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AMTSGERICHT/TIMS THESEN
Das Amtsgericht
©STAUKE-FOTOLIA.COM FOTO:
Aus dem Amtsgericht In die Tage gekommen
In der Juni-Ausgabe vom vergangenen Jahr berichteten wir an dieser Stelle über das Verfahren gegen Erika H. (Name geändert), der Fahrerflucht vorgeworfen wird. Zur Erinnerung: Bei der 92-Jährigen soll sich beim Abbiegen die Autotür geöffnet haben, die das Auto auf der Gegenfahrbahn beschädigte. Sie habe sich dann unerlaubt vom Unfallort entfernt. Dies wurde von der Angeklagten vehement bestritten – es sei nichts passiert – und auch Zweifel an ihrer Fähigkeit, ein Fahrzeug zu führen, ließ sie nicht zu. Das Verfahren wurde verschoben, die Verzögerung – vor allem aufgrund einer Gutachter-Odyssee –führte bis in diesen Januar.
Nun wird zunächst ein Fahrlehrer als Zeuge vernommen, bei dem Frau H. freiwillig eine sogenannte Hamburger Fahrprobe durchgeführt hat. „Das klappte wunderbar!“, berichtet er und empfiehlt als einzige Anregung, dass die Angeklagte auf einen Wagen mit Automatikgetriebe umsteigen sollte. Sie sei sehr aufmerksam und fahre vorausschauend, vielleicht etwas zu flott.
Nachdem die Beweisaufnahme geschlossen wurde, trägt die Staatsanwältin ihren Antrag vor: Die Zeugenaussagen der geschädigten Fahrerin und eines unbeteiligten weiteren Autofahrers haben das Geschehen glaubwürdig dargelegt, die Gutachten zur
Unfallanalyse würden verdeutlichen, dass Frau H. etwas bemerkt haben müsste. Sie habe sich also der Fahrerflucht schuldig gemacht. Sie beantrage deshalb eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 40 Euro und die Entziehung der Fahrerlaubnis für drei Monate. Der Verteidiger widerspricht dieser Einschätzung. Die Gutachten seien „unter aller Sau“ und würden nicht beweisen, dass seine Mandantin etwas bemerkt haben muss. Es sei auch gar nicht klar, dass der Schaden von ihr verursacht worden sei. „Was bleibt am Ende des Tages? – Nichts!“ Es begründet sich seiner Ansicht nach keine Unfall„Das klappte wunderbar!“ flucht und er plädiert für Freispruch. Die Richterin folgt in ihrem Urteil jedoch der Staatsanwältin und verurteilt sie zu 30 Tagessätzen à 60 Euro (nicht weil sie die Schwere der Schuld höher einschätzt, sondern weil die Rente von Frau H. als finanzielle Bemessungsgrenze höher als bisher veranschlagt ist) und drei Monate Führerscheinentzug. Sie weist darauf hin, dass eine Berufung gegen dieses Urteil möglich ist. Der Kommentar der Angeklagten zum Schluss – „Ich bin 60 Jahre unfallfrei gefahren. Wenn ich mal jemanden ‚angedetscht‘ habe, habe ich mich immer gemeldet oder die Polizei gerufen. Und jetzt soll ich mich so verhalten haben?“ – legt nahe, dass mit einer Berufung zu rechnen ist. Alke Dohrmann
THEMA: Leistung und Optik
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Tim Holzhäuser schreibt hier seine monatliche Glosse
Es gibt eine Kategorie von Positionen, die werden nicht wahr, auch wenn man sie ständig wiederholt. Das fiel mir neulich auf bei der Beschwerde, Frauen würden im Beruf und in der Politik zuerst nach ihrem Äußeren beurteilt werden und nicht nach Leistung. Bei Männern sei dies umgekehrt, die Optik spiele keine große Rolle. Ernsthaft? Helmut Kohl wurde jahrzehntelang aufgrund seiner Optik verspottet. Joschka Fischers Gewicht war ein ständiger Anlass für niederträchtige Schlagzeilen, die Fettröllchen mit politischer Kompetenz verknüpfen wollten.
Barack Obama erregte weltweit Aufsehen, als er es wagte, einen cremefarbenen Sommeranzug zu tragen. Der kanadische Premier Justin Trudeau musste sich als „Schwiegersohn“ bespötteln lassen, weil er hin und wieder nett lächelte. Ex-Nationalspieler Joachim Löw wurde in allen möglichen und unmöglichen Lebenslagen fotografiert und halb Europa tratschte ausschließlich über seine Optik. Erst „die Schnitte“, dann „der Popler“. Sein Kollege Jürgen Klopp war der Lacher der Nation, weil er sich Haare transplantieren ließ, die übrigens nicht direkt mit seiner Fähigkeit als Trainer in Verbindung stehen. In den 70er
Jahren kassierte Helmut Schmidt öffentliche Rüffel, weil er ein Dreiknopfsakko getragen hatte. Der Fiat-Gründer Giovanni Agnelli wurde in Italien ausschließlich über sein Äußeres definiert und das keineswegs immer positiv (sonst würden jetzt mehr Leute die Uhr über der Manschette tragen). Fairerweise müssten wir nun die Leistungen all dieser Herren würdigen, aber seien wir ehrlich: Hätte ich damit begonnen, wären Sie bei Zeile sieben ausgestiegen. Menschen tratschen halt gerne – und ich habe den leisen Verdacht, dass auch Frauen dieser Tätigkeit nicht abgeneigt sind. Was aber ist nun Grund dafür, dass sich die Vorstellung so lange hält, allein Frauen hätten unter der Reduzierung auf ihr Äußeres zu leiden? These hier: Sensibilität und gleichzeitig mehr Fallstricke. Wer sich eine Position gegen Widerstände und über Generationen erkämpft, der reagiert auf Angriffe Die Zahl der mög- dünnhäutig – lichen Fehltritte ist das dürfte auf astronomisch. Frauen und Männer zutreffen. Die Männer haben das Glück, dass sie lange am Ruder waren und ihre Berufskleidung weltweit eisenhart kodifiziert ist: Anzug, Einreiher in charcoal oder navy – das war’s. Wer sich daran hält (und nicht zunimmt), bietet keinerlei Angriffsfläche mehr. Jegliche Abweichung wird hingegen sofort bestraft. Wie gesagt, Helmut Schmidt hatte einen Knopf hinzugefügt, Obama eine Farbvariation. Frauen haben es da schwerer, eben weil sie mehr Möglichkeiten wahrnehmen. Zwischen Petra-Pau-Pulli über das Kleine Schwarze bis zum Hosenanzug ist alles denkbar – und die Zahl der möglichen Fehltritte astronomisch. Politprofis legen sich daher auf einen Stil fest, hören sich das unvermeidliche Getratsche an, das aus Mangel an Neuem rasch abstirbt. Und schon haben sie sich arrangiert mit der menschlichen Natur.