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Verhängnisvoller Tunnelblick
Unverdächtig: Martin Sprengers Befund über schwere Maßnahmen-Fehler in der Corona-Zeit
Deran der Grazer Universität lehrende Mediziner und Experte für Public Health ist kein „Wahrsager der Vergangenheit“. Seine Haltung und Ratschläge zu Corona waren stets klar. Diese hätten uns in Österreich viele Corona Milliarden erspart und – die tiefen Gräben in der Gesellschaft.
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„Der bestmögliche Schutz der vulnerablen Gruppen, Bewohner von Heimen, hätte von Anfang an höchste Priorität haben müssen“, so Martin Sprenger. Gelang aber nicht. Diese Position nahm er bereits im Frühjahr 2020 ein, auch im KLIPP-Gespräch. In Interviews, TV-Auftritten, Diskussionen drängte er vehement darauf. Jüngst erinnert er in der Zeitschrift Pragmaticus an seine Appelle.
Mit wenig Erfolg. Mächtige Bilder, wie Leichentransporte in Bergamo, aus Spitälern und Heimen wurden zur Argumentationsgrundlage für „alternativlose, gesellschaftliche Eingriffe, wie sie kaum jemand für möglich gehalten hatte“, so Sprenger.
Obwohl es in Österreich, der Schweiz, aber auch in Deutschland zu keinem Zeitpunkt einen präzisen Blick auf das Infektions-, Erkrankungs- und Sterbegeschehen gab. Man arbeitete mit ungenauen Parametern und Modellen. Ohne ausreichende Faktenbasis wurden einzigartige Maßnahmen verordnet, Grundrechte eingeschränkt, ethische Prinzipien verletzt und öffentliche Mittel verschwendet. Genau definierte und erhobene Parameter wären aber die Grundvoraussetzung für eine präzise Risikobewertung, ein korrektes Risikomanagement und eine korrekte Risikokommunikation gewesen.
Vieles lief falsch, nur manches richtig
Vergleichbar sei, so Sprenger, das alles mit einem Flugzeug-Cockpit, in dem alle notwendigen Instrumente nicht nur vorhanden sind, sonder auch zuverlässig korrekte Daten liefern. Was nützt ein Höhenoder Geschwindigkeitsmesser, der nicht funktioniert, eine Treibstoffanzeige, die falsche Werte anzeigt? Österreich, die Schweiz und auch Deutschland hatten zu keinem Zeitpunkt der Pandemie ein Cockpit mit präzisen Instrumenten, sondern waren immer mehr oder weniger im Blindflug unterwegs.
Zero Covid war Illusion
Vieles lief falsch, nur Manches richtig. Zero Covid war und ist eine Illusion. Wie viele Menschen daran oder mit Covid gestorben oder wirklich erkrankt waren, wissen wir bis heute nicht. Was aber schon im März 2020 klar war: Dass Covid 19 einen enormen Altersgradienten aufweist und Kinder und Jugendliche und gesunde Erwachsene im Gegensatz zu chronisch kranken, hochbetagten und immunschwachen Menschen kaum bedroht sind. Daher hätte der bestmögliche Schutz der gut abgrenzbaren Risikogruppen, insbesondere der Bewohner von Pflegeheimen, von Anfang an höchste Priorität haben müssen. Für die restliche Bevölkerung hätten Empfehlungen und ein Minimum an Maßnahmen, wie beispielsweise in Schweden, ausgereicht.
In Heimen meisten Opfer
Sieben Monate nach der ersten Welle passierte zu wenig und praktisch oft nichts. Selbst wenn man 200.000 Euro pro Pflegeeinrichtung für Schutz- und Folgenminderungsstrategien aufgewendet hätte, hätte das genauso viel gekostet wie die
Folgen von einem Tag Lockdown. Mit einem Bruchteil dessen, was für Massentests von gesunden Personen oder wirtschaftliche Entschädigungszahlungen ausgegeben wurde, hätte die kritische Zeit von ein paar Monaten bis zur Verfügbarkeit einer wirksamen Impfung überbrückt werden können. Stattdessen wurde der Pflegebereich vernachlässigt.
Im Winter 2020/21 kam fast die Hälfte der Covid-Toten aus Pflegeheimen, wo nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung lebt. Was daraus sichtbar wird: Die eingeschlagene Schutzstrategie der Regierung kann nur als gescheitert bezeichnet werden.
Gesellschaft gespalten
Die Zeit war geprägt von Maßnahmen, die ohne Wissen über die damit verbundenen, erwünschten und unerwünschten gesundheitlichen, psychosozialen und wirtschaftlichen Effekte verordnet wurden. Statt die Pandemie als gesamtgesellschaftliches und soziales Ereignis zu verstehen, dominierte der medizinisch-virologische Tunnelblick, der nur auf ein Virus, eine Erkrankung, starrte. Plötzlich spielte die Unterund Fehlversorgung anderer akuter und chronischer Erkrankungen keine Rolle mehr. Die dramatischen Folgen daraus blieben weitgehend unbeachtet. Viele Maßnahmen waren unverhältnismäßig, haben deutlich mehr geschadet als genutzt und die soziale und gesundheitliche Ungleichheit enorm vergrößert.
Schwere Folgen für Junge
„Bei viel zu vielen jungen Menschen werden die Folgen von Bildungsdefiziten, Bewegungsmangel, Essstörungen, Suchtproblemen, Depressionen und anderen Nebenwirkungen ein Leben lang anhalten“, so Martin Sprengers nüchterne Feststellung. Es wird Zeit, abzuschätzen, wie viele gesunde Lebensjahre der eindimensionale Tunnelblick unsere Gesellschaft nun gekostet hat. Der Grundsatz in der Medizin und Pflege, jener der Verhältnismäßigkeit – er gilt auch in der Politik – wurde verlassen: Maßnahmen sollten nur dann ergriffen werden, wenn die erwünschten Wirkungen hinreichend sicher eintreten und mögliche unerwünschte Wirkungen eindeutig übertreffen.
Wissen durch Glauben ersetzt
Wenn es um Lockdowns, Kindergarten- und Schulschließungen geht, um Masken im öffentlichen Bereich, Ausgehverbote, das massenhafte Testen von gesunden Menschen, 2G, 3G, Hände-Desinfektion, Grenzkontrollen oder Abriegelung von Regionen und anderen Maßnahmen ging, wurde Wissen durch Glauben, wissenschaftliche Debatte durch Glaubenskriege ersetzt.
Darf sich nicht wiederholen
Die Schweiz hat im Frühjahr 2022, ein Jahr früher als Deutschland und Österreich, sämtliche Corona-Maßnahmen beendet. Rückblickend hätte diese Entscheidung schon im Sommer 2021 erfolgen müssen. Auch in Österreich. Ein einziges Gesundheitsrisiko – „koste es, was es wolle“ – zu bekämpfen und alle anderen Determinanten von Gesundheit zu vernachlässigen, ist eine gesellschaftliche Entgleisung, die sich nie mehr wiederholen darf. Eine offene, kritische und konstruktive Aufarbeitung, an der auch die Bürger beteiligt werden müssen, wird Jahre dauern, ist aber unablässig. „Schwamm drüber, ist mit Sicherheit keine Option.“