. Jahrhundert und der Weg des Westens in neue, willkürliche Absolut­setzungen13 Allgemeines Heute tritt, wie ich vermute, wiederum etwas Neues auf den Schauplatz (zumindest der europäischen Geschichte), und zwar der Umschlag von der Beliebigkeit hin zu einer neuen Uniformität (von Lyotard schon für die Moderne befürchtet), zumindest hin zur Wiederkehr des kulturell wie militärisch starken Staates.14 In langfristiger Perspektive führt das Erschlaffen der Kirchen (s. u.) automatisch zum Erstarken des Staates. Es erscheint zwar paradox, aber die häufigen Konflikte mit säkularen Herrschern 18

über die Grenzen zwischen Kirche und Staat bis zum Mittelalter förderten die Entwicklung einer Tradition von politischer Theorie, die das Prinzip der Begrenzung von Macht und Verantwortung der Regierung betonte. Mit der Kirche war der Macht des Staates eine Grenze gesetzt. Diese Grenze aber schwindet, und ein Gegenüber zum Staat, das eine eigene, gottgegebene Autorität hätte, fehlt.15 »Wir sollten uns beeilen zu sagen, dass die Freiheit des Einzelnen auch in den Ländern mit reformatorischem Hintergrund nicht wie durch Magie bestehen bleibt. Wie die Erinnerung an die christliche Grundlage immer schwächer wird, so wird die Freiheit sich auch in diesen Ländern auflösen. Eine Kultur wird nicht fortbestehen, wenn sie von ihren Wurzeln abgeschnitten ist. Die Tendenz ist einheitlich – ohne Rücksicht auf die regierende politische Partei. Wenn die Grundsätze verschwunden sind, bleibt nur noch die Zweckdienlichkeit um jeden Preis.« Im Folgenden möchte ich ein paar Phänomene anführen, die ich als Anzeichen für das Erstarken des Staates deute. Viele von uns dürften schon erlebt haben: Der prinzipielle Pluralismus kann sehr hart werden, wenn jemand ihn in Frage stellt. Wenn jemand die Autorität des Einzelnen oder einer Gruppe unter eine noch höhere oder gar göttliche Autorität stellen will, wer also das Prinzip der Prinzipienlosigkeit in Frage stellt, lief schon bisher Gefahr, in einem shit storm unterzugehen, in einer Flut von Hasspostings/-mails und dem Ausschluss aus dem erlaubten Meinungsspektrum. Hierbei wurden in der Regel einzelne Privatleute aktiv, manchmal sehr viele einzelne oder Gruppen, die bewusst Stimmungen für oder gegen etwas erzeugen (z. T. höchst finanzstark wie die politische Arbeit von George Soros gegen Trump). Mit den Antidiskriminierungsgesetzen, mit dem von oben nach unten durchgesetzten Gender mainstreaming, mit Maßnahmen zur Kontrolle des Internets (»Netzwerkdurchsetzungsgesetz«) und unserer Privatsphäre, mit der Beschneidung des privaten Bildungssektors,16 mit dem Entzug von Beihilfen oder steuerlichen Begünstigungen für christliche Freiwilligen- oder Sportarbeit beginnt der Staat, die Zügel enger anzuziehen. Da der Gesellschaft im Pluralismus eine einigende, zur Mitte ziehende Kraft fehlt, bleibt als letztes Mittel, den gesellschaftlichen Frieden äußerlich aufrechtzuerhalten, nur noch der staatliche Zwang.17 Lassen Sie mich das an drei Bereichen (Gesellschaft, Politik, Kirche) illustrieren. APRIL 2018

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Gesellschaft: Familie, Sexualität, tig von einem Mann und einer Frau sprach, ­Abtreibung, Sprache jetzt neudefiniert als »Ehe für alle«, gerade Was Gender mainstreaming angeht, so hör- gültig seit dem 1. Oktober 2017, gleichgeten wir eine Zeitlang, die Menschen sollten schlechtlichen Ehen. sich frei entscheiden können, wie sie leben Auch die ersten Adoptionen in solche Beziewollten, mit und ohne Kinder, mit wie vie- hungen hinein wurden bereits vollzogen (trotz len und mit welchen Partnern, mit welchem massiv höherer Missbrauchsgefahr). Geschlecht und welcher sexuellen Orientierung Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die usw. Um diese Freiheit ist es allerdings schlecht Polygamie wieder in größerem (und rechtlich bestellt: sanktioniertem) Umfang Einzug hält. Denn Heterosexuelle erfahren durch Medien man kann ohne weiteres argumentieren, dass bereitwillig Hilfe für ihr »Coming out«, ja wer- auch dort gegenseitige Verantwortung gelebt den am anderen Ufer begrüßt. werden kann. Unter Moslems Doch wer Homosexuellen, die mm Auf der Grund­ wird sie in Deutschland bereits in sich unwohl fühlen und sich ver- lage eines postmo­ großem Umfang gelebt. ändern wollen, in ein schöpfungsPornographie im engeren und gemäßes Leben hineinhelfen will, dernen Ansatzes im weiteren Sinne, also eingemuss mit harten Maßnahmen und wird ein absolutisti­ schlossen: Distanzlosigkeit, allgeRufschädigung als fundamenta- sches und sozialis­ meines Duzen, Verlotterung von listischer Spinner rechnen (Volker Sprache und Sitte, Wegbrechen Beck/Die Grünen). Die Wahlfrei- tisches Ziel verfolgt: der Ritterlichkeit der Männer, heit ist offenbar nicht gegeben. Schamlosigkeit der Frauen. Einebnung und Mit horrenden Steuermitteln Propagierung der HomosexuaNivellierung. werden Kindertagesstätten nach lität als gleichwertig und beglüsozialistischem Muster hochgeckend (trotz massiv höherer zogen. Die Steuern dafür werden von allen Selbstmordrate, Promiskuität, Partnerwechsel, gleichmäßig bezahlt, auch von denen, die ihre Krankheiten). Kinder selbst erziehen wollen. Die Wahlfreiheit Ermutigung zu massenhafter Kindstötung besteht faktisch nicht, und das ist auch kein bzw. deren gesellschaftliche Mitfinanzierung Zufall. Denn wir hören von den Vertretern des (trotz massiv negativer Folgen für das seelischGenderismus immer öfter und unverhohlener, ethische Gleichgewicht in der Gesellschaft). dass man den Frauen besser keine Wahlfreiheit Die Kosten für »Abtreibungen« und Folgebelassen soll.18 Denn hätten sie diese Freiheit, handlungen (bes. depressiv gewordene Mütwürden sie sich zu oft gegen Erwerbsarbeit ter) betragen allein in der Schweiz pro Jahr, und Karriere entscheiden und damit das Feld vorsichtig gerechnet, vier Milliarden Schweivon Wirtschaft und Politik den Männern über- zer Franken, ein Anteil von rund zehn Prozent lassen. sämtlicher Gesundheitskosten der Schweiz pro Überhaupt sollen die traditionellen Famili- Jahr (Stand 2012).19 enstrukturen immer weiter aufgelöst werden, Wer sich kritisch gegenüber »Abtreibung« denn stabile Familien bringen selbstbewusste (ein beschönigender Begriff!) äußert, muss Menschen hervor – und das ist genau das, was inzwischen mit harten Sanktionen rechnen. die Uniformität, vielleicht die Diktatur, auf die 30 000 Euro: So hoch kann die Geldstrafe auswir womöglich zugehen, nicht brauchen kann. fallen, mit der in Frankreich die Betreiber von Neben der finanziellen Schwächung der Internetseiten belangt werden können, die Familien (auch im Zuge der europäischen angeblich »irreführende Informationen« rund Staatsschuldenkrise) werden weitere Mittel ein- um die Themen Schwangerschaft und Abtreigesetzt: bung im Internet verbreiten. Mitte Februar Auflösung des Familienbegriffs aus Vater, 2017 brachte die sozialistische französische Mutter, Kindern hin zu einem diffusen Begriff Regierung ein entsprechendes Gesetz durch von »Familie ist da, wo Kinder leben«. Die die Nationalversammlung. Auch DarstellunGesellschaft wird zur neuen Familie, der Staat gen, die das Ziel verfolgen, Frauen und ihre zum neuen Vater (Paternalismus, »Nudging«, ungeborenen Kinder vor einer Abtreibung zu d. h. Anstupsen, das Zurvernunftbringen durch bewahren, können zukünftig mit bis zu zwei den Staat). Jahren Haft oder der genannten Geldstrafe Auflösung des Ehebegriffs des Grundgeset- geahndet werden.20 zes, bei dessen Abfassung homosexuelle BezieEs wird intensiv daran geforscht, den weibhungen noch verboten waren, das also eindeu- lichen Leib vom Gebären zu »entlasten«, INFORMATIONSBRIEF 309

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oder besser: ihn seiner größten Würde und Ehre zu berauben. Wenn dieser Schritt einmal vollzogen ist, steht der »Brave New World« von Aldous Huxley keine geschöpflich-harte Schranke mehr im Wege. Das sozialistische Traumziel wird dann in greifbare Nähe gerückt sein: der bindungslos aufgewachsene ist der bindungsunfähige und damit für alle staatlich geplanten Zwecke willenlos verfügbare Mensch.21 Sprachregelungen greifen immer tiefer ein und gefährden sogar literarische Denkmäler, seien es biblische, theologische, oder literarische. Beispiele: Bibel in gerechter Sprache, Veränderungen des klassischen Liedgutes (der Kirchentag 2017 formulierte Paul Gerhardt »geschlechtergerecht« um); »Sankt-MartinsFest« als »Lichterfest«; in Schweden ein Polizeieinsatz im Kindergarten und allgemeine Entrüstung über die Aussage in »Pippi Langstrumpf«, ihr Vater sei »Negerkönig im Takatuka-Land« (neu: »Südseekönig«).22 Soweit der Blick in die heutige Gesellschaft, fokussiert auf Fragen von Leiblichkeit und Familie. Politik: Pragmatismus folgt Relativismus Nun Blicke in die Politik. Ich meine: Die laufenden Koalitionsverhandlungen bieten ein gutes Emblem der Signatur unserer geistigen Lage. Die Parteien mit den Jamaika-Farben schwarz, grün und gelb waren politisch bis vor kurzem noch denkbar gegensätzlich. Weil das Prinzip Machterhalt wichtiger war als jedes politisch-inhaltliche (Wahl-)Versprechen, wurde zusammengeklebt, was eigentlich einander abstößt. Dazu aber ist ein eiserner Griff nötig. Zwar fehlt die übergreifende, gemeinsame Idee: Man konnte sich in den ersten Gesprächen lediglich einigen, die Schaumweinsteuer abzuschaffen; in der Woche darauf einigte man sich sogar, keine neuen Schulden zu machen. Doch ein positiver Entwurf, ein Programm mit einer klaren Mitte, einem einigenden Gravitationszentrum, sieht anders aus! Das Gravitationszentrum ist nicht mehr ein positives inhaltliches Prinzip, sondern das funktionale Prinzip des Machterhalts, das Prinzip, an der staatlichen Gewalt Anteil zu haben und diese Partizipation durch keine andere Konstellation oder Kritik mehr gefährden zu lassen (daher das »Netzwerkdurchsetzungsgesetz«). Um weiterhin maßgeblich die Regierungsmannschaft stellen zu können, da hatte Martin Schulz am Wahlabend ganz Recht, ist für Frau Merkel jede inhaltliche Option denkbar. Das ist typisch postmodern, gepaart mit staat20

licher Gewalt, d. h. aber eben der Übergang vom Relativismus zum Absolutismus. Am Ende steht, wie ich fürchte, eine neue Diktatur, die sich aber vorläufig nicht als solche zu erkennen geben, sondern sich immer als Vollzug des Mehrheitswillens ausgeben wird, der sorgfältig manipuliert werden muss. Giuseppe Gracia diagnostiziert: »Denn in Europa wird heute mehr als nur Loyalität zu Staat und Gesetz verlangt. Man verlangt die gesinnungsmäßige Anpassung an einen Korridor erlaubter Ansichten. Das verträgt sich weder mit Pluralismus noch mit Religionsfreiheit. Es drängt nicht nur lehramtstreue Katholiken, sondern auch andere Gruppen an den Rand. Ein solches Gesinnungsdiktat fördert Sondergesellschaften. Es entstehen soziale ›Filterblasen‹ mit eigenen Schulen, Arbeitsplätzen und Medienkanälen. Wenn aber eine Gesellschaft durch Gesinnungsdruck schon bekennende Christen ins Abseits drängt, wie will sie dann glaubwürdig der Bildung neuer moslemischer Parallelwelten oder Ghettos entgegentreten? Eine Gesellschaft, in der religiöse Gruppen nur noch im Abseits gemäß ihren Überzeugungen leben können, ist keine offene liberale Gesellschaft mehr, sondern vielmehr Ausdruck ihres Scheiterns.«23 Kirche: einebnende Ich-Botschaften, instrumentelles Verständnis des Pfarramts u. a. Innerkirchliche Abweichler werden bereits im Rahmen der Ausbildung durch nivellierende Maßnahmen aussortiert oder weichgeklopft. Die Arbeit in den kirchlichen Predigerseminaren ist weitgehend auf die Person statt auf die Theologie ausgerichtet, genauer: Über die Arbeit an der Person wird deren Theologie verflüssigt. Denn mit einem postmodernen Ansatz geht man davon aus, dass sich jeder ohnehin seine eigene Wahrheit zusammenbastelt. Vorgeschrieben sind daher »Ich-Botschaften« statt »Es steht geschrieben«. Auf logische Argumente kann weithin verzichtet werden; entscheidend ist, ob jemand umgänglich und nett daherkommt. Auf der Grundlage eines postmodernen Ansatzes wird ein absolutistisches und sozialistisches Ziel verfolgt: Einebnung und Nivellierung. An dieser Stelle steht die Kirche meines Erachtens eben für den Übergang vom Relativismus zu einem neuen Machiavellismus. Das Ordinationsversprechen, bei dem die formelle Grundlage bestimmter Bekenntnisschriften schon lange nur noch aus Formgründen APRIL 2018

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besteht, bekommt eine neue Bedeutung, nämlich die Einordnung der Ordinierten in die kirchlichen Hierarchiestrukturen.24 W 1) Vgl. auch den Versuch einer Eingrenzung der Epochencharakteristika auf Fragen von Rationalität und Optimismus bei Francis Schaeffer: Wie sollen wir denn leben?, S. 141f.; bzw. die seines Erachtens grundlegenden Verschiebungen (unter der Überschrift »Der Zusammenbruch in Philosophie und Wissenschaft«, darunter v. a.: das Verständnis von Kausalität wechselt von einem offenen hin zu einem geschlossenen System; und: die Zuversicht, der Mensch könne zu gewisser Erkenntnis gelangen, weicht einer pessimistischen Haltung (142–164). 2) Metaphysik 993 a 30 bzw. 993 b 20 und 30. Die meisten heutigen Versuche einer Bestimmung des Wahrheitsbegriffs folgen der entgegengesetzten Tendenz einer möglichst engen Bedeutung (L. Bruno Puntel, Art. Wahrheit, in: H. Krings [Hg.]: Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Eine Selbstdarstellung der Philosophie der Gegenwart in ca. 150 Stichwörtern, interaktiv mit Volltextindex [CD], 2. Auflage, Berlin 2003). 3) Descartes: Discours, 1637. Genaue bibliographische Angaben siehe Literaturverzeichnis am Ende. 4) Zur Vorstellung einer »doppelten Wahrheit« in Theologie und Philosophie vgl. Hägglund: Theologie und Philosophie; Sparn: Doppelte Wahrheit. 5) Im Zentrum der Moderne steht, so Hartmut Rosa, »gleichsam als politisches, ethisches und kulturelles ›Projekt der Moderne‹ die Idee der (individuellen und kollektiven) Autonomie des Menschen, die sich auch und gerade aus dem Anspruch auf Selbstbestimmung in Fragen der religiösen Überzeugung und Lebensführung entwickelt« (Historischer Fortschritt, 119). Diese Idee gewinnt ihre kulturprägende Kraft u. a. durch die amerikanischen und französischen Deklarationen der Menschenrechte von 1776 und 1789 (a. a. O. 121). 6) Nicht unbestritten; zur semantischen bzw. narratologischen Reflexion vgl. Koschorke: »Säkularisierung« und »Wiederkehr der Religion«. 7) Nietzsches »Das Individuum ist das Absolute« setzt sich immer mehr durch. 8) Rosa: a. a. O. 127. 9) Ganz neu ist das Problem freilich nicht, wie es überhaupt in der Philosophie nach Plato kaum wirklich Neues gibt. Schon Augustin konstatiert die willkürliche Wahrheitsauffassung bei seinen Gegnern, die meinten, sie könnten die Schrift auf ihre Weise auslegen. Vielleicht kann man sagen: Neu ist, wie massiv

und bestimmend das Problem in das öffentliche Bewusstsein bzw. in die Wahrnehmung der Gesellschaft getreten ist. 10) Rosa: a. a. O. 137. 11) Vgl. Koschorke: a. a. O. 12) Vgl. Marquard: Lob des Polytheismus. 13) Erst nach dem Halten dieses Vortrags las ich Francis Schaeffers »Wie können wir denn leben?« und war überrascht, wie meine Lageanalyse hinsichtlich zunehmender Staatsmacht und zunehmenden Manipulationen durch kleine Eliten sich bereits vor 40 Jahren abzeichnete. Ein paar Zitate aus seinem Buch sind nachträglich hier eingefügt. Es ist hier freilich nicht möglich, Schaeffers Belege und seine geistes- und kulturgeschichtliche Ableitung nachzuzeichnen. Dennoch sei das Buch, das man zumindest Englisch (»How should we then live?«) über Internet günstig beziehen kann, nachdrücklich empfohlen, vgl. auch den guten Rückblick von R. Albert Mohler unter https:// www.thegospelcoalition.org/article/schaeffers-how-shouldwe-now-then-live-40-years-later/ (11.11.2017). Schaeffer beschreibt zwar, wie seines Erachtens die Moderne ans Ende gelangt, gebraucht den Begriff »Postmoderne« aber nicht. 14) Von Lyotard schon für die Moderne befürchtet – und in den wirkmächtigen Kollektivismen (Nationalsozialismus und Kommunismus) auch wirksam geworden. 15) Schaeffer: Wie können wir denn leben, 35. 16) Z. B. Entzug oder Einschränkung staatlicher Mitfinanzierung von Privatschulen, zuletzt in div. Kantonen der Schweiz im Herbst 2017. 17) F. W. Graf: Art. Postmoderne I., Sp. 1511: »Die modernitätsspezifische Expansion von Selbstbestimmungspotentialen kann leicht in Terror umschlagen, aufs zweckrational ›Instrumentelle‹ verengte Vernunft erzeugt nur abstrakte Unterdrückung gelebter Pluralität, und die pathosgeladenen ›Kollektivsingulare‹ (Reinhart Koselleck) der Moderne wie Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit, Fortschritt etc. drohen die einzelnen ihres Rechts auf Individualität und Selbst- bzw. in Außenperspektiven, Anderssein zu berauben.« 18) Entsprechende Zitatbelege finden sich in dem hervorragenden Faltblatt zum Marxismus, herausgegeben von Zukunft CH, Sonderausgabe Oktober 2017. 19) Weisensee: Wertezerstörung. 20) Quelle: Aufbruch. Zeitschrift des Gemeindehilfsbundes, Juni 2017, 7 (http://wwwneu.gemeindehilfsbund.de/fileadmin/ Aufbruch/Aufbruch_Juni_2017.pdf, 07.11.2017). 21) Vgl. hierzu Kuby: Sexuelle Revolution. 22) http://www.freiewelt.net/nachricht/negerkoenig-ruft-dieschwedische-polizei-auf-den-plan-10072661/ (11.11.2017). 23) Gracia: Innere Zensur. 24) Zum ganzen Abschnitt: Rothen: Auf Sand gebaut.

Aus Kirche und Gesellschaft Hannoverscher Landesbischof Meister für Trauung Homosexueller in der ganzen EKD Der Bischof der hannoverschen Landeskirche, Ralf Meister (Hannover), hat sich bei der Synode »seiner« Kirche im vergangenen Herbst für die Trauung gleichgeschlechtlicher Partner ausgesprochen. Er wünscht sich für die gesamte EKD eine einheitliche Agende zur Trauung heterosexueller und homosexueller Paare. Dann allerdings INFORMATIONSBRIEF 309

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täte sich die württembergische Landeskirche schwer, deren Synode ja fast zur selben Zeit, als Landesbischof Meister sich für eine EKD-weit einheitliche Trauagende – auch für »HomoPaare« – aufs neue, wenn auch hauchdünn und gegen das Votum des Oberkirchenrats und des Landesbischofs, beschloss, dass es eine Segnung homosexueller Partnerschaften in dieser Landeskirche nicht gibt. Für »seine« hannoversche Landeskirche, in welcher bis jetzt »nur« eine öffentliche Segnung gleichgeschlechtlicher Partner möglich ist, erwartet Meister für das Jahr 21


2018 die Einführung einer Handreichung für die Eheschließung, die gleichermaßen für hetero- und homosexuelle Paare gilt. Theologisch gebe es zwischen Segnung und Trauung nach reformatorischem Verständnis keinen Unterschied – und in der Tat ist die kirchliche Trauung nach reformatorischem Verständnis die Segnung des Ehebundes; die Eheschließung erfolgt seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf dem Standesamt. Meister zeigte sich darin zuversichtlich, dass in wenigen Jahren alle EKD-Kirchen gleichgeschlechtliche Paare trauen werden. Seine Forderung begründete Meister damit, das Eheverständnis habe sich durch all die Jahrhunderte verändert. »Das einzigartige biblische Vorbild Mann – Frau ist nicht mehr allein und exklusiv gültig«, womit er allerdings die Ehe in die völlige Beliebigkeit stellt. Zudem: Ist für Christen dann nicht mehr das biblische Vorbild bindend? Er sprach sich auch für das Adoptionsrecht homosexueller Paare aus und entschuldigte sich »für alle Diskriminierungen gegenüber homosexuellen Mitgliedern unserer Landeskirche, die durch die Kirche selbst erfolgt sind«. Ist es auch bereits Diskriminierung, wenn der biblische Befund erwähnt und/oder die fraglichen Bibelstellen zitiert werden? Wenn es auch nicht verwundern darf, dass der Vorsitzende der liberalen Synodalgruppe »Offene Kirche«, Rolf Bade, die Forderung Meisters unterstützt, so kann man seine Verwunderung darüber kaum unterdrücken, dass solches auch der Vorsitzende der zumindest einstmals gemäßigt konservativen Gruppe »Lebendige Volkskirche«, Fritz Hasselhorn, tut. Außerdem begrüßte Meister die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, Intersexualität als »drittes Geschlecht« anzuerkennen, wobei es nach dem international tätigen Evolutionsbiologen (und Atheisten) Ulrich Kutschera (Kassel), biologisch kein drittes Geschlecht gibt. (Quellen des Berichts: ideaSpektrum 49/2017 vom 6. Dezember 2017, S. 10; S. 36, Nord; S. 40f., Südwest; Evangelisches Gemeindeblatt für Württemberg 50/2017 vom 10. Dezember 2017, S. 4–8; Aufbruch vom November 2017, S. 8)

Württemberg: Zumindest vorerst keine Segnung homosexueller ­Partnerschaften Die Herbstsynode der evangelischen Landeskirche in Württemberg hat Ende November einen Kompromissvorschlag für die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare abgelehnt. Es fehlten zwei Stimmen für die erforderliche 22

Zwei-Drittel-Mehrheit für einen Vorschlag des Oberkirchenrates. Enttäuscht äußerte sich Landesbischof July, der als Brückenbauer weiter für den Entwurf des Oberkirchenrates werben will. Der Vorschlag des Oberkirchenrates sah vor, dass einzelne Kirchengemeinden über die Segnung homosexueller Paare entscheiden können. Damit wäre die Regelung für keine Gemeinde verpflichtend gewesen. Zuvor war der synodale Gesprächskreis »Offene Kirche – Evangelische Vereinigung in Württemberg« mit einem Antrag für eine Trauung gleichgeschlechtlicher Paare gescheitert. Nach dem Votum bleibt zunächst alles beim Alten. Bisher gehört die evangelische Landeskirche in Württemberg zu den wenigen, die gleichgeschlechtlichen Paaren offiziell den gottesdienstlichen Segen verweigern. Es könnte ein Pyrrhussieg sein, denn die Entscheidung ging denkbar knapp aus und der Landesbischof ist wohl bestrebt, eine Segnung gleichgeschlechtlicher Paare zu ermöglichen. Die Befürworter werden sich nach dieser Entscheidung nicht zufriedengeben und weiter am Thema bleiben. (Quelle der Nachricht: Südwestpresse vom 30. November 2017, Südwestumschau, nach dpa)

Mediziner Professor Erwin Kuntz heimgegangen Einer der profiliertesten Ärzte Hessens ist am 27. Dezember 2018 im Alter von 95 Jahren heimgegangen: Professor Erwin Kuntz aus Wetzlar. Von 1968 bis 1974 war er Chefarzt am Dia­ koniekrankenhaus in Schwäbisch Hall und dann bis 1988 Chefarzt am Klinikum Wetzlar. Der überzeugte Christ erhielt mehr als 20 Auszeichnungen, darunter auch die »Paracelsus-Medaille«, welches die höchste Ehrung der Ärzteschaft ist. Er hat acht Lehrbücher verfasst, mehr als 150 wissenschaftliche Beiträge in Fachzeitschriften veröffentlicht, über 1 250 Vorträge gehalten, Kongresse organisiert und geleitet. Doch alle diese Auszeichnungen und beruflichen Erfolge waren ihm nicht so wichtig wie sein christlicher Glaube. »Wenn ich vor meinem Schöpfer stehe, zählt das alles doch nichts.« Immer wieder ermutigte er Menschen, Gott zu vertrauen und mit seinem Eingreifen zu rechnen. Nur wenig vor seinem Heimgang hat Professor Erwin Kuntz das Faltblatt »Kleine Sachkunde zum Islam – mit auch kontroversen Fakten« verfasst, das vielfach nachgefragt wurde. (Quelle der Nachricht: ideaSpektrum 1/2/2018 vom 10. Januar 2018, S. 31, Hessen)

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Aus den Bekennenden Gemeinschaften Wechsel im idea-Redaktionsbüro Ost Nach elf Jahren gab es einen Wechsel im ideaRedaktionsbüro Ost. Die Journalistin Lydia Schubert (22) folgt auf den bisherigen Ost-Redakteur Matthias Pankau (41), der zum 1. Januar 2018 als idea-Leiter nach Wetzlar wechselte. Die Pfarrerstochter Lydia Schubert studierte von 2014 bis 2017 Medienmanagement an der Hochschule Mittweida.

Badischer Synodaler Theo Breisacher für eine erneute Reformation der Kirche Eine durchgreifende Reformation der Kirche auch heute wünscht sich der badische Pfarrer und Landessynodale Theo Breisacher (Spielberg bei Karlsruhe), der zum Reformationstag 2017 sechs Thesen verfasste und sie dem badischen Landesbischof überreichte bzw. zur Diskussion im »Netzwerk Evangelische Christen in Baden« veröffentlichte. Mit Breisacher sieht das Netzwerk elementare biblische Wahrheiten infrage gestellt. Die erste These stellt heraus, dass es neben Christus keine anderen Wege zur Erlösung gibt. Allein an ihm entscheide sich das Heil der Menschen. In der zweiten These kritisiert Breisacher, dass der Eindruck erweckt werde, auch ohne persönlichen Glauben sei das Heil Gottes zu erlangen. Breisacher: Wer das Gericht Gottes verschweigt, wiegt Menschen in trügerischer Sicherheit. Die dritte These stellt klar: Wer die göttliche Herkunft Jesu und seine bleibende Gottessohnschaft leugnet, stellt seine Rettungstat infrage. Die These vier wendet sich gegen die Auffassung, dass die Texte der Bibel lediglich subjektive Äußerungen der Glaubenden jener Zeit waren. Die These fünf widerspricht der Behauptung, es gebe keine allgemeingültigen Wahrheiten. These sechs kritisiert die Monopolstellung der historisch-kritischen Bibelauslegung in der theologischen Ausbildung an den Universitäten. Download unter www.netzwerk-baden.de im Internet. Kopien der Thesen sind erhältlich bei: »hoffen + handeln«, Pfarrer Wolfgang Gehring Albert-Schweitzer-Straße 4c, 79585 Steinen Telefon (07627) 9726047 E-Mail: pfarrer-woge@t-online.de (Quelle der Nachricht: hoffen + handeln Dezember 2017/Januar 2018, S. 12f. von Martin Kugele)

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(Quelle der Nachricht: ideaSpektrum 51/52/2017, S. 45, Ost)

AEM-Vorsitzender Detlef Blöcher wurde 65 Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Evangelikaler Missionen (AEM, 107 Mitgliedswerke), Missionsdirektor Detlef Blöcher (Sinsheim bei Heidelberg), wurde 65. Im Hauptamt ist Blöcher seit 2000 Leiter des Hilfs- und Missionswerkes DMG international (früher: Deutsche Missionsgemeinschaft). Dieses Amt gibt er zum 1. Mai 2018 ab. Die Leitung nimmt dann ein »Tandem« wahr: Pfarrer Günther Beck (bislang Leiter der Öffentlichkeitsarbeit) als Direktor und Andrew Howes (Personalleiter Afrika) als sein Stellvertreter. Da der AEM-Vorsitz an eine Leitungsaufgabe gekoppelt ist, scheidet Blöcher nach 14 Jahren auch aus diesem Amt aus. Kritisch sieht Blöcher, dass manche Missionswerke heute vor allem auf tätige Nächstenliebe setzen, aber die Verkündigung des Evangeliums vernachlässigen: »Wort und Tat dürfen nicht getrennt werden.« (Quelle der Nachricht: ideaSpektrum 1/2/2018, S. 14, Von Personen)

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Veranstaltung der Bekenntnisbewegung

Bekennende Kirche werden –– Die Bedeutung der Seelsorge für die Kirche der Zukunft Bekenntnistag am 13. und 14. Oktober 2018 in Kassel

»Die Kirche der Zukunft wird eine Kirche der Seelsorge sein – oder sie wird nicht sein!« Das schrieb Professor Rainer Mayer im ­Informationsbrief der Bekenntnisbewegung (Die Wurzeln der Reformation in der Seelsorge, Nr. 304, S. 11). Die mit Ernst Christ sein wollen, werden immer einsamer. Muss heute jeder sehen, wie er alleine zurecht kommt? Wo finde ich Beistand in der Not dieser Zeit und meines eigenen Lebens? Kann aus den verstreuten angefochtenen Christen eine bekennende Kirche werden, in der wir wieder eine geistliche Heimat finden können? Professor Mayer ist seit vielen Jahren Autor unseres Informationsbriefes. Er wird von den Erfahrungen der Bekennenden Kirche im »Dritten Reich« den Bogen schlagen zu den Glaubenskämpfen unserer Zeit und einen Weg zeigen für die Zukunft der kleinen Herde, die – nicht zuletzt in der Seelsorge – die Stimme des Guten Hirten hört. Diakonisse Schwester Heidi Butzkamm aus Aidlingen steht seit vielen Jahren ebenso im Dienst der Evangelisation und Seelsorge wie im Kampf um Lehre und Weg der Kirche. Sie wird aus der Verbindung jahrzehntelanger seelsorgerlicher Erfahrung mit fundierter biblisch-reformatorischer Theologie »Mut zur Seelsorge« machen und Hilfestellung geben, wie wir in unseren Kreisen und Gemeinschaften jeder an seinem Ort die »Kirche der Seelsorge« leben können.

Vorläufiges Programm Samstag, 13. Oktober Begrüßungskaffee Die Bedeutung der Seelsorge für die Kirche der Zukunft I (Professor Rainer Mayer) Mittagessen Die Bedeutung der Seelsorge für die Kirche der Zukunft II (Professor Rainer Mayer) Kaffee Mut zur Seelsorge! (Schwester Heidi Butzkamm) Sonntag, 14. Oktober Bekenntnisgottesdienst (Pastor Johannes Frey)

Das endgültige Tagungsprogramm und der Ort folgen im nächsten Informationsbrief. 24

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Buchrezensionen Praktische Theologie Ein Grundriss für Studium und Gemeinde Das Werk behandelt im ersten Teil »Grund­ lagen« der Praktischen Theologie, im zweiten den »Kontext« theologischen Wirkens und skizziert im dritten die praktisch-theologischen Einzelfächer. »Fokus« des Buches ist »der qualitative und quantitative Aufbau von Gemeinden«. Die Autoren verstehen Praktische Theologie als »biblisch normierte Theorie kirchlicher Praxis im gesellschaftlichen Kontext«. Sie ist nicht »Selbstzweck«, sondern dient der Kirche und ihrer Mission in der Welt, d. h. sie »zielt auf Transformation der kirchlichen Praxis ab« (S. 7). Sie muss sowohl empirische Ergebnisse als auch theologische Einsichten in sich aufnehmen, dabei aber unbedingt den »Primat des Theologischen« wahren (S. 33) und darlegen, »welche Gestalt von Kirche implizit für sie handlungsleitend ist« (S. 71f.). Sie orientiert sich an einer »Kirchentheorie« als »kontextualisierte[r] Ekklesiologie«. Deren Leitkriterien sind »Herr ist Jesus Christus« und Kirche als »Kontrastgesellschaft« (S. 78f.). Die religiöse Entwicklung ist in der gegenwärtigen Gesellschaft durch »Säkularisierung«, »Privatisierung« der Religion, »Entkirchlichung«, »Individualisierung«, »Entchristlichung« und »Synkretisierung« (S. 91f.) gekennzeichnet. Die gegenwärtige deutsche Bevölkerung besteht aus einem langsam schrumpfenden katholischen, einem schnell schrumpfenden evangelischen und einem wachsenden nichtchristlichen Drittel (S. 108). Entsprechend wächst für die theologische Theorie und Praxis die Bedeutung des Missionarischen. Eine große Herausforderung bedeutet die Bevölkerungsentwicklung: starkes Wachstum in der süd-östlichen Hemisphäre, Schrumpfung und Überalterung in Europa. Gemeinde ist gottesdienstliche Versammlung. Folglich wird im dritten Teil der Liturgik die erste Aufmerksamkeit zugewendet, der Homiletik die zweite. Die Autoren skizzieren Grundlagen, Elemente und Verlauf des Gottesdienstes. Evangelisation muss zielgruppenorientiert, der Gottesdienst dagegen integrativ sein. Die Predigt ist »Kommunikation des Wortes Gottes durch Schriftauslegung« und folglich selber »Wort Gottes« (S. 230f.). Sie muss gründlich vorbereitet, gegliedert und anschauINFORMATIONSBRIEF 309

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lich sein. Kasualien sind »Segenshandlungen an Knotenpunkten des Lebens« und werden von mehr Kirchenmitgliedern in Anspruch genommen als der normale Sonntagsgottesdienst (S. 254f.). Wichtig ist die Mahnung: »Der Fall ist unter das Wort zu stellen, nicht das Wort unter den Fall.« »Die Grundkasualie […] ist die Taufe« (S. 260). Sie ist »Realsymbol der Umkehr zu Gott« und der »Eingliederung in die Gemeinde«. Die Autoren verstehen sie allerdings nicht als signum efficax, als Zeichen, das bewirkt, was es bedeutet, sondern schreiben echt freikirchlich die Wirkung dem Glauben zu. Dieser ist damit nicht Rückbesinnung auf die durch ihren rechten Vollzug wirksame Taufe, sondern selber wirksam – eine Vorstellung, die katholischer und lutherischer Theologie widerspricht. Das Buch bietet Vorschläge zum Verlauf der Taufe, der Kindersegnung und anderer Segenshandlungen. Regelrecht falsch ist die Behauptung, das Ehesakrament müsse in der katholischen Kirche »durch den geweihten Priester kirchlich gespendet« werden (S. 266). Den Begriff der Ordination wollen die Autoren »auf jede Einführung in einen geistlichen Dienst« (S. 269) ausdehnen. Die Aszetik will »dem Glauben eine Form geben«. Es geht um ein »Getragensein von Traditionen der Glaubensgestaltung« (S. 293). In der Poimenik geht es darum, »wie im pastoralen Dienst einzelnen Menschen helfend nachgegangen werden kann« (S. 298). »Zur Kernkompetenz des Seelsorgers« gehören Gebet und »Abnehmen der Beichte«. Psychologische Erkenntnisse sind einzubeziehen, doch muss Seelsorge als »Hilfe zum Glauben – Hilfe durch Glauben« von Therapie unterschieden bleiben. Der Seelsorger muss jedoch auch um die Grenzen seiner Möglichkeiten wissen und gegebe25


nenfalls an einen Therapeuten weiterverweisen. Gemeindepädagogik soll »Angebote für Kinder und Jugendliche gestalten« und »Erwachsene im Glauben fördern«. Wichtig ist Adressatenadäquatheit sowohl hinsichtlich der Lebensalter als auch der verschiedenen Lebenssituationen. Besondere Aufmerksamkeit widmen die Autoren der Evangelistik. Evangelisation zielt darauf, Namenschristen zu einem bewussteren Glauben zu motivieren und Nicht-Christen zu bekehren. Fehlende Kenntnisse und mangelnde Überzeugung erfordern eine »argumentative Darstellung« des christlichen Glaubens. Auch die normale Gemeindepredigt ist Evangelisation. Die Diakonik beschäftigt sich mit dem sozialen Handeln der Kirche. »Es kommt daher darauf an, dass Diakonie einen Mehrwert gegenüber dem sozialen und human-gesellschaftspolitischen Handeln säkularer Akteure aufweist […] und als gelebtes Evangelium erkennbar bleibt« (S. 405). Gegenstand der Religionspädagogik ist der christliche Religionsunterricht in der Schule. Dieser muss dem Legitimationsdruck standhalten und darf sich weder »in die Nische«

zurückziehen noch selbst säkularisieren. Christliche Publizistik soll »Medien für die Kommunikation des Evangeliums einsetzen«. Es kommt darauf an, »dass die Kirchen sich bewusst darauf einstellen, in einer Mediengesellschaft zu leben« (S. 464). Der »Öffentlichkeitscharakter des Evangeliums« erfordert auch Präsenz in Medien und durch Medien. Diese Gesamtdarstellung der Praktischen Theologie weist mehrere Vorzüge auf: WW unprätentiöse Sprache und gute Lesbarkeit, WW klare Gliederung und Gliederungshilfen, die es ermöglichen, sofort einen Überblick zu gewinnen, WW Klarheit der theologischen Grundlagen durch deutliche biblische Orientierung. Günter R. Schmidt Helge Stadelmann/Stefan Schweyer Praktische Theologie. Ein Grundriss für Studium und Gemeinde Brunnen Verlag Gießen 2017, 508 Seiten, 50,– Euro ISBN 978-3-7655-9568-4

Theologie des Neuen Testaments Band III, Historische Kritik der historischkritischen Exegese. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart In einem der früheren Bände seiner sehr umfangreichen »Theologie des Neuen Testaments« (Band I bis III, sieben Teilbände, etwa 2500 Seiten), hat der international bedeutsame Professor für Neues Testament (ab 1960) und vormalige Bischof von Holstein-Lübeck (1981–1992), Ulrich Wilckens (Lübeck, geb. 1928), angekündigt, die von ihm durchaus zu Recht für wichtig erachtete »historische Kritik der historisch-kritischen Exegese« allein schon aufgrund seines vorgerückten Alters wohl nicht mehr verfassen zu können, so dass diese Aufgabe jüngeren (Fach)Kollegen zufiele (Band II/2, S. VI, Vorwort, 2009). 26

Ulrich Wilckens hat es dann aber unternommen, in einem etwa 170 Seiten umfassenden, allgemein verständlich gehaltenen Buch, eine Kurzfassung dessen vorzulegen, um was es ihm geht (Kritik der Bibelkritik. Wie die Bibel wieder zur Heiligen Schrift werden kann, 1. Auflage 2012, 2. Auflage 2014, Neukirchener Verlag, Reihe: neukirchener theologie, Besprechung im Informationsbrief Nr. 298, Juni 2016, S. 29f.). Nun ist aber – glücklicherweise – das eingetreten, womit der greise Gelehrte und Kirchenmann und in dem allem überzeugte Christuszeuge nicht mehr gerechnet hat. Ulrich Wilckens hat es geschafft, im Herbst 2016 den APRIL 2018

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dritten Band seiner Theologie des Neuen Testaments abzuschließen. Das Zeitalter der Aufklärung stellt in der Auslegung der Bibel insofern die gravierende Wende dar, da nun an die Stelle der bis dahin fraglos feststehenden Gültigkeit und Normativität von Heiliger Schrift und kirchlichem Dogma (Glaubenslehre) die – autonome – menschliche Vernunft tritt, anhand der zu entscheiden ist, was noch Gültigkeit beanspruchen darf und was eben nicht. Dass die Vernunft dafür als das entscheidende Kriterium Einzug hielt, findet letztlich seine Begründung in den oft schrecklichen konfessionellen Auseinandersetzungen (30-jähriger-Krieg) der nachreformatorischen Zeit. Die Kritik richtete sich zunächst auf das Dogma (Glaubenslehre), betraf dann aber auch rasch die Bibel und zeitigte allerschwerste Folgen. Die Bibel, bislang unwidersprochen als Wort und Wille Gottes angesehen, wurde zu einem Zeugnis von subjektiven Glaubenserfahrungen von Menschen, die sich von Gott angesprochen wussten. Von nun an entschied dann auch die Vernunft darüber, was den Menschen in ihrer jeweiligen Zeit noch »zugemutet« werden kann und was nicht. Dabei hatten die Aufklärer und die ihnen folgenden »liberalen« Generationen in aller Regel keineswegs die Absicht, die Bibel zu zerschlagen; diese wollten sie vielmehr erhalten, aber mit der Vernunft in Einklang bringen, was sich jedoch als unmögliches Unterfangen herausstellte. Kernaussagen der Heiligen Schrift und damit grundlegende Dogmen (die auch in den über die Konfessionsgrenzen hinweg geltenden altkirchlichen Bekenntnissen enthalten sind) wie etwa Jungfrauengeburt, Sühnetod Jesu, seine Auferstehung und Himmelfahrt sowie seine Wiederkunft, das Gericht, die Verwandlung und der neue Himmel und die neue Erde blieben auf der Strecke; am Ende blieb lediglich Moral übrig. Ging es in all den Jahrhunderten davor um den Glauben an Jesus, so seit der Aufklärung um ein Handeln nach dem Vorbild Jesu; es ging um eine so genannte Urbildchristologie. An Stelle der Nachfolge trat die Nachahmung. Christologie wurde durch Jesuanismus ersetzt. Es kam zu einer vollständigen Subjektivierung von Theologie und Glauben und deren Individualisierung. Theologie wurde letztlich zur Anthropologie. Ulrich Wilckens hat sein Werk sinnvollerweise chronologisch angeordnet. In seiner Auslegungsgeschichte geht er dann so vor, dass er die »theologische« Entwicklung geradezu paradigmatisch an den Positionen einzelner namhafter Theologen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert INFORMATIONSBRIEF 309

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beschreibt. Dabei wird deutlich, dass die »liberale« Richtung bis in die Gegenwart hinein, die dominante blieb, auch wenn sie den Glauben entleerte. »Wir leben gegenwärtig in einer Zeit weitgehender Glaubensleere« (S. 375), diagnostiziert Ulrich Wilckens zutreffend für unsere Gegenwart, wie er sich immer wieder durch ein treffendes Urteil auszeichnet. Es unterscheidet ihn denn auch wohltuend von den heutigen Tags gängigen theologischen Erscheinungen, die sich – durchaus kenntnisreich – im Deskriptiven erschöpfen und bewusst keine Wertung vornehmen, dass er ganz bewusst bewertet und – freilich mit professoraler Noblesse – zum Ausdruck bringt, wenn etwas Schrift und Dogma/ Bekenntnis zuwiderläuft. War auch die »liberale«, anthropozentrische »Lesart« der Heiligen Schrift mit ihrer historisch-kritischen Bibelauslegung im Grunde seit ihrem Aufkommen und dann zusehends mehr, die dominierende und kann man nicht bestreiten, dass sie, welche die Heilige Schrift nach denselben Kriterien untersucht und »zerpflückt« wie andere antike Schriftstücke und somit atheistisch verfährt, letztlich siegreich blieb, so kann auch nicht übersehen werden, dass es immer wieder namhafte Theologenstimmen vornehmlich aus dem Pietismus gab, die begründet widersprachen und Teilerfolge hatten, ohne den liberalen theologischen Mainstream aufzuhalten oder umzulenken. Ulrich Wilckens, dessen Sympathie diesen besonnenen Mahnern aus dem Pietismus gilt, behandelt diese Protagonisten: Spener, Francke, Bengel, Beck, Henstenberg (lutherischer Konfessionalist), Kähler, Tholuck, Hofmann, Schlatter; deren Schwäche erkennt er in ihrer jeweiligen Verhaftung im Denken ihrer Zeit und/oder ihrer bloßen Antihaltung (besonders bei Schlatter) und ihrem Subjektivismus, was zeigt, dass sie Schleiermacher, den »Kirchenvater« liberaler Theologie nicht überwunden haben. Eine »Schule« bildeten sie nie, auch wenn sie mitunter Schüler hatten. Durch die ganze Abhandlung hindurch wird deutlich, wie sehr evangelische Theologie immer mit im Schlepptau herrschender Philosophie bis heute hängt, weshalb Ulrich Wilckens deren Hauptvertreter und ihre Ansichten ebenfalls behandelt. Der Aufklärer Kant ist inzwischen seit langem der die evangelische Theologie beherrschende Philosoph. Hegel wäre verheißungsvoller gewesen, wie etwa die heilsgeschichtlich orientierte Systematik von Wolfhart Pannenberg belege, welche eine Antwort auf die bultmannsche Theologie war, bei Karl Barth und Gerhard von Rad anknüpfte, aber über diese hinausführt, allein schon dadurch, dass Pannenberg das Ge27


spräch mit anderen Disziplinen suchte. In einer heilsgeschichtlich orientierten Position, und eine Theologie, die sich dezidiert als schriftgemäß versteht, wird eine heilsgeschichtliche Ausrichtung haben, hätte m. E. auch der letzte große – sich selbst so verstehende – heilsgeschichtliche Theologe, Oscar Cullmann (1902–1999), Erwähnung finden sollen; freilich, Ulrich Wilckens konnte nicht auf alles eingehen. Gesonderter Erwähnung bedarf, dass Ulrich Wilckens auch die Entwicklung der Auslegung der Bibel durch römisch-katholische Theologen behandelt (S. 311–323; 345–353), was allerdings nicht verwundern darf, da er sich seit vielen Jahren im fachlichen Austausch mit Kollegen der anderen Fakultät befindet. Gegenwärtig ist unter evangelischen und römisch-katholischen Exegeten kein konfessioneller Unterschied mehr spürbar. Bildeten die Theologen Karl Barth (1886– 1968) und Rudolf Bultmann (1884–1976), die in den Anfängen der so genannten »Dialektischen Theologie« zusammen mit anderen noch zusammenstanden, dann sich aber mehr und mehr auseinanderentwickelten, jeweils eine »Schule«, so ist davon nichts mehr übrig geblieben. Bereits seit Jahrzehnten geht die Entwicklung zurück zum (Alt)Liberalismus und zwar in sämtlichen theologischen Disziplinen. Leider hat sich aus einer Theologengruppe aus Vertretern unterschiedlicher theologischer Disziplinen, die sich vor bald 60 Jahren um den Systematiker Wolfhart Pannenberg (1929– 2014) zusammenfand und verheißungsvoll begann (vgl. ihre Programmschrift: »Offenbarung als Gesichte«, 1. Auflage 1961, 2. Auflage 1963) keine Schule ergeben, da deren Vertreter bereits nach wenigen Jahren getrennte Wege gingen und teilweise wieder im theologischen Liberalismus landeten. Ulrich Wilckens gehörte seinerzeit auch zu dieser Gruppe und betrachtet seine »Theologie des Neuen Testaments« (Band I–II, sechs Teilbände, 2001–2009; vgl. Besprechung dazu im Informationsbrief Nr. 303, April 2017, S. 29f.) als »Pannenberg am nächsten« (S. 379). Nach wie vor sieht Ulrich Wilckens in der Konzeption Wolfhart Pannenbergs einen Weg, der in die richtige Richtung geht. Denn Pannenbergs Entwurf nehme zwar philosophische Vorstellungen Hegels auf, führe diese aber weiter, so dass das Gespräch mit der Philosophie gegeben sei und binde dazu auch der Theologie scheinbar fremde Wissenschaftsgebiete ein, vor allem die Physik. Damit werde die Engführung der Wort Gottes Theologie Karl Barths, die nebst Gerhard von Rad Wolfhart Pannenberg mit zugrunde liegt, aufgebrochen. Christlicher 28

Glaube werde denkmöglich und begründbar. Gottes Handeln, so Ulrich Wilckens, geschieht in menschlicher Geschichte (S. 383). Bei allen theologischen Auseinandersetzungen – die »stattfinden können« (S. 384), eine das gemeinsame Fundament: »der drei-eine-Gott«. Aber dieses gelte es, »heute wieder ganz neu zu finden«. Ulrich Wilckens beschließt sein Werk geradezu mit einer Gebetsbitte: »Gott gebe dazu die Hilfe seines Geistes!« (S. 384) Vor inzwischen mehr als 100 Jahren hat Albert Schweitzer (1875–1965) mit seinem fulminanten Werk »Geschichte der Leben Jesu Forschung« (1906, seither in vielen Auflagen erschienen) den immer wieder versuchten Jesus-Biographien, die zumeist nur Jesus-Romane waren, in dieser Form ein Ende bereitet und damit der liberalen Theologie damals einen empfindlichen Stoß versetzt, wiewohl der vielbegabte Albert Schweitzer selbst immer ein liberaler Theologe blieb. Es ist mein Wunsch, dass das Alterswerk des einstigen Bischofs von Lübeck und unermüdlichen Zeugen Jesu, Ulrich Wilckens, vergleichbare Wirkungen zeitigt. Möge es die Augen dafür öffnen, wie fast flächendeckend der theologische und kirchliche Liberalismus herrscht und wie heillos dieser doch die Menschen lässt. Es gilt, ganz neu die Bibel als Gottes Wort ernst zu nehmen und ihr zu vertrauen und sie nicht als den subjektiven Niederschlag von tatsächlichen oder auch nur vermuteten Gotteserfahrungen (solche werden aus anderen Religionen ja auch berichtet, so dass sich das Christentum damit nicht mehr von diesen unterschiede und etwa Mission obsolet wäre) anzusehen, was nicht gegen die Vernunft steht. Dazu kann die verdienstvolle Arbeit von Ulrich Wilckens beitragen. Walter Rominger Ulrich Wilckens, Theologie des Neuen Testaments, Band III, Historische Kritik der historisch-kritischen Exegese. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Göttingen 2017 Vandenhoeck & Ruprecht Reihe: neukirchener theologie etwa 400 Seiten, Paperback, 35,– Euro ISBN 978-3-7887-1909-8

Digitaler Turmbau zu Babel Der Technikwahn und seine Folgen »Wir brauchen ein ausreichendes, sogar ein gutes Verständnis für neue Technologien und ihre Implikationen«, sagte der Finanzdezernent der württembergischen Landeskirche, Martin APRIL 2018

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Kastrup, bei der Herbstsynode 2017, um fortzufahren: Deshalb sollten Kommunikation und Digitalisierung Dauerthemen der Landeskirche werden. Und so wird kirchlicherseits viel Geld in die Hand genommen, um die digitale Revolution mit zu befördern: Dem Evangelischen Gemeindeblatt für Württemberg (50/2017, S. 9) zufolge »enthält der Haushaltsplan 2018 1,1 Millionen Euro für die Investition und den Betrieb einer E-Learning-Plattform beim Medienhaus und in der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg 1,1 Millionen, 500 000 Euro sind für eine Lieder-App veranschlagt, 800 000 Euro fließen in den Aufbau eines digitalen Archivs und den Ausbau elektronischer Medien in der Landeskirchlichen Bibliothek.« Ganz euphorisch scheint man zu sein, große Chancen wittert man, doch die Risiken werden kleingeschrieben oder ignoriert. Man stimmt ein in den Jubelchor der Digitalisierer – doch wird damit nicht gerade »das gute Verständnis für neue Technologien und ihre Implikationen« versäumt? Wie nötig wäre es ethisch, dass die Kirchen ganz bewusst auf die Schattenseiten der weltweit mit großer Geschwindigkeit voranschreitenden und geradezu exzessiv vorangetriebenen Digitalisierung hinweisen. Der evangelische Theologieprofessor und Pfarrer Werner Thiede, wahrlich kein Verächter der Technik, solange diese dem Menschen dient, wird indessen nicht müde, kompetent auf die Schattenseiten der Digitalisierung hinzuweisen – so auch in seinem Buch über den »digitalen Turmbau zu Babel«, welches er als »Streitschrift« versteht. Denn die Schatten werden länger und länger, und Thiede bemängelt einmal mehr, wie die Kirchen, selbst zum Technikfreak geworden, es versäumen, angemessen auf die Gefahren hinzuweisen, und das Digitale fleißig nutzen, ja empfehlen. Das Buch macht deutlich: Es wäre im Sinne einer an Heiliger Schrift und Bekenntnis orientierten theologisch-kirchlichen Ethik, Digitaltechnik unter der Prämisse des Bewahrens und Gestaltens zu entwickeln und demgemäß aber auch das nicht ernsthaft zu bestreitende Gefahrenpotenzial zu benennen – etwa die nicht unerhebliche Einschränkung der Freiheitsund Bürgerrechte (aktuell auf dem Gebiet der Strom- und Wasserzähler, die bald fast im Sekundentakt Daten im eigenen Haushalt ohne Widerspruchsrecht sollen funken dürfen) sowie eine rasante Beschleunigung des Lebens, die per se krankmachend ist. Namentlich die gesundheitliche Gefährdung durch Elektrosmog und Funkstrahlung, die Thiede bereits in seinem Buch »Mythos Mobilfunk« thematisiert hatte, wird erneut unterstrichen. Wenn Kirche INFORMATIONSBRIEF 309

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sich traditionell auf die Seite der Schwachen zu stellen pflegt, warum tut sie das nicht bei den gefährdeten Elektrosensiblen? Der allgemein herrschende Digitalisierungswahn verändert die Ethik, so Werner Thiede. Mangelnde Technikfolgenabschätzung moniert er ganz allgemein und sieht dies begründet in einem regelrecht erzeugten Massenwahn, einer Begeisterung für digital erzeugte Effekte, welche zum Teil irrationale Züge aufweisen und psychisch Narzissmus fördern, hingegen Empathie schwächen. Eine Gesellschaft, in welcher die gewohnte Religion immer mehr der Säkularisierung zum Opfer fällt, schafft sich freilich Ersatzgötter. Wenn das ewige Leben aus dem Blickfeld gerät, so sucht man nach Unsterblichkeit, die einem technisch machbar erscheint – welch grandiose Illusion, welch irregeleiteter Glaube an die Macht der Digitalisierung! Dieser »Wahn« bringt wahrlich nicht allein überzogene, sondern sogar blasphemisch anmutende Gedanken hervor; der technikbegeisterte Mensch setzt sich gewissermaßen an die Stelle Gottes. Die digitale Demenz, von der Mediziner sprechen, setzt schon zügig ein. Eine Rundum-Digitalisierung ist von Wirtschaft und Politik ganz offenkundig gewollt: zum einen um Umsätze und Gewinne zu steigern, und zum andern, um durch den gläsernen Menschen eine bessere Überwachung zu ermöglichen. Wenn dadurch auch Bürgerrechte auf der Strecke bleiben, so lässt sich das die Masse im Horizont des gesellschaftlichen Digitalisierungswahns bieten, weil damit ja auch allerlei Bequemlichkeit und Luxus unterstützt wird. Dabei lädt – eine weitere Schattenseite – die überhand nehmende Digitalisierung namentlich mit dem kommenden »Internet der Dinge« Hacker geradezu zu Cyber-Attacken ein, besonders auf sensible Versorgungssysteme (etwa Energie- und Wasserversorgung). Wo bleibt die Vernunft, die der totalitär anmutenden Rundum-Digitalisierung Einhalt gebietet? Werner Thiede verteufelt die Technik an sich nicht und hat nichts gegen Computer und Internet; er selbst bedient sich ihrer ja selbst. Aber er weiß genau, wo deren Grenzen liegen und zeigt, dass er »ein gutes Verständnis für neue Technologie und ihre Implikationen« hat. Die Technik ist zu gebrauchen, aber der Mensch muss sie beherrschen und nicht sie immer mehr Herrschaft über den Menschen ausüben lassen. Technik muss dienen und soll dabei nicht zu einer Technokratie verführen. Doch inzwischen zeichnet sich eine Verschmelzung von Maschine und Mensch ab, die durch eine immer mehr um sich greifende Roboterisierung weiter und wei29


ter vorangetrieben wird – etwa im Zeichen der »Industrie 4.0« und auf militärischem Gebiet. Dem Theologen Werner Thiede gebührt großer Dank. Denn auf evangelischer Seite ist er meines Wissens der bis jetzt einzige, der sich dieses weitläufigen Themas mit Weitblick annimmt und in seiner ethischen Relevanz überhaupt erst begreift. Insofern ist sein Ruf ein geradezu prophetischer. Er verweist darauf, dass es bislang viel eher Schriftsteller und Philosophen als Theologen sind, die um die brisante Ambivalenz des Themas Digitalisierung wissen. Vieles von dem, was Science Fiction-Romane beschreiben und teils schon vor Jahrzehnten beschrieben haben, ist inzwischen von der Wirklichkeit eingeholt, ja mitunter überholt. Und bei weitem nicht alles, was auf den ersten Blick nach Verschwörungstheorie schmeckt (totale

Überwachung, Überwachungsstaat), ist übertrieben. Der zweite Blick zeigt, dass es der Realität und der laufenden Entwicklung entspricht. So können Schriftsteller zu Propheten werden. Das vorliegende Buch von Werner Thiede öffnet die Augen dafür, was menschliche Hybris sich auszudenken und technologisch anzustreben vermag: eine Welt ohne Gott, die aber gottlos grausam ist. Der »Digitale Turmbau zu Babel« sei hiermit ausdrücklich zur gründlichen Lektüre empfohlen. Walter Rominger Werner Thiede, Digitaler Turmbau zu ­Babel. Der Technikwahn und seine Folgen oekom-Verlag, München 2015 240 Seiten, 19,95 Euro ISBN 978-3-86581-727-3

Die Vorträge des Studientages 2017 von Pfarrer Thomas Hilsberg zum Thema »Einer für alle: Christus allein. Die reformatorischen ›allein‹« sind zum Nachhören und zum Weiter­ geben auf Tonträger erhältlich (als Audio-CD oder MP3) bei: Helmut Schlee · Gartenstraße 15 a · 47506 Neukirchen-Vluyn Telefon (02845) 9490950 · E-Mail: HelmutSchlee@gmx.de PS: Auch von den Vorträgen des Studientages 2016 mit dem deutsch-amerikanischen ­Journalisten und Theologen Dr. Uwe Siemon-Netto sind noch Aufnahmen vorhanden und ­ebenfalls bei Helmut Schlee zu erhalten.

Weitere Exemplare des Informationsbriefes für Juli 2013, Heft 279 und für Juli 2014, Heft 286 sowie die Traktate »Falsche Propheten sind unter uns«, »Ist Gott interreligiös?«, »Christentum und Islam in Geschichte und Gegenwart« und »Der Islam im Licht des christlichen Glaubens« können –– auch in größerer Stückzahl –– bei der Geschäftsstelle bestellt werden.

Mitarbeiter an diesem Heft: Pfarrer Dr. Stefan Felber Chrischonarain 200 CH-4126 Bettingen Schweiz Pfarrer Martin Fromm 97355 Rüdenhausen E-Mail: martin.fromm@elkb.de

Pfarrer i. R. Eduard Haller Sömmerlistraße 45 Altersheim CH-9000 St. Gallen Schweiz Telefon 0041 (071) 2721816 Walter Rominger Mehlbaumstraße 148 72458 Albstadt Telefon und Fax (07431) 74485 E-Mail: w.rominger@t-online.de

Professor Dr. Günter Rudolf Schmidt Schinnerer Straße 11 91065 Erlangen Telefon und Fax (09131) 41793 E-Mail: guerusch@t-online.de Professor Dr. Werner Thiede Richard-Wagner-Straße 8 75242 Neuhausen E-Mail: werner.thiede@web.de

Für den Inhalt der Artikel sind die jeweiligen Verfasser verantwortlich. Die Meinung des Verfassers deckt sich nicht in allen Fällen mit der des Schriftleiters.

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Geschäftsführender Ausschuss Vorsitzender Pfarrer Johannes Frey Ofener Weg 3 28816 Stuhr Telefon (04 21) 5 22 89 10 E-Mail: johannes.frey@kabelmail.de Schriftführer Walter Rominger Mehlbaumstraße 148 72458 Albstadt Telefon und Fax (0 74 31) 7 44 85 E-Mail: w.rominger@t-online.de

Weitere Mitglieder des Geschäftsführenden Ausschusses Martin Schunn Hölderlinstraße 9 75334 Straubenhardt Telefon (0 70 82) 2 02 75 E-Mail: cmschunn@gmail.com Helmut Schlee Gartenstraße 15 a 47506 Neukirchen-Vluyn Telefon (0 28 45) 9 49 09 50 E-Mail: HelmutSchlee@gmx.de

Bekenntnisbewegung »Kein anderes Evangelium« e. V. Geschäftsstelle: Walter Rominger Mehlbaumstraße 148 72458 Albstadt Telefon und Fax (07431) 74485 E-Mail: w.rominger@t-online.de www.keinanderesevangelium.de

Kassenwart Hans Lauffer Osterstraße 25 70794 Filderstadt Telefon (0 71 58) 48 31 Fax (0 71 58) 94 78 73 E-Mail: hans.lauffer@t-online.de

Mit Fragen bezüglich der Spendenbescheinigungen wenden Sie sich bitte an unseren ­Kassenwart Hans Lauffer. Sie erreichen ihn telefonisch unter (0 71 58) 48 31, per Fax 94 78 73 oder per E-Mail hans.lauffer@t-online.de Bankkonten Volksbank Filder e. G., (BLZ 611 616 96) Konto-Nr. 65 500 016 IBAN DE34 6116 1696 0065 5000 16 BIC (SWIFT)-Code: GENO DE S1 NHB Postgirokonto Schweiz: Postgiroamt Bern Nr. 30-195 56-2 IBAN CH21 0900 0000 3001 9556 2 BIC POFICHBEXXX

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Impressum: Herausgeber und Verlag: Bekenntnisbewegung »Kein anderes Evangelium« e. V. – zweimonatlich, kostenlos – Redaktion: Walter Rominger Satz und Layout: Grafisches Atelier Arnold, Dettingen an der Erms Druck: BasseDruck, Hagen ISSN 1618-8306 Fotos/Abb. auf Seite: 2: o. r. epd Norbert Neetz; u. r. EKvW/KK | 3: ELKiO | 5: oekom-Verlag | 9: iStock, jgroup | 23: l. ekiba, ZfK-Hornung; r. Wikimedia Commons, DMG interpersonal, CC BY-SA 3.0 | 25: Brunnen Verlag | 26: Vandenhoeck & Ruprecht | restliche privat.

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Niemand kann das Geheimnis des Sterbens Jesu fassen, der nichts von eigener Schuld weiß. Friedrich von Bodelschwingh d. Ä. (1831–1910)


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