Kreativer Kapitalismus
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Kreativität (und wer kreativ ist) wird widersprüchlich definiert. Ulrich Bröckling beleuchtet unterschiedliche Facetten des unexakten Begriffs „Kreativität“ und liefert einige Assoziationen. So ist Kreativität u.a. auch eine ökonomische Ressource. Unternehmerisches Handeln erfordert permanente Innovation und schöpferische Anstrengung. Jeder muss hier nicht nur kreativ sein, sondern kreativer als die anderen. Welche der Metaphern auftreten hänge davon ab, welche Potentiale gerade gefordert sind und gefördert werden sollen.
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1 Ăœber Kreativität. Ein Brainstorming.
Über Kreativität. Ein Brainstorming.
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Ulrich Bröckling (geb. 1959) lehrte Politikwissenschaften an der Universität Leipzig, Soziologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; seit 2011 Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Professor für Kultursoziologie tätig; Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Sozial- und Selbsttechnologien, Gouvernementalitätsstudien, Kultursoziologie, Anthropologie, Soziologie des Krieges und des Militärs.
ULRICH BRÖCKLING
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Über Kreativität. Ein Brainstorming Theologische Mucken. – Kreativität, schöpferische Potenz, ist ein meta physischer Begriff. Die creatio ex nihilo gibt es nur als göttlichen Akt. Etwas ins Leere, Undefinierte hineinzustellen, heißt, eine Welt im Kleinen zu erschaffen. Ihre religiösen Wurzeln wird die Kreativität auch als säkularisierte menschliche Fähigkeit nicht los: Man kann zwar Bedingungen formulieren, die für das Entstehen von Neuem günstiger oder ungünstiger sind, man kann das Neue analytisch in immer kleinere Schritte zerlegen, man kann beschreiben, was beim schöpferischen Akt im Gehirn geschieht – es bleibt ein letztlich nicht erklärbarer „Sprung“, theologisch gesprochen: ein Wunder. Auch wenn Kreativität, nach der bekannten Formel, zu 99 Prozent aus Transpiration besteht, bleibt noch das eine Prozent Inspiration. Davon zeugen nicht zuletzt die an die pfingstliche Herabkunft des Heiligen Geistes erinnernden Metaphern: Eingebung, Geistesblitz, das Licht, das aufgeht, bis hin zum Brainstor ming, für das eben auch gilt, dass der Geist weht, wo er will. Kreativi tätsanrufungen haben stets etwas von Bittgebeten: Veni creator spiritus. Spiegelspiel. – Der Versuch, Kreativität dingfest zu machen, mündet in einen unendlichen Regress. In allem Neuen steckt etwas Altes, auf das es aufbaut, das es modifiziert oder von dem es sich absetzt. Je näher man hinschaut, desto vertrauter blickt es zurück. Umgekehrt steckt in jeder Wiederholung ein Moment der schöpferischen Variation. Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss. Dass etwas oder jemand kreativ ist, lässt sich deshalb mit gleichem Recht behaupten wie bestreiten. Wer das Alte im Neuen nachweisen will, wird ebenso fündig werden wie jener, der nach dem Neuen im Alten sucht. Allein die Blickrichtung entschei det. Möglichkeitssinn. – Kreative Akte ereignen sich – oder auch nicht. Man kann sie durch Beharrlichkeit oder Enthusiasmus oder durch beides zusammen „locken“, aber man kann sie nicht erzwingen. Der Einfall kommt, „wenn es ihm, nicht, wenn es uns beliebt“.1 In ihrer Unkalkulier barkeit ist Kreativität in hohem Maße ambivalent – gleichermaßen wünschenswerte Ressource wie bedrohliches Potential. Mit der Erfah rung von Kontingenz, wächst deshalb das Bedürfnis, ihre produktiven Seiten nutzbar zu machen und ihre destruktiven zu beschneiden: Krea tivität soll einerseits mobilisiert und freigesetzt werden, andererseits soll sie reglementiert und gezügelt, auf die Lösung bestimmter Probleme
Lat.: Schöpfung aus dem Nichts oder Schöpfung aus nichts; bezeichnet die christliche sowie die philosophische Lehre, dass die Schöpfung der Welt als Werk des Schöpfergottes absolut voraussetzungslos ist.
Lat. Hymnus aus dem 9. Jh. (dt.: „Komm, Schöpfer Geist“)
1. Weber, Max: „Wissenschaft als Beruf“, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 590.
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gerichtet, von anderen aber fern gehalten werden. Entfesselung und Domestizierung sind dabei ununterscheidbar verwoben, und doch ereignet sich Kreativität gerade dort, wo das Unterfangen scheitert, sie in Regie zu nehmen. Metapherngestöber. – Weil nicht exakt zu definieren ist, was Kreativi tät ist, wuchern die Bilder. Sechs Assoziationsfelder kreativen Handelns lassen sich dabei, grob gesagt, ausmachen.2 Ihnen korrespondieren jeweils spezifische Anthropologien und Denktraditionen. Die Trennlini en sind unscharf, die Überschneidungen groß: Kreativität wird erstens assoziiert mit künstlerischem Handeln. Im Vordergrund steht hierbei das Moment der Expressivität. Der Mensch erscheint als zum Ausdruck fähiges und auf Ausdruck angewiesenes Wesen. Kreativität wird zweitens gedacht nach dem Modell der Produktion. Hier geht es um den Men schen als sich in seiner Arbeit bzw. in seinen Arbeitsprodukten verge genständlichendes und verwirklichendes Wesen. Davon abzusetzen ist drittens Kreativität als problemlösendes Handeln. Betont wird damit der Aspekt von Invention und Innovation. Kreativität in dieser Bedeutung ist stets konkret situiert; sie antwortet auf Herausforderungen, die gleichermaßen neue wie angemessene Lösungen verlangen. Das vierte Metaphernfeld ist die Revolution: Kreativität als befreiendes Handeln, als radikale Neuerfindung des Sozialen. Kreativität ruft fünftens Assozi ationen des Lebens auf. Hierher gehören sowohl die Metaphern von Zeugung und Geburt, aber auch die der biologischen Evolution; allge mein geht es um Phänomene der Emergenz. Die wohl vertrauteste Kreativitätsmetapher ist schließlich sechstens das Spiel, die das schöpfe rische mit dem zweckfreien Handeln identifiziert. Modell des homo ludens ist das Kind. – Ob diese oder jene Metapher oder mehrere zu gleich aufgerufen werden, hängt davon ab, welche schöpferischen Poten tiale gerade gefordert sind und gefördert werden sollen. Dass sich an Kreativität so unterschiedliche Assoziationen knüpfen lassen, ist nicht zuletzt ein Grund dafür, dass niemand sie missen will. Im Metaphern gestöber findet jeder die Seine. Historisches Apriori. – Als Begriff ist Kreativität ein US-Import aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg; die deutsche Sprache kannte bis hin nur die Schöpferkraft und den Genius. Was in den fünfziger Jahren den psychologischen Labors der Airforce und privaten Forschungsinstituten hinüberschwappte, hatte sich als Reaktion auf die Einseitigkeit Intelli genztests entwickelt, die sich als ungeeignet erwiesen, wissenschaftliche Talente und andere high potentials frühzeitig zu identifizieren. Mochte ihr IQ auch weit über dem Durchschnitt liegen, befehlshörige Duckmäu ser und stromlinienförmige Peedanten erbrachten nicht jene Spitzenleis tungen, die staatliche Verwaltung, Militär, Wissenschaft und Wirtschaft benötigten. Die Pioniere der Kreativitätsforschung suchten deshalb nach
2. Vgl. Joas, Hans: Die Kreativität des Handelns, Frankfurt a.M. 1996, S. 106–212, der allerdings nur die ersten fünf der hier vorgestellten Metaphern der Kreativität unterscheidet.
effizienteren Verfahren des personality assessment. Was die Gesellschaft als Ganze benötigte, sollte zugleich das sein, worin die Einzelnen sich selbst finden – eine Psychologisierung des Sozialen, welche den Konflikt zwischen Sollen und Wollen in eine Win-win-Situation überführte: Werde, was Du bist, und Du wirst sein, was wir brauchen. Kleine Münze. – Das heroische Schöpfertum des Genies war nur weni gen vorbehalten; kreativ sein können und sollen alle. Genialität war exklusiv, den einen wurde sie zugesprochen, den anderen nicht. Kreati vität gibt es in Gradabstufungen, die einen zeigen mehr davon, die anderen weniger. Das Genie gehörte in eine Sphäre jenseits der Norm, weshalb es der common sense in die Nähe des Wahnsinns rückte. Kreati vität ist normal und streut sich entsprechend den Kurven der Gauß schen Normalverteilung. Genies zeichneten sich aus durch herausragen de Leistungen in den Künsten, den Wissenschaften und vielleicht noch im Krieg und in der Politik; das Attribut „kreativ“ adelt noch die banals ten Tätigkeiten – vom Waschen/Schneiden/Föhnen des Creativ Coif feurs um die Ecke bis zur kreativen Buchführung des Bilanzfälschers. „Jeder Mensch ein Künstler“, propagierte Beuys auf der documenta 5 von 1972, und jedes Volkshochschulprogramm legitimiert so seinen Bil dungsauftrag. Kreativitätsförderung ist Geniekult für Demokraten. Anrufung. Kreativ ist man von Geburt an, und wird doch sein Leben lang nicht damit fertig, es zu werden. Daher rührt der Rousseauismus der meisten Kreativitätsprogramme: Sie offerieren Kulturtechniken, die zurück zu jener Natur führen sollen, die vermeintlich im Prozess kultu reller Formierung verschüttet wurde. Appell und Selbstbeschreibung fallen dabei zusammen. Der Einheit von Deskription und Präskription entspricht die paradoxe Zeitstruktur, die das „immer schon“ mit dem „erst noch“ zusammenzieht: Kreativität ist demnach erstens etwas, das jeder besitzt, – ein anthropologisches Vermögen, zweitens etwas, das alle unter Beweis stellen sollen, – eine verbindliche Norm, drittens etwas, von dem man nie genug haben kann, – ein unabschließbares Telos, und viertens etwas, das man durch methodische Anleitung und Übung stei gern kann, – eine erlernbare Kompetenz. Politische Ökonomie. – Kreativität ist eine ökonomische Ressource, die der Markt gleichermaßen mobilisiert wie verbraucht: Schöpferische Zerstörung ist die ökonomische Funktion des Unternehmers, sein Ge winn resultiert aus der „Durchsetzung neuer Kombinationen“.3 Will er nicht untergehen, muss er andere Waren als die Konkurrenz oder die gleichen in besserer Qualität, zu einem günstigeren Preis, in kürzerer Zeit usw. anbieten. Erfolg hat er dabei stets nur für den Moment. Der Vorsprung verschwindet, sobald die Mitbewerber aufgeschlossen haben. Unternehmerisches Handeln erfordert deshalb permanente Innovation –
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Joseph Beuys (1921–86) war ein deutscher Aktionskünstler, Bildhauer, Zeichner, Kunsttheoretiker und Hochschullehrer.
Sammelbegriff für theoretische Konzepte und lebenspraktische Ideale der Aufklärung, die sich maßgeblich auf die Schriften des franz. Philosophen Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) zurückführen lassen.
(Alt gr.) Ziel, [End]zweck
3. Vgl. Schumpeter, Joseph: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, München/Leipzig 1926, S. 110 ff.
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und folglich fortwährende schöpferische Anstrengung. Jeder hat nicht einfach nur kreativ zu sein, sondern kreativer als die anderen. Niemand kann dabei sicher sein, für seine „neuen Kombinationen“ Abnehmer zu finden. Den Wirtschaftssubjekten bleibt – trotz aller Versuche, die Bedingungen des Erfolgs zu objektivieren (Marktforschung) oder zu subjektivieren (unternehmerische Intuition) – nur das Prinzip von Versuch und Irrtum. Kreativität ist in diesem Sinne „allgemeine Arbeit“, general creativity die innovative Seite des general intellect und als solche eine unmittelbare Produktivkraft.4 Spirit of Enterprise. – In dem Maße, in dem heute jeder gehalten ist, sich in allen Lebenslagen als Unternehmer seiner selbst zu verhalten, wird auch die Mobilisierung der Innovationspotentiale privatisiert und individualisiert. Entrepreneurship bildet nicht nur das Ziel aller Kreati vitätsanrufungen, sondern auch ihr privilegiertes Mittel. Der Staat erscheint dagegen als große Kreativitätsverhinderungsanstalt. Der kreativ Handelnde gleicht dem erfolgreichen Investor: Er spekuliert auf die Zukunft und sucht seine Chancen jenseits der ausgetretenen Pfade. Buy low and sell high, heißt sein Prinzip. Er setzt heute auf abseitige Ideen und hofft darauf, dass sie morgen Abnehmer finden. Welche Krea tionen Rendite abwerfen, entscheidet sich auf dem Markt. Der Rest verpufft. Nur dem, der das Risiko des Scheiterns auf sich nimmt, winkt auch die Chance des Erfolgs. Ob etwas kreativ ist oder nicht, zeigt sich erst im Nachhinein, wenn es anderen gefällt, einleuchtet oder brauchbar erscheint, kurzum, wenn es Wertschätzung erfährt, zumindest aber Aufmerksamkeit binden kann. Einfach nur andere Wege zu gehen als die Masse, nützt gar nichts, solange sich niemand dafür interessiert. Kreativ ist das Neue, das sich durchsetzt.5 Norm der Abweichung. – Das Neue ist eine relationale Kategorie; es existiert nur in Abgrenzung vom Alten. Neu ist das, was noch nicht da war. (Sobald es da ist, es auf, neu zu sein.) Kreativ zu sein, heißt deshalb, Distinktionen zu schaffen. Das kann die Invention bis dahin unbekann ter Artefakte, Erkenntnisse und Sinndeutungen sein; neu ist aber auch die Rekombination oder Variation schon vorhandener, die Privilegierung zuvor entwerteter oder die Entwertung zuvor privilegierter Artefakte, Erkenntnisse und Sinndeutungen.6 Die Möglichkeiten, Neues zu schaf fen, sind unbegrenzt, entscheidend ist das Moment der Differenz. Wer kreativ ist, ist immer schon postmodern. Der kreative Imperativ nötigt zur permanenten Abweichung; seine Feinde sind Homogenität, Identi tätszwang, Normierung und Repetition.7 Nur Unangepasste verfügen über Alleinstellungsmerkmale. Im Versprechen der Alterität steckt zugleich eine Drohung: „Seien Sie besonders … oder Sie werden ausge sondert!“, heißt es in einer Bauanleitung für Ich-AGs.8
(Post-)Operaistisches Konzept um allgemeines Wissen in seiner gesellschaftlichen Funktion als unmittelbare Produktivkraft zu beschreiben. 4. Vgl. Marx, Karl: Das Kapital, Bd. 3, MEW 25, Berlin (DDR) 1969, S. 114; ders, Grundrisse der politischen Ökonomie (1857/8), Frankfurt/Wien o.J., S. 594.
5. Vgl. Sternberg, Robert J./ Lubart, Todd L.: „An Investment Theory of Creativity and its Development“, in: Human Development 34 (1991), S. 1–31.
6. Vgl. Groys, Boris: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München/ Wien 1992. 7. Vgl. Gaede, Werner: Abweichen von der Norm. Enzyklopädie kreativer Werbung, München 2002. Andersartigkeit, Differenz 8. Peters, Tom: TOP 50 Selbstmanagement. Machen Sie aus sich die ICH AG, München 2001, S. 8.
Ambiguität. – Die soziale Ordnung braucht wie jede Ordnung kontinu ierliche Erneuerung. Vieles muss sich ändern, damit alles so bleiben kann, wie es ist. Kreative Unruhe ist deshalb erste Bürgerpflicht, ihre Förderung eine öffentliche Aufgabe, nicht minder wichtig als Straßen bau oder die Wahrung der Sicherheit. Doch Kreativität ist auch eine subversive Kraft, die jede Ordnung bedroht. „Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust“ 9, feierte Bakunin die Große Negation. Die politische Rhetorik changiert deshalb zwischen Freiheitsbeschwö rungen und Loyalitätsappellen oder nimmt Zuflucht zu hölzernen Eisen wie dem „schöpferischen Gehorsam“ oder der „revolutionären Disziplin“. Dem politischen Janusgesicht entspricht die moralische Zweideutigkeit: Eine kreative Leistung ist sowohl die kriegerische Eroberung wie das Aushandeln eines Friedensvertrags. Aus dem Werkzeugkasten. – Die Aufforderung „Sei kreativ!“ ist nicht weniger paradox als das legendäre „Sei spontan!“. Kreativität lässt sich weder anordnen, noch in Lehrpläne oder Arbeitsverträge pressen. Man kann nicht befehlen, was unbestimmt ist. Allenfalls lassen sich Faktoren angeben, die schöpferische Akte wahrscheinlicher machen. Kreativitäts förderung ist Kontextsteuerung; sie schafft nichts, sie ermöglicht. An Programmen zur „Innovationsgymnastik“ 10 ist gleichwohl kein Mangel. Über das Stadium bloßer Hausrezepte ist man dabei längst hinaus. Ein Heer von wissenschaftlichen Spezialisten beforscht das Terrain und beliefert die Kreativitätshungrigen mit immer neuen Trainingsmetho den. Diese stützen sich auf alltägliche Formen der Ideenfindung und überführen sie in systematisch angeleitete, häufig professionell betriebe ne und institutionell abgestützte Strategien. Genau darin besteht der Sprung von der Technik zur Technologie. Zeitgenössische Kreativitäts programme bedienen sich aus den Inventaren von Kommunikationswis senschaft und Informatik (Neurolinguistisches Programmieren) ebenso wie bei den Erkenntnissen der Kognitionsforschung (Aktivierung der rechten Hirnhemisphäre), sie adaptieren ehemals „alternative“ Bildungs konzepte (Lernen in Projekten, Zukunftswerkstätten), therapeutische Techniken (freie Assoziation) und Praktiken künstlerischer Avantgar den (écriture automatique). Performativer Widerspruch. – Der kreative Imperativ verlangt serielle Einzigartigkeit, Differenz von der Stange. Kreativitätstrainings standar disieren den Bruch mit Standardlösungen. Sie normieren die Normab weichung und lehren, sich nicht auf Gelerntes zu verlassen. Die Wege zum je Besonderen sollen für alle gleich sein. Deshalb sind sie denkbar allgemein: Irritation von Gewissheiten und eingeschliffenen Denk- und Handlungsmustern (lateral thinking), Ausschaltung innerer wie äußerer Zensurinstanzen (Beseitigung von „Kreativitätskillern“), künstliche Naivität (Dummheit als kreative Strategie), Assoziationssprünge und
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9. Bakunin, Michail: „Die Reaktion in Deutschland“, in: ders., Philosophie der Tat, Köln 1969, S. 96. Michail A. Bakunin (1814–76) war ein russ. Revolutionär, anarchistischer Theoretiker und Aktivist.
Eine allen formallogischen Anforderungen entsprechende Paradoxie, denn es ist unmöglich, auf Befehl etwas spontan zu tun oder etwas zu vergessen. 10. Von Hentig, Hartmut: Kreativität. Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff, Weinheim/Basel 2000, S. 60.
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Analogiebildungen (Synektik), systematische Exploration und Erfassung möglicher Lösungen (Brainstorming, Mindmapping). Kreativ zu sein, bedeutet harte Arbeit und verlangt doch die Leichtigkeit des Spiels. Das Reich der Notwendigkeit erzwingt, was nur im Reich der Freiheit ge deiht. Windmaschine. – Kreativitätstechniken räumen, darin der Psychoana lyse verwandt, der freien Assoziation eine Schlüsselstellung ein. Wie der Patient auf der Couch soll auch der Kreative seinen Einfällen folgen, doch anders als bei der Freudschen talking cure geht es nicht um das kathartische Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten, sondern um die systematische Steigerung des Ideenausstoßes. Die Kräfte des Unbe wussten sollen weder ausgedeutet noch zivilisiert, sondern mobilisiert und nutzbar gemacht werden. Nicht als Engramme des individuellen Triebschicksals, sondern als unerschöpfliche Quelle gedanklicher Viel falt und Innovation treten sie auf den Plan. Bevor dieser oder jener Einfall seine Realitätstauglichkeit beweisen muss, sollen zunächst einmal möglichst viele sprudeln. Selbst Abseitiges oder Verrücktes kann dabei noch als Katalysator für Brauchbares fungieren; die dümmsten Fragen provozieren nicht selten die originellsten Antworten. Anlass zur Sorge besteht nur, wenn der Ideenstrom versiegt. Bei allem Lob des schöpferischen Tagträumens und des intentionslosen Spiels ist der Kreativitätsförderung das Ethos der Produktivität eingeschrieben. Um die Leistungen zu steigern, setzt sie die Leistungsnormen vorüberge hend außer Kraft. Phasen des Leerlaufs werden gebilligt, wenn nicht gezielt herbeigeführt – aber nur, damit der Ideengenerator anschließend umso mehr auswirft. Wer viel Wind machen will, muss schließlich auch mal Luft holen. Spaßkultur. – Kreativ zu sein, macht Spaß. Die Freude am individuellen oder gemeinsamen Tun und an dessen Ergebnissen ist nicht der gerings te Antrieb schöpferischen Handelns. Psychologen nennen das „intrinsi sche Motivation“. Es ist nicht zuletzt diese Quelle, welche die allgegen wärtigen Kreativitätsappelle anzapfen. Gutgelaunte sind produktiver. Weil Missmutigen und Bedrückten wenig einfällt, blüht die Spaßkultur. Vorbei die Zeiten, als die Karnevalisierung des Alltags noch ein subver sives Projekt war und die Münchner Situationisten der Gruppe SPUR proklamieren konnten: „Schöpferisch sein heißt: durch dauernde Neu schöpfung mit allen Dingen seine Gaudi treiben.“ 11 Heute haben wir dafür die Harald Schmidt Show, und Firmen engagieren professionelle Spaßmacher, die den Mitarbeitern Pappnasen aufsetzen, um sie mittels „Motivationstheater“ auf neue Unternehmensstrategien einzuschwö ren.12
Kathartische Methode ist ein von Sigmund Freud als grundlegendes Verfahren in die Psychoanalyse eingeführte Methode. Es werden alle Einfälle (z. B. Träume) geschildert, damit so verdrängte Konflikte und Gefühle „abreagiert“ werden können. Im Zentralnervensystem hinterlassene Spuren eines Reiz- oder Erlebniseindrucks; Erinnerungsbilder;
Die Situationistische Internationale (S.I.) war ein von 1957–72 aktiver linksradikaler Zusammenschluss europ. KünstlerInnen und Intellektueller; Beeinflussten die politische Linke, die Entwicklung der Methoden der Kommunikationsguerilla und internationale Kunstszene. 11. Gruppe Spur: „Januar-Manifest“, wieder abgedruckt in: Albrecht Goeschel (Hg.), Richtlinien und Anschläge. Materialien zur Kritik der repressiven Gesellschaft, München 1968, S. 16 f. 12. Internationalen Erfolg hat mit der von ihm entwickelten Methode des „Business Theaters“ der Freiburger Clown Johannes Galli, der auf seiner Website (galli.de) mit der Parole „creativity unlimited“ wirbt.
Umlaufgeschwindigkeit. – Kreativität braucht Muße, der Markt er zwingt Beschleunigung. Das ölonomische Gebot entfesselter Kreativität untergräbt so zugleich deren Existenzbedingungen. Je höher der Innova tionsdruck, desto kürzer die Halbwertszeit des Neuen und desto größer der Verschleiß schöpferischer Potentiale. Zwar kann jeder kreativ sein, aber niemand kann es immerzu. „Wäre ich nur einmal ein paar Tage oder Wochen frei vom Zwang, unentwegt Neues liefern zu müssen“, klagt der Kreative, „dann käme ich gewiss auf wirklich neue Ideen“. „Ohne Ter mindruck brächtest Du erst recht nichts zustande“, fertigt ihn sein Auftraggeber ab. Wenn Muße systematisch verknappt oder zum Kataly sator von Innovationsprozessen funktionalisiert wird, bleibt nur die Simulation von Kreativität. (Auch sie verlangt freilich ein gehöriges Maß an Phantasie.) Vielleicht ist das der Grund, warum nichts antiquierter wirkt als der letzte Schrei von gestern. Fortschritt – die Wiederkehr des immergleichen Neuen. Les misérables. – Dass Not erfinderisch macht, behaupten nur jene, die keine leiden. Wen der Hunger plagt oder die Angst verzehrt, der sucht nach Brot und Zuflucht, aber ihm steht der Sinn nicht nach schöpferi schen Experimenten. Kreativität braucht Freiräume, in denen die Zwän ge der Selbsterhaltung zumindest temporär suspendiert sind. Zynisch ist die in Deutschland noch immer kurrente Spitzweg-Beschwörung, die den „armen Poeten“ zur Ikone des Kreativen verklärt. Doch Not kennt auch kein Gebot. Wer im Elend lebt, kann es sich nicht leisten, stets auf dem geraden Pfad zu wandeln. Der geschickte Griff in die fremde Ta sche, die Mitleid erweckende Geschichte des Bettlers, die den Geldbeu tel des Passanten öffnet, die kleinen und großen Tricks, sich zu holen, was man braucht, aber nicht bezahlen kann, und zu Geld zu machen, was immer sich verkaufen lässt – all das verlangt ein Höchstmaß an Findigkeit, Improvisationstalent und Abweichung von der Norm. Über lebenskunst ist die Kreativität de Armen. Jenseits der Anrufung. – Gegen die Zumutungen des kreativen Im perativs hilft weder das Pathos der Verweigerung noch der Furor der Überbietung. Wenn Devianz zur Regelanforderung wird, ist notorischer Nonkonformismus der Gipfel der Angepasstheit. Spreizt sich aber der Verzicht aufs Neue zum Prinzip auf, markiert auch das eine schöpfe rische Differenz und kann auf Distinktionsgewinne hoffen. Origina litäts- und Wiederholungszwang sind zwei Seiten derselben Medaille. Eine Freiheit, die diesen Namen verdient, begänne erst, wo weder der eine noch der andere herrscht. Nicht die Losung „Don’t be creative!“ wäre die Negation der allgegenwärtigen Kreativitätspostulate, sondern die Abkehr vom Sprechen im Imperativ. Man kann nicht nicht kreativ sein, aber vielleicht kann man aufhören, allzeit kreativ sein zu wollen.
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Carl Spitzweg (1808–85) war ein dt. Maler; bekanntestes Bild: „Der arme Poet“ (1839).
Abweichung [von der Norm]; abweichendes Verhalten.
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Soziale Phantasie. – Der schöpferische Augenblick, das Heureka, mag dem Einzelnen gehören und ihn im sprichwörtlichen stillen Kämmer chen ereilen, doch kreativ ist man nie allein. Kreatives Handeln ist stets adressiert und immer eine Antwort. Es gibt keine schöpferischen Mona den. Der Kreative steht in der Auseinandersetzung mit anderen, auf deren Anerkennung er hofft oder deren Missachtung er fürchtet, mit denen er gemeinsam Ideen schmiedet oder die er meidet, um auf Ideen zu kommen, die ihm Probleme aufgeben oder deren Lösungen ihn nicht befriedigen, in deren Fußstapfen er tritt oder aus deren Fußstapfen er heraustritt usw. Kreativität richtet sich nicht zuletzt auf das Soziale selbst. Wie das Selbst wird auch die Gesellschaft immer wieder neu erfunden, gestaltet und begründet. Dass soziale Phantasie mehr sein kann als die Summe der Versuche, sie in Wahrheitsregimen, Verhaltens kodizes und Weltanschauungen zu bändigen, das zu zeigen, wäre ein wahrhaft kreatives Projekt. Nachtrag, ein Test. – Theorien der Kreativität landen unweigerlich in den Höhen philosophischer Abstraktion wie bei den Plattheiten psycho logischer Ratgeber, und sie münden zugleich in heillose Aporien. Auf die Frage, was Kreativität und vor allem wer kreativ ist, geben sie nur widersprüchliche Antworten. Deshalb sei abschließend ein ebenso einfacher wie unfehlbarer Kreativitätstest vorgestellt. Entworfen hat ihn Niklas Luhmann: „Es handelt sich um einen Selbsttest, der aber auch einem Abfrageverfahren zu Grunde gelegt werden kann; und es handelt sich um einen Zweistufentest. Auf der ersten Stufe ist eine ganz einfache Verhaltensregel zu befolgen: Man nehme sein Gewissen und gehe in das Nachbarzimmer. Wenn man feststellt, daß der Nachbar Bücher liest, die an selbst noch nicht gelesen hat, und wenn man dann ein schlechtes Gewissen verspürt, ist man nicht kreativ. Man will ihn nur nachahmen. Wenn man dagegen feststellt, daß der Nachbar die gleichen Bücher liest wie man selbst und man dann ein schlechtes Ge wissen verspürt, ist man vermutlich kreativ. Denn dann sucht man, vielleicht unbewußt, neue Wege. Kreativität wird hier also über die Steuerung von Schuldgefühlen getestet, Allerdings ist dies nur die erste Stufe des Tests. Auf der zweiten Stufe gilt dagegen die Regel: Wer den Kreativitätstest anwendet, ist schon deshalb nicht kreativ; denn das zeigt, daß er interessiert daran ist, kreativ zu sein. Und das wollen ja schließlich alle.“ 13 Unter gleichem Titel erschienen in: Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, hg. v. C. Menke u. J. Rebentisch, Berlin 2010.
Niklas Luhmann (1927–98) war ein dt. Soziologe und Gesellschaftstheoretiker. Gilt als wichtigster deutschsprachiger Vertreter der soziologischen Systemtheorie und Soziokybernetik.
13. Luhmann, Niklas: „Über Kreativität“, in: Hans-Ulrich Gumbrecht (Hg.), Kreativität – Ein verbrauchter Begriff, München 1988, S. 18–19.
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Berthold Seliger spricht über Popkultur und Geschäfts modelle der „Kreativwirtschaft“. Er verweist u.a. auf die Rolle der Künstler bzw. Kulturarbeiter, insbesondere ihrer sozialen Situation, versucht zu erklären wie es dazu kam und warum der zunehmende Individualismus gemeinsames Handeln verhindert.
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2 „Eine Arbeitswelt inszenieren, in der sich Sklaverei wie Freiheit anfühlt“
„Eine Arbeitswelt inszenieren, in der sich Sklaverei wie Freiheit anfühlt“
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Berthold Seliger (geb. 1960) ist Musikpädagoge, Autor und betreibt seit den neunziger Jahren eine Konzertagentur in Berlin. Er arbeitete u.a. für Lou Reed und Patti Smith; Ist als Herausgeber, Verleger und Autor (konkret, Jungle World, Der Freitag) aktiv.
BERTHOLD SELIGER im Interview mit REINHARD JELLEN
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„Eine Arbeitswelt inszenieren, in der sich Sklaverei wie Freiheit anfühlt“ Herr Seliger, die „Kreativwirtschaft“ spielte Ihren Ausführungen zufolge eine Türöffnerrolle bei neoliberalen Arbeitsverhältnissen. Können Sie uns das erläutern? Die Künstler und Kulturarbeiter stehen als flexible und selbstverant wortliche Subjekte Modell für eine Neuorganisation der Gesellschaft. Man kann das sehr genau an der gängigen Narration in der Musikindus trie beobachten. Im Kern sind die meisten in der Kreativindustrie täti gen Menschen ja „Arbeiter“, wenn man diesen altmodischen Begriff wieder einführen möchte, nämlich „Kulturarbeiter“, ein Begriff, den zu verwenden ich bevorzuge – ob Aufnahmeleiter oder Arbeiterin im Presswerk, ob die Verkäufer in den Plattenfirmen, die sich so gern als „Produktmanager“ bezeichnen, in Wahrheit aber natürlich alles andere als Manager sind, sondern Verkäufer eines industriell hergestellten Produkts, bis hin zu den Komponisten und Interpreten, die ja nach dem Stand der kulturellen Produktionsverhältnisse am ehesten privilegierte produzierende Facharbeiter im Sektor Dienstleistungen sind, wenn man sie soziologisch einordnen möchte, und keineswegs Unternehmer. Sich selbst würden aber all die lohnabhängigen Arbeiter und Mana ger, die in der Musikindustrie arbeiten, und all die Künstler jedoch kaum als „Arbeiter“, sondern eben als „Manager“ bezeichnen oder im Fall der Künstler als „Selbständige“, als „Unternehmer“. Und da sind wir eben mitten in der Ideologie des neoliberalen Kapitalismus – die Zuschrei bung ist ja: Selbst schuld, wenn du arm bleibst! Selbst schuld, wenn du einen unattraktiven Job machst! Du bist Unternehmer deiner selbst! Du bist für deine Selbstoptimierung, für dein neoliberales Selbst verantwortlich. Und all die „Kreativen“, wie es immer so schön heißt, spielen vergnügt die ihnen vom System zugewiesene Rolle als autarke „Miniaturkapitalisten“. Was bedeutet das konkret? Zum einen haben wir entsprechend all die wirtschaftlich brutal schlecht bezahlten Jobs – im Extremfall: unbezahlte oder skandalös gering be zahlte Praktika – in der „Kreativwirtschaft“, oder Musiker, deren durch
Geimeint ist das Kapitel „Die soziale Situation. Fame, Fun, Cash im Prekariat“ seines Buches Das Geschäft mit der Musik. (edition TIAMAT, 2014)
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schnittliches Jahreseinkommen laut KSK eben nur 12.005 Euro beträgt. Nur etwa 50 Prozent der Beschäftigten in der Kulturbranche haben überhaupt noch einen festen Arbeitsplatz und die Bezahlung liegt oft nur knapp über Hartz IV-Niveau.14 Und von den anderen 50 Prozent, den Freiberuflern, leben zwei Drittel in prekären Verhältnissen. Also hat das System im Grunde ein ideologisches Problem, die in der Kulturindustrie Tätigen müssten eigentlich Sturm laufen gegen ihre soziale Marginalisierung. Die „Kreativwirtschaft“ hat es aber geschafft, den Menschen vorzugaukeln, dass sie Teil von etwas ganz Tollem sind, im Sinne von „es kommt darauf an, dass man sich selbst optimiert, etwas Interessantes macht, dann zwar schlecht bezahlt wird, aber als Mensch total relevant bleibt“. Das ist die Generation, die Thatchers There’s no such thing as society verinnerlicht hat. Auf der Homepage des Bundes wirtschaftsministerium prangte 2011 der Slogan: „Die Kreativwirtschaft ist das Leitbild für die Industrie von morgen.“ Mission accomplished, würde ich sagen. Wenn die Jobs so schlecht bezahlt sind: Wer arbeitet denn überhaupt in der „Kreativwirtschaft“? Da diese Jobs so gering bezahlt werden, trifft man in der „Kreativwirt schaft“ praktisch keine Unterschichts- und Arbeiterkinder mehr, sondern nur noch Vertreter der Mittelschicht, deren Ansichten sich damit immer mehr verselbständigen. Diese Schicht gibt ihren Einfluss nicht mehr her und lässt die attraktiven, aber schlechtbezahlten Jobs von ihren Kindern ma chen, was die Eindimensionalität der kreativen Klasse vertieft und zemen tiert. Hier kommt keiner mehr von außen ran, da kommt keiner mehr dazu, das ist eine gated community von Besitzenden. Diese Leute werden zwar seit Bestehen der Bundesrepublik die erste Generation sein, der es schlechter geht als ihren Eltern, aber die Kinder der Mittelschicht verfügen über einen Distinktionsvorteil, den sich Arbeiterkinder überhaupt nicht mehr leisten können. Das geschieht auf allen Ebenen: In den Kindergärten, Schulen etc., die Leute, die studieren, sind ja auch hauptsächlich Mittelschichtkinder. Fast aus nahmslos entstammen die Popkünstler und Pop-Kulturarbeiter der Mittel- und der Oberschicht, das sind Apotheker- oder Arztsöhne, Lehrer- oder Unternehmertöchter, die mit dem Erbe ihrer Eltern kultu rell spannende Jobs machen. […] Wie hängt das mit der bereits a ngesprochenen Selbstoptimierungsideologie zusammen? Die Generation, die so schlecht bezahlt wird, aber dafür etwas wahnsin nig Cooles macht und sich obendrein noch so toll mit ihren Chefs ver
14. Vgl. Berthold Seliger: „Die Künstler wären besser beraten, für ihre eigenen Interessen zu kämpfen“ in: Telepolis (01.06.2012) http://www.heise.de/tp/artikel/37/37020/
Margaret Thatcher (1925– 2013) war eine britische Politikerin und von 1975–90 Vorsitzende der Konservativen Partei sowie von 1979–90 Premierministerin des Vereinigten Königreichs. Setzte während Amtszeit Modell eines radikalen wirtschaftlichen und politischen Liberalismus durch (Thatcherismus).
steht, wo es die sogenannten flachen Hierarchien gibt, diese Generation merkt ja nicht, dass es dort natürlich viel brutaler zugeht. Es geht dar um, eine Arbeitswelt zu inszenieren, in der sich Sklaverei wie Freiheit anfühlt. Denn diesen Unternehmen geht es ja in Wahrheit darum, die bestmöglichen Kandidaten für die bestmögliche (Selbst-)Ausbeutung zu gewinnen. Ich sage meinen Auszubilden immer, dass sie Reißaus neh men sollen, sobald sie bei ihrem Bewerbungsgespräch einen Tischkicker erspähen. Ich komme eben aus einer Zeit, da man mit seinesgleichen, niemals aber mit dem Chef Kicker gespielt hat. Auf Afterwork-Parties mit Chefs und Vorgesetzten wäre unsereiner niemals gegangen. Auf so was sollte man nicht reinfallen.
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Wann hat diese Entwicklung stattgefunden? Das ging wie gesagt in England mit Thatcher in den 80er Jahren los. Thatcher war ja seinerzeit die einzig ernstzunehmende Konservative in ganz Europa. Helmut Kohl hat zwar für sich in Anspruch genommen, die „geistig-moralische Wende“ initiiert zu haben, letztendlich hat er aber außen- wie innenpolitisch die Politik der sozialliberalen Koalition weiter betrieben, so dass Sahra Wagenknecht heutzutage im Bundestag zu Recht sagen kann, dass der Staat mit der konservativen Steuerpolitik von Helmut Kohl jährlich 75 Milliarden mehr in der Kasse hätte. Dann kamen mit Clinton und Blair Sozialdemokraten ans Ruder, die Thatchers und Reagans Politik ausbauten und verfestigten. Mit einigen Jahren Verspätung kamen schließlich hierzulande Schröder und Fischer an die Macht, die dann um so hemmungsloser mit Hartz IV und Steuervortei len für Unternehmen und für Wohlhabende eine Umverteilungspolitik von unten nach oben durchsetzten. Überall kommt hier dieselbe Ideologie zum Tragen: Der Arme ist selber schuld, er kann sich aber durch Selbstoptimierung aus seiner Lage retten. Man muss einfach nur besser werden, mehr Fortbildungen ma chen, hart an sich arbeiten, dann klappt es auch mit dem Job. Es ist das Glücksversprechung der kreativen Klasse, das hierzulande im ersten Jahrzehnt unseres Jahrtausends auch massenpsychologisch die Ober hand gewann. Richard Florida übrigens, der den Begriff der „kreativen Klasse“ erfand, musste gerade zugegeben, dass sich die positi ven Effekte, die er sich damals erhoffte, nicht eingestellt haben: Laut Floridas jüngsten Forschungsergebnissen öffnet sich gerade da, wo sich die Kreativindustrie konzentriert, die Schere zwischen Arm und Reich weiter. Überall dort, wo der Wohlstand zugenommen hat, haben einzig die Hochqualifizierten und zum Teil die Chefs und Inhaber der Kreativfirmen von den steigenden Einkommen profitiert. Und gerade in den Boomstädten der Kreativindustrie müssen die Geringverdiener als die eigentlichen Verlierer gelten. […]
Richard Florida (geb. 1957) war US-amerikanischer Ökonom und Hochschullehrer. Prägte Theorie, dass die Kreativen einer Gesellschaft und ihre Innovationen entscheidend für das ökonomische Wachstum sind. Zugehörige der Kreativen Klasse sind in allen Bereichen der Arbeitswelt zu finden, entscheidend ist ihr kreativer Output und die daraus entstehenden Innovationen.
„Eine Arbeitswelt inszenieren, in der sich Sklaverei wie Freiheit anfühlt“
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Der Berliner Senat zum Beispiel subventioniert regelmäßig auch Veranstaltungsreihen oder Festivals, bei denen Musiker gar nicht oder nur skandalös schlecht bezahlt werden. Nicht wenige staatlich subventi onierte Theater, die sich neuerdings Popmusik-Reihen leisten, zahlen sehr kleine Gagen. Und Leute, die das Popmusikprogramm renommier ter Berliner Bühnen buchen, zahlen in ihren Firmen Praktikanten dafür, dass die drei oder gar sechs Monate Vollzeit arbeiten, null Euro. Was die soziale Absicherung von Künstlern und Musikern, aber auch, was die sozialen Strukturen im Kulturbereich insgesamt angeht, ist Deutschland eher auf dem Stand einer Bananenrepublik. In der Realität erleben junge Kulturarbeiterinnen und Künstlerinnen doch oft Ausbeutungsverhält nisse, seien es Minigagen, die nicht zum Leben reichen, sei es, dass viele Kulturbetriebe im Popbereich die Sozialversicherung für ihre Mitarbei ter umgehen und die Leute als freie Mitarbeiter beschäftigen. Da sind wir ein Entwicklungsland, das ist oft Manchesterkapitalismus und 19. Jahrhundert.
Aber warum lassen sich Künstler und Beschäftigte in Kulturbetrieben das bieten? Ja, das ist natürlich eine gute Frage. Ich glaube, dass eine ganze Genera tion den Protest, den Widerstand verlernt hat. Oder deutlicher gesagt: einer ganzen Generation wurde der Widerstand gegen die Verhältnisse, sogar schon das Bewusstsein dafür, dass man Widerstand gegen Verhält nisse leisten kann, durch zwei Jahrzehnte Neoliberalismus ausgetrieben. Da geht es einer ganzen Generation heute um eine „ängstliche Vermei dung alles Widerständigen, Risikobehafteten und Unberechenbaren“, wie es Cornelia Koppetsch in ihrer Analyse Die Wiederkehr der Konformität 15 formuliert hat. In einer Gesellschaft, in der alles, bis hin zu kul turellen Werten und privaten Beziehungen, einer verqueren Marktlogik unterworfen wird, in einem Kapitalismus, der uns alle zu kommerziellen Objekten macht, wird Eigenverantwortung natürlich nicht goutiert, sondern es geht um Anpassung an die Verhältnisse. Nun geht es wahrscheinlich darum, dass man den Leuten wieder beibringen muss, dass man für seine Rechte kämpfen kann. Ich spiele, wenn ich im Radio zu Interviews eingeladen werde und paar Stücke Musik mitbringen kann, oder als ersten Song nach meinen Live-Veran staltungen immer das Solidaritätslied von Brecht/Eisler. Das ist aus den späten 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, und der Text wurde in den 40er Jahren noch mal verändert. Das hört sich nach „alt“ an – was kann uns das heute noch sagen? Aber da ist, von großartiger Musik getragen, alles zu hören, worauf es ankommt: Die Solidarität! „Vorwärts und nicht vergessen / worin unsere Stärke besteht“. Und: „Unsre Herren, wer sie auch seien / sehen unsre Zwietracht gern / denn so lang sie uns entzweien / bleiben sie doch unsre Herrn.“
In der engl. Industriestadt Manchester des frühen 19. Jahrhundert wo sich die industrielle Revolution rasch vollzogen hatte, waren die negative Folgen des Kapitalismus besonders deutlich (Verelendung, keine Absicherungen usw.)
Cornelia Koppetsch (geb. 1967) war deutsche Soziologin und Universitätsprofessorin für Soziologie an TU-Darmstadt. 15. Koppetsch, Cornelia (2013): Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die gefährdete Mitte, Frankfurt am Main.
Solidaritätslied (1929/30) Text von Bertolt Brecht; Gesang: Hanns Eisler (aus dem Film „Kuhle Wampe“) Siehe: http://youtu.be/ G8AaG5SSrdQ
Und das Lied lehrt, dass man kämpfen muss, wenn man eine andere Welt, wenn man Gerechtigkeit, wenn man Solidarität will. [...] Manches ist ja so einfach, wie es sich anhört: Das durchschnittliche Jahresein kommen von Musikern in Deutschland war im Jahr 2012 laut Künstler sozialkasse 12.005 Euro, also etwa 1.000 Euro monatlich. Das durch schnittliche Jahreseinkommen der unter 30jährigen Musiker betrug gar nur 9.430 Euro, also knapp mehr als der Hartz IV-Satz. Während der GEMA-Vorstandsvorsitzende ein Jahreseinkommen von 484.000 Euro bezog, also mehr als 50 mal so viel wie der durchschnittliche junge Musi ker. Wer sich diese Ungerechtigkeit gefallen lässt, dem ist im Grunde nicht zu helfen. Und genau diese Fragen stellt ja das Solidaritätslied von Brecht/ Eisler eindringlich: „Wessen Morgen ist der Morgen?“ Und „Wessen Welt ist die Welt?“
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Unter gleichem Titel und ungekürzt zuerst veröffentlicht in: Telepolis (9.3.2014) http://www.heise.de/tp/artikel/41/41080/
Weiterführende Literatur Berthold Seliger: „Die Künstler müssen wieder lernen, ihre Macht zu nutzen“ (Interview) in: Jungle World Nr. 43, 24.10.2013 (Online) Mark Fisher: Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Hamburg 2013. Berthold Seliger: Das Geschäft mit der Musik. edition TIAMAT, 2014.
Kreativer Kapitalismus
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Alexander Meschnig widmet sich den Auswirkungen auf die Persönlichkeitsbildung durch die Veränderungen in der Arbeitswelt am Beispiel der New Economy. Der proteische Mensch sei jederzeit wandlungsfähig, verschiedene Rollen spielend, als Darsteller seines eigenen Lebens agierend, offen, vielseitig und flexibel. Durch die Flexibilisierung verändert sich das Verhältnis zur Arbeit: jeder ist Animateur seiner eigenen Arbeitskraft, permanenter Wandel ist die einzige Konstante, sich mit etwas zu identifizieren hat den Nachteil nicht mehr flexibel zu sein.
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3 Warum Proteus keinen Mittagsschlaf mehr macht.
Warum Proteus keinen Mittagsschlaf mehr macht.
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Alexander Meschnig (geb. 1965); Studium der Psychologie und Pädagogik in Innsbruck, Promotion am Institut für Politikwissenschaften der Humboldt-Universität Berlin. Freier Autor und Publizist. Schwerpunkte: Ökonomie/ Kultur, Arbeit/Konsum, Militärgeschichte, Nationalsozialismus.
ALEXANDER MESCHNIG
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Warum Proteus keinen Mittagsschlaf mehr macht. Von der Arbeit zum Spiel In den letzten Jahren ist in der Soziologie und Psychologie vermehrt vom flexiblen Menschen die Rede, der als Persönlichkeitsmodell einer sich rasch wandelnden Arbeits- und Lebenswelt vorgestellt wird. Der ameri kanische Autor Robert J. Lifton spricht in diesem Zusammenhang vom proteischen Menschen, einem jederzeit wandlungsfähigen, verschiedene Rollen spielenden Individuum, das ähnlich wie ein Schauspieler in Filmen, souverän als Darsteller seines eigenen Lebens agiert.16 Das Erfolgsbuch von Richard Sennett, Der flexible Mensch, hat zwar eine weniger optimistische Grundhaltung, teilt aber die These von der Ent stehung eines neuen (postmodernen) Subjekts. Der englische Untertitel, The Corrosion of Character, deutet bei Sennett auf die Zerstörung traditi oneller Bindungskräfte und den Zerfall identitätsstiftender Werte hin. Der proteische Mensch, den Lifton lange vor den Ereignissen des 11. September dem fundamentalistischen Typus gegenüberstellt, spielt mit verschiedenen Identitäten. Er ist das, was Psychologen in den 1980er-Jahren eine multiple Persönlichkeit genannt hatten. Damals ein Krankheitsbild, ist sie heute zum gesellschaftlich geforderten Rollenbild geworden. In der griechischen Mythologie gilt Proteus als mächtiger Gott. Er ist der Bewahrer der Siegel des Meeresgottes Poseidon, ausgestattet mit der Gabe, sich beliebig zu verwandeln und in völlig unterschiedlichen Gestalten aufzutreten. Alle Versuche, ihn festzusetzen, scheitern an seiner Wandlungsfähigkeit, die er immer wieder unter Beweis stellt.17 Das aus diesen Eigenschaften von Lifton abgeleitete proteische Selbst ist demgemäß offen und vielseitig, wandelbar und flexibel. „Statt sich engen Vorschriften zu unterwerfen, hat es Gefallen an ausgefallenen Kombinationen und bezieht so wichtige Elemente wie Humor und Ironie mit ein. Die ständige Suche nach einem ethischen Kern führt das proteische Selbst zwar immer wieder auf seine eigenen Schwierigkeiten zurück; dafür hat es aber die Eigenschaft, gegen Absolutsetzungen ebenso wie gegen das Verrennen in Sack gassen gefeit zu sein und sich die Möglichkeit von Transformation und Wandel offen zu halten.“ 18
Robert Jay Lifton (geb. 1926) ist US-amerikanischer Psychiater und Autor; Verfechter der Psychohistorie. 16. Lifton, Robert J.: The Protean Self: Human Resilience in an Age of Fragmentation, New York 1993. Richard Sennett (geb. 1943) ist US-amerikanischer Soziologe. Ders.: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998.
17. In der griechischen Mythologie flüchtet Proteus i. E. vor seiner Gabe, die Zukunft vorauszusagen. Indem er unterschiedliche Gestalten annimmt, versucht er denen zu entkommen, die seine prophetischen Qualitäten in Anspruch nehmen wollen. Seine Verwandlungsfähigkeit ist also nicht unbedingt „freiwillig” gewählt, sondern Schutz vor den Zumutungen der „Sterblichen“, ihre Zukunft kennen zu wollen. Mit diesem Aspekt des Mythos von Proteus setzt sich Lifton nicht auseinander. 18. Vorwort von Robert J. Lifton in: Thaler Singer, Margaret/Janja Lalich: Sekten: Wie Menschen ihre Freiheit verlieren und wiedergewinnen können, Heidelberg 1997, S. 11.
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Dieses geschmeidige und mit sich selbst spielende Selbst ist nicht nur ein Effekt der historischen Entwicklung, es ist auch das ideale Persönlich keitsmodell des gegenwärtigen Arbeitssubjekts geworden. Hatte die Industriegesellschaft Produktivität und Konsumtion als Paradigma gesellschaftlicher und individueller Sinnkonstruktion verabsolutiert, stellt die neue Netzwerkökonomie den kreativen Darsteller ins Zentrum ihrer Selbstauffassung. „In einem System, in dessen Zentrum die Arbeit stand, ist Produkti on das operationale Paradigma, und das Eigentum repräsentiert deren Früchte. In einer Welt, die sich um das Spiel herum ordnet, regiert die Aufführung, und der Zugang zu kulturellen Erfahrungen wird zum Ziel menschlichen Handelns.“ 19 Dieser von Jeremy Rifkin in Access beschriebene Transformationspro zess steht zu Beginn des 21. Jahrhunderts an seinem Anfang und betrifft zunächst auch nur einen kleinen Teil der (westlichen) Gesellschaft. Aber so wie der Beginn der Neuzeit mit dem Aufstieg des Bürgertums zusam menfällt und der langsamen Durchsetzung einer bestimmten psychi schen Verfassung befinden wir uns heute an einer entscheidenden historischen Schwelle. Das nun ausgerufene proteische Individuum ist in seiner Selbstwahrnehmung weniger davon geprägt, wie viel es produ ziert oder akkumuliert, als dadurch, auf möglichst viele Erfahrungen und Beziehungen zugreifen zu können. Diese individuelle Disposition ist insgesamt an ein neues Stadium des Kapitalismus gebunden, das auf der Vermarktung von Zeit, Kultur und Erfahrungen basiert, die uns als Waren wieder begegnen ohne jedoch Eigentum zu werden. Je mehr Persönlichkeiten ein Mensch ausbildet, desto mehr Erfahrungsmärkte stehen selbstverständlich zur Ausbeutung offen. Für die Kulturindustri en ist der proteische Charakter eine ideale Ergänzung zu ihrer unbe grenzten Zahl an vorgegebenen Drehbüchern und Geschichten. Arbeit als Lifestyle Das Modell einer ständig auf neue Situationen reagierenden Person, die sich gewissermaßen ständig neu schafft, finden wir – neben seiner traditionellen Verbreitung in den künstlerischen und intellektuellen Berufen – insbesondere in den Branchen der Informations- und Kom munikationstechnologie wieder. Eine vergleichsweise kurze Zeitspanne wurde der Begriff New Economy in den Medien und der Öffentlichkeit nicht nur als Symbol einer neuen Ökonomie, sondern vielmehr für ein gesellschaftliches Projekt der Erneuerung und des Aufbruchs gehandelt. Mit der New Economy sollte nicht nur eine neue Phase der kapitalisti schen Wertschöpfung, sondern auch ein anderes „Arbeitssubjekt“ ge schaffen werden, ausgestattet mit Eigenschaften, die der traditionelle
19. Rifkin, Jeremy: Access. Das Verschwinden des Eigentums, Frankfurt/M. 2000, S. 263. Jeremy Rifkin (geb. 1945) ist ein US-amerikanischer Soziologe, Ökonom und Publizist. Prägte Begriff der Zugangsgesellschaft (access society).
Arbeitnehmer in den Augen der Apologeten der neuen Arbeitswelten stets vermissen ließ. In den „Arbeitslaboratorien“ der New Economy sollte der „neue Mensch“ und Lebensunternehmer eine ihm angemesse ne Arbeitswelt vorfinden. Dieser soziale Raum war denn auch weniger Arbeitswelt als ein perfekt inszeniertes Universum des Lifestyles. Arbeit wurde darin zum Event, zur Folie individueller Inszenierungen und unbeschränkter Selbstverwirklichung. Moderne Fabriklofts mit Groß raumbüros, junge Menschen an Tischfußballgeräten und Flachbildschir men, Kabelgewirr und die neusten Produkte der Hightechindustrie; Kommen und gehen nach Lust und Laune, eine Arbeitsparty ohne klares Ende. Das war zumindest das mediale Bild, das uns in den Jahren 1999/2000 präsentiert wurde. Politisch instrumentalisierbare Themen wie Jugend und Leistung, Technik und Spaß, Arbeit als Freizeit konnten nun zusammengedacht werden. Nicht zufällig wurde die New Economy in Deutschland von allen Parteien begeistert aufgenommen.20 Die neuen Orte der Arbeit brachten veränderte mentale Muster hervor bzw. setzten sie bereits als gegeben voraus. Psychische Disponibi lität, die Aufgabe von Vertrautem, Risikobereitschaft und eine Spieler mentalität sind die Grundeigenschaften für das neue Verhältnis zur Arbeit, die im Extremfall gar nicht mehr als solche erscheint. Die New Economy trat explizit gegen die alten Modelle und Strukturen der industriellen Produktion an. Ihre Grundidee war die Fusion der viel zitierten Spaßgesellschaft mit der bürgerlichen Leistungsökonomie. Eine individuelle Inszenierung à la Big Brother, erweitert um das Theorem der Verausgabung in seiner Arbeit , die wiederum selbst gar nicht mehr als solche erschien. Arbeit wurde gewissermaßen theatralisiert, der Arbeitstag zur szenischen Aufführung mit unterschiedlich besetzten Spielern. Nicht umsonst wird das Organisationsmodell Hollywood, also die Logik des Showgeschäfts, von manchen als die zukünftige Struktur jedes Unternehmens prophezeit. So schreibt etwa der amerikanische Autor Joel Kotlin in Bezug auf die Verwandlung der Arbeitsorganisation in Hollywood: „Von einer Industrie mit klassischen, riesigen und vertikal organi sierten Konzernen zum weltweit besten Beispiel einer vernetzten Ökonomie. […] Schließlich wird jede wissensintensive Industrie denselben hierarchielosen, in viele Einheiten gespaltenen Zustand erreichen. Hollywood ist nur zuerst dort angekommen.“ 21 In der New Economy wurde Arbeit, in konsequenter Verlängerung der Spaßgesellschaft, zum Event, zu einer zumindest in ihrem Selbstbild, unendlichen Abfolge von guter Laune und Selbstinszenierungen. Die Grenze zwischen Unternehmen und Freizeit verschwindet, das (Ar beits-)Team ersetzt weitgehend die traditionellen sozialen Beziehungen. Die soziologische Forschung spricht deshalb von einer Entdifferenzie
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20. Zur Arbeitskultur der New Economy und ihren gesellschaftlichen Implikationen vgl. Meschnig, Alexander/ Mathias Stuhr: www.revolution.de. Die Kultur der New Economy, Hamburg 2001. Verfügbarkeit
21. Kotlin, Joel/David Friedman: „Why Every Business Will Be Like Show Business“, in: Inc. 3/1995, S. 66.
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rung von Produktion und Reproduktion. Arbeit und Freizeit als die klassischen Pole der Industriegesellschaft, so die Auffassung, sind kaum mehr voneinander zu trennen. Im Zeitalter des Teleworking, der Vernet zung von Heim und Arbeitsplatz, der Integration des Alltags in die Produktion, verwischen die Grenzen von Arbeit und Freizeit. Existierte bis vor kurzem noch die klassische Trennlinie von entfremdeter Arbeit und glücklicher Freizeit, so verwandelt sich nicht nur unsere Freizeit über leistungsbezogene Aktivitäten zunehmend in Arbeit. Vielmehr gehen die beiden Bereiche ineinander über, indem sich der Arbeitsbegriff totalisiert. „Nehmen Sie diese gegenwärtige Überflutung unserer ganzen Le benswelt durch Arbeit. Durch die informationstechnischen Mög lichkeiten verschwimmen nicht nur die Zeiten, sondern auch die Orte der Arbeit. Wir können von zu Hause aus arbeiten, am Urlaub sort, am Wochenende. Wir haben keine klaren Abgrenzungen mehr. Ist alles nur noch Arbeit, verschwindet die Spannung zwischen Arbeit und zu Hause. Diese Spannung ist jedoch wichtig für unsere Rituale, für unsere Lebensordnung. Das Weggehen von zu Hause am Morgen und die Heimkehr am Abend, die Abgrenzung dieser zwei Zeiten voneinander lösen sich auf. Dadurch kann die Grenze zwischen Intimem und Öffentlichem nicht mehr gezogen werden.“ 22 Die von der bürgerlichen Gesellschaft hervorgebrachte Trennung von privat und öffentlich verschwindet zugunsten einer Amalgamierung beider Bereiche. Dabei wird die Freizeit, wenn sie nicht selbst zur Arbeit mutiert, zu einer negativen Abwesenheit von Arbeit. Der Philosoph und Technikkritiker Günther Anders schrieb dazu 1979 in seiner Einleitung zum zweiten Band der Antiquiertheit des Menschen: „Die klassische Gleichung, an die meine Generation noch vor fünf zig Jahren geglaubt hatte, die von Freizeit und Freiheit, die auch heute schon kaum mehr gilt, wird dann vollends unwahr sein. Umgekehrt wird die Freizeit, also das Nichtarbeiten, als Fluch emp funden werden. […] Morgen wird die Freizeit nicht mehr als das ‚eigentliche‘ Leben gelten, sondern als leere Zeit, als nicht zu bewäl tigender Zeitbrei, als sinnloses Herumvegetieren – und als solche wird sie verhaßt sein.“ 23 Die gegenwärtige Massenarbeitslosigkeit hat diese „leere Zeit“ für viele bereits zur Wirklichkeit werden lassen. Gleichzeitig können wir eine Abnahme des Äquivalents Lohn für ein stetig steigendes Engagement in vielen freien Arbeitsbereichen beobachten. Die von Unternehmern, Politikern und Wirtschaftsverbänden so gerne propagierte „selbstbe stimmte Arbeit“, […] führt in vielen Fällen zur Entwertung und
22. Fuß, Holger: „Der größte gemeinsame Nenner“, in: brand eins Nr. 2 (2001).
Günther Anders (1902–92) war ein öst. Philosoph, Dichter und Schriftsteller. Verheiratet mit Hannah Arendt.
23. Anders, Günter: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 2, München 1995, S. 28 u. S. 30, Hervorh. im Orig. Zum Zeitpunkt der ersten Veröffentlichung 2003 des Textes lag Arbeitslosigkeit in Deutschland bei 10,5 %, Tendenz steigend.
Selbstausbeutung der eigenen Arbeitskraft. Die Arbeit selbst wird dabei zum eigentlichen Lohn und Investment. Arbeit wird, wie Günther Anders ausführt, zum Privileg, entfernt sich also weit vom biblischen Gedanken des Fluches. Denkbar ist, dass wir in Zukunft dafür bezahlen werden, arbeiten zu dürfen.
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Arbeit und Identität Erst die Neuzeit hatte damit begonnen, die Arbeit als das Maß aller Dinge zu verherrlichen. In den alten Mythologien wird Arbeit als eine begrenzte Zahl von archetypischen Tätigkeiten definiert. Die Götter lehrten den Menschen, wie er zu arbeiten hatte. Diese Initiation hatte zur Folge, dass Arbeit als ein immer wiederkehrendes Ritual betrachtet wurde, notwendig zur Aufrechterhaltung der eigenen Reproduktion wie auch der göttlichen Weltordnung. Das Christentum trennt die Welt Gottes von der des Menschen. Arbeit erscheint nach der biblischen Vertreibung aus dem Paradies als Sühne für den Sündenfall. Der Protes tantismus schließlich sieht in der Arbeit das primäre Mittel der morali schen Selbstvergewisserung. Arbeit führt schließlich zur Erlösung von den Sünden der Welt. Karl Marx und Max Weber haben deshalb die Bedeutung des Protestantismus für die Konstituierung der kapitalisti schen Welt hervorgehoben. Ist die New Economy also nur die zeitgenössische Variante einer alten calvinistischen Ethik? Die vita activa , das tätige Leben, erhält bei Calvin absoluten Vorrang vor der vita contemplativa, dem geistigen und unproduktiven Leben, modern übersetzt: des Müßigganges, der Freizeit, der zweckfreien Beschäftigung. In der New Economy totalisiert sich der Arbeitsbegriff auf ein ins alltägliche Leben ausgedehntes Busy-Sein. „Wir alle sind Unternehmer“, so die polemische Schlagzeile in der tageszeitung auf dem Höhepunkt der Börsenhysterie.24 D. h., wir sind alle Unternehmer unseres eigenen Lebens, und das hat weitreichende Folgen in Bezug auf soziale Sicherungssysteme: Erfolgsprämien statt Renten versicherung, individuelle Vorsorge statt gesellschaftlich vereinbarter Pflichten, Shareholder-Identitäten und Ich-Aktionäre anstelle solidari scher Gemeinschaften. Im Zuge der Flexibilisierung und dem ihr imma nenten Prinzip der Unsicherheit, verändern sich die psychischen Dis positionen im Verhältnis zur Arbeit grundlegend. In einem bis dato unbekannten Ausmaß wird der Arbeitnehmer heute zum Animateur seiner eigenen Arbeitskraft, indem er den Tugendkanon des Unterneh mertums zu seinem eigenen Credo machen muss: Risikobereitschaft, Kalkulation, Flexibilität. Der traditionelle Arbeitnehmer des Industrie zeitalters ist nur noch ein Auslaufmodell, der den Wandel der Zeit, heute Globalisierung genannt, (noch) nicht begriffen hat. Die permanente Veränderung ist so zur einzigen Konstante geworden. Sich heute mit einer Sache zu identifizieren, also ein inhaltliches Interesse zu zeigen,
Siehe dazu auch Die Faulen und die Fleißigen von Johanna Riegler in dieser Publikation.
Max Weber (1864–1920) war ein dt. Soziologe, Jurist und Nationalökonom. Lieferte Theorien und Begriffsdefinitionen als Grundlagen für dt. Soziologie. Vgl. ders.: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904).
24. Dribbusch, Barbara: „Wir alle sind Unternehmer“, in: die tageszeitung, 27.10.2000.
Ererbte und erworbene Veranlagungen die Verhalten bestimmen.
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hat sofort den Nachteil, zu sehr mit ihr verbunden zu sein. Erfahrung und wirkliches Interesse kann so schnell zu einer „schädlichen Fixie rung“ auf Bekanntes werden. Auf diese kurzfristigen Anforderungen hat sich die proteische Persönlichkeit einzustellen. Ihr Verhältnis zur Arbeit wandelt sich dabei in radikaler Weise. Der Wert, den man der Arbeit bis vor kurzem noch zusprach, be ruhte stets auf einer bestimmten libidinösen Besetzung der Arbeitspro dukte. Heute hat eine Umverteilung der Affekte längst stattgefunden. Die Identifizierung mit der Arbeit verläuft nun über neuartige psychi sche Verbindungen. Die Arbeitskraft wird dabei zum Zeichen, verliert ihre qualitative Bestimmung und wird zum Appendix des konstanten Kapitals. „Sie nimmt im digitalisierten Neoliberalismus die Form eines von Bedeutung entschlackten rekombinanten Zeichens an, also einer beliebig anschlußfähigen Variablen, womit sich biografische Konti nuität, die Selbstverortung in einem Beruf und die Verankerung an einem Arbeitsplatz in Kategorien der Vergangenheit verwandeln.“ 25 Das in Amerika so genannte „hire and fire“, also die kurzfristige Einstel lung von Arbeitskräften je nach Bedarf und ihre problemlose Entlas sung, wird in Deutschland inzwischen unter den Stichworten „Leihar beit“, „Flexibilisierung“ und „Deregulierung des Arbeitsmarktes“ diskutiert. Die Arbeitskraft wird in diesen Konzepten zur Verschub masse , legitimiert durch die globale Konkurrenz, die eine Liberalisie rung des Arbeitsmarktes erfordert. Hatte die Erwerbsarbeit bis vor kurzem im Wesentlichen die Identi tätsbildung gesichert und dem Individuum die Konstruktion von Sinn ermöglicht, bricht die Einheit von Arbeit und Identität heute zuneh mend auseinander. Die bruchlose Arbeitsbiographie geht über in ein Patchwork unzähliger Aufgaben, verschiedener Arbeitsplätze und längeren Zwischenzeiten ohne Arbeit. Auf diese veränderten Bedingun gen muss der Einzelne eine Antwort finden. Anstelle der Konstituierung einer bruchlosen biographischen Identität tritt heute die Notwendigkeit einer Vermarktung und Theatralisierung der eigenen Individualität in betriebswirtschaftlicher Perspektive. […] Neue Individualitäten Historisch betrachtet hat es immer Transformationen der psychischen Dispositionen und Individualitätsformen gegeben. Der Übergang vom Feudalismus in die bürgerliche Gesellschaft hat neue Identitätskonzepte hervorgebracht, neue Anforderungen an die nun „freigesetzten“ Subjek te gestellt. Ein über Tradition (Familie, Stand) und Religion bestimmtes Selbstverwandelte sich in eine psychische Identität, die jeder Einzelne in
Nach Marx: Teil des Kapitals der im Produktionsprozess keinen zusätzlichen Wert schafft, sondern nur eigenen Tauschwert auf produzierte Ware überträgt, im Gegensatz zum variablen Kapital, das in den Lohnkosten besteht. 25. Betz, Fritz: „Das fotografische Bild der Fabrik. Zur medientechnischen Inszenierung eines Phantoms“, in: Ahrens, Jörn (Hg.): Jenseits des Arbeitsprinzips? Vom Ende der Erwerbsgesellschaft, Tübingen 2000, S. 95.
sich selbst herzustellen hatte.26 Heute sind wir ebenfalls an einem ge schichtlichen Wendepunkt. Die klassische Auffassung von Identität, ihre Stabilität und persönliche Unversehrtheit, wird dysfunktional innerhalb einer Welt, in der wir permanent aufgefordert sind, den Wan del zu internalisieren. Die traditionellen psychologischen Identitätskonzepte sind auf grund einer veränderten gesellschaftlichen Basis im Wesentlichen obsolet geworden. Die Identitätsbildung wird durch die Zunahme des Nichterreichens bestimmter sozialer Rahmenbedingungen (keine Ar beitsstelle, Ausbildung oder Einkommen) vor neuartige Anforderungen gestellt. Der von Autoren wie George Herbert Mead postulierte lebens lange, nie endende Prozess der Identitätsarbeit hat sich heute als schiere Notwendigkeit erwiesen. Ein außengeleiteter Mensch, der auf Erwar tungen, Veränderungen und Möglichkeiten flexibel reagiert und seine Identität den jeweiligen Gegebenheiten anpasst – dieser proteische Mensch ist das Ideal unserer Zeit geworden. Jeder Einzelne ist gewisser maßen Bastler seiner eigenen Identität, produziert individuelle Lebens collagen, die wie voneinander unabhängige Bühnenstücke aufgeführt werden. Die Dramatisierung gelebter Erfahrung geht mit der so genann ten Patchwork-Identität konform. Letztere kann als Reaktion auf den Erosionsprozess zentral gesteuerter Ordnungsmuster betrachtet werden. Die dezentralisierte Identität wird nur in actu wirksam, konstituiert sich durch den sich vollziehenden Ablauf der Dinge. Das führt zu einer nicht klar abgegrenzten Persönlichkeit, mit einer dezentralisierten und un gleichgewichtigen Struktur, stets bedroht von äußeren Einflüssen. Nun kann man diese Veränderungen durchaus positiv beurteilen. Proteus ist auch der Traum vom selbst verwirklichten Menschen, der sich stets neu erfindet. Er erzählt uns das postmoderne Märchen vom „anything goes“ und von der Freiheit, das Leben wie ein Kunstwerk zu gestalten. So sieht etwa auch der amerikanische Erfolgsautor Jeremy Rifkin, trotz seiner fundamentalen Kritik an den neuen wirtschaftli chen und ihren Zumutungen, gesellschaftliche und individuelle Chancen in der proteischen Persönlichkeit. „Das Experimentieren mit multiplen Persönlichkeiten könnte auch zu einem besseren Verständnis für Unterschiede, zu Toleranz unter den Menschen sowie zu einer Bereitschaft führen, bei allem, was wir tun, anderen offener gegenüber zu sein. Es ist vielleicht kein Zufall, dass Theaterleute lange Zeit, und auch mit einigem Recht, in ihren Ansichten und Empfindungen als offener und toleranter galten. Wer eine andere Persönlichkeit annehmen kann – sich selbst in die Lage eines anderen versetzen und sich vorstellen, wie es wäre, diese Person zu sein –, verfügt über ein machtvolles konzeptionelles Werkzeug, um die Teilung in Mein und Dein zu überwinden. Ein proteisches Bewusstsein kann, wovor manche Psychologen warnen,
26. Zur historischen Rekonstruktion der Linie: Seele – Psyche – Gen siehe Meschnig, Alexander: Die Seele: Gefängnis des Körpers, Pfaffenweiler 1993.
George Herbert Mead (1863– 1931) war ein US-amerikanischer Philosoph, Soziologe und Psychologe. Hauptwerk: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Perspektive des Sozialbehaviorismus (1934)
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z u einem fragmentierten Gefühl der Existenz führen; doch es ist ebenso möglich, dass das Experimentieren mit multiplen Persön lichkeiten einen neuen Sinn für Empathie mit anderen erzeugen und damit beitragen könnte, eine Grundlage für eine Erneuerung der Kultur zu legen.“ 27 Mit dieser Auffassung, die Rifkin insofern auch wieder kritisch unter läuft, indem er darauf verweist, dass die kulturelle Produktion und ihre Vermarktungslogik von der Vielfalt der Persönlichkeit lebt, steht er nicht allein. Von einer ganz anderen Seite begrüßen auch im weitesten Sinne (post)marxistische Denker den proteischen, identitätslosen Men schen. Wenn Produktionsmittel und Arbeitskräfte „identisch“ werden, Arbeitszeit und Freizeit amalgamieren, die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit radikal sinkt, die herrschaftlich eingeforderte Dienstleis tungszeit drastisch ansteigt, dann, so die These, provozieren die ver dinglichten Sozialbeziehungen Resistenz in der Simulationskultur selbst. Der „postmoderne“ Arbeiter mutiert dabei zum leeren Subjekt und wird im Zuge dessen zum Hoffnungsträger einer sich als revolutionär verste henden Bewegung. […] Der Lebensunternehmer als kommender Revolutionär? Wohl kaum. Wenn sich „nichts“ mehr bleibend in die Psyche einschreibt, kann es auch kein übergeordnetes Interesse mehr geben. Der Revolutionär ist dann vielleicht nur eine weitere Rolle, eine Attitüde mehr im theatrali schen Lebensdrama. […] Das, was heute im Wesentlichen noch Identität stiftet, sind die Angebo te der Marken- und Imagemacher. So genannte „Trendsetter“ und „Opi nionleader“ bestimmen insbesondere für Jugendliche deren Weltsicht. Marken und die mit ihnen verbundenen Werte treten an die Stelle traditioneller Sozialisationsinstanzen wie Familie oder Schule. Sie sind die großen Interpretationsangebote nicht nur für Teenager geworden. Die Strategie der großen Markenfirmen besteht zunehmend darin, statt Produkten Images zu verkaufen, die für bestimmte Erlebnisqualitäten und persönliche Dispositionen stehen. Anstatt einfach nur ihre profanen Güter zu vertreiben, besetzen Marken nun kulturelle Werte, die früher Ideologien, Religionen und politischen Parteien vorbehalten waren. […] In der New Economy wurde auch der Arbeitsplatz zu einer Art von Marke. Bei einem bestimmten Unternehmen zu arbeiten war Ausdruck einer individuellen Haltung zur Welt. Bei Pixelpark oder Intershop zu arbeiten war in etwa dem Tragen von Nike-Turnschuhen vergleichbar, ging also weit über die bloße Erwerbsarbeit hinaus beinhaltete eine Ge samtaussage zum eigenen Verhältnis zur Welt, ihren Normen und Wer ten. Die proteischen Web-Worker der New Economy identifizierten sich
27. Rifkin, a. a. O., S. 287.
so mehr mit dem Lifestyle ihrer Arbeit wie mit ihrem Arbeitgeber oder Unternehmen, welches selbst nur noch als Marke präsent war. Dement sprechend hoch war und ist auch die Fluktuation in den Unternehmen. Das macht solidarische Formen des Miteinander und eine wirkliche Identifizierung mit der eigenen Arbeit fast unmöglich. „Gesellschaftlich bringen die Kurzzeitjobs ein Paradox hervor: Die Menschen arbeiten intensiv, unter großem Druck, aber ihre Beziehungen zu anderen blei ben seltsam oberflächlich. Dies ist keine Welt, in der es sinnvoll wäre, sich wirklich auf andere einzulassen – jedenfalls nicht auf lange Sicht.“ 28 Das neue, proteische Arbeitssubjekt kennt nur kurzfristig entstandene Gemeinschaften (Arbeitsteams), die im Moment der Erfüllung ihres Zweckes (Arbeitsaufgabe) wieder auseinanderfallen. Die einzelnen Player verteilen sich dann wieder auf neue Rollen oder bleiben, je nach konjunktureller Lage und persönlicher Vermarktung, ohne Arbeit. Das Subjekt verwandelt sich also zum Projekt (V. Flusser), wird zu einem stets neu zusammengesetzten und auseinander strebenden Ego. Ist Proteus unsere Zukunft? Nun sind wir also alle aufgefordert, Unternehmer unserer eigenen Ar beitskraft zu sein. Die im Namen der Flexibilität und der Globalisierung ausgerufenen persönlichen Eigenschaften sind aber nur deshalb denk bar, weil es immer noch primäre Instanzen gibt, die verlässliche Bindun gen produzieren. Soziales Leben ist nur dort denkbar, wo es ein Mini mum an Bindungen gibt. Insofern bleibt eine vollkommen flexibilisierte Gesellschaft m. E. undenkbar. Dennoch existiert eine immer größere Schere zwischen den Anforderungen, die das Berufsleben stellt, und den privaten oder familiären Werten. Dieser Spagat zwischen Flexibilität und Kontinuität führt bereits vielfach zu psychischen Zerreißproben. Der proteische Mensch ist aber zweifellos die zentrale Figur eines von zwei möglichen Diskursen, die auf die sozialen und wirtschaftlichen Transformationen antwortet. Die erste Erzählung, die von Proteus, projiziert den Menschen in eine Utopie, in der er sich autonom erschafft, unabhängig von allen gesellschaftlichen Zwängen, und in der er wie ein Schauspieler jede Gestalt annehmen kann. Was die Apologeten dieses „Heldendramas“ uns nicht erzählen, ist die Kehrseite von Proteus: Er findet nie zu sich selbst; er lebt nur als Rolle. Die zweite Erzählung handelt von einer vergangenen Zeit, die noch einfache Prinzipien anzu bieten hatte. Identifikationsfigur ist das „Wir“, eine gesicherte Gemein schaft, Familie, Religion, Nation. Was diese Geschichte uns verschweigt, ist, dass sich die Zeit nicht zurückdrehen lässt. Das postmoderne Zeital ter mit seinen unsicheren Werten und unendlichen Wahrheiten, für die wir uns stets neu entscheiden müssen, wird nicht rückgängig zu machen sein. […]
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28. Sennett, Richard: „Der flexible Mensch und die Uniformität der Städte. Stadt ohne Gesellschaft“, in: Le Monde diplomatique, Februar 2001.
Vilém Flusser (1920–91) war Medienphilosoph und Kommunikationswissenschaftler. Vgl. ders.: “Vom Subjekt zum Projekt: Menschwerdung”.
Warum Proteus keinen Mittagsschlaf mehr macht.
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Wir befinden uns heute in einer unheilvollen Schere gefangen. Wäh rend die moderne ökonomische Logik nach dem proteischen Charakter und den Tugenden des Unternehmers verlangt, sind wir auf der anderen Seite in unseren privaten und sozialen Beziehungen nach wie vor von stabilen und kontinuierlichen Verhältnissen abhängig. Der Traum vom „Lebensunternehmer“ als waghalsigem Entrepreneur ist nicht einfach mit der Realität des privaten Menschen zu verbinden. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass sich die Prinzipien der Arbeitswelt zunehmend in die vormals freie Zeit verschieben, wird doch irgendwann eine Grenze der Zumutbarkeit erreicht sein. Selbst in der New Economy, als Prototyp des neuen Arbeitsraumes seiner juvenilen Worker definiert, stieß die Fusionierung von Lebens- und Arbeitswelt spätestens da auf Wider stand, wo sie mit familiären und sozialen Bedürfnissen kollidierte . Und dies vielfach einfach deswegen, weil auch junge, flexible Arbeitnehmer irgendwann älter werden. Der proteische Mensch mag im großen Thea ter der Ökonomie die ideale Besetzung sein, für verlässliche und intensi ve Bindungen taugt er auf Dauer nicht. Es ist schwer vorstellbar, dass Letztere sich vollkommen in spielerische und sich stets wandelnde Beziehungen transformieren könnten – und das gilt auch für klassische Unternehmensstrukturen, selbst wenn die Managementgurus das krea tive Chaos anbeten. Dennoch werden bisherige soziale Sicherungssyste me unaufhörlich erodiert. Ob eine Gesellschaft auf reinen Markt- und Tauschprinzipien beruhen kann, bleibt aber mehr als fraglich. Märkte sind immer abgeleitete Institutionen, deren Funktionieren von gefestig ten Gemeinschaften abhängig ist. Diese beruhen auf Vertrauen und einem bestimmten Maß an Empathie – Eigenschaften, die heute zu gunsten einer ökonomischen Ratio zunehmend in Vergessenheit geraten. Im Mythos ist Proteus aufgrund seiner seherischen Fähigkeiten kein glücklicher Gott. Wem es gelang, ihn während seines Mittagsschlafes zu überraschen und so seine Verwandlung zu verhindern, konnte sich von ihm die Zukunft vorhersagen lassen. Menelaos, der König der Spartaner, der sich als Sieger über Troja mitsamt seiner zurückeroberten Gattin Helena auf einer acht Jahre währenden Irrfahrt befand, glückte dies mit Hilfe von Proteus Tochter Dedethea. Proteus weissagte daraufhin seine Zukunft und beschrieb ihm den Heimweg nach Sparta. Heute macht Proteus keinen Mittagsschlaf mehr, und die Zukunft ist nicht mehr vorhersagbar. Menelaos würde heute wohl nicht mehr nach Hause kommen, er könnte nur versuchen, überall zu Hause zu sein. Das könnte auch einmal für unser eigenes Leben gelten. Ungekürzt zuerst veröffentlicht unter dem Titel „Unternehme Dich selbst – Anmerkungen zum proteischen Charakter“ in: ders. und Mathias Stuhr (Hg.): Arbeit als Lebensstil. Suhrkamp 2003.
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Kreativer Kapitalismus
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Mario Candeias beschäftigt sich mit den Widersprüchen zwischen Unternehmergeist und Prekariat, in denen sich die neuen „Solo-Selbständigen“ bewegen. Zunächst wird gefragt, was diese von Lohnarbeitenden in einem „Normalarbeitsverhältnis“ unterscheidet, wie sich ihre Lage den Bedingungen der Prekarität annähert und welche Handlungsmöglichkeiten sich daraus ergeben.
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Mario Candeias (geb. 1969), Politikwissenschaftler; Studierte und lehrte an FU Berlin; Mitglied im Berliner Institut für kritische Theorie (InkriT), Redaktion Das Argument, Redaktion Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, wissenschaftlicher Beirat der Zeitschrift Historical Materialism, Assoziation kritische Gesellschaftsforschung (AKG), medico international, ver.di, assoziiert an der FU Berlin und der Friedrich-Schiller Universität Jena; Seit 2013 Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
MARIO CANDEIAS
Selbständige zwischen Unternehmergeist und Prekarität Eine selbständige Tätigkeit aufzubauen wird als „Existenzgründung“ bezeichnet, als ob die Betreffenden zuvor keine gehabt hätten. Der Austritt aus der Lohnarbeit, aus einer vermeintlich unverantwortlichen, abhängigen Existenzweise, erscheint als Übernahme individueller Ei genverantwortung und Gewinnung von Unabhängigkeit. Als (Mikro-) Unternehmer – und sei es nur meiner Selbst – gelte ich als gesellschaftli cher Leistungsträger und schaffe potenziell Arbeitsplätze (wenn auch nur meinen eigenen), statt als „Arbeitnehmer“ nur einen solchen zu besetzen. Selbst den abhängig Beschäftigten wird unternehmerisches Denken eingebläut. Das Unternehmen wird ideologisch zum Zentrum gesellschaftlicher Organisation, das als einziges produktive und zu kunftsweisende Arbeitsplätze schaffe (tatsächlich werden nahezu 50 % des Bruttoinlandsproduktes nicht im privat-kapitalistischen Sektor produziert und nach UN-Schätzungen 50 % des globalen Reichtums als unbezahlte Reproduktionsarbeiten erbracht, zumeist von Frauen). Nach Erhebungen des Sozialbeirats der Bundesregierung (Financial Times v. 28.11.07) gibt es in Deutschland 2,3 Mio. Solo-Selbständige (was 50 % aller Unternehmen entspräche). Hinter der Betonung des Unter nehmerischen in der Debatte verschwinden die Tätigkeit und die Ver hältnisse, in denen diese Selbständigkeit sich bewegt. Diese Verschie bung der selbständig Arbeitenden in die „symbolische und kulturelle Sphäre des kapitalistischen Unternehmens“ (Bologna 2006), statt in jene der gesellschaftlichen Arbeit und die damit verbundenen Widersprüche, fügt sich in die große Erzählung vom Ende der Arbeit – gemeint ist: der Lohnarbeit. Durch die diskursive Eingemeindung breiterer gesellschaft licher Gruppen erscheinen politische Forderungen der Unternehmer nicht als partikulare Klasseninteressen.29 Dagegen sollen hier Unter schiede und Gemeinsamkeiten der sog. Neuen bzw. Solo-Selbständigen im Verhältnis zur Lohnarbeit bestimmt werden. Trotz Differenzen bewirken die Veränderung von Arbeits- und Lebensweisen dabei eine Konvergenz prekärer Lagen, sowohl bei den Solo-Selbständigen wie abhängig Beschäftigten.30
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Prekarität abgeleitet von „prekär“ (unsicher, weil widerruflich). Soziologischer Begriff für soziale Gruppierung, die durch Unsicherheiten der Erwerbstätigkeiten gekennzeichnet ist.
Sergio Bologna: führender Intellektuelle des Operaismus („Arbeiterwissenschaft“; neomarxistische Strömung u. soziale Bewegung der 60er Jahre aus Norditalien) 29. Zur Umdeutung und Erweiterung des Unternehmerbegriffs von Seiten der Neoliberalen vgl. Plehwe (2007). 30. Spätestens seit der Studie aus dem Umkreis der F.-E.-Stiftung (Müller-Hilmer 2006) zu Fragen der Ausbreitung von Prekarität, ist das Problem zu einem politischen Thema geworden. Allerdings wird in der medialen Debatte das „Prekariat“ meist mit der „Unterschicht“ gleichgesetzt und übersehen, dass es sich dabei keineswegs um ein Phänomen handelt, das nur kleine, wenn auch wachsende Randgruppen betrifft (Candeias 2004a).
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1. Unterschiede der selbständigen zur unselbständigen Arbeit Die Kategorie der Neuen bzw. Solo-Selbständigen fasst ganz unter schiedliche Typen von nicht-lohnabhängig Erwerbstätigen zusammen. Im Unterschied zu den „alten“ selbständig tätigen „freien“ Berufen (z. B. Ärzte), Einzelhändler, oder Handwerker, geht es um jene, die im Zuge der Flexibilisierung kapitalistischer Produktion und öffentlicher Be schäftigung im Rahmen neoliberaler „Reformen“ freigesetzt wurden, oder die nie eine Stelle bekommen haben bzw. sich bewusst der Lohnar beit entziehen wollten: hoch-qualifizierte Freelancer, „freie“ Journalisten und Medienschaffende mit Projektaufträgen, selbsttätige Masseure, Trainer oder Bildungsreferenten, alternative Ein-Personen-Betriebe und unfreiwillige Ich-AGs. Sie sind mit unterschiedlichen Qualifikationen ausgestattet, bewegen sich in unterschiedlichen sozialen Netzen und Marktverhältnissen, doch nur ein geringer Teil entspricht dem Typus der erfolgreichen „Selbstmanager“, ein größerer Teil muss sich in äußerst unsicheren Verhältnissen zurecht finden, nicht wenige sind von akuter Armut bedroht und/oder auf staatliche Hilfen angewiesen (z. B. ergän zende Leistungen zum Lebensunterhalt im Rahmen von Hartz IV). Vor allem um die mittlere Gruppe in unsicherer Lage soll es im Folgenden gehen. Zunächst ist zu fragen, was die „Solo-Selbständigen“ von Lohnar beitenden im „Normalarbeitsverhältnis“, wie es sich in der zweiten Hälfte des 20. Jh. – durch harte gesellschaftliche Auseinandersetzun gen –durchgesetzt hatte, unterscheidet und wie sich ihre Lage den Bedingungen der Prekarität annähert? 31
31. Die folgenden (vorläufigen) Ausführungen sind synthetisierende Ergebnisse aus eigenen Interviews, Workshops mit prekären Selbständigen, teilnehmenden Beobachtungen (2003-07) und Analysen der Sekundärliteratur. Um Missverständnissen vorzubeugen: das fordistische Normalarbeitsverhältnis soll hier nicht als Maßstab dienen, von dem aus in verelendungstheoretischer Manier Verschlechterungen durch die Prekarisierung identifiziert werden sollen - schließlich haben sich die Arbeitsverhältnisse durch die transnationale informationstechnologische Produktionsweise, das Vordingen der Frauen auf den Arbeitsmarkt und genereller Verschiebung der Kräfteverhältnisse grundlegend geändert, der tayloristischen Zurichtung zum „dressierten Gorilla“ ein Ende gesetzt, hin zu erweiterter Autonomie bei zugleich verschärfter Kapitalherrschaft (vgl. Candeias 2004, 162ff.).
Autonomie, Selbstorganisation und Selbstausbeutung Solo-Selbständige finden sich sowohl im Bereich der „niedrig“ qualifi zierten Arbeit wie im Bereich der hoch qualifizierten. Betrachten wir die Branchen so finden sich die Solo-Selbständigen besonders im Bereich Medien und Journalismus, Werbung, in den I+K-Industrien, in der Kunst, Wissenschaft, im Transport, Versicherungen, Einzelhandel und externes Sales Management, aber auch im Non-Profit- oder Dritten Sektor bzw. in Bereichen öffentlicher Dienstleistungen wie der Sozialarbeit (weniger in den vergleichsweise hoch organisierten Branchen der Metall- oder Chemieindustrie). Diese Bereiche bilden Schwerpunkte, die jedoch keinen qualitativen Unterschied zur Lohnarbeit markieren, die mit ihnen koexistiert. Der Inhalt der Tätigkeit mag in vielen Fällen ähnlich sein, die Form der Organisation der Tätigkeit unterscheidet sich merklich. Zwar sind auch in einigen Bereichen der Lohnarbeit zur Ausschöpfung des unmit telbaren Produzentenwissens über neue Steuerungskonzepte und Ge währung größerer Autonomie die Formen direkter, hierarchischer
Informations- und Kommunikationsindustrien
Arbeitsanweisungen zurück gedrängt worden. Doch ist der Grad an Autonomie zur Organisation der eigenen Tätigkeit bei den Solo-Selbstän digen in der Regel deutlich höher. Denn die Übertragung hinsichtlich Planung und Ausführung der Arbeit an die Selbständigen gehört zum Prinzip der Flexibilisierung durch Auftragsvergabe nach außen. Vorge geben wird nur das Ziel oder die Art und Qualität der zu erbringenden Leistung sowie der (sanktioniert) einzuhaltende Termin. Die Solo- Selbständigen müssen weitergehende Fähigkeiten der Selbstorganisation entwickeln. Die Erfahrung, keinen direkten Vorgesetzten unterstellt zu sein, „keinen Chef zu haben“, eigene Verantwortung zu tragen und damit relativ größerer Freiheitsgrade leben zu können, ist eines der entscheidenden positiven Identitätsmerkmale der Solo-Selbständigen, die vor allem zu Beginn diesen Weg oft als attraktiver erscheinen lassen als die alte und neue Lohnarbeit mit ihren insofern engeren Fesseln. Doch ist dies verbunden mit einem wesentlich gesteigerten Auf wand der relationalen Tätigkeiten. Die Solo-Selbständigen beklagen durchgängig, wie viel Zeit sie für die notwendige alltägliche Koordina tions- und Kommunikationsarbeit an den Schnittstellen von Auftragge ber einerseits oder deren Kunden andererseits benötigen, für das Her stellen und Pflegen von Geschäftsbeziehungen, für das Einholen von Informationen über Marktentwicklung, Trends, Steuerrecht etc. – ohne das dies irgendwo als geleistete Arbeitszeit anerkannt würde. Es sind Tätigkeiten, die in der Lohnarbeit nicht oder viel weniger dem Einzelnen obliegen, vielmehr spezialisierte Tätigkeiten innerhalb des Unterneh mens bzw. der Organisation darstellen. Die Ausbeutung abhängig selb ständiger Arbeitskraft durch das Kapital wird mittels Delegation erwei terter und zugleich durch die in der Regel ungünstige Position am Markt eingegrenzten Spielräume auf das tätige Subjekt in Richtung „Selbstausbeutung“ verschoben. Entgrenzung der Arbeitszeit Damit verbunden ist die Entgrenzung der Arbeitszeit: durch vielfältige Anforderungen der Selbstorganisation, durch interessantere Tätigkeit, durch eine veränderte Motivation „auf eigene Rechnung“ zu arbeiten, durch Termindruck etc. Auch die Arbeit der Lohnabhängigen wird intensiviert und verlängert sich formell und informell über den bisheri gen Rahmen hinaus. Doch ist ihre Arbeitszeit grundsätzlich geregelt, die der Selbständigen nicht. Nicht nur selbständige Projektarbeiter in der IT-Industrie, auch unabhängige LKW-Fahrer leisten durchschnittliche Arbeitszeiten von 60-65 Stunden die Woche. Das immanente Risiko eines wirtschaftlichen Scheiterns produziert einen Habitus, „dessen herausragendes Merkmal die Unmöglichkeit ist, auf längere Sicht zu planen“ (Bologna 2006, 22, vgl. Candeias 2004, 399). Es genügt eine Krankheit, ein Unfall, ein unvorhergesehener Ausfall eines
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großen Kunden, um die Existenz zu gefährden. Daraus entwickelt sich ein privates Sicherheitsdenken, permanent für alle Unwägbarkeiten und even tuell ausbleibende Aufträge vorsorgen zu wollen, v.a. als Familienversor ger/in, was in vielen Fällen zu „Arbeitssucht“ und Überarbeitung führt.
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Kooperationsbeziehungen, räumliche Ausgliederung und Produktivität Die Solo-Selbständigen erfahren eine Ausgliederung aus betrieblichen bzw. kooperativen Zusammenhängen, die sie von z. T. einengenden betrieblichen Zwängen befreit, aber auch zur tendenziellen raum-zeitli chen Isolierung und Zerstörung von Sozialkontakten führt (nicht zuletzt durch überlange Arbeitszeiten). Der größte Teil der Arbeit wird zu Hause oder in einem eigenen Büro oder Ladenlokal erledigt. Die Arbeit wird also auch räumlich entgrenzt in den Bereich des Privaten hinein (dies eröffnet neue Möglichkeiten der Auflösung scharfer Grenzen zwischen Produktion und Reproduktion, beschränkt jedoch allzu oft letztere, vgl. Huws 2003; Huws/Candeias 2003, 607ff.). Sofern die Arbeit in Kooperation mit Beschäftigten des Auftraggebers erbracht werden muss, gerät die notwendige Abstimmung und Kommunikation mit den betrieblichen Akteuren zu einer oft spannungsreichen, erzwungenen punktuellen Kooperation, da diese externen Freelancer oder freien Mitarbeiter durchaus als Konkurrenz und Bedrohung der Festangestell ten angesehen (bzw. vom Unternehmen gezielt also solche eingesetzt) werden. Dabei handelt es sich allerdings um einen widersprüchlichen Prozess, da der Versuch der Beherrschung der mit Flexibilisierung und externer Auftragsvergabe verbundene Komplexitätssteigerung und Unsicherheit durch das auftraggebende Unternehmen (etwa durch zentralisierte Planung und detaillierte Vorgaben) zugleich die arbeitsor ganisatorische Gestaltungsautonomie dieser selbständigen Auftragneh mer konterkariert. Mehr Autonomie auf Seiten dieser speziellen Gruppe von Solo-Selbständigen bedeutet letztlich weniger Kontrolle durch das Unternehmen. Die damit potenziell verbundene Stärkung der Verhand lungsmacht auf Seiten der Selbständigen wird jedoch durch ihre meist schwache Stellung am Markt als isolierte, individuelle Kleinstanbieter von Dienstleistungen wieder entkräftet.32 Der höhere Grad an Autonomie und Selbstorganisation erlaubt es, ein größeres kreatives Potenzial von Seiten dieser Selbständigen zu realisieren. Die tendenzielle Ausgliederung aus Kooperationsstrukturen hemmt dies zugleich. Wir erleben mit diesen Solo-Selbständigen einen Trend gegen die Entwicklung der Produktivkräfte durch Vergesellschaf tung der Produktion. Dies ist verbunden mit der ungeheuren Steigerung von Transaktionskosten durch notwendige immer wieder neue Abstim mungen und Verknüpfungen an den Schnittstellen von selbständiger und betrieblicher Arbeit, die Zerstörung sinnvoller Routinen sowie
32. Wenn Marx den Übergang von der formellen zur reellen Subsumtion unters Kapital beschrieben hat, so kann mit Blick auf die Solo-Selbständigen „vom Übergang von reeller Subsumtion zu formeller Selbständigkeit bei materieller Subsumtion sprechen“ (Haug 1998, 376).
durch eine enorme Zunahme der relationalen Koordinations- und „Be ziehungsarbeit“. Wo es gelingt neue Routinen und flexible Netzwerke zu etablieren, lassen sich durchaus Produktivitätssprünge realisieren. Wie eigene Befragungen im Bereich von Datensystemen von Banken belegen, werden Transaktionskosten und Produktivitätsverluste den Selbständi gen übertragen. Flexibilität und Einbeziehung von Kreativitätspotenzialen der selbständigen Arbeit, also der Entwicklung des relativen Mehrwerts, wird profitabel mit der Ausweitung des absoluten Mehrwerts, durch Übertragung zahlreicher Organisations- und Kommunikationsarbeiten in die Sphäre der unbezahlten Arbeit in der Verantwortung der abhängigen Selbständigen kombiniert (bzw. unbezahlter Überstunden der Festangestellten). – Fraglich ist, ob angesichts der relativen Unmöglichkeit der Zu kunftsplanung und mangelnder Zeit für längerfristige Bestrebungen aufgrund von Markt- und Zeitdruck, Spielräume und Motivation für Innovationen und Entwicklungen eingeengt werden (vgl. BMBF 2005). Dann wären mittelfristig Produktivitätsverluste programmiert, die nur über niedrigere Preise ausgeglichen werden können und irgendwann gar nicht mehr.
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Form der Entlohnung und vertraglicher Vereinbarungen Ein auffälliger Unterschied zur abhängigen Arbeit ist natürlich die Form der Entlohnung. Die Höhe des Lohnes richtet sich immer nach dem Wert der zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendigen Waren auf einem bestimmten Niveau kulturell gesellschaftlicher Entwicklung, dessen Höhe umkämpft ist. Durch die Lohnkämpfe des 20. Jh. wurde die Reproduktion der Arbeitskraft über das Sozialversicherungssystem in (z. T. paternalistischer/patriarchaler) Form sozialer Rechte staatlich institutionalisiert, was sich in der beträchtlichen Zunahme der „Lohn nebenkosten“ niederschlug. Die Selbständigen erhalten dagegen ein Honorar, das die Subsistenz nur garantiert, sofern es gelingt genügend Aufträge einzuwerben. 2005 verdienten fast 48 % der Solo-Selbständi gen weniger als 1.100 € pro Monat (Financial Times 28.11.2007). Die Entlohnung über Honorar bedeutet v.a. den Verlust zahlreicher sozialer (Schutz-)Rechte, die der Lohnarbeit im Laufe der Zeit zuerkannt wurden: staatliche Arbeitslosen- und Rentenversicherung sind den Selb ständigen weitgehend verschlossen, für die Krankenversicherung, Rente und Unfallversicherung muss privat vorgesorgt, für Phasen ohne Ein kommen ein beträchtliches Polster angeschafft werden. Darüber hinaus verlieren die Selbständigen alle Garantien z. B. des Arbeitsschutzgeset zes, gesetzlicher Arbeitszeitregelungen, Mindestlöhne etc., da die Tätig keit in eigener Verantwortung und ohne Kontrolle ausgeführt wird.33 Aus der Vergütung erwachsen keine Ansprüche mehr an den Staat, viel mehr legt sie umgekehrt fest, nämlich die Zahlung von Steuern. Diese ist dabei an gesetzlich festgelegte Fristen gebunden und z. B. in der Bundes
33. Immerhin haben Selbständige über das Alg-II die Möglichkeit ergänzende Leistungen zu beantragen.
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republik z. T. im Voraus zu entrichten, während die Auftraggeber der Solo-Selbständigen bei der Zahlung bereits erbrachter Leistungen oft mehr als säumig sind. Der rechtliche Schutz der Einhaltung von Zahlungsverpflichtungen und -fristen wird daher zur existenziellen Angelegenheit für die selbständig Arbeitenden. Ihre Reproduktionsbedingungen sinken unter den gesellschaftlichen Durchschnitt, der Preis ihrer Arbeitskraft wird in vielen Fällen unter ihren Wert gedrückt.34 Aus Mangel an Durchsetzungsmacht am Markt wird für die Solo-Selbständigen die soziale Frage zur Steuerfrage (Bologna 2006, 45).35 Durch den Verlust kollektiver Aushandlungsmöglichkeiten ihrer Verträge erfahren sie eine extreme Individualisierung ihrer Entlohnungs- und Arbeitsbe dingungen. Zwar unterliegen sie formal keinerlei Weisungen oder Kont rolle von Vorgesetzten, jedoch setzen die „komplexen Zwänge“ des Marktes ihnen Einschränkungen, die als unpersönliche, systemische subjektiv schwer zu begreifen sind – die Solo-Selbständigen geraten häufig in „eine Lage der Abhängigkeit“ (ebd., 110) von den Marktbedin gungen, die die der abhängig Beschäftigten noch übersteigt. Gleichzeitig erschweren individualisierte Beziehungen zwischen Solo-Selbständigen und Auftraggebern kollektive Organisierungsformen und Interessen repräsentationen. Zwar besitzen sie in bestimmten Fällen eine gewisse Produktionsmacht, sofern sie über außergewöhnliche, spezialisierte und damit unersetzbare Fähigkeiten und Kenntnisse verfügen. In der Regel aber reicht diese nicht aus, um individuell eine wirkungsvolle Vertretung der Interessen durchzusetzen. Identität und Anerkennung Sozialstaat und soziale Rechte werden durchaus von beiden Seiten, also von den Auftraggebern aber auch von den Solo-Selbständigen, die Sozi alkassenbeiträge sparen wollen, bewusst außer Kraft gesetzt – wenn auch bei vielen mangels Alternative von einer Art „unfreiwillig-freiwilli gen Selbständigkeit“ ausgegangen werden muss: die Erleichterung von Selbständigkeit durch Einrichtung des „Gründungszuschusses“ […] wird von vielen – trotz mangelnden Kapitals oder Qualifikation – als Ausweg aus Arbeitslosigkeit und disziplinierender Abhängigkeit von den staatlichen Arbeitsverwaltungen bzw. aus despotischen Arbeitsverhältnissen im Niedriglohnbereich angesehen. Die Solo-Selbständigkeit eröffnet für viele überhaupt erst wieder eine Möglichkeit zur Teilhabe an Erwerbsarbeit (z. B. Berufsanfänger, Frauen nach der Kinderphase, ältere Beschäftigte nach dem Jobverlust). Die Reproduktion prekärer Verhältnisse von „unten“ ist in diesem Bereich besonders ausgeprägt. Der Verlust von Sicherheit wird dabei nicht nur als negativ empfun den, entspricht v.a. für die jüngeren Generationen auch einer Befreiung von der Aussicht auf jahrzehntelange, immer gleiche, monotone Arbeit und normierte Lebensweisen, hin zu einer Vielfältigkeit von Lebens
34. Zur klassentheoretischen Bestimmung des Prekariats mit Bezug auf Reproduktionsbedingungen und Wert der Arbeitskraft vgl. Candeias 2007.
35. In Italien kam es Sergio Bologna zufolge in den letzten Jahren zu „Revolten“ der Selbständigen gegen das Steuersystem (2006, 26).
stilen und der Ausbildung von patchwork-Identitäten. Insbesondere Hochausgebildete fühlen sich ihrem Selbstverständnis nach nicht länger als Angestellte oder gar Arbeiter, sondern vielmehr als eigenverantwort lich handelnde, unternehmerische denkende selbständige Individuen, die ihre Interessen selbst vertreten können. Nicht nur von den begehrten Spezialisten wird die damit verbundene Spannung zwischen persönlicher Autonomie und Ungewissheit durchaus als Zugewinn erfahren. Unter kapitalistischen Bedingungen ist die gewährte Autonomie jedoch nur eine partielle und einseitige, gebunden an die Erhaltung von Wettbe werbsfähigkeit und damit an die Anpassung an Marktbedingungen. In der Regel identifizieren sich die Solo-Selbständigen stärker mit ihrer Tätigkeit als dies etwa in der abhängigen Beschäftigung, v.a. bei den sog. Massenarbeitern in Großbetrieben der Fall ist. „Die totale Hingabe an den Beruf löscht bei den Einzelnen auch die Bereitschaft aus, sich politisch oder sozial zu engagieren. Aus dem geistigen Horizont der middleclass scheint also der Sinn für das Gesellschaftliche und auch für die staatlichen Institutionen zu entschwinden.“ (Bologna 2006, 68) 36 Abgesichert und stabilisiert wird die Identität in vielen Fällen durch Mitgliedschaft in entsprechenden Berufs- und Fachverbänden. Bei den stärksten Gruppen der freien Berufe leiten sich daraus berufständische Privilegien und Habitus ab, die zu heftigen Distinktionskämpfen gegen über abhängig Beschäftigten führen können. […]
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Siehe dazu auch Kreative Arbeit und Selbstverwirklichung von Diedrich Diederichsen in dieser Publikation. 36. Bologna warnt vor anti-modernistischen Ideologien und rechtsextremen Einstellungen (2006, 150).
2. Ein-Personen-Unternehmen, Proletaroide oder prekäre Selbständige Offensichtlich gibt es zahlreiche Unterschiede der selbständigen Arbeit zur abhängigen Lohnarbeit, wie sie sich im Laufe des 20. Jh. entwickelt hatte, die es rechtfertigen, den Selbständigen einen anderen Status zu zuerkennen. Aber können wir sie deshalb unter die Kategorie der „Un ternehmen“ subsumieren, etwa mit Bezeichnungen wie Ein-PersonenUnternehmen? Auf diese Weise finden sie Eingang in die Statistiken über den schrumpfenden Sektor der abhängig Beschäftigung, der stei genden Zahl von Existenzgründungen sowie in die politischen Positio nen, die eine Förderung von Kleinunternehmen, eine Reform der Steuer gesetzgebung, einen Um- bzw. Abbau der Sozialversicherungssysteme etc. fordern, ebenso wie die Entmachtung der Gewerkschaften, die immer weniger Menschen vertreten und nur an alten Privilegien fest hielten. Hier zeigt sich ein durchaus bekannter Mechanismus: Der herrschenden, neoliberal reorganisierten Produktionsweise entspre chend werden auch die formell „nicht subsumierten Verhältnisse unter sie idealiter subsumiert. Zum Beispiel der selfemploying labourer ist sein eigener Lohnarbeiter, seine eignen Productionsmittel treten ihm als Capital in der Vorstellung gegenüber. Als sein eigner Capitalist wendet er sich selbst als Lohnarbeiter an“ (K I, MEGA 11.6, 111) .
Im Idealfall Karl Marx: Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, in: Marx-Engels- Gesamtausgabe 11.6
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Was macht streng genommen ein Unternehmen aus? – Eine der grundlegenden Bedingungen von abhängiger Arbeit im Verhältnis zum Unternehmen war und ist natürlich die Trennung der unmittelbaren Produzenten vom Eigentum an Produktionsmitteln – hier scheinen die Selbständigen besonders in Hinblick auf die Revolutionierung der Pro duktionsmittel durch Computer und Internet zum Teil eine Aufhebung dieser Trennung zu realisieren. Die Selbständigen verfügen in bestimm ten Grenzen über eigene Produktionsmittel. Sie vereinen in sich die Funktion des Eigentümers, des Managers wie des ausführenden Arbei ters (was manche schon wieder von der Aufhebung des Gegensatz von Kapital und Arbeit träumen lässt oder auch von der Rückkehr des schöpferischen schumpeterschen Unternehmers im Gegensatz zum verwaltenden Managerkapitalismus). Doch macht diese Integration der verschiedenen Funktionen die Selbständigen schon zu Unternehmern? Der „Kapitalstock“ ist bei den „Ein-Personen-Unternehmen“ ex trem klein, zu klein, um als echtes Kapital zu fungieren. Der Schwer punkt der Selbständigkeit liegt eindeutig auf der tatsächlichen Verausga bung der eigenen Arbeitskraft. Was ein kapitalistisches Unternehmen jedoch zu einem Unternehmen macht, ist nicht die selbständige Ver marktung der eigenen Arbeitskraft, nicht die „innovativ-schöpferische“ Funktion (Schumpeter), sondern der (innovative) Einsatz von Kapital in Form von Produktionsmitteln und Geld zur Aneignung fremder Arbeitskraft.37 Letzteres innerhalb eines Prozesses der Vergesellschaftung der Arbeit, ist das besondere kapitalistischer Unternehmen im Gegensatz zur individuellen kleinen Warenproduktion. Sofern die Selbständigen tatsächlich eine eigene Ware von der Konzeption bis zur Fertigung produzieren, nur mittels ihrer eigenen Arbeitskraft und der dafür notwendigen Produktionsmittel, entspre chen sie eben dieser kleinen (im engeren Sinne) nicht-kapitalistischen Warenproduktion für den Markt. Sofern sie nicht über Produktionsmittel verfügen, kein eigenes Produkt herstellen, vielmehr ihre selbständige Arbeit bei unterschiedlichen Auftraggebern anbieten und gegen Hono rar verkaufen, tun sie nichts anderes als ein ungesichertes Proletariat in vergangen Zeiten immer schon tat – natürlich unter veränderten Bedin gungen. Sie sind dabei nicht mehr oder weniger abhängig von den Auf traggebern als es die „Arbeitnehmer“ von den „Arbeitgebern“ sind, nur dass sie in der Regel mehrere Auftraggeber haben müssen, schon um nicht als „Scheinselbständige“ ihren legalen Status zu verlieren. Nur allzu oft muss real von abhängiger Selbständigkeit gesprochen werden. Es gilt also die Solo-Selbständigen aus dem Diskurs über eine Gesellschaft von Unternehmern heraus zu nehmen sowie in arbeitsorientierte For schungen und Politiken zu integrieren. Im Englischen funktioniert dieses Heranrücken an den Unternehmerdiskurs nicht so einfach: dort heißt es self-employed oder independent workers.
Joseph Schumpeter (1883– 1950) war ein östr. Nationalökonom und Politiker. Laut Schumpeter gilt, „[...] dass jemand grundsätzlich nur Unternehmer ist, wenn er eine neue Kombination durchsetzt.“ In diesem Zusammenhang auch Begriff der „schöpferischer Zerstörung“.
37. Zu diesem Zweck wäre ein wachsender Minimalumfang von Kapital notwendig (MEW 23, 380f), um Personal zu beschäftigen, fremde Arbeitskraft anzueignen, und in der Konkurrenz mit anderen Unternehmen mitzuhalten: „Wachsen oder untergehen“, steht an der Schwelle zur wirklichen Selbständigkeit im unternehmerischen Sinne geschrieben. Klasse der abhängig Beschäftigten die keine eigenen Produktionsmittel besitzen und ihre Arbeitskraft verkaufen müssen (lt. Marx).
Selbständige als Proletaroide oder Prekäre? In den 1920er Jahren versuchten Soziologen wie Werner Sombart und Theodor Geiger die Gruppe der selbständig Arbeitenden als Lage jen seits von Proletariat und kapitalistischen sowie Beamtenbürgertum zu fassen und fanden dafür den Begriff der Proletaroiden – keine Klasse, aber auch keine konstituierte Schicht mit gemeinsamen kulturellen Habitus und Lebensweise; für Hans Speier waren die neuen Selbständi gen eine Schicht Deklassierter aus der Mittelklasse, „ohne Identität“ (1933, 52). Nun kommt es darauf an, was für ein Begriff von Proletariat ange legt wird, um den Proletaroiden zu bestimmen. Wenn, wie bei besagten Soziologen, Deklassierung und Verarmung im Vordergrund stehen, also das Proletariat des 19. Jh., greift der Begriff sicher zu kurz, denn es geht zu Beginn des 21. Jh. nicht um einen schlichten Verelendungsdiskurs. Wird die Arbeiterklasse des etablierten Fordismus als Vergleichsmaß stab herangezogen, kann von einem „Rückfall“ der Selbständigen in diese Lage nicht die Rede sein, denn das wäre für viele aus heutiger Sicht eher ein Statusgewinn, nämlich der eines festen Arbeitsverhältnis ses mit hohen Formalisierungsgrad und umfangreichen, sozialen Rech ten (die allerdings unter Druck stehen und zurückgedrängt werden). Tatsächlich gewinnt unter den selbständig Arbeitenden die Zuflucht zur Lohnarbeit wieder an Attraktivität (Acs u.a. 2004). Insbesondere die Krise der New Economy war für viele eine lehrreiche Erfahrung in Hinblick auf den Nutzen eines funktionierenden Sozialstaates und kollektiver Interessenvertretung (vgl. Candeias 2004, 199; Boes/Trinks 2006; Ehrenreich 2006, 247). Was sich abzeichnet, ist die Konvergenz der Lage der Solo- Selbständigen mit der Lage der prekär Beschäftigten, gerade bei einer wachsenden Gruppe, die periodisch zwischen Arbeitslosigkeit, Selbstän digkeit, befristeter Lohnarbeit hin und her wechselt. Bei jenen, die im Jahresdurchschnitt nicht über dem Brutto-Durchschnittseinkommen liegen, kann aufgrund der wesentlich geringeren Nettoquote mit gewis ser Berechtigung von prekär Selbständigen gesprochen werden, unabhän gig davon, ob sie sich auf diesem Niveau einrichten können, in die Armut abgleiten oder es tatsächlich schaffen ihr Einkommen zu stabilisieren und in die Riege der erfolgreichen „Selbstmanager“ (Brinkmann u.a. 2006, 57) aufzusteigen. In vielen Fällen müssen Tätigkeiten weit unter dem eigenen Qualifikationsniveau ausgeübt werden, dies trifft beson ders Migranten. Auch an dieser Stelle tut sich ein Unverhältnis auf: Zwischen der individuellen Investition in und Anstrengung beim Wis sens- und Qualifikationserwerb einerseits, und den Möglichkeiten zur Realisierung dieses Potenzials sowie seiner finanziellen wie symboli schen Anerkennung andererseits (vgl. Ehrenreich 2006). Subjektiv kann dieses Unverhältnis eine schwere Verunsicherung der Handlungsfähig
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Werner Sombart (1863– 1941) war ein dt. Soziologe und Volkswirt. Theodor Geiger (1891–1952) war ein dt.-dän. Soziologe und Begründer des Konzeptes der sozialen Schichtung.
Nach 1. WK etablierte Form industrieller Massenproduktion (Fließband) und -konsumtion.
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keit nach sich ziehen. Es zeichnet sich ab, dass eine kleine Gruppe der Solo-Selbständigen in die Schicht der höheren Einkommen aufsteigen kann, während eine wesentlich größerer Gruppe im Prekariat hängen bleibt und manche in neue Armut abrutschen. 3. Interessen und prekäre Gemeinsamkeiten
Selbständige zwischen Unternehmergeist und Prekarität
Dimensionen der Prekarisierung Prekarisierung kann allgemein gefasst werden als Resultat von Prozes sen, die Arbeitsverhältnisse oder Formen der abhängigen Selbständig keit ohne existenzsicherndes Einkommen hervorbringen; mit Tätigkeiten verbunden sind, denen bestimmte Kriterien qualifizierter Arbeit abge sprochen werden, mit entsprechend geringer oder mangelnder gesell schaftlicher Anerkennung; die zur tendenziellen Ausgliederung aus be trieblichen bzw. kooperativen Strukturen, zur raum-zeitlichen Isolierung und Zerstörung von Sozialkontakten führen; mit einem tendenziell geringeren rechtlichen Status (arbeitsrechtlich und z. T. staatsbürgerschaftlich) verbunden sind, und geringe oder keine Ansprü che auf Sozialleistungen zur Folge haben (Lohnersatzleistungen, Kran kenversicherung oder Rente). Es geht auch um Prozesse, die mit der Erosion öffentlicher Dienstleistungen als allgemeinen Bedingungen sozia ler und individueller Reproduktion verbunden sind (und schon gar nicht mit erhöhten Reproduktionsanforderungen der neuen Produktionsweise Schritt halten, etwa angesichts steigender Qualifikationsanforderungen oder hoher psycho-physischer Beanspruchung); die insgesamt längerfris tige Planungssicherheit für den eigenen Lebensentwurf ausschließen, und schließlich eine massive Verunsicherung oder Schwächung der individu ellen und damit auch kollektiven Handlungsfähigkeit bewirken. Genau an der unterschiedlichen Kombination dieser Dimensionen, die immer größere Gruppen treffen, aber in unterschiedlicher Weise, zeigt sich die Vielfältigkeit von Prekarisierungsprozessen. Hinzu treten Spaltungslinien entlang von Klassenzugehörigkeit, geschlechtlichen, ethnisch, nationalen oder anderen Zuschreibungen. Der Prozess betrifft nicht bestimmte Randgruppen, sondern ist eine allgemeine gesellschaft liche Entwicklung: Jeder spürt den Druck der Prekarisierung, viele wissen von der Möglichkeit, dass es sie treffen kann. Dieses Wissen wird aber nicht zum Verständnis einer allgemeinen, gemeinsamen Lage; trotz konvergierender sozialer Lagen kann keineswegs von einer sozialen Klasse gesprochen werden, als vielmehr von sich neu konstituierenden Klassenfraktionen (ausführlich Candeias 2007). „Vielmehr setzt der herrschende öffentliche Diskurs alles ein“, um diese Verallgemeinerung „zu verschleiern“ (Gorz 2000, 76).
Verallgemeinerung von Interessen Doch es bestehen durchaus Chancen für selbständig Arbeitende sich als Teil eines neu entstehenden Prekariats zu organisieren, kollektiv ihre Interessen zu formulieren und durchzusetzen. In der Perspektive der Gewinnung von Handlungsfähigkeit geht es darum, aus Widerspruchs konstellationen, in denen sich alle bewegen müssen, eine Verallgemeine rung von Interessen zu erarbeiten sowie spezifische und allgemeine Interessen zu verbinden: Am stärksten äußern die Solo-Selbständigen Unzufriedenheit über die eingeschränkten Möglichkeiten, „gute Arbeit“ zu leisten. Es kommt zum Widerspruch zwischen dem Versprechen der Autonomie und Selbstor ganisation und den realen Möglichkeiten ihrer freien Entfaltung. Der enorme Zeit- und Kostendruck führt auch dazu, dass die Qualität der geleisteten Dienstleistung leidet, was unmittelbar zu einer Verletzungen des Gebrauchswertstolzes der eigenen Arbeitskraft führt. Dies sind Probleme, die sich in wachsendem Maße auch der abhängig beschäftig ten Programmiererin stellen wie dem prekären Putzmann (vgl. Candeias 2006, 20). Ein erstes verallgemeinerbares Moment ist also der Wunsch nach Sinn gebenden Arbeitsbedingungen und Anerkennung der eigenen Arbeit als qualitativ gute und gesellschaftlich nützliche sowie Ausweitung der Autonomie (das Wie und Was der Produktion betreffend). Ein weiterer Punkt ist der Widerspruch zwischen der formal freien Einteilung der Arbeitszeit und gewonnener Flexibilität und der realen Unflexibilität durch Entgrenzung der Arbeitszeit, die zu Arbeitssucht, Überausbeutung und burn out-Syndromen führt – Probleme, wie sie aus den Sphären des hoch-qualifizierten, abhängig beschäftigten Kybertari ats 38 mit Vertrauensarbeitszeit ebenso bekannt sind, wie in den Sphären des Niedriglohn, in denen oft mehrere (Mini)Jobs kombiniert werden müssen, um über die Runden zu kommen, was letztlich zur psychischen und physischen Überlastung führt. Ein zweites verallgemeinerbares Moment ist also das Interesse an einer Gewährleistung der Reproduktion und Entwicklung der eigenen Arbeitskraft. Ein großer Unsicherheitsfaktor sind die schwer zu kalkulierenden Einkommen aus selbständiger Arbeit. Unklar ist, wie die Existenz bei Krankheit oder ausbleibenden Aufträgen bestritten werden soll. Unter solchen Bedingungen sind langfristige Perspektiven oder Familienpla nung kaum zu entwickeln. Auch hoch qualifizierte abhängige, aber kurzfristig beschäftigte Projektarbeiter verdienen – wie Solo-Selbstän dige – z. T. (sehr) gut, aber unregelmäßig. Ohne ausgewiesene Spezial kenntnisse oder angesichts schnell veralternder Wissensbestände verfü gen sie ebenfalls nicht über ein kalkulierbares, regelmäßiges Einkommen – Abstürze drohen. Bei den prekären Niedriglöhnern und working poor ist ohnehin nicht von armutsfesten Einkommen auszuge hen. Ein drittes verallgemeinerbares Moment ist also das geteilte Interesse
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38. Das Kybertariat kann im Anschluss an Ursula Huws (2002) als eine Gruppe hochqualifizierter, flexibler, in Projektarbeit beschäftigter Individuen bezeichnet werden, die den alten Habitus des Arbeiters abgelegt haben, gewerkschaftlichen Organisationsstrukturen skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen und deren Tätigkeiten durch die Bedienung/Beherrschung von I&K-Technologien geprägt sind (vgl. Candeias 2001, 162ff.).
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an existenzsichernden Einkommen, an der Absicherung diskontinuierlicher Erwerbsverläufe und der Planbarkeit des eigenen Lebensentwurfs. Es geht dabei um die Reintegration von Prekariern und prekären Selbständigen in die Sozialsysteme sowie – als viertes verallgemeinerbares Moment – um bezahlbare Krankenkassenbeiträge, Zugang zur Arbeits losen – bzw. dann Auftragslosenversicherung, allgemeiner Rentenversi cherung/Bürgerversicherung (vgl. Schweden).39 Hinzu kommt ein besonderes Interesse an besserem Rechtsschutz gegenüber säumigen Auftraggebern (auch für illegalisierte Migranten, die ihren Lohn nicht ausbezahlt bekommen, oder für abhängig Beschäftigte im Falle von Insolvenzen, wie für Mini-Jobber ohne Vertrag), die Verbesserung des Zugangs zu Kapital durch günstige Mikrokredite und schließlich die Umschichtung der Steuerlast von den niedrigen Einkommen der kleinen Selbständigen (und der Lohnarbeiter) zulasten der großen Vermögen. Entgrenzte Arbeitszeiten, erzwungene Flexibilität, um ja keinen Auftrag zu verlieren, die Ausgliederung aus kooperativen Strukturen, drängen andere Lebensbereiche in den Hintergrund, führen zum Verlust sozialer Kontakte und untergraben die notwendigen Reproduktionsar beiten in Haushalt, Kindererziehung etc.. Dies ist für viele abhängig Beschäftigte, v.a. für Prekäre, die mehrere Jobs haben, oder nachts arbeiten müssen – insbesondere aber nicht nur für Frauen – schon lange ein Problem.40 Ein fünftes verallgemeinerbares Moment ist schließlich das gemeinsame Interesse an einer „Vereinbarkeit“ von Erwerbs- und Reproduktionsarbeit, Reorganisation der Arbeit und einer kostengünstigen sozialen Infrastruktur. Die Debatten um Prekarisierung können für eine Neuauflage einer Debatte um gesellschaftlich notwendige Arbeit genutzt werden, die auch den Blick auf die Sphäre der Reproduktionsarbeit lenkt: auf Famili enverhältnisse, Arbeit im Haushalt, Kindererziehung, Sorge und Pflege, aber auch auf soziale, ökologische, kulturelle und politische Arbeit. Letztlich geht es um die (Dekommodifizierung und) Neuverteilung aller gesellschaftlich notwendigen Arbeit für Alle und die transnationale Verall gemeinerung sozialer Rechte. Prekäre Bewegungen und Organisierung Zum Abschluss möchte ich kurz eingehen auf einige spezifische Ansätze zur Organisierung von prekär Selbständigen, deren Leitbild vielleicht als Perspektive der Selbstorganisation der Arbeit zu bezeichnen ist (vgl. aus führlich Candeias 2004, 2006 u. Candeias/Nowak 2005). Wie überall in der etablierten Forschung über Prekarisierung und soziale Ungleichheit werden auch mit Bezug auf die prekären Selbstän digen nur die Tendenzen der sozialen Desintegration, der Verarmung, der Entpolitisierung und Resignation betont, manchmal auch Hinweise
39. Um keine Spaltungen zwischen working poor, Festangestellten, Solo‑Selbständigen und „Unterklasse“ aufkommen zu lassen, sollte die Erhöhung von Mindestlöhnen und stabiler Beschäftigung mit der Forderung nach vertraglichen und tariflichen Mindeststandards für selbständige und abhängige Arbeit und einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle verbunden werden.
40. Eine Umfrage des „Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung“ ergab, dass die Mehrheit der Deutschen – insbesondere Männer – sich kürzere Arbeitszeiten wünscht (FR v. 5.4.07, 11). Siehe dazu auch Die Faulen und die Fleißigen von Johanna Riegler in dieser Publikation.
auf eine reaktive Hinwendung deklassierter Mittelschichtler und Klein bürger zu rechtsextremen Einstellungen (zu den theoretischen Implika tionen vgl. Candeias 2006 u. 2007). Seltener wird die Eigenaktivität von Solo-Selbständigen und ihr kreativer Umgang mit widersprüchlichen Verhältnissen ins Zentrum gestellt, an die in widerständiger Perspektive anzuknüpfen wäre. Der größere Grad an Autonomie und Selbstorganisa tion der selbständigen Arbeit trägt auch zu einer Haltung bei, die weni ger Akzeptanz gegenüber Fremdbestimmung, Kontrolle oder Regeln transportiert (Bologna 2006, 15), auf demokratische Mitsprache und Selbstbestimmung setzt und Erfahrungen aus einer weniger entfremde ten Arbeits- und Lebensweise mitbringt. Die Prekarisierung der fordistischen Normalarbeitsverhältnisse und die Produktion der Solo-Selbständigen haben dabei einen „neuen Frei heitssinn geschaffen“ (Bologna 2006, 23), bringen das Thema der Demo kratisierung wieder zurück in die Produktionssphäre, Fragen nach der Sinnhaftigkeit der spezifischen Tätigkeit und beziehen daraus eine starke, auf gesellschaftlichen Sinn orientierte Identität. Ebenso werden die Erneuerung des Sozialstaates jenseits von Abbau oder Verteidigung des Alten und die Neudefinition sozialer Rechte thematisiert. Dazu bedarf es der Orte kollektiver Aktivität – da dies nicht mehr direkt am Arbeitsplatz geschehen kann, braucht es neue soziale Zentren. Das erfordert Zeit und Arbeitskraft, also einen Bruch mit dem Zwang zu permanenter Mehrarbeit und Überausbeutung. Ein Teil eben jener prekären Selbständigen wirken besonders aktiv am Aufbau einer globalisierungskritischen „Bewegung der Bewegungen“ mit. Künstler und Medienschaffende arbeiten mit Programmierern und Sozialwissenschaftlern transnational an einer Erneuerung der Ästhetik des Protest, an neuen Vermittlungsformen der Kritik, an der Verbindung von politischer, künstlerischer und technologischer Praxis in vielfältigen Gruppen und Organisation: von den Euromayday-Paraden, über Grup pen, die Protest, Reflexion, Service und Performance verbinden, wie den Precarias a la dervia oder der Migrantenorganisation MAIZ, die auch ganz irdische Hilfestellung bei Arbeitsstreitigkeiten, Aufenthaltsrecht oder Gewalterfahrung anbieten. In der Regel unterscheiden sich diese Formen der Organisation deutlich von gewerkschaftlichen Organisatio nen, suchen jedoch den Kontakt zu ihnen, um Spaltungen nicht zu vertiefen (vgl. Candeias/Nowak 2005; NGBK 2006; Nowak 2007). Diese prekären Bewegungen haben z. B. in Italien – dem Ausgangs punkt des Euromaydays und ironischem Wirkungsort des San Preca rio – sogar eine neue Gewerkschaftsbewegung an den Start gebracht. Kleine Gruppen der prekären Selbständigen, CoCoCos genannt,41 insbe sondere Frauen, haben ihre informellen Strukturen in Zusammenarbeit mit der kommunistischen CGIL 1998 in die Gründung einer eigenen Gewerkschaft überführt, der NIDIL (Neue Identität der Arbeit). Mittler weile hat CGIL-NIDIL bereits 22.000 Mitglieder, ist landesweit organi
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CGIL: Confederazione Generale Italiana del Lavoro (ital. Gewerkschaftsbund) San Precario: Figur, die von ital. Aktivisten erfunden wurde und als „Schutzheiliger“ aller von Prekarisierung Betroffenen fungieren soll. 41. Collaborazione coordinata e continuativa, übersetzt „koordinierte und kontinuierliche Zusammenarbeit“, vergleichbar in etwa mit „Scheinselbständigkeit“ bzw. abhängiger Selbständigkeit.
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siert und hat mit rund 30 % den stärksten Mitgliederzuwachs von allen Organisationen innerhalb der CGIL. 54 % sind unter 40 Jahre alt, mehr als die Hälfte sind Frauen. Die CGIL-NIDIL will „gleichermaßen Dienst leitungen bieten als auch Klassenorganisation für atypische ArbeiterIn nen sein“ (Choi 2004, 432). Sie folgt dem Grundsatz: Lohnarbeit ist Lohnarbeit, ob atypisch oder nicht – der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit besteht fort und gegen diesen müsse sich gewerkschaftliches Handeln richten (ebd.). Erforderlich sei dabei, so der (ehemalige) Vorsit zende Emilio Viafora, eine stark individualistische Orientierung zu überwinden, eine gemeinschaftliche Kultur der Kooperation zu entwi ckeln, um die eigenen Bedingungen zu verbessern, ohne den Wunsch nach weitgehender Selbstbestimmung über die eigene Arbeits- und Lebensweise zu unterminieren (vgl. Candeias/Nowak 2005). Die NIDIL bietet Zugang zu rechtlicher Unterstützung, zu finanzieller Unterstüt zung durch günstige Kreditprogramme und Bankenkooperation sowie Übernahme der Bürgschaften, Zugang zu bezahlbarer Sozialversiche rung durch Auflage spezieller Policen in Zusammenarbeit mit Versiche rung, sowie allgemeine Beratung etwa bei der Erstellung von Busi ness-Plänen, oder das Angebot von Weiterbildung. Inzwischen konnten 120.000 „individuelle Tarifverträge“ zwischen Solo-Selbständigen, vertreten durch die Gewerkschaft, und Unternehmen geschlossen werden, damit soll ein „arbeitnehmer-ähnlicher“ Status erreicht werden. Die Erarbeitung von Mindeststandardkatalogen dient als Orientierung und soll öffentlich bewertet werden. Ähnlich dem deutschen Tariftreue gesetz sollen für Unternehmen, die besonders negativ beurteilt werden, Sanktionen ausgesprochen bzw. keine öffentlichen Aufträge vergeben werden. Daraus ist ein national gültiger Tarifvertrag entstanden, der auch die Integration der Prekären in das System der Sozialversicherun gen und 4 % der Tarifsumme für Investitionen in die Weiterbildung der Betreffenden vorsieht. Auch der sozialistische und der christliche Ge werkschaftsdachverband haben inzwischen eigene Gewerkschafts strukturen für die Selbständigen aufgebaut (Choi 2004, 435ff.; Postiglio ne 2006; Giustozzi/Trizio 2007).42 Gefragt sind also zwei Dinge: die gruppen-spezifische Organisierung in sozialen oder gewerkschaftlichen Netzwerken sowie die gruppen-über greifende Assoziation als Teil des entstehenden Prekariats. Unter dem Titel „Die neuen Solo-Selbständigen zwischen Unternehmergeist und Prekarität“ zuerst ungekürzt erschienen in: Prokla 150, 38. Jg. 2008.
42. In Deutschland sind es eher noch zaghafte Versuche von Verdi mit Projekten wie Connex (v.a. im IT-Bereich) und dem Selbständigen-Portal Mediafon, die Angebote von Selbständigen für Selbständige mit gewerkschaftlicher Organisierung zu verknüpfen suchen, deren Erfahrungen noch auszuwerten sind.
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Kreativer Kapitalismus
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Johanna Riegler stellt die Fixierung unserer Arbeitsgesellschaft – mehr Arbeit würde mehr Wohlstand bringen – auf den Kopf. Sie zeigt, wie u.a. die Kirchen die Arbeit letztlich zum Selbstzweck des modernen Menschen und sinnentleert werden ließen. Sie thematisiert außerdem, dass eine Teilaufhebung der Entfremdung, also die Identifikation mit dem Arbeitsplatz, Selbstverwirklichung und Flexibilisierung, dem Kapitalismus durchaus dienlich sein kann.
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5 Die Faulen und die FleiĂ&#x;igen
Die Faulen und die FleiĂ&#x;igen
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Johanna Riegler ist Kulturund Sozialanthropologin; Forschungsfragen: Theoretische Fragenstellungen zum Kultur-, Identitäts- und Globalisierungsbegriff; Kulturelle Implikationen von Gen- und Reproduktionstechnologien sowie Informationstechnologien; Postsozialismus; Transformation des industriellen Arbeitsparadigmas.
JOHANNA RIEGLER
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Die Faulen und die Fleißigen
Konfliktlinien der Arbeitsgesellschaft
Einleitung 1921 gibt der Künstler Kasimir Malewitsch einen kurzen Essay mit dem
Titel „Die Faulheit als tatsächliche Wahrheit des Menschen“ heraus. Er beschreibt darin die Philosophie der sozialistischen Idee als ein Bestre ben, alle Menschen – und nicht nur wie im Kapitalismus einige wenige – in den erhabenen Zustand der Faulheit zu bringen: „Auf mich machte es stets einen befremdlichen Eindruck, wenn ich etwas Missbilligendes über die Faulheitshandlung von einem Staatsoder Familienmitglied hörte oder geschrieben sah. Faulheit ist die Mutter aller Laster– so brandmarkte die gesamte Menschheit und alle Völker diese besondere menschliche Tat. Ich war immer der Meinung, dass diese Anklage der Faulheit ungerecht ist. Warum wurde die Arbeit so gepriesen und auf den Thron des Ruhmes und der Lobpreisung gesetzt, die Faulheit dagegen an den Pranger ge stellt, alle Faulen mit Schmach und dem Brandmahl des Lasters, der Mutter der Faulheit, bedeckt, jeder Arbeitende aber mit Ruhm und Gaben bedacht und gefeiert. Mir kam es immer so vor, als müsste es gerade umgekehrt sein: Die Arbeit muss verflucht werden, wie es auch die Legenden vom Paradies überliefern, die Faulheit aber sollte das sein, wonach der Mensch zu streben hat. Doch im wirklichen Leben hat sich alles ganz anders entwickelt“ (Malewitsch 1921). Auch heute noch müssen wir Malewitsch zustimmen, „im wirklichen Leben“ hat sich das mit der Bewertung von Faulheit und Arbeit „ganz anders entwickelt“. Selbst im Sozialismus wurde es nichts mit der Annä herung an die Faulheit. 1937 wurde stattdessen unter Stalin der biblische Spruch „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen“ in die Staats verfassung der Sowjetunion aufgenommen (Ribolits 2000). Hart und viel zu arbeiten, ist nach wie vor unweigerlich ein Lob. Faul zu sein wird gebrandmarkt, sofort mit Passivität und Verantwor tungslosigkeit gleichgesetzt oder gar als psychische Krankheit einge stuft. Zweifel daran, dass Arbeit wünschenswert, sinn- und wertvoll ist, wagt fast niemand auszusprechen, auch wenn die einzig wirklich boo mende Branche derzeit die Beratung, Beschulung und Überwachung der
Kasimir Malewitsch (1879– 1935) war Maler und Hauptvertreter der Russischen Avantgarde, Wegbereiter des Konstruktivismus und Begründer des Suprematismus.
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Arbeitslosen ist. Das heißt arbeiten, damit andere Menschen Arbeit finden oder zumindest beschäftigt sind. Der reine Selbstzweck der Arbeit geht heutzutage weit über ökonomische Notwendigkeiten hinaus.
Die Faulen und die Fleißigen
„Hauptsache Arbeit“ heißt es, und das „Recht auf Faulheit“, das Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Karl Marx, noch einforderte, klingt verdächtiger denn je. Sein Buch versuchte das 1848 geforderte Recht auf Arbeit zu relativieren und gegen die aufstrebende Huldigung der Arbeit einzutreten: „Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht, eine Sucht, die das in der modernen Gesellschaft herrschende Einzel- und Massenelend zur Folge hat. Es ist die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht. Statt gegen diese geistige Verirrung anzukämpfen, haben die Priester, die Öko nomen und die Moralisten die Arbeit heilig gesprochen. Blinde, und beschränkte Menschen, haben sie weiser sein wollen als ihr Gott; schwache und unwürdige Geschöpfe, haben sie das, was ihr Gott verflucht hat, wiederum zu Ehren zu bringen gesucht. Ich, der ich weder Christ noch Ökonom, noch Moralist zu sein behaupte, ich appelliere von ihrem Spruch an den ihres Gottes, von den Vorschrif ten ihrer religiösen, ökonomischen oder freidenkerischen Moral an die schauerlichen Konsequenzen der Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft“ (Lafargue zit. nach Ribolits 2000, 121). Spöttisch richtet Lafargue seinen Text gegen die Arbeitsmoral der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Mit Entsetzten hält er fest, dass sich diese geistige Verwirrung auch schon in der Arbeiterklasse ausbreitet. Lafargue kann in der Arbeit – noch dazu in der fremdbe stimmten Lohnarbeit – nichts Positives und Heroisches sehen. Lafargue und Malewitsch haben sich nicht durchgesetzt mit ihrer Arbeitsskepsis und Faulheitsliebe. Der Begriff der Arbeit durchdringt moderne industrielle Gesellschaften zur Gänze und nimmt eine zentrale Stellung im Normen- und Wertgefüge ein. Individuen werden nach ihrer Arbeit beurteilt und formen ihr Selbstverständnis daraus. Die berufliche Stellung, der Arbeitsort, die geleisteten Wochenstunden und das Ein kommen sind entscheidende gesellschaftliche Klassifikationskriterien. Arbeit wird als erfüllend, moralisch erwünscht und geistig aufbauend angesehen. Menschen, die arbeitslos sind, werden als außerhalb des Lebensstroms stehend betrachtet, die mit allen Mitteln wieder einge bunden werden müssen. Die Arbeit strukturiert die Zeit des Alltags, den Tagesverlauf und den gesamten Lebenslauf. Bildungseinrichtungen werden fast ausschließlich danach eingestuft, welche Arbeitsmöglich keiten sie für die Absolventinnen und Absolventen erschließen können.
Paul Lafargue (1842–1911) war franz. Sozialist und Arzt.
Arbeit ist nicht nur für die Mehrheit der Bevölkerung unabdingbare materielle Grundlage, sondern auch ideell der zentrale Bezugspunkt menschlicher Existenz. Wir definieren uns und andere über Arbeit. Doch die weitverbreitete Überzeugung, dass die Gesellschaft die gesam te Arbeit braucht, die jeder und jede fähig ist zu leisten, und dass es zwangsläufig zu mehr Wohlstand führt, wenn mehr Menschen härter und länger arbeiten, ist nicht mehr richtig. Verbesserte Technologien und hohe Produktivität haben das Basisparadigma außer Kraft gesetzt. Damit ergibt sich eine äußerst kritische Position für den gesellschaftli chen Zusammenhang und für die/den Einzelne/n. Unser erstrangiges Vergesellschaftungsprinzip greift nicht mehr, und sehr viele Individuen sehen sich einer massiven Entwertung und der Entlassung ihrer Ar beitskraft ausgesetzt. Trotz einer nicht mehr verdrängbaren Krise der Arbeitsgesellschaft werden kaum gesellschaftspolitische Lösungen angedacht, die jenseits des Arbeitsparadigmas liegen. Darin liegt ein Gutteil der jetzigen gesell schaftspolitischen Repressions- und Verhärtungsprozesse (rigide staatli che Sparprogramme in den Bereichen Bildung, öffentliche Infrastruktur und Wohlfahrt, Verhetzung und Verunglimpfung Arbeitsloser und Sozialhilfeempfänger, Feindlichkeit und Ausgrenzung gegenüber Migranten, Ressentiment …) begründet.
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Mein Beitrag versucht die derzeitige Paralysierung der Arbeitsgesell schaft näher zu beleuchten. Nach einer historischen und auch kulturel len Relativierung des modernen Arbeitsbegriffes soll am Beispiel klassi scher Widersprüche und Bruchlinien der Arbeitsgesellschaft zumindest ein Nachdenken über alternative Modelle menschlicher Vergesellschaf tung angeregt werden. Es stellt sich nämlich die Frage, warum die ehemals geschmähte und verfluchte Arbeit zu einer so selbstverständlichen, alles umspan nenden Lebensform wurde. Und es stellt sich weiters die Frage, warum das Recht auf Arbeit und die Aufrechterhaltung von Beschäftigung um jeden Preis soviel wichtiger und angemessener behandelt werden als das Recht auf ein gutes Leben in sozial gerechter Wohlversorgtheit und politischer Freiheit. Historische und kulturelle Relativierung des Arbeitsbegriffes Bereits 1958 charakterisiert Hannah Arendt in ihrer philosophischen Studie Vita activa oder Vom tätigen Leben die Gesellschaft des 20. Jahr hunderts als eine reine „Arbeitsgesellschaft“. Sie ist gekennzeichnet durch eine Ausdehnung des Arbeitsprinzips auf alle gesellschaftliche Lebens- und Gestaltungsprozesse. Arendt (1981) unterscheidet in ihrer Analyse drei Bereiche bzw. Formen menschlicher Tätigkeiten, abgese hen vom Denken: Arbeiten, Herstellen und Handeln. Arbeit umfasst bei
Hannah Arendt (1906–75) war eine dt.-US-amerikanische politische Theoretikerin und Publizistin.
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ihr nur jene Tätigkeiten, die notwendig sind, um mit Lebensmitteln und Verbrauchsgütern versorgt zu sein, die das Weiterleben der Individuen sichern und verbessern. Herstellen ist ihrer Definition nach die Produktion von künstlichen Gütern, die das menschliche Leben überdauern und dem menschlichen Leben Dauer und Bestand geben. Diese Güter werden gebraucht und nicht verbraucht. Das Handeln ist für Arendt die bedeutendste Tätigkeit und voll zieht sich in der Öffentlichkeit zwischen den Menschen, schafft die Bedingungen für die Kontinuität der Generationen und die Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Es umfasst Reden und Aus tausch im zwischenmenschlichen Raum und die Frage nach dem guten Leben genauso wie alle politischen Entscheidungsebenen. Handeln ist für Arendt die spezifische menschliche Form der Tätigkeit – und keines wegs das Arbeiten oder Herstellen. Das Denken ist für Arendt allerdings die höchste und reinste Tätigkeit des Menschen. Die Arbeitsgesellschaft ist ihrer Meinung nach die Folge des neu zeitlichen Verdrängens des Handelns im öffentlichen Raum. Aus dem politischen Raum wurde ein großes ökonomisches Haushaltswesen (Arendt 1981, 37). Damit einher geht die völlige Nivellierung der Unter schiede zwischen Arbeiten, Herstellen und Handeln. Arendt kritisiert die Glorifizierung der Arbeit vor allem deshalb, weil damit eine Reduzie rung des menschlichen Lebens auf die bloße Sicherung der Lebensnot wendigkeiten und eines ausreichenden Lebensstandards erfolgt. Ihr fehlt der wichtige Bezug zum menschlichen Handeln und zur menschli chen Kommunikation in der Sphäre der Öffentlichkeit. Das Verdienst von Hannah Arendt ist es Tätigkeiten von Menschen zu benennen und zu differenzieren und nicht umstandslos alles Tun und Lassen als Arbeit oder Produktion zu bezeichnen. Ihre Differenzierung rührt einerseits aus der philosophischen Betrachtungsweise und ande rerseits aus der konkreten Analyse der historischen Veränderung der Bewertung menschlicher Tätigkeiten. Denn das moderne Arbeitspara digma und die hohe Wertschätzung von Arbeit (wobei damit vorder gründig Erwerbsarbeit gemeint ist), sind nämlich keineswegs überhisto risch und universell gültig. Den Menschen über Arbeit zu definieren und die Arbeit als das zentrale Vergesellschaftungsmoment anzusehen, ist keine anthropologische und historische Konstante. Die Glorifizierung der Arbeit ist ein junges Phänomen, das in der Neu zeit langsam seinen Anfang nahm und sich zunehmend mit dem Auf kommen des Frühkapitalismus und der Industrialisierung verdichtete. Während in der Antike das beschauliche Leben des Philosophen („vita contemplativa“) und das politische Handeln im Mittelpunkt der positi ven Bewertungen standen, galten Arbeiten und Herstellen als niedrige Tätigkeiten. Arbeit im heutigen Sinn war kein Geschäft für die Helden
Homers und Vergils. Arbeit im Sinne einer volkswirtschaftlichen Be stimmungsgröße, als Maßstab für gesellschaftliche oder ökonomische Wertbildung oder als menschliche Selbstentfaltung kommt in der klassi schen Antike schlicht nicht vor. Arbeiten und Herstellen galten keines wegs als Ausdruck des menschlichen Wesens, sondern ganz im Gegen teil sogar als hinderlich für das „wahre Menschsein“. Ein schöpferischer Begriff von Arbeit und Herstellen war der Antike fremd, denn Sklaverei und Arbeit bildeten Synonyme (vgl. Veit 1994; Arendt 1981). Bis ins Mittelalter hat sich eine negative Einschätzung von Arbeit erhalten. Auch für das Christentum ist Arbeit per se keine verdienstvol le Sache, sondern der Sünden Lohn und Strafe, also grundsätzlich mit Entfremdung und Schuld behaftet. Der starke Einfluss der Kirche auf alle Lebensbereiche wirkte sich auch maßgeblich auf die Arbeitszeit aus. An Sonn- und Feiertagen herrschte striktes Arbeitsverbot, denn die Gottesverehrung und religiös motivier te Muße waren wichtiger als Arbeit. Die Zahl der Fest- und Feiertage zu Ehren der Heiligen war ungleich höher als heute. In England, wo am härtesten gearbeitet wurde, machten die Feiertage ungefähr ein Drittel des Jahres aus; in Frankreich und Spanien ca. 5 Monate im Jahr (Som bart 1987, 37). Die mittelalterlichen Handwerksverbände der Zünfte beschränkten die Konkurrenz untereinander, indem sie Mehrarbeit unter Strafe stell ten. Die Arbeit war ein Mittel zum Lebensunterhalt und noch nicht Zweck des Lebens geworden, sie diente in erster Linie der Eigenversor gung der Produzenten, da Warenherstellung für den Markt höchstens ein Zuverdienst war. Die Bedürfnisse in dieser Ökonomie richteten sich nach traditionellen Vorgaben, daher gab es keine Veranlassung zur Steigerung der Arbeit. Der Antrieb zur Mehrarbeit fehlte, und persönli ches Gewinnstreben war auch aus religiösen Gründen verachtet. Sofern Güter auf den Markt zum Verkauf angeboten wurden, galt das „Prinzip des gerechten Preises“, der sich an der standesgemäßen Versorgung für den Verkäufer ausrichtete. Der Erlös sollte im Grunde nur die bestehen de Lebensform sicherstellen. Denn eng verbunden mit dem Gebot, die dem Menschen zugewiesene Pflicht innerhalb der vorgegebenen sozialen Ordnung zu erfüllen, war das Verbot des Gewinnstrebens. Der uns heute vollkommen selbstverständlich scheinende kaufmännische Grundsatz, eine Arbeit zum Marktpreis abzusetzen, galt damals als unchristlich. Die Adeligen waren generell von jeder Arbeit befreit und wurden durch Bauern und Handwerker mitversorgt. Da es ein kirchli ches Zinsverbot gab, wurden kaum Kredite zur Ausweitung der Produk tion aufgenommen (Le Goff 1987). Der Siegeszug der Arbeit setzte erst mit der Neuzeit ein, mit dem Auf schwung der Naturwissenschaften, der Entdeckung neuer Kontinente und einer Steigerung des Fernhandels. Die Ausweitung der Städte
Zentrale Person antiker Dichtung; Erster Dichter des Abendlandes. Ihm werden Ilias und Odyssee zugeschrieben. Publius Vergilius Maro, dt. (70–19 v. Chr.) war ein lateinischer Dichter und Epiker. Wichtigster Autor der klass. Röm. Antike.
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führte zu einer verstärkten Arbeitsteilung und einem Bedeutungszu wachs für Märkte. Die Neubewertung und positive Identifikation von Arbeit in der Neuzeit als Abkehr von den antiken und mittelalterlichen Bestimmungen nennt Vilem Flusser (1998, 147) die „Verwandlung einer Not in eine Tugend“. Es ist die moderne Emanzipation des Menschen, wie es Erich Ribolits formuliert, die zu einer Abkehr von religiöser Vorsehung und schicksalhafter Ausgeliefertheit führt.
Vilém Flusser (1920–91) war ein Medienphilosoph und Kommunikations wissenschaftler. Erich Ribolits (geb. 1947) ist ein österreichischer Bildungsforscher.
„Die Vorstellung von der Machbarkeit menschlicher Geschichte – das wesentliche Kennzeichen der Moderne – ist jener Hintergrund, auf dem eine zunehmende Verteufelung der Faulheit und Würdi gung der Arbeit Platz greifen konnte. Aktivität, im Sinne des Her stellens gewünschter Wirklichkeit, begann sich als erstrebenswerte Seinsform zu etablieren.“ (Ribolits 1995, 24). Mit der Reformation erhält der heutige Arbeitsbegriff eine zusätzliche Aufladung. Denn Luthers spezifischer Angriff auf das beschauliche Leben rührt daher, dass er den Begriff der göttlichen Berufung für geistliche Berufe auch auf weltliche Berufe überträgt. Jeder Mensch hat in seinem Beruf die von Gott gestellten Aufgaben zu erfüllen. Durch die Reformation der katholischen Kirche gemäß den Ideen des Protestantis mus wird nach Max Weber der Geist des Kapitalismus erzeugt, und Arbeit erfährt eine enorme ideologische Aufwertung. Arbeit wird zum zentralen Aspekt und Selbstzweck einer modernen rationalen Lebens führung (Löwith 1973). Daher wurde Max Weber auch als „bürgerlicher Marx“ bezeichnet, weil in seinem Erklärungszusammenhang für die Entstehung und Dyna mik des Kapitalismus nicht nur ökonomische Prozesse und Faktoren eine Rolle spielten, sondern vor allem religiöses Gedankengut und ethische Pflichtvorstellungen. Sie machen schließlich die Schärfe und ideologische Wirksamkeit des Arbeitspathos aus. In anderen protestantischen Gruppen (Calvinismus, Methodismus, Pietismus, Täuferische Bewegung) wurden noch weitere Hemmschwel len für eine freie Marktwirtschaft aufgehoben. Erwerb von Reichtum und wirtschaftlicher Erfolg verloren ihre moralische Verurteilung. Denn wirtschaftlicher Erfolg und rastlose Berufsarbeit galten ab nun als Zeichen der Auserwähltheit. Eine Reihe von Ordnungsvorstellungen und Askese verbinden sich bei den Calvinisten mit dem weltlichen Berufsleben. Zeitverschwendung wird zur Sünde. Arbeit wird nicht nur zur Berufung durch Gott, sondern funktioniert gleichzeitig als Mittel gegen Anfechtungen und Versuchungen des so genannten „unclean life“: Arbeitsunlust und Müßiggang werden dabei zur klaren Antithese des methodischen Lebens und sind schwere Symptome eines fehlenden Gnadenstandes. Die Verselbstständigung der Berufsarbeit ist geheiligter Lebenszweck schlechthin.
Max Weber (1864–1920) war ein dt. Soziologe, Jurist und Nationalökonom. Lieferte Theorien und Begriffsdefinitionen als Grundlagen für dt. Soziologie. Vgl. ders.: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904).
Die Idee des Berufsmenschen ist nach Weber für den Arbeiter und Unternehmer gleichermaßen gültig. Die Berufsidee lässt auf der einen Seite disziplinierte Arbeitskräfte und auf der anderen Seite gewinnori entierte, rational abwägende Unternehmer entstehen. Aus diesen unter schiedlichen Strömungen des Protestantismus entstand jene sittliche Wertschätzung der Arbeit, die als menschliche Selbstläuterung gesetzt wird. Damit zeigt sich, dass der neuzeitliche Arbeitsbegriff ein religiöses Fundament aufweist, aus dem in der Folge eine Arbeitsethik entsteht, die den „modernen, nüchternen, bürgerlichen Selfmademan“ kennzeich net. Dazu gehört auch die Vorstellung, dass der geschäftliche Erwerb und der Arbeitserfolg Symptome der geistigen Leistung und individuel len Auszeichnung sind. Das erfolgreiche Berufsleben setzt die/den Einzelne/n automatisch ins Recht. Nach Abfall der religiösen Kompo nenten werden die Mehrung des Reichtums und die rastlose Arbeit irrationaler Selbstzweck (Riegler 2003). Die Entwicklung des Kapitalismus ist eng mit der Aufwertung der Arbeit als zentrales Vergesellschaftungsprinzip verbunden. Am Beginn der Disziplinierung zur Arbeit steht historisch kein Arbeitsheroe, son dern ein brutales Vorgehen gegen Bettelei. Ab dem 16. und im 17. Jahr hundert begann eine grausame Verfolgung und Kasernierung von Ar men, Landstreichern und Bettlern. Ihr mühelos erworbenes Einkommen, das bis zur Reformation durchaus als legitim erachtet wurde, galt nun als gefährlich für die Arbeitsmoral. Das Strafausmaß für Landstreicherei und Betteln reichte von Brandmarkung über Folter bis zur Hinrichtung (Negt 1987). Parallel dazu kam es zu einer sozialen Teilungsstrategie in Arbeits unwillige und Arbeitsunfähige. Für Erstere wurden Zucht- und Korrek turhäuser geschaffen, die Vorläufer späterer Arbeitshäuser. Ihre Insassen wurden zur systematischen Arbeit angehalten und auch an Manufaktu ren vermietet. Für die zweite Gruppe wurde die Institution der Kran kenhäuser geschaffen, wodurch Armut auch zum Nutzen der Reichen wurde, weil auf diesen Weg neue medizinische Erkenntnisse gewonnen werden konnten (Kößler 1990, Foucault 1976). Mit der Entstehung massenhafter Heim- und Fabrikarbeit im Zuge der industriellen Revolution wurden der Arbeitszwang und die Arbeits disziplin unter extremen Bedingungen verschärft. Die freigesetzte Landbevölkerung wurde zunehmend von ihren Subsistenzmöglichkeiten abgeschnitten und gezwungen, in den Fabriken Arbeit aufzunehmen. Nicht nur extreme körperliche Belastung, Luftverschmutzung und Lärm in den Fabriken sowie die große Entfernung zu den Wohnorten schreck ten die Menschen ab, dort tätig zu sein. Auch die Unterordnung unter fremdes Kommando, das rigide Zeitregime, das keine Pausen zuließ, war unzumutbar für eine Bevölkerung, die bisher nach einem völlig anderen Lebensrhythmus tätig war. Die Konsequenzen der widrigen Arbeitsum
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Subsistenz (von lat. subsistentia „Bestand“: „durch sich selbst, Selbständigkeit“); auch: materielle Lebensgrundlage, materielle Existenz
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stände waren u.a. eine Fluktuation bis zu 100 % pro Jahr und auch verschiedenste Formen aktiver und passiver Widerstände gegen die Fabrikdisziplin (Kößler 1990). „Die Armen in den Industriegebieten verwenden nur so viel Zeit auf die Arbeit, wie sie zum Leben und für die Finanzierung ihrer wöchentlichen Ausschweifungen benötigen“ – so äußerten sich die Fabrikherren zu den Widerständen der Arbeiter (Bauer/Matis 1988, 328). Erst die Strategie der drastischen Lohnverringerung führte zum Erfolg einer beispiellosen Ausdehnung der Wochen- und Jahresar beitszeit. Neben der ständigen ökonomischen Erpressbarkeit wurde die Fabrikdisziplin auch durch Maßnahmen in der Freizeit ausgeweitet. Darunter sind Kontrollen der Sauberkeit in den Werkswohnungen genauso zu verstehen wie massives Vorgehen gegen Alkoholkonsum. Foucault (1976) spricht von einer „politischen Besetzung des Körpers“ als Voraussetzung für seine ökonomische Ausbeutung: „Daher muss die Arbeitskraft zunächst einmal als Arbeitskraft konstituiert werden, bevor sie ausgebeutet werden kann: Lebenszeit muss in Arbeitszeit synthetisiert werden, die Individuen an den Ablauf des Produktionsprozesses fixiert werden und dem Zyklus der Produktion unterworfen werden. Mit anderen Worten: Die Akkumulation des Kapitals setzt Produktionstechniken und Ar beitsformen voraus, die es erst ermöglichen, eine Vielzahl von Men schen ökonomisch profitabel einzusetzen“ (Foucault 1976, 37). Bei Thomas Hobbes (1588–1679) wird die Arbeit zum ersten Mal als Quelle des gesellschaftlichen Reichtums hervorgehoben. Vorher galten Armut wie auch Reichtum als ein Umstand göttlicher Fügung. Auch Adam Smith (1723–1790) würdigt die Arbeit als Mittel zur Erlangung von Reichtum und entwickelt die Lehre von den Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit, die noch heute Grundlage der Volkswirtschaftslehre sind. Beide Faktoren seien aufeinander angewiesen und könnten unab hängig voneinander nicht existieren. Der deutsche Philosoph Hegel (1770–1831) unterscheidet begrifflich nicht mehr Arbeit und höhere Tätigkeit. Bei ihm gelten auch die Regie rungstätigkeit oder Kriegsführung als Arbeit, ebenso wie Handwerk, Handel und Wissenschaft, jedoch bleiben diese jeweils bestimmten Ständen vorbehalten. Diese positive Wertung der Arbeit an sich spiegelt sich auch in der ihr zugeschriebenen geschichts- und persönlichkeitsbil denden Rolle. Der Mensch erschaffe sich durch seine Arbeit selbst, ebenso wie die menschliche Geschichte insgesamt ein Produkt der Arbeit sein soll (Kößler 1990; Arendt 1981; Betz/Riegler 2003). Für die erfolgreiche Installation des modernen Arbeitsethos war ein umfassender Prozess der sozialen Disziplinierung nötig. Zucht- und Armenhäuser, Heeresstrukturen und schulische Einrichtungen waren allesamt bis zum 19. und 20. Jahrhundert an der gesellschaftlichen Ge
Thomas Hobbes (1588– 1679) war ein engl. Mathematiker, Staatstheoretiker und Philosoph. Hauptwerk: Leviathan („aufgeklärte Absolutismus“). Adam Smith (1723–90) war ein schottischer Moralphilosoph, Aufklärer und gilt als Begründer der klassischen Nationalökonomie. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) war ein dt. Philosoph, der als wichtigster Vertreter des deutschen Idealismus gilt.
burt eines „neuen Menschen“ beteiligt (Bauer/Matis 1988). Ein Mensch, der den Anforderungen des industrialisierten Kapitalismus immer besser entsprach und der die Arbeitsmoral vollends verinnerlicht hatte. Fleiß, Tüchtigkeit, Leistung und Erfolg sind eindeutig positiv besetzte Werte, bei denen kaum jemand mehr nach Sinn, Zweck und Nutznie ßern fragt. Die Arbeit, das beklagte schon Friedrich Nietzsche (1980, 356) hat „alles gute Gewissen auf ihrer Seite“. Nicht mehr Arbeit als Über lebensnotwendigkeit, sondern Arbeit als Selbstzweck ist es, was das Leben des modernen Menschen in industrialisierten Gesellschaften kennzeichnet (Ribolits 1995, 18ff). Die Geschichte der Disziplinierung zur Fabrikarbeit ist allerdings kein Phänomen, das sich auf die Entwicklung des industriellen Kapitalismus beschränkte. Vergleichbare gewaltsame Prozesse der Industrialisierung gab es in der Sowjetunion der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhun derts. Robert Kurz (1991) verweist darauf, dass in den ehemaligen osteu ropäischen und sowjetischen Gesellschaftssystemen die gleiche Mytho logisierung der Arbeit wie im Westen vorherrschte. „Wenn Alexej Stachanow, jener Mensch, der in der Nacht zum 31. August 1935 im Donezbecken während einer Schicht von fünf Stunden und 45 Minuten 102 Tonnen Kohle gefördert haben soll, zum sowjetischen Vorbild und Arbeitsmythos geworden ist, so verkörpert er damit gerade das kapitalistische Prinzip abstrakter Arbeitskraftverausgabung, in dessen Bann Arbeit als tautologischer Selbstzweck gesetzt wird.“ (Kurz 1991, 12) Konfliktlinie 1: Lebendige Arbeit versus entfremdete Arbeit Von Entfremdung der Arbeit sprechen zwei große Weltbilder – das Christentum und die marxistische Theorie und Analyse. Das wohl berühmteste Beispiel für eine universale Begründung der Zwietracht in der Arbeit ist der biblische Mythos von der Vertreibung aus dem Para dies. Im Paradies war das erste Menschenpaar rundum versorgt. Mit der Vertreibung aus dem Paradies wurde ihnen der Fluch der Arbeit aufge tragen. Im Schweiße ihres Angesichts mussten sie ab nun das Feld bestellen und unter Schmerzen gebären. Das erste Menschenpaar hat die Unschuld des reinen Genießens der göttlichen Früchte verloren. Gleichzeitig mit dem Fluch der Arbeit wurde ihnen auch die Geschlech terscham bewusst gemacht, und der Frau wurden die Schmerzen der Geburt auferlegt. Damit sind Produktion und Reproduktion gleicherma ßen an die Erbsünde gebunden, d.h. mit Schuld und Entfremdung aufge laden. Die marxistische Vorstellung der ursprünglichen Akkumulation (MEW Bd. 23, 741), der Ausgangspunkt der kapitalistischen Produktions weise, offenbart eine etwas andere Erzählstruktur:
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Robert Kurz (1943–2012) war ein dt. marxistischer Philosoph, Publizist und Journalist. Der sowj. Arbeiter Alexei Grigorjewitsch Stachanow (1905–77) erfüllte an einem Tag die Arbeitsnorm um das 13fache. Vorbild für die Stachanow-Bewegung der KPdSU zur Steigerung der Arbeitsproduktivität.
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„Die Legende vom ökonomischen Sündenfall erzählt uns allerdings, wie der Mensch dazu verdammt worden sei, sein Brot im Schweiß seines Angesichts zu essen; die Historie vom ökonomischen Sün denfall aber enthüllt uns, wieso es Leute gibt, die das keineswegs notwendig haben. […] In der wirklichen Geschichte spielten be kanntlich Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt die große Rolle. In der sanften Ökonomie herrschte von jeher die Idylle. […] In der Tat sind die Methoden der ursprünglichen Ökonomie alles andere, nur nicht idyllisch“ (MEW Bd. 23, 741f). Laut Marx entsteht die industrielle Produktionsweise aus gewalttätiger Trennung und Enteignung. Die Geschichte dieser Trennungs- und Entfremdungsprozesse sind nach Marx „in die Annalen der Menschheit eingeschrieben mit Zügen von Blut und Feuer“ und „von den gemütlichen Einbildungen, wonach der Kapitalist und der Arbeiter Assoziationen schließen etc., weiß weder die Geschichte etwas, noch findet sich davon eine Spur in der Begriffsentwicklung des Kapitals“ (MEW Bd. 23, 743). Vielmehr ortet Marx am Beginn der konkreten Produktionsweise der industriellen Tauschwirtschaft ein gewaltsam herbeigeführtes Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis, ein ursprüngliches Verbrechen. Der christliche Mythos hingegen geht von einem ursprünglichen Vergehen des Menschen aus. Durch die Überschreitung eines göttlichen Verbots werden Adam und Eva dem Fluch der Arbeit ausgesetzt. Die große Entdeckung der marxistischen Kritik der politischen Ökonomie besteht in der Offenlegung, dass der so genannte freie Arbeitsvertrag zwischen Arbeiter und Unternehmer Elemente der Nötigung, Erpres sung und Ausbeutung systematisch zu seinem Funktionieren voraus setzt. Beruhte das Geheimnis des biblischen Fluches auf einer teufli schen Verführung bzw. erblichen Sünde, die der Mensch selbst beging, so liegt das Geheimnis der entfremdeten Lohnarbeit in der Warenpro duktion, in einer ursprünglichen Beraubung und weiterführenden Nöti gung der Arbeitskräfte. Marx bestimmt zudem Entfremdung in vielen Dimensionen. Sie bezieht sich auf das Produkt der Arbeit, das den Arbeitenden entzogen ist. Die Arbeitenden produzieren Waren, die ihnen nicht gehören. Die Entfremdung bezieht sich aber auch auf den Produktionsakt, dem die Arbeitenden unterworfen sind. Entfremdete Arbeit entfremdet den Menschen selbst von seiner Natur, denn er wird als Arbeitskraft zur Ware degradiert (MEW Bd. 1, 89). Damit büßt der Mensch das spezifisch Menschliche ein und wird bloße Funktion. Marx plädiert für eine Ver änderung der Produktionsverhältnisse, die sowohl die Errungenschaften der industriellen Produktion bewahrt als auch die Entfremdung des Einzelnen aufheben soll. Allerdings zeigt sich, dass der Versuch der Aufhebung von Entfrem dungsphänomenen durchaus der Profitspirale des Kapitalismus dienlich
sein kann und das moderne Arbeitsparadigma auf neue Bereiche des Lebens übergreifen lässt. Ein Hauptwiderspruch der gesellschaftspoliti schen Diskussion um Arbeit dreht sich um genau diese Punkte: Das Lebendigmachen der Arbeit, der Arbeit neuen Sinn geben. So diagnostiziert Severin Müller (1992, 17) einerseits das Ver schwinden von bestimmten Arbeitsformen. Sie gelten als überholt, veraltet, erstarrt, werden entzogen und entziehen sich. Anderseits erlangt Arbeit eine durchdringende Intensität im Bewusstsein einer „Lebenswelt“. Müller ortet also „Präsenz, Erfahrung und Wirkung der Arbeit der Moderne als offenkundig versunken in ihrer Härte.“ Der Über gang von einer Arbeitswelt zu einer Lebenswelt verweist auf Entdiffe renzierung der industriellen Grundformation. Der gesamte neoliberale Flexibilisierungstrend kann als extreme Mobilisierung der arbeitenden Subjekte gesehen werden. Flexible Jobs, informelle Jobs und die neuen Ich-Unternehmen machen Schluss mit fixen Arbeitszeiten und Beam tenmentalität. Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, mehr gemacht und nach neuen Tätigkeitsfeldern gesucht. Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit werden aufgelöst und das eigene Wollen wird aktiviert. Statt autoritärer Konzepte (Dienst nach Vorschrift, Gehorsam und Pflichterfüllung) werden auch in den Managementkonzepten partizipa tive Organisationsformen verwendet: „management by love“, „management by joy“ oder „management by sentiment“ (Reichert 1998, 235ff.), Die Flexibilisierung funktioniert nicht nur deshalb so gut, weil die meisten Individuen auf die Vernutzung und den Verkauf ihrer Arbeits kraft materiell angewiesen sind, sondern auch weil darin Selbstbestim mung, lustvolle Selbsterfahrung und eigener Sinn gesucht werden. Damit geraten bestehende Bedürfnisse und Wünsche in die Dynamik der Arbeitswelt und des Kapitals hinein. Der Mangel an klassisch strukturierter Erwerbsarbeit führt zu gleich zu einer exzessiven Steigerung der individuellen Arbeitsbelastun gen und zu neuen Formen der Selbstausbeutung, die aber immer seltener zu einer entsprechenden Existenzsicherung führen. Der gesellschafts kritische Anspruch einer Aufhebung der Fremdbestimmung zugunsten einer humanen Selbstbestimmung kann als potentielles Einfallstor für eine Intensivierung (Belebung) und Ausdehnung der Ware Arbeitskraft gesehen werden. Das gilt auch für eine Ich-AG, die sich selbst managt und vermarktet. Der Versuch, Entfremdung aufzuheben in einem öko nomischen Kontext, der auf Verwertung abzielt, heißt eben diese Ver wertung zu intensivieren. Freiheit und Emanzipation kann dagegen nur bedeuten, die Verwertungslogik und Arbeitslogik zu durchbrechen. Konfliktlinie 2: Produktion versus Reproduktion In die klassische Unterscheidung von Produktion und Reproduktion fließen zentrale Bewertungsmaßstäbe von moderner Arbeit mit ein.
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Unter Reproduktionssphäre wird meist ein sozialer Raum verstanden, der von der Erwerbsarbeits- und Produktionssphäre getrennt ist. Repro duktionsarbeit meint dann Tätigkeiten jenseits der Erwerbsarbeit und Produktion, die aber unerlässlich sind für die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der individuellen Arbeitskraft. Als klassische repro duktive Tätigkeiten gelten insbesondere Kinderbetreuung und Kinder erziehung sowie Haushaltsführung, Kranken- und Altersversorgung sowie eine Vielzahl sozialer und kommunikativer Bereiche. Durchwegs wurden und werden diese Tätigkeiten vorwiegend Frauen und dem Privatbereich zugeschrieben. Entlang der Aufspaltung von Produktion und Reproduktion kommt die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung mit einer sehr unterschiedlichen Bewertung der beiden Sphären zum Tra gen. Die strikte Trennung von Reproduktions- und Produktionssphäre ist erst mit dem Aufkommen der modernen Industriegesellschaft und in voller Ausprägung im Fordismus zu finden. Die Verknüpfung von menschlichen Tätigkeiten mit Lohn und Gehalt, das vorherrschende Arbeitsparadigma, definiert gewisse Tätigkeitsberei che als wertschaffend. Gleichzeitig werden andere Tätigkeiten als weni ger wertvoll angesehen, etwa Hausarbeit und Sozialisationsarbeit. Sie sind nur die Basis und Voraussetzung für anderes. Diese Tätigkeiten gelten weniger, weil sie keinen Lohn bzw. Gehalt abwerfen und damit auch keine materielle Autonomie für die Ausführenden zur Folge haben. Mit dieser Bewertung der Tätigkeiten werden wie von selbst auch die Tätigen klassifiziert. Eine Klassifizierung, die in die Produktionssphäre übertragen wird, wo dann z. B. Frauen im selben Arbeitsbereich oft weniger verdienen, weil auch hier das Geschlecht eine Differenz in der Bewertung bewirkt. Und überall dort, wo überwiegend Frauen angestellt sind, kann von niedrigen Grundgehältern ausgegangen werden. Erwerbs arbeit ist ein also ein hochgradig geschlechterspezifisches Thema. Die Geschlechterdifferenz ist ein Legitimationspotenzial für die Konstrukti on beruflicher Hierarchien und Bewertungsverfahren (Scholz 2000, 138). Erwerbsarbeit ist zudem signifikant für die hegemoniale Konstruktion von Männlichkeit und erhält als solche nach wie vor Gewalt- und Macht relationen zwischen den Geschlechtern aufrecht (Scholz 2000, 144). Es waren daher nicht zufällig feministische Theoretikerinnen (Werlhof in Mies/Bennholdt-Thomsen/Werlhof 1983), die darauf hinwie sen, dass sich nicht das männlich gedachte Modell des Lohnarbeiters weltweit ausbreitet, sondern eine „Hausfrauisierung“ im Sinne eines Anwachsens prekärer abhängiger Dienstleistungsjobs die Zukunft kapitalistischer Produktionsverhältnisse bestimmen wird. Diese These entstand bereits in den 80er Jahren als Kritik an der Blindheit des ent wicklungspolitischen Modernisierungsdiskurses der Industriestaaten. Nicht die sogenannten Entwicklungsländer überschreiten die Schwelle zu modernen Wohlfahrtsstaaten westlicher Prägung, sondern die mo dernen Wohlfahrtsstaaten westlicher Prägung überschreiten in der
Nach 1. WK etablierte Form industrieller Massenproduktion (Fließband) und -konsumtion.
Umstrukturierung der Erwerbsarbeit die Schwelle in Richtung der ehemals „zu entwickelnden Länder“. Am Ende der fordistischen Mas senproduktionsverhältnisse erfolgt der Ausbau informeller, unterbezahl ter und flexibler Jobs. Die Flexibilisierungsstrategien führen bisherige Normarbeitsverhältnisse der modernen Industriestaaten über in unsi chere und prekäre Arbeitsverhältnisse, wie sie in den so genannten Entwicklungsländern bzw. semi-industriellen Staaten überwiegend zu finden waren und sind. Die einstige Fortschrittsutopie, die eng an moderne Erwerbsarbeit und technische Entwicklung gekoppelt war, hat sich umgedreht. Global gesehen ist für den Großteil der Menschheit die Arbeitsgesellschaft keine Realität, sondern ein fiktives Versprechen von Reichtum. „Aber beispielsweise die Frauen, die Wasser und Brennholz über wachsende Entfernungen herbeischleppen oder in den Elendsquar tieren alltäglich nach Essbarem jagen oder in den Fabriken der ›Schwellenländer‹ zu Hungerlöhnen mithelfen müssen, in den rei chen Ländern Arbeitskräfte entbehrlich zu machen, ihr Tun mag Arbeit sein, zur Erwerbsarbeit im Sinn der großen Utopie gewinnen sie den Zugang gerade nicht“ (Kitzmüller 1997, 126). Auch in den Industrieländern ist die Realität der Arbeitsgesellschaft zunehmend nur mehr eine partielle. Reguläre Vollzeitarbeit, die mit hoher gesellschaftlicher Anerkennung einhergeht und dementsprechend entlohnt ist, ist bereits rar geworden. Die derzeitige Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass immer mehr Menschen aus gut bezahlten und mit Arbeitsrechten ausgestatteten Bereichen in deregulierte, atypische und unterbezahlte Arbeitsbereiche, Schwarzarbeit oder staatlich gestützte Arbeitsbereiche fallen. Gerade diejenigen, die vor allem reproduktive Tätigkeiten vollbringen (allen voran Frauen), die unbezahlt, nebenbei oder in prekären Erwerbsverhältnissen arbeiten, sind an den Rand der Arbeitsgesellschaft gedrängt. Von den Versprechungen einer Arbeitsge sellschaft werden immer mehr Menschen strukturell ausgeschlossen. Der Arbeitsgesellschaft wird immer noch unterstellt, Wohlstand und sozialen Frieden zu sichern, während sie eigentlich nur mehr partielle Interessen wahrnimmt. Zunehmend bringt sie gewalttätige Formen der Ausschließung und der Abgrenzung gegenüber „asozialen“ Nicht-Er werbsarbeitern hervor. Entlang der Bewertungslinien über bezahlte und unbezahlte Arbeit und Tätigkeiten (Produktion-Reproduktion) finden gesellschaftliche Ausschließungsprozesse statt, die verschleiern, wie selektiv und brutal die Prinzipien der Arbeitsgesellschaft wirken. Die Annahme, dass die Arbeitsgesellschaft Wohlstand und Verbesserung befördere, wird auch dann beibehalten, wenn immer weniger Menschen als Gewinner auftre ten, die im Zyklus Produktion und Konsum noch mithalten können.
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Arbeitsplatzinhaber lassen sich oftmals mobilisieren gegen jene Gruppen, die herausgefallen sind oder am Rande stehen. Vertreterver bände der Arbeitsplatzinhaber und die meisten politischen Parteien befeuern weiterhin eine positive Fiktion der Arbeitsgesellschaft, indem sie Strategien zur Schaffung von Arbeitsplätzen entwerfen. Meist durch die Expansion genau jener Aktivitäten, die Arbeitslosigkeit und andere Ausschließungen erneut bedingen. Blinde Verherrlichung von Wirt schaftswachstum und die Erhöhung der globalen Attraktion eines regionalen Standortes sind nur zwei Phänomene, die das klar belegen. Anstatt sich politisch mit der Abnahme des notwendigen Einsatzes produktiver Arbeitskraft auseinanderzusetzen, wird weiterhin die Fiktion einer Arbeits- bzw. Produktionsgesellschaft aufrechterhalten. Immer mehr Menschen werden weltweit in die Abgründe eines bloßen Existenzkampfes geworfen. Sie müssen unter Druck mit entwerteten Tätigkeiten und Zuarbeiten ihre eigene Reproduktion sichern. Konfliktlinie 3: Produktion von Überfluss und Mangel Die modernen Industriestaaten westlicher Prägung haben wie niemals zuvor effizient Reichtümer angehäuft. Nicht nur der wachsende Güter ausstoß oder die Summe der produzierten Werte wird als Reichtum verstanden, sondern auch die ständige Erweiterung von individuellen Wahlmöglichkeiten und die Verbesserung und der Ausbau von Techno logien. Doch die moderne Marktwirtschaft ist produktiv und destruktiv zugleich. Bedingt durch die Expansion des Wirtschaftswachstums und der Produktivität wurden und werden schwere ökologische und soziale Schäden angerichtet. Die Überlastung und Ausbeutung ökologischer Ressourcen ist nicht mehr zu leugnen. Auch soziale Schäden in direkter Folge der Reichtumsproduktion sind unübersehbar. Die rücksichtslose Verfolgung des eigenen Vorteils, das Ausleben von Gier, Neid und Riva lität ist nicht nur erlaubt, sondern systemgemäße Voraussetzung des wirtschaftlichen Leistungsgedankens. Der ökonomische Erfolg ist so gesehen die Organisation eines zivilen Verdrängungskampfes (Kitzmül ler 1997). Wenn wir die Menschheit im Ganzen betrachten, dann lebten noch nie so viele Menschen im ökonomischen und sozialen Elend wie heute (Ziegler 2005; Lueer 2008). Sogar innerhalb der reichen Länder wächst die Kluft zwischen Reichtum und Zonen von Elend und sozialer Ausgrenzung. Armut und Hunger sind nicht die Folge einer zu geringen Produktivität, sondern direkte und indirekte Folgen einer extremen Überproduktivität. Das Wirtschaftssystem macht uns zwar im Einzelnen reicher, im Ganzen aber ärmer, und die Steigerung der Lebensqualität, die man als Befriedigung und Sättigung des Konsumverlangens ansieht, ist zugleich oft der Verlust jener Qualitäten.
Das zerstörerische Potential der Arbeitsgesellschaft zugunsten des Produktiven wurde auch in der Forschung und innerhalb politischer Bewegungen lange Zeit schwer vernachlässigt. Die Entwicklung der reichen Gesellschaften ist nach wie vor eine fortlaufende Dynamik der Expansion. Tatsächlich sind es auch die konkreten Schäden und sichtba ren Verschlimmerungen, die eine weitere Expansion einfordern. Die wirtschaftliche Rationalität verwandelt negative Folgen in neue Expan sionsanreize. So bedingte die Verschlechterung der Qualität durch die industrielle Lebensmittelproduktion die Eröffnung eines neuen Markt segments (Biokost). Arbeitsplätze durch ökologisches Wachstum oder ökologische Reparatur als „Wachstum der Natur zuliebe“ verraten ähnliche, im System verfangene Strategien. Ökologische Zerstörung und die Zunahme jener Gruppen, die als Systemverlierer bezeichnet werden können, weisen deutlich auf das Gewalt- und Zerstörungspotenzial der Arbeits- und Produktionsgesell schaft hin. Gerade die Schaffung unerhörten Reichtums und technischer Verbesserungen sowie die damit verbundene Fortschritts- und Erfolgs mentalität machten es lange Zeit unmöglich, auf das Gewalt- und Zer störungspotenzial dieser Formen von Produktivität aufmerksam zu werden. Bedingt durch die wirtschaftliche und technische Rationalität der Expansion haben die kapitalistischen Gesellschaften kein Gegen mittel für diese Destruktionsspirale entwickelt. Ganz im Gegenteil – im Bann der Arbeitsgesellschaft wird die Expansion der Wirtschaft zum ersten Gebot der Stunde und zur dominanten Leitlinie der Politik. Die ruinöse Eigendynamik der Produktivitätssteigerung fordert neuerlich ihre Opfer ein. Reiche Gesellschaften entdecken dann das Sparen: „Allzu oft wird jetzt auch vom gemeinsamen Opfer gesprochen, das ohnehin alle bereit wären auf sich zu nehmen, sagt man jedenfalls. Haben wir soviel Schuld angehäuft, dass wir ein kollektives Opfer erbringen müssen, ein Buße zur Schuldabgeltung? Und wenn schon nicht alle, so können doch potentielle Stellvertreter für Opferungen ausgemacht werden: die Sozialparasiten und -schmarotzer, die es zweifellos in jedem gut funktionierenden System zu allen Zeiten gibt, die aber jetzt eine ganz besondere Bedeutung gewinnen“ (Heintel 1997, 89). In diesem Sinne ist die Konfliktlinie zwischen den Fleißigen und den Faulen aktueller denn je. Unter dem Titel „Die Faulen und die Fleißigen – Konfliktlinien der Arbeitsgesellschaft“ zuerst erschienen in: Arbeiten wie noch nie!? – Unterwegs zur kollektiven Handlungsfähigkeit, Hamburg: Argument, 2010.
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Diedrich Diederichsen untersucht warum sich die „kreativen Köpfe“ viel stärker mit ihrer (abhängigen oder selbstständigen) Arbeit identifizieren als dies Arbeitende oder Angestellte klassischer Verhältnisse je taten und in der Hoffnung der Selbstverwirklichung das eigene Selbst unkritisch in die Arbeits-, Konsum- und Verwertungsprozesse eingespeist wurden.
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Kreative Arbeit und Selbstverwirklichung
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Diedrich Diederichsen (geb. 1957) ist Kulturwissenschaftler, Pop-Theoretiker, Kritiker, Autor und Hochschullehrer; in 80er-Jahren Musikredakteur (Sounds, Spex); seit 90er-Jahren als Hochschullehrer tätig; seit 2006 Professor an der Akademie der bildenden Künste, Wien; veröffentlicht regelmäßig in Texte zur Kunst, Theater heute und Tagesspiegel uvm.;
DIEDRICH DIEDERICHSEN
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Kreative Arbeit und Selbstverwirklichung Die Idee einer Kreativen Arbeit gilt gemeinhin dem Kapital und seinen Investoren als viel versprechend, weil der in ihr enthaltene Begriff der Schöpfung, des Schöpferischen mit dem Versprechen einer Produktion von Wert aus nichts, einer creatio ex nihilo, zu wedeln scheint. Kreativi tät ist wie Zauberei – das Gegenteil einer Abarbeitung an und Bearbei tung von vorgefundenem, vorproduziertem, stets Widerstand leistendem Material, das auch noch teuer der Erde (oder sonst wem) entrissen, herbeigeschafft und gelagert werden will. Die Erfindung, die Geschäfts idee, der Slogan, das Kunstwerk, die Designlösung brauchen, so die Vorstellung, keine teure materielle Voraussetzung, um ihrerseits materi elle Folgen zu erzielen. Die Maschinen, Fabrikhallen, Grundstücke, Fuhrparks und Zugangsrechte und all die anderen Voraussetzungen von Produktion können gen Null schrumpfen. Der autopoietische Hirnsch malz verspricht hingegen himmlische Renditen. Dass dem nicht so ist, dass auch kreative Arbeit so etwas wie Roh stoffe, Bearbeitungstechniken, hochspezialisierte, weil oft emotionsund inspirationsgeführte Feinmechanik, Wissensformen und deren Beherrschung etc. kennt, soll hier nicht Thema sein. Nur soviel: würden die Bestandteile der kreativen Arbeit herausgelöst aus der metaphysi schen Holistik einer vom Selbst gesteuerten magischen Produktivität, wäre immerhin schon eine Kleinigkeit gegen die Überforderung derer, die sie leisten, getan. Dann würde auch das kreative Wissen als eine externalisierbare Technik verstanden werden, der gegenüber man sich verhalten kann, statt mit ihr identisch zu sein. Doch dazu später mehr. In jüngster Zeit gibt es zwar den Sonntagsreden-Allgemeinplatz, dass in Bildung und manchmal sogar in Kultur zu investieren, nicht nur kulturell, sondern auch ökonomisch sinnvoll sei. Der Hirnschmalz ver liert so etwas vom Nimbus seiner Wunderkraft und wird als Ressource gesehen die man pflegen muss, wie Maschinen und Wälder. Eine jüngst veröffentlichte Studie der deutschen Bundesregierung beziffert den Sektor kultureller Produktion – also die sozusagen reine kreative Ar beit – auf rund 3 % des Bruttosozialprodukts und macht ihn damit sogar zur zweitgrößten einheitlichen Branche nach der Autoindustrie. (Natür lich erstreckt sich das Panorama der hier gemeinten Produktion von Poesie bis Pornografie). Doch in den begleitenden Empfehlungen dieser Studie liest man nichts, was über die Vorstellung hinausgeht, dass ir gendwie gut ausgebildete Menschen die Produzenten solcher Ideen sein
Lat. für Schöpfung aus dem Nichts oder Schöpfung aus nichts; bezeichnet die christliche sowie die philosophische Lehre, dass die Schöpfung der Welt als Werk des Schöpfergottes absolut voraussetzungslos ist.
Metaphysik: philosophische Disziplin die das hinter der sinnlich erfahrbaren, natürlichen Welt Liegende behandelt. Holismus: Lehre, die alle Erscheinungen des Lebens aus einem ganzheitlichen Prinzip ableitet.
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könnten, über die sich die Bundesrepublik Deutschland seit ein paar Jahren in einer von der Deutschen Bank gesponsorten Kampagne selbst definiert, als Land der Ideen nämlich. Aus der Sicht des Kapitals ist aber, so würde ich behaupten, der phantastische Wertschöpfungsfaktor einer creatio ex nihilo gar nicht so entscheidend für die Begeisterung an kreativer Arbeit. Zunächst, weil der Kapitalist weiß, dass es so etwas nicht gibt. Wenn es überhaupt das mit dem Schöpferischen Assoziierte ist, das ihm an der kreativen Arbeit gefällt, dann eher im Sinne des marxschen Gesetzes von der tendenziell fallenden Profitrate. Dieses Gesetz besagt ja, dass de Anteil menschli chen variablen Kapitals, also der lebendigen Arbeit, im Verhältnis zum Anteil des konstanten Kapitals auch bei wirtschaftlichem Wachstum stetig sinkt und damit auch der Mehrwert, denn der entsteht nur aus der Ausbeutung von Menschen. Die kreative Arbeit, so zumindest ihr My thos, erhöht den nichtmaschinellen Anteil der Arbeit. Der abhängig beschäftigte kreative Arbeiter erhöht also durch seine lebendige Arbeit den Mehrwert. Doch auch das ist nicht der entscheidende Faktor. Der Begriff der Kreativität und der kreativen Arbeit ist nicht nur von Haus aus nebel haft, er ist auch speziell irreführend, wenn man von aktuellen Entwick lungen wie der so genannten Kreativwirtschaft oder den so genannten kreativen Industrien sprechen will. Viel wesentlicher als ein erhöhter Anteil kultureller Produktion am Bruttoinlandsprodukt und das An wachsen eines so genannten kreativen Anteils auch an nicht kultureller Produktion ist die Umstellung einer des-identifizierten oder nur mittel bar identifizierten zu einer voll identifizierten Produktion. Dies ist eine Entwicklung, die sich keineswegs auf kulturelle Produktion und den kulturellen Anteil weiterer Sektoren beschränkt: vor dem Hintergrund von Outsourcing und Prekarisierung sollen die weiterhin fest oder dauerhaft Beschäftigten eine andere innere Einstellung zu dem Unter nehmen gewinnen, das sie beschäftigt. Für diese Umstellung spielen die kreativen Industrien eine bestimmte Rolle, sie sind Vorbilder bei be stimmten Organisationsformen, sie bringen Leute hervor, die einen Jobund Branchen-identifizierten Lebensstil vertreten, aber sie machen nicht den entscheidenden Paradigmenwechsel aus. Was meine ich mit identifizierter Produktion? In der Vergangenheit der industriellen Produktion kann man mehrere Stadien und Formen von Identifikation mit der Erwerbstätigkeit unterscheiden. Der unge lernte Arbeiter der industriellen Revolution sah seine Arbeit als aufer legtes Leid in jeder Hinsicht. Dies betraf die Tätigkeit als solche, wie auch die Beziehung zum Arbeitsplatz in Bergwerk oder Manufaktur. Er war gewissermaßen hundertprozentig des-identifiziert. Der gelernte und gar spezialisierte Arbeiter späterer, differenzierter produzierender Epochen war mit seiner Tätigkeit identifiziert, aber nicht mit seinem Arbeitsverhältnis. Die berühmte Bestimmung der Entfremdung aus der
Teil des Kapitals (Güter) der im Produktionsprozess keinen zusätzlichen Wert schafft, sondern nur eigenen Tauschwert auf produzierte Ware überträgt, im Gegensatz zum variablen Kapital, das in den Lohnkosten besteht.
Separation des Produzenten von seinem Produkt ist natürlich für denje nigen Produzenten besonders schmerzhaft, der zur Herstellung seines Produktes ein hohes Maß an spezialisiertem Wissen einsetzt. Er weiß aber auch genauer, worin die Entfremdung besteht, d. h. er ist gezielter zornig und verfügt über gezielt einsetzbares, avanciertes Wissen. Er ist potenziell revolutionäres Subjekt, weil sich Identifikation und Desiden tifikation je in gesteigerter Form in seiner Praxis gegenüberstehen. In der Produktion des fordistischen Kompromisses nimmt die Des identifikation mit dem Arbeitsplatz und den Arbeitsverhältnissen ab. Die echten oder vermeintlichen Errungenschaften der Arbeiterbewe gung, ihren Parteien und Gewerkschaften, die Tendenz zur fürsorgli chen, integrierenden Firma, der Wohlstand der Nachkriegszeit haben dafür gesorgt, dass in den letzten so Jahren unter den klassisch abhängig Beschäftigten die Identifikation mit dem Arbeitgeber und den Arbeits verhältnissen zugenommen hat; der Beschäftigte empfindet den Gegen satz zwischen Produzent und Produkt als nicht mehr so gravierend. Das hat aber nicht nur mit einer Aufwertung seines Einflusses in fordis tisch-sozialdemokratisch ausgehandelten Mitbestimmungsmodellen, werkseigenen Fußballclubs und anderen Integrationsmodellen zu tun, sondern sukzessive mehr und mehr auch mit einer Abwertung seines spezialisierten Wissens. Dem über ein in anerkannten Ausbildungspro zessen erworbenes, externes und anwendbares Wissen verfügenden, einigermaßen geschützt lebenden Lohnabhängigen des Westens wird seit einiger Zeit erzählt, dass dieses Wissen nicht mehr viel zählt und dass die globale Konkurrenz seinen Arbeitsplatz eben gerade deswegen bedroht, weil sie entweder ohne ein solches, teures Wissen produziert oder dieses anderswo billiger zu haben ist. Lohnabhängige identifizieren sich sukzessive weniger mit ihrem Können, ihrem Produzentenwissen und mehr mit dem Arbeitsplatz der ja ein bedrohter ist. Das Verhältnis von Identifikation und Desidentifika tion hat sich tendenziell also während der letzten 30 Jahre gedreht. Zur Identifikation mit dem Arbeitsplatz gehört auch die Tendenz sich mit der eigenen Nationalität und anderen nicht erworbenen Privilegien eher verbunden zu fühlen als mit der Klasse. All dies sind Entwicklungen einer proletarischen Defensive, die man in den letzten 20, 30 Jahren beobachten konnte. Das jeweilige Können, ein objektives und einiger maßen souverän auf dem Markt gehandeltes und getauschtes Wissen erscheint dessen Besitzer weniger entscheidend für seine Position auf diesem Markt; vielmehr glauben die Betreffenden an Glück und Pech, ihre Persönlichkeit, ihren Charme als (weiche) Faktoren, die für den begehrten Besitz eines Arbeitsplatzes nunmehr entscheidend sein sollen. Man könnte nun meinen, dass im Rückgriff auf individuelle, persön liche und künstlerische Eigenschaften und Fähigkeiten der Beschäftig ten auch bei diesen wieder ein proletarischer Stolz im Sinne eines alten Facharbeiterselbstverständnisses entstehen müsste. Der kulturell-kün
„Entfremdete Arbeit“: von 79 Karl Marx geprägtes Konzept der Entfremdung im Kapitalismus. (Ausführlicher erläutert im Text Die Faulen und die Fleißigen von Johanna Riegler in dieser Publikation.)
Gesellschaftliche Entwicklung in der höhere Profite auch zu Lohnsteigerung (und Massenkonsum) führten.
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stlerische Anteil an Produktionen aller Art brachte ja ein Wissen zum Einsatz, das von Haus aus wieder zu genauso einer Identifikation mit der eigenen Arbeit führen müsste, wie das früher bei denjenigen der Fall war, die über ein entwickeltes, spezialisiertes Fachwissen verfügten. Die kreativen Produzenten müssten eigentlich wieder wissen, was sie wert sind. Ihre Fähigkeiten sind noch spezieller, ihr Wissen noch stärker an ihr Verfügen über dieses Wissen gebunden. Und da andererseits ein Einspeisen solches kreativen Könnens in Produktionsabläufe eigentlich das alte Verhältnis aus hoher Identifikation mit dem eigenen Können und des-identifikatorischer Skepsis gegen das Arbeitsverhältnis und den Arbeitgeber wieder herstellen müsste, wäre mit dem Kreativarbeiter auch wieder ein politisierbares Subjekt geboren. Doch so verhält es sich aus zwei Gründen nicht: Zunächst steht dieses Wissen, wenn es in Produktionsabläufe eingebracht wird eben nicht starren, aber für ihre unmenschliche Starre mit Verlässlichkeit zahlenden Strukturen gegen über, in denen sich das alte Verhältnis von eigen und fremd, von mein Beitrag und deren Organisation rekonstruieren ließe. Der Stolz, von dem ich in Erinnerung an historische Arbeiteraristokraten rede, verdankte sich ja einer Konfrontation, in der man sich als Subjekt einer antagonis tischen Struktur und einer Institution gegenüber sah. Stattdessen arbei ten die kreative Unternehmerin und der kreative Unternehmer ja meis tens entweder tatsächlich der metaphorisch als Unternehmer eigener Sache oder als selbstverantwortlicher Knoten in einem nicht mehr als Struktur oder Institution überschaubaren Netzwerk, wodurch auch die Organisation zur Selbstorganisation wird. Selbstorganisation war einst der Name eines Ziels, gemeint war damit aber die Organisation davon, wie man über ein Wissen als getrenntes, objektives Arsenal von Hand lungsmöglichkeiten verfügen kann, gemeint war nicht eine durch er zwungene Identifikation zusammenschnurrende Entdifferenzierung im Modus der naturgemäß panischen Subjektivität im Konkurrenzverhält nis. Der zweite Grund aber betrifft das zweite Stadium, in das die Kreativarbeit eingetreten ist, bei dem nun eher Lebenswissen gefragt ist als ein noch an klassischen Modellen der Skills und des Könnens orien tiertes kreativ-kognitives Wissen und seine Techniken. Denn Kultur und Kreativität haben nicht nur als Vorbilder der Kulturalisierung und Personalisierung (bis hin zur Psychologisierung) von Arbeitsleistung in anderen Branchen gedient, sie konnten auch als eigene Branchen neuer Art reüssieren und wieder neue Arbeitsformen entwickeln, die dann womöglich Vorbild einer weiteren Radikalisierung des allgemeinen Umbaus der Arbeitswelt dienen. Im Blick auf diejenigen ökonomischen Bestände und Ausbaumöglichkeiten, die weniger von globaler Konkur renz bedroht zu sein scheinen, entstand die Formel von der Kreativwirt schaft und der Creative Industries zwar zunächst vor allem als Stand ortfaktor für andere Industrien.43 Zunehmend wurden sie aber auch zu
43. Gemeint sind die sattsam bekannten Richard-Florida-Thesen, dass kreative Produktion einen urbanen Standort attraktiv für andere Produktionen macht.
einem neuen Modell von Wertschöpfung, das durchaus von den oben angedeuteten Versprechen einer creatio ex nihilo insofern inspiriert war, als möglichst wenig externes Material inklusive indirekte Ausbildungs kosten verarbeitet werden würden, dagegen maximal viel von den individuellen Eigenschaften, dem Lebenswissen und den performativen Fähigkeiten der beschäftigten Personen (Charme, Sexyness, Schönheit, Witz, Schlagfertigkeit etc. bis hin zu der Oberweite, die eine Vorausset zung für einen Job bei der mittlerweile auch in Deutschland aktiven Restaurantkette „Hooters“ darstellt). Solange wie – im ersten Stadium – kreative Arbeit als Erfindung, Geistesblitz, Einfall, Problemlösung etc. konzipiert war, war sie noch bezogen auf konventionell materielle Produktion, sie bezeichnete den immateriellen Bestandteil materieller Produktion. Selbst in den mittler weile klassischen Diagnosen vom Aufstieg immaterieller Arbeit (von Naomi Klein bis Maurizio Lazzerato) geht es vor allem um Marken, Brands, Logos und andere semiotische Aspekte materieller Produkte: Die Produzenten der immateriellen Bestandteile bleiben als anonyme Besitzer von semio-technischem Können im Hintergrund, auch wenn ihr Anteil an der Wertschöpfung gegenüber den materiellen Produzen ten steigt. Materielle Produzenten mussten nicht performen, nicht auftreten. Die in Call-Centern, Gastronomie, Tourismus, Verkauf und Vermittlung von kulturellen und Lifestyle-Gütern, Pflege, Kinder- und Altenbetreuung und anderen Service- und Dienstleistungsbranchen gefragte Attraktivität erlaubt hingegen keine Rückzüge mehr. Dieses neue kreative Wissen und Können der performativen Pro duktion enthält noch weniger als im ersten Fall der kreativen Erfindung eine abrufbare Ausbildungskompetenz. Es gibt kein Ensemble von Handlungs- und Denkmöglichkeiten, die dem Subjekt als erworbene, externe und objektive Tools vorliegen und die es sich zu seiner eigentli chen, als nicht verwertbar gedachten Persönlichkeit hinzurechnen kann. Das Subjekt hat nicht die Wahl, sich über einen Anteil am objektiven Reichtum des Kompetenzwissens und dessen Verwertungspotenzial mit diesem zu identifizieren, sondern es ist bereits mit diesem identisch. Hier geht es also nicht mehr um ein erworbenes, objektivierbares Ausbil dungswissen, wie es sich die aktuelle, so eifrig bürokratisierende Bil dungspolitik noch vorstellt, sondern um ein unmittelbar mit der Persön lichkeit verbundenes und in ihr lokalisierbares Lebenswissen in eigener Sache. Auf dieses Lebenswissen kann man darum nicht stolz im Sinne eines auf einem souveränen Selbstverwertungsmodell aufbauenden Leistungsdenkens sein. Vielmehr kann man sich allenfalls narzisstisch – oder aber auch angstbesetzt, in Panik vor dessen möglicher Abwer tung – mit seinem Lebenswissen identifizieren. Das ist der zweite Grund, warum eine Politisierung dieser Lage so schwer fällt. Es gibt nur eine Möglichkeit, den alten Facharbeiterstolz in solchen Arbeitsverhältnissen zu rekonstruieren – indem man eine Distanz zu
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Naomi Klein (geb. 1970) ist kanadische Journalistin, Schriftstellerin. Veröffentlicht zu Globalisierungs- und Konsumkritik („No Logo“, 2000), Kritik am Neoliberalismus/ Kapitalismus uvm. Maurizio Lazzarato ist ein ital. Soziologe und Philosoph des Postoperaismus. Prägte Diskurs um „immaterielle Arbeit“.
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diesem Selbst aufbaut, das man als Kompetenz verkauft und feilbietet. In manchen Arbeitsverhältnissen ist das nicht möglich und/oder wird negativ sanktioniert: als berechnend und unsympathisch und damit den Zielen gerade affektiver Arbeit zuwiderlaufend. Oder aber dieses Ver hältnis wird zu einer pragmatischen doppelten seelischen Buchführung, die man als Reaktion auf Berufe aus der Sexarbeit und andere Formen von Prostitution kennt, am anderen unpragmatischen Ende stehen Zynismus und Burn-Out-Syndrom in helfenden Jobs, die eher für das Scheitern der Distanzierung stehen. Nur in diesen, traditionell negativ beschriebenen Fällen ist aber ein Blick auf die eigene Fähigkeit möglich. Der für diesen Blick nötige Aussichtspunkt gilt aber entweder als Ver fehlung des Berufs oder als deformation professionelle, die den Therapeu ten als erweiterten, meist selbst finanzierten Reparaturbetrieb auf den Plan ruft, statt zu einer Politisierung zu führen. Es hat sich daher ein ironisches Selbstverhältnis etabliert, das zwar eine solche Selbstdistanz aufbaut, diese aber nicht mehr reflexiv als Symptom einer bestimmten – erzwungenen – Notwendigkeit, mit sich selbst umzugehen, hauszuhal ten, zu hökern, verstehen kann oder will, sondern dies Selbstdistanz wiederum zur Ironie zweiter Ordnung naturalisiert: Die Selbstdistanz ist nicht mehr die Bedingung einer möglichen Veränderung; man regist riert sie, performt sie zuweilen auch, macht aber mit Hilfe von Thera peuten und Yoga-Lehrern trotzdem weiter wie bisher. Die Ironie zweiter Ordnung schließt Engagement und Fanatismus in dem Maße aus, wie sie die letztlich zerstörerische, allseits geforderte Identifikation mit Beruf, Tätigkeit und Firma, der man sich verkauft, bloß lindert. Die Reklame aber, die in Massenkultur und Medien für solcherma ßen performative Arbeit gemacht wurde und wird, greift auf das Reser voir der Selbstverwirklichungsdiskurse aus den Kulturrevolten und Befreiungsszenarien der Jahre ca. 65–85 zurück. Tatsächlich unterschei det der traditionell unscharfe Selbstverwirklichungsbegriff nicht zwi schen der Verwirklichung von (künstlerischen) Projekten und von Lebensformen; er bietet sich also für genau die vielen Übergänge an, die zwischen spezialisierten, sozusagen technisch-kreativen Berufen vom Erfinder bis zum Dichter auf der einen Seite und der performativen Virtuosität, der Kreativität ohne Werk, von der Paolo Virno spricht, denkbar sind. Die Selbstverwirklichung gehört in einen Diskurs, der gegen die Doppelmoral des von sich selbst distanzierten, spezialisierten Subjekts der industriellen und fordistischen Epoche ein Ende doppelter Buchführung einklagte. In dem Symptom der Spaltung erkannte diese Rede die Entfremdung wieder und konzentrierte sich zumindest in vielen lebenspraktischen Projekten psychologischer, kommunitärer, künstlerischer Richtung auf mindestens die pragmatische Umgehung dieses Tatbestands, wenn nicht auf seine kulturrevolutionäre Abschaf fung. […]
Franz. für „berufliche Entstellung“; Berufsblindheit; unangebrachte Anwendung der Berufserfahrung und des erworbenen Fachwissens auf andere Lebensbereiche.
Paolo Virno (geb. 1952) ist ital. Philosoph und Semiotiker. Erwähnte These: Arbeit entwicklte sich zu einer virtuosen Darbietung ohne Werk. (Vgl. ders.: „Virtuosität im Postfordismus. Kulturindustrie als Vorwegnahme und Paradigma“, in: Kulturrisse 04/2005.)
Selbstverwirklicher dieser ersten Nach-68er-Generation bildeten insofern Modelle für Kreativarbeit, als sie in erster Linie Symbole und Zeichen verarbeiteten. Sie konnten diese besser lesen und schreiben als ihre Auftraggeber, weil sie näher an den sozialen Verabredungen der Leute waren. Sie arbeiteten in der Kneipe oder im Plattenladen und hatten durch ihr Szene- und Nachbarschaftswissen Zugang zu den Genealogien und alles entscheidenden sozialen Mikrobedeutungen von Styles. Sie hatten erlebt, wie sich Lebensformen in Logos sedimentier ten. Doch schon gegen Ende der 70er Jahre und vor allem in den 80ern geriet das ganze Milieu in die Kritik. Gegenmilieus wie die Punk-Kultur warfen – meistens implizit – den Selbstverwirklichern vor, sich nur halb befreit zu haben, nur zu therapieren und zu reformieren, wo es um die Bedingungen fürs Personsein überhaupt ging. Ob im eher politisierten Milieu – bei Anarchisten und Autonomen – oder im eher spirituellen Milieu – bei neuen Tribalisten, Travellern und Gothic-Anhängern – soll te die „halbe Ganzheitlichkeit“ durch totalere und umfassendere, auf die Einheit aus Leben, Praxis, Alltag zielende Programme ersetzt werden. Zwar war die zur gleichen Zeit und interessanterweise in den gleichen kulturellen Milieus aufsteigende „postmoderne“ Kritik an Ganzheitlich keitsvorstellungen während der 80er Jahre sichtbarer (weil artikulier ter), die gesteigerte Ganzheitlichkeit erwies sich aber letzten Endes in den Subkulturen und ihren Nachfolgern als nachhaltiger. Die Sympathie für Doppelleben und gebrochene Subjektivität blieb Vorrecht intellektu eller und akademischer Fraktionen, die Strahlkraft der Doppelle ben-Kritik reichte weiter – bis zu den Ganzheitlichkeitsfeiern der Tech no-Kultur. Deren Beteiligte konnten nun allerdings nicht mehr an eine utopische Zukunft jenseits der Feier glauben, sondern hatten die körper lich nachhaltige Selbstverwirklichung jenseits von Zeichen- und Sym bolbearbeitung ganz auf die Party und den Rave verlagert. Ganz in der performativen Präsenz eines als authentisch empfundenen Körpers aufzugehen gelang der egalitären, sexuell entspannteren, queer beein flussten Rave-Kultur sicher besser als ihren Vorgänger-Modellen in den 60er- und 70er-Jahre-Gegenkulturen. Aber die Party war nicht mehr mit einem gesellschaftlichen und politischen Ziel verbunden, einem Nach her: Wohl auch deswegen dauerten die Parties so lange und zögerten ihr Ende heraus. Danach gab es keine Praxis, die die Erfahrungen der Party politisch in den Alltag verlängern konnten. Für das heutige, zweite Stadium kreativer Arbeit war diese zweite Phase von Ganzheitlichkeits-Ideologie wichtiger als die erste Phase der Selbstverwirklichung. Dem wirtschaftlichen Aufstieg der Symbolverar beitung – das haben wir gesehen – ist der der Körperverwertung gefolgt. Damit ist natürlich nicht die Verwertung der Körperleistung gemeint, die in früheren Gesellschaften ja neben der Verwertung von Pferden und anderen Tieren durchaus eine Rolle gespielt hat, sondern die beson dere körperliche Präsenz, Charisma-Produktion, aber auch die besonde
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re Interface-Funktion von menschlichen Körpern und Gesichtern. Es geht also um die Verwertung des symbolisierten und kulturalisierten Körpers, um den Live-Auftritt derselben symbolverarbeitenden Fähig keiten, die in der ersten Phase der Kreativwirtschaft noch an Rechner und Leuchttisch zur Geltung kamen, die sich nun inkorporiert auf die Bühne stellen. Auf den Hippie der 70er, der mit wilden Haaren und endlosen Gitarrenläufen Selbstverwirklichung lediglich symbolisch verkörperte, ist nun der gepiercete, tätowierte, in Ernährung und Dro genkonsum ohne kognitive Dissonanzen lebende Trance- und Tech no-Esoteriker als Modell getreten. Er ist dabei nicht nur in sich konsis tenter, sondern auch weiter verbreitet: Man findet diese Grundmuster von „Ganzheitlichkeit“ von der protestantischen neo-bürgerlichen Mittelschicht über die post-religiösen und esoterischen Milieus bis in die Kulte der Unterschichten – dem steht eher vereinzelt im akademischen Milieu die Ironie gegenüber (wobei von dieser auch hier nicht viel mehr übrig geblieben ist als die leere Ironie zweiter Ordnung). Anders als die in Selbstdistanz weitermachenden Ironiker, aber auch anders als der politisch bewusste Hippie erlebt der ganzheitliche Typ die Grenzen seines Lebensmodells als schicksalhaft oder religiös, Mängel schreibt er sich selbst zu oder verschwörungstheoretisch einem großen Ganzen. Natürlich, das muss man neuerdings ja immer sagen, wenn man von Phasen spricht, ist der vorangegangene Zustand nicht erledigt oder verschwunden, auch die andere Kreativwirtschaft gibt es noch. Sie ist die besser bezahlte und auch die stabilere. Die andere, die neuere – und in ihren Regeln eigentlich viel ältere – ist unsicher und prekär. Sie be trifft – um Beispiele aus Pop-Musik und Subkultur heranzuziehen – den Wechsel von der Bedroom-Tüftelei der digital-elektronischen 90er zur Live-Attraktion der Gegenwart, vom slicken Design zum sexy Gesicht. Der Preis besonderer Daten ist ins Bodenlose gestürzt, nur im Zusam menhang mit Live-Auftritten, 3-D-Erlebnissen sind sie noch attraktiv: selbst die Spielkonsolen und ihre Benutzung hat sich verkörperlicht und dreidimensionalisiert. Nicht mehr digitale Musikproduktionsprogramme sind der Hit, sondern die digitale Simulation älterer, prä-digitaler Rock- Musik verkauft sich wie geschnitten Brot. Die Kneipenbedienungen, Servicecentermitarbeiterinnen, Musikerin nen, Boten, Helfer, Junior-Art Directorinnen, die in dieser Wirtschaft ihren kulturellen Körper einsetzen, sind das Gegenteil des körperlosen, fetten Nerds, der noch in der ersten Generation digitaler Kultur als Klischee eines neuen Phänotyps kursierte oder auch des speedzerfresse nen Dot-Com-Selbstausbeuters – diese waren die letzten Selbstverwirk licher des ersten Typus. Die Identifikation ist bei ihren Nachfolgern eben kein freier Akt mehr, der auch anders ausfallen könnte. Sie sind auf ihr Selbstsein zurückgeworfen, alles, was sie tun können, ist es zusammen zuhalten. Kognitive Dissonanzen zwischen Tätigkeit und Bewusstsein
Gefühlszustand, wenn unvereinbare Wahrnehmungen, Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wünsche oder Absichten aufeinander treffen.
lassen sich dann nicht mehr aufrechterhalten, wenn meine Attraktivität (und mit ihr mein ökonomischer Erfolg) darauf basiert, dass ich so rei zend und so kräftig ich bin. Die materiellen und physischen Kosten, aber auch die Chancen der Verwertung von Körpern und Physis verbinden die neue Kreativwirtschaft mit einer ganz alten Entertainment-Indust rie als Unmittelbarkeitsdealer, wie sie es im Rotlichtmilieu, in Jazzkel lern und Kabaretts jahrzehntelang gegeben hat. Doch für Kreativarbeiter im ersten wie im zweiten Sinne gilt vor allem eines: sie sind für sich selbst verantwortlich; sie identifizieren sich nicht souverän, wie jemand, der auch anders könnte: sie sind immer schon das, was sie sein müssen. In Althussers Ideologietheorie gab es ja dieses berühmte dreiteilige Modell, bei dem ein Subjekt in seiner Repro duktionsphase von einer staatlich organisierten Ideologisierungsmangel so zugerichtet wurde, dass es am nächsten Tag wieder in die Fabrik gehen und seine Arbeitskraft so weit mobilisieren konnte, dass sich ein Mehrwert abschöpfen ließ. Kreativarbeiter müssen alles drei zugleich sein: arbeitskräftiges Subjekt, leeres, womöglich zweifelndes, zu prägen des Subjekt und prägendes, beeinflussendes, motivierendes, das eigene Subjekt in die Mangel nehmendes Unterhaltungs- und Spiritualitätspro gramm. Wenn sie Glück haben, reicht Leere und Selbstentertainment, weil das von außen dann schon aussieht wie sexy Präsenz. Was hülfe es, würde man sich in eine Gewerkschaftsposition gegen über der Kreativarbeit begeben, was könnte man fordern, ohne gleich alles zu fordern? Nun dies: Die Wieder-Versachlichung der personalisier ten Techniken, das Verfügen über Rückzugsmöglichkeiten, die nicht vom Zwang zur Reproduktion aufgefressen werden, die Wieder-Aneig nung des Selbst durch das Selbst, die De-Ökonomisierung der Seele, des Körpers, der Präsenz, der Sexyness; die Re-Politisierung, Re-Objektivie rung, Re-Reifizierung von Fähigkeiten, Skills, Wissen.
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Louis Althusser (1918-90) war ein franz. Philosoph und einer der einflussreichsten marxistischen Theoretiker des 20. Jh.
Vergegenständlichung, Konkretisierung
Unter gleichem Titel ungekürzt zuerst erschienen in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hrsg.): Kreation und Depression – Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin: Kadmos 2011.
Weiterführende Literatur Gerald Raunig: „Exodus. Die Grammatik verändern. Zu Paolo Virnos Arbeiten über Virtuosität“ in: der Freitag 25.1.08 (Online verfügbar). Paolo Virno: „Virtuosität im Postfordismus. Kulturindustrie als Vorwegnahme und Paradigma“, in: Kulturrisse 04/2005. ders.: Grammatik der Multitude, Wien 2005.
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„Die Angestellten“ von Siegfried Kracauer gilt als erste empirisch-soziologischen Studie in Deutschland und Klassiker der Soziologie. 1929 wurde die im essayistischen Reportagestil verfasste Studie über die Lage der Angestellten im Berlin der Weimarer Republik veröffentlicht. Auch wenn die Studie auf den ersten Blick veraltet erscheinen mag, sind viele der darin enthaltenen Charakterisierungen und Diag nosen der damals entstehen den Angestellten-Kultur noch heute aufschlussreich und dienlich für die Reflexion bestehender Verhältnisse. Im Kapitel „Asyl für Obdachlose“ beschreibt Kracauer u.a. die geistige „Obdachlosigkeit“ der Angestellten und deren Bedürfnis nach „Zerstreuung“.
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Asyl für Obdachlose
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Siegfried Kracauer (1889– 1966) war ein deutscher Journalist, Soziologe, Film theoretiker und Geschichtsphilosoph; Studierte und promovierte Architektur in Darmstadt, München und Berlin; ab 1930 Feuilletonchef der Frankfurter Zeitung – gilt heute als einer der wichtigsten Feuilletonisten der Weimarer Republik; 1933 Flucht nach Paris/New York;
SIEGFRIED KRACAUER
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Asyl für Obdachlose Der Durchschnittsarbeiter, auf den so mancher kleine Angestellte gern herabsieht, ist diesem oft nicht nur materiell, sondern auch existentiell überlegen. Sein Leben als klassenbewußter Proletarier wird von vulgär marxistischen Begriffen überdacht, die ihm immerhin sagen, was mit ihm gemeint ist. Das Dach ist allerdings heute reichlich durchlöchert. Die Masse der Angestellten unterscheidet sich vom Arbeiter- Proletariat darin, daß sie geistig obdachlos ist. Zu den Genossen kann sie vorläufig nicht hinfinden, und das Haus der bürgerlichen Begriffe und Gefühle, das sie bewohnt hat, ist eingestürzt, weil ihm durch die wirt schaftliche Entwicklung die Fundamente entzogen worden sind. Sie lebt gegenwärtig ohne eine Lehre, zu der sie aufblicken, ohne ein Ziel, das sie erfragen könnte. Also lebt sie in Furcht davor, aufzublicken und sich bis zum Ende durchzufragen. Nichts kennzeichnet so sehr dieses Leben, das nur in eingeschränk tem Sinne Leben heißen darf, als die Art und Weise, in der ihm das Höhere erscheint. Es ist ihm nicht Gehalt, sondern Glanz. Es ergibt sich ihm nicht durch Sammlung, sondern in der Zerstreuung. „Warum die Leute so viel in Lokale gehen?“ meint ein mir bekannter Angestellter, „doch wohl deshalb, weil es zu Hause elend ist und sie am Glanz teilha ben wollen.“ Unter dem Zuhause ist übrigens außer der Wohnung auch der Alltag zu verstehen, den die Inserate der Angestellten-Zeitschriften umreißen. Sie betreffen in ihrer Mehrzahl: Federn; Kohinoor-Bleistifte; Hämorrhoiden; Haarausfall; Betten; Kreppsohlen; weiße Zähne; Verjün gungsmittel; Verkauf von Kaffee in Bekanntenkreisen; Sprechmaschi nen; Schreibkrampf; Zittern, besonders in Gegenwart anderer; Quali tätspianos gegen wöchentliche Abzahlung usw. Eine zu Reflexionen neigende Stenotypistin äußert sich ähnlich zu mir wie jener Angestellte: „Die Mädels kommen meist aus geringem Milieu und werden vom Glanz angelockt.“ Sie begründet dann höchst merkwürdig die Tatsache, daß die Mädels im allgemeinen ernste Unterhaltungen meiden. „Ernste Unterhaltungen“, sagte sie, „zerstreuen nur und lenken von der Umwelt ab, die man genießen möchte.“ Wenn einem ernsten Gespräch zerstreu ende Wirkungen beigemessen werden, ist es mit der Zerstreuung uner bittlicher Ernst. So müßte es nicht sein. Otto Suhr, der Wirtschaftspolitiker des Afa- Bundes, zieht aus den Ergebnissen, zu denen er auf Grund einer in seiner Schrift „Die Lebenshaltung der Angestellten“ (Freier Volksverlag, Berlin
Proletariat: Klasse der abhängig Beschäftigten die keine eigenen Produktionsmittel besitzen und ihre Arbeitskraft verkaufen müssen (lt. Marx).
Otto Suhr (1894–1957) war SPD-Politiker; ab 1955 Bürgermeister von Berlin. Allgemeine freie Angestelltenbund war ein Zusammenschluss (1920–1933) von sozialistisch orientierten Gewerkschaften technischer, verwaltender Angestelltenund künstlerischer Berufe.
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1928) verarbeiteten Enquete über das Haushaltbudget von Angestellten
gelangt, den Schluß, daß die Angestellten zwar weniger Geld auf ihre Ernährung als ein Durchschnittsarbeiter verwendeten, dafür aber die sogenannten Kulturbedürfnisse höher als dieser veranschlagten. Der Angestellte gibt nach Suhr für den Kulturbedarf mehr aus als für Woh nung einschließlich Heizung und Beleuchtung sowie Kleidung und Wäsche zusammengenommen. Zu den „Kulturbedürfnissen“ zählen neben der Gesundheit, den Verkehrsmitteln, Geschenken, Unterstüt zungen usw. unter anderem auch Rauchwaren, Wirtshäuser, geistige und gesellige Veranstaltungen. Bewußt oder wahrscheinlich mehr noch unbewußt sorgt nun die Gesellschaft dafür, daß diese Nachfrage nach Kulturbedürfnissen nicht zur Besinnung auf die Wurzeln echter Kultur und damit zur Kritik an den Zuständen führe, durch die sie mächtig ist. Sie unterbindet nicht den Drang, im Glanz und in der Zerstreuung zu leben, sie fördert ihn, wo und wie sie nur kann. Man wird noch sehen, daß sie selber das System ihres Lebens keineswegs bis zum entscheiden den Punkt vortreibt, vielmehr der Entscheidung ausweicht und die Reize des Lebens seiner Wirklichkeit vorzieht. Auch sie ist auf Ablen kungen angewiesen. Da sie den Ton angibt, wird es ihr um so leichter, die Angestellten in dem Glauben zu halten, daß ein zerstreutes Dasein zugleich das höhere sei. Sie setzt sich als das Höhere, und wenn das Gros der Abhängigen sie zum Vorbild nimmt, ist es schon beinahe dort, wo sie es haben will. Welcher Sirenentöne sie fähig ist, zeigt der folgende Ab schnitt aus der wiederholt angeführten Warenhaus-Propagandaschrift, der in eine Musterkollektion klassischer Ideologien gehörte: „Erwäh nenswert ist noch ein Einfluß, der von der Anlage und Inneneinrichtung des Warenhauses ausgeht. Viele der Angestellten stammen aus ganz einfachen Verhältnissen. Vielleicht besteht die Wohnung aus engen lichtlosen Räumen, vielleicht sind die Menschen, mit denen sie in ihrem Privatleben umgehen, wenig gebildet. Im Warenhaus aber hält sich der Angestellte meist in heiteren, lichtdurchfluteten Räumen auf. Der Um gang mit feiner und gebildeter Kundschaft bringt stets neue Anregun gen. Die oft recht unbeholfenen und befangenen Lehrmädchen gewöh nen sich schneller an gute Haltung und Umgangsformen, pflegen ihre Sprache und auch ihr Äußeres. Die Vielseitigkeit ihres Berufes erweitert den Kreis ihrer Kenntnisse und vertieft ihre Bildung. Das erleichtert ihnen den Aufstieg in höhere Schichten.“ Der wohltätige Einfluß, den die Lichtflut außer auf die Kauflust auch auf das Personal ausübt, könnte höchstens darin bestehen, daß das Personal hinreichend von ihr betört wird, um die enge, lichtlose Wohnung zu verschmerzen. Das Licht blendet eher, als daß es erhellte, und vielleicht dient die Fülle des Lichts, die sich neuerdings über unsere Großstädte ergießt, nicht zuletzt einer Vermehrung der Dunkelheit. Aber winken nicht die höheren Schichten? Wie sich herausgestellt hat, winken sie unverbindlich von fern. Der gespendete Glanz soll zwar die Angestelltenmassen an die Gesellschaft
fesseln, sie jedoch nur gerade so weit erheben, daß sie desto sicherer an dem ihnen zugewiesenen Ort ausharren. Aufschlußreich in dieser Bezie hung ist ein „Streifzug durch 15 Ausgabebücher“, der vor einiger Zeit im „Uhu“ veröffentlicht wurde. Einige der Überschriften lauten: „Wieso können sich Müllers ein Segelboot leisten?“; „Wieso können Schulzes 10Mark Pension in der Sommerfrische bezahlen?“; „Wieso treiben denn Wagners einen solchen Kleideraufwand?“ Ja, sie können es eben. Herr Schulze erklärt, daß sich seine Alte aufs Wirtschaften verstehe, und Frau Wagner berichtet, daß ihr Mann sich die Hosen selber bügle. „So wahrt man den Schein“, fügt sie philosophisch hinzu. Hoffentlich glän zen die Hosen nicht zu sehr. In der gleichen Nummer der „Borsig-Zei tung“, in der sich der im vorigen Kapitel erwähnte Aufsatz Dr. Striemers befindet, erwidert ein Kalkulator auf die Frage, warum es eine Kluft zwischen Arbeitern und Angestellten gebe: „Es liegt in der Hauptsache daran, daß jeder mehr scheinen will, als er ist.“ Obwohl manche der eingesparten Vergnügungen zweifellos echt sind, ist die tiefere Moral des „Uhu“-Streifzuges doch offenbar, dem sogenannten Mittelstand die Überzeugung beizubringen, daß sich auch bei einem geringen Einkom men der Schein wahren lasse, zur bürgerlichen Gesellschaft zu gehören, und man darum alle Ursache habe, als Mittelstand zufrieden zu sein. Daß ein Prokurist und ein Oberregierungsrat den Befragten beigemischt sind, steigert nur die mittelständische Würde der ebenfalls gestreiften Direktionssekretärin oder des kleinen Beamten. Die Begegnungen zwischen den Angestellten und den höheren Vorbil dern vollziehen sich mit einer wunderbaren Selbstverständlichkeit. Oft genügt schon der absichtslose Anhauch gesellschaftlichen Lebens, um die schlummernden Kräfte zu wecken. Von solcher leichten Erregbarkeit zeugt unter anderem die Beobachtung eines Angestellten aus der Indus trie. Wenn in irgendeiner Abteilung seines Betriebes auch nur ein paar Angestellte mit der Kundschaft verkehren müßten, färbe das elegante Benehmen der vorgeschobenen Posten sofort auf das übrige Personal ab. Unmerkliche Signale erteilen noch zum Überfluß auf Schritt und Tritt der Sehnsucht die Richtung. So stolzieren im Schaufenster eines bedeu tenden Warenhauses Mannequinpuppen in billigen Konfektionskleidern zwischen vornehmen Orchideen einher; so verschafft im Lunapark eine Autorennbahn den unteren Gehaltsempfängern das Vergnügen, sich als Herrenfahrer fühlen zu dürfen. Kleine Wirkungen, große Ursachen. Den Massen gegenüber genügt die zarte Zeichensprache nicht. Wo sie wie in Berlin zusammenströmen, werden denn auch eigene Asyle für die Ob dachlosen geschaffen. Asyle im wörtlichen Sinne sind jene gigantischen Lokale, in denen man, wie ein Plauderer sich in einem Berliner Mittags blatt einmal ausdrückte, für billiges Geld den Hauch der großen Welt verspüren kann. Das mehr den Provinzfremden zubestimmte Haus Vaterland, das ebenfalls nie gehobenen Gehaltsempfängern rechnende
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1924 bis 1934 im Berliner Ullstein Verlag erschienene Monatszeitschrift; gilt rückblickend als wegweisende Publikation der Weimarer Zeit; Veröffentlichungen von László Moholy-Nagy, Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky uvm.
Damals Europas größter Vergnügungspark am Berliner Halensee (1909–1933).
Großer Gaststättenbetrieb und Vergnügungspalast am Potsdamer Platz in Berlin; Vorläufer der Erlebnisgastronomie (1928–43).
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Resi (Residenz-Kasino), das Moka-Efti-Unternehmen auf der Friedrich straße – sie und ihresgleichen hat ein untrüglicher Instinkt ins Leben gerufen, um den Hunger der Weltstadtbevölkerung nach Glanz und Zerstreuung zu stillen. Aus dem Geschäftsbetrieb in den Amüsierbe trieb, ist ihre unausgesprochene Devise. Nicht alle Angestellten-Katego rien verfallen, nebenbei bemerkt, gleichmäßig dem Zauber des weit ausladenden Amüsements. Ein sachkundiger Reichstagsabgeordneter will sehr genau zwischen den Technikern und etwa den Konfektionären unterschieden wissen. Jene sind nach seiner gesprächsweise geäußerten Ansicht im allgemeinen eher Eigenbrötler, ein wenig altmodisch und kaum darauf bedacht, einen mondänen Eindruck zu machen; die Einund Verkäufer in der Konfektion und wohl auch in den Luxusgeschäften dagegen haben den begreiflichen Hang, sich selber die Eleganz zu leisten, die sie fortwährend vermitteln, und leben außerdem des Kontakts mit der Kundschaft wegen gern in die Nacht hinein. „Eine enge Beziehung“, erklärt der Abgeordnete, „besteht zwischen Konfektionären und Kaba rettisten.“ In der Tat stimmen beide darin überein, daß sie unmittelbar ins Publikum hineinwirken; während der Techniker mit dem Rücken gegen das Publikum die ungesellige Materie formt. Durchaus in Ord nung also, daß der millionste Besucher des Hauses Vaterland gerade ein Einkäufer eines New Yorker Warenhauses gewesen ist. Er hat für seine Verdienste einen silbernen Ehrenpokal erhalten. Daß die Pläsierkaser nen erst seit kurzem ihre Anziehungskraft ausüben, ist alles andere eher denn ein Zufall. Sie haben die zahllosen Likörstuben aus den Inflations jahren abgelöst und sind gleich nach der Stabilisierung der Wirtschaft emporgetrieben worden. In demselben Augenblick, in dem die Betriebe rationalisiert werden, rationalisieren jene Lokale das Vergnügen der Angestelltenheere. Auf meine Frage, warum sie die Masse als Masse versorgen, gibt mir ein Angestellter die bittere Antwort: „Weil das Leben der Leute viel zu ausgepowert ist, als daß sie noch etwas mit sich anzufangen vermöchten.“ Gleichviel, ob es sich so oder anders verhält: in den gemeinten Lokalen ist die Masse bei sich selber zu Gast; und zwar nicht nur aus Rücksicht auf den geschäftlichen Nutzen des Unterneh mers, sondern auch um ihrer uneingestandenen Ohnmacht willen. Man wärmt sich aneinander, man tröstet sich gemeinsam darüber, daß man der Quantität nicht entrinnen kann. Ihr anzugehören, wird durch die hochherrschaftliche Umgebung erleichtert. Sie ist besonders feudal im Haus Vaterland, das am vollkommensten den Typus verkörpert, der auch in den Kinopalästen und in den Etablissements der unteren Zwischen schichten annähernd durchgehalten wird. Seinen Kern bildet eine Art von gewaltiger Hotelhalle, über deren Teppiche die Gäste des Adlon schreiten dürften, ohne sich gedemütigt zu fühlen. Sie übertreibt den Stil der neuen Sachlichkeit, denn nur das Modernste ist gut genug für unsere Massen. Nicht schlagender könnte sich das Geheimnis der neuen Sach lichkeit enthüllen als hier. Hinter der Pseudostrenge der Hallenarchitek
tur nämlich grinst Grinzing hervor. Nur einen Schritt in die Tiefe, und man weilt mitten in der üppigsten Sentimentalität. Das aber ist das Kennzeichen der neuen Sachlichkeit überhaupt, daß sie eine Fassade ist, die nichts verbirgt, daß sie sich nicht der Tiefe abringt, sondern sie vortäuscht. Wie die Verwerfung des Alters, so entspringt sie dem Grau en vor der Konfrontation mit dem Tod. Der Raum, in dem der Heurige genossen wird, bietet einen herrlichen Fernblick auf das nächtliche Wien. Matt hebt sich der Stephansturm vom gestirnten Himmel ab, und eine innerlich beleuchtete Elektrische entgleitet über die Donaubrücke. In anderen Räumen, die an die neue Sachlichkeit angrenzen, fließt der Rhein, glüht das Goldene Horn, dehnt sich fern im Süden das schöne Spanien. Die Beschreibung der Sehenswürdigkeiten erübrigt sich um so mehr, als sich den unübertrefflichen Angaben des Haus-Vaterland-Pros pektes kein Wort hinzufügen oder abnehmen läßt. Dort heißt es etwa vom Löwenbräu: „Bayerische Landschaft: Zugspitze mit Eibsee – Alpenglühen – Einzug und Tanz der bayerischen Bua’m. Schuhplattler paare …“; oder von der Wildwest-Bar: „Prärielandschaften an den großen Seen – Arizona – Ranch – Tänze – Cowboylieder und -tänze – Ne ger-Cowboy-Jazzband – Federnde Tanzfläche.“ Das Vaterland umfaßt den ganzen Erdball. Es hängt mit der Monotonie in den Betrieben zu sammen, daß die Panoramen des 19. Jahrhunderts in allen diesen Loka len wieder zu so hohen Ehren kommen. Je mehr die Monotonie den Werktag beherrscht, desto mehr muß der Feierabend aus seiner Nähe entfernen; vorausgesetzt, daß die Aufmerksamkeit von den Hintergrün den des Produktionsprozesses abgelenkt werden soll. Der genaue Ge genschlag gegen die Büromaschine aber ist die farbenprächtige Welt. Nicht die Welt, wie sie ist, sondern wie sie in den Schlagern erscheint. Eine Welt, die bis in den letzten Winkel hinein wie mit einem Vakuum reiniger vom Staub des Alltags gesäubert ist. Die Geographie der Ob dachlosenasyle ist aus dem Schlager geboren. Obwohl er nur über eine vage Ortskenntnis verfügt, sind die Panoramen doch meistens exakt ausgeführt; eine Pedanterie, die darum nicht überflüssig ist, weil im Zeitalter des Verkehrs auch der tarifmäßige Urlaub schon eine Kontrolle mancher Landschaften an Ort und Stelle ermöglicht. Bei den Soffitten handelt es sich freilich weniger um wirkliche Fernen als um die erträum ten Märchengefilde, in denen die Illusionen leibhaftig Figur geworden sind. Der Aufenthalt zwischen diesen Wänden, die die Welt bedeuten, läßt sich als eine Gesellschaftsreise für Angestellte ins Paradies definie ren. Dem entspricht haarscharf die Einrichtung des Moka-Efti-Lokales, dessen räumliche Ausschweifungen hinter denen des Hauses Vaterland kaum zurückstehen. Eine Rolltreppe, zu deren Funktionen vermutlich gehört, den leichten Aufstieg in die höheren Schichten zu versinnlichen, befördert immer neue Scharen von der Straße weg unmittelbar nach dem Orient, den Säulen und Haremsgitter markieren. Der Phantasiepa last gleicht übrigens auch darin einem Wunschbild, daß er nicht sehr
Weinlokal und Café im Haus Vaterland, orientiert am gleichnamigen (kitschigen) Vorort v. Wien, bekannt für Weinbau.
altmod. für Straßenbahn
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solid konstruiert ist; statt auf dem Untergrund festen Kapitals erhebt er sich auf kurzfristigem englischen Wechselkredit. Man sitzt hier oben nicht, man reist. „Nicht hinauslehnen!“ steht an den Zugfenstern ge schrieben, durch die man auf lauter sonnige Ansichtspostkartenland schaften blickt. In Wirklichkeit sind sie Wandfüllungen, und der natur getreu nachgebildete Korridor eines internationalen Schlafwagenzuges ist nichts weiter als ein langer schmaler Gang, der zwei mohammedani sche Säle miteinander verbindet. Die in der Warenhaus-Propaganda schrift angerufenen Lichtfluten wirken überall im Ensemble mit Sie werden im Resi papageienbunt durch den Raum geschickt und überspie len das dortige Heidelberger Schloß mit einer Farbenpracht, deren die untergehende Sonne nicht fähig wäre. So sehr gehören sie zu den Be stimmungsmerkmalen dieser Lokale, daß der Gedanke sich aufdrängt, die Lokale seien während des Tages überhaupt nicht vorhanden. Abend für Abend erstehen sie neu. Die eigentliche Macht des Lichts aber ist seine Gegenwart. Es entfremdet die Masse ihres gewohnten Fleisches, es wirft ihr ein Kostüm über, das sie verwandelt. Durch seine geheimen Kräfte wird der Glanz Gehalt, die Zerstreuung Rausch. Wenn der Kell ner es ausknipst, scheint freilich der Achtstundentag gleich wieder herein. Alle Veranstaltungen, die in einer Beziehung zu den unorganisierten Angestelltenmassen stehen, und nicht minder alle Bewegungen dieser Massen selbst sind heute zweideutiger Art. Eine Nebenbedeutung haftet ihnen an, die sie oft von ihrer ursprünglichen Bestimmung entfernt. Unter dem Druck der herrschenden Gesellschaft werden sie zu Obdach losenasylen in übertragenem Sinn. Außer ihrem eigentlichen Zweck erhalten sie noch den andern, die Angestellten an den der Oberschicht erwünschten Ort zu bannen und sie von kritischen Fragen abzulenken, zu denen sie im übrigen ja auch kaum einen starken Zug verspüren. Was die gegenwärtige Filmproduktion betrifft, so habe ich in zwei in der „Frankfurter Zeitung“ erschienenen Aufsätzen, „Die kleinen Laden mädchen gehen ins Kino“ und „Der heutige Film und sein Publikum“ 44 nachgewiesen, daß nahezu sämtliche von der Industrie gelieferten Erzeugnisse das Bestehende rechtfertigen, indem sie seine Auswüchse sowohl wie seine Fundamente dem Blick entziehen, daß auch sie die Menge durch den Similiglanz der gesellschaftlichen Scheinhöhen betäu ben. Hypnotiseure schläfern so mit Hilfe glitzernder Gegenstände ihre Medien ein. Ein Gleiches gilt für die illustrierten Zeitungen und die Mehrzahl der Magazine. Bei ihrer genauern Analyse ergäbe sich vermut lich, daß die in ihnen immer wiederkehrenden Bildmotive wie magische Beschwörungsformeln gewisse Gehalte ein für allemal in den Abgrund bilderloser Vergessenheit zu stürzen trachten – jene Gehalte, die von der Konstruktion unseres gesellschaftlichen Daseins nicht umschlossen werden, sondern dieses Dasein selbst einklammern. Die Flucht der Bilder ist die Flucht vor der Revolution und dem Tod.
44. Vgl. ders.: Das Ornament der Masse, Frankfurt 1963. S. 279 und S. 295.
Simili: Nachahmung
Greift der Bildzauber von außen die Massen an, so ist der Sport, ist die ganze Kultur des Körpers, die auch zum Brauch des Wochenendes geführt hat, eine Hauptform ihrer Existenz. Zweifellos erfüllt die syste matische Durchbildung des Körpers die Mission, das lebensnotwendige Gegengewicht gegen die vermehrten Anforderungen der modernen Wirtschaft herzustellen. Die Frage ist aber, ob es beim heutigen Sport betrieb nur um diese freilich unerläßliche Durchbildung geht. Ob nicht am Ende dem Sport auch darum heute ein so ausgezeichneter Platz in der Hierarchie der Kollektivwerte angewiesen wird, weil er den Massen die willkommene und von ihr voll ausgenutzte Möglichkeit der Zerstreu ung bietet. Der Zerstreuung in des Wortes entscheidender Bedeutung und auch des Glanzes. Denn als Sportgrößen können es zahlreiche Leute zu Ansehen bringen, die sonst anonyme Gemeine der Angestelltenar mee blieben. Die Masse selbst ist es, die zu den Sportflächen drängt. Glaubten nicht etliche Großbetriebe eigene Werksportvereine zu benö tigen, die Gesellschaft als Ganzes müßte kaum noch den Sporteifer anstacheln, um sich zu erhalten. Ein einsichtiger Fabrikant beklagt sich im Gespräch mit mir darüber, daß der Sport das ganze Interesse der jungen Leute beschlagnahme. „Sie sagen, dass man nur einmal lebt, wenn ich sie an die Arbeit erinnere“, fügt er hinzu. So begehrlich kann aber das natürliche Leben, das man einmal lebt, dann allein sein, wenn es der Erkenntnis ausweicht, wenn es dem Bewußtsein der Zusammen hänge entrinnen möchte, in denen es steht. Indem es aufrauscht, ver sprüht es auch, und wo nur einmal gelebt wird, wird wenig gelebt. Der bereits zitierte Essay Lederers „Die Umschichtung des Proletariats“, greift in diesem einen Punkt ganz gewiß fehl. „Die Ausbreitung des Sports … macht sicher“, schreibt Lederer, „löst Komplexe auf oder läßt sie gar nicht erst entstehen und schafft eine Vororganisation der Masse, in welche der einzelne sich aktiv einfügt, seine Funktion erhält, die er betätigt, in der ein freier und gemeinsamer Wille alle eint … Soll man annehmen, daß Menschen, die in ihrer Welt Bescheid wissen, sie immer besser bewältigen, und übersehen, daß diese in der Sphäre praktischer Lebensgestaltung das ihnen gesetzte Schicksal ohne einen Versuch der Umgestaltung dauernd ertragen werden?“ Man muß es beinahe anneh men, und alles in allem trifft eher das Gegenteil zu. Die Ausbreitung des Sports löst nicht Komplexe auf, sondern ist unter anderem eine Verdrän gungserscheinung großen Stils; sie fördert nicht die Umgestaltung der sozialen Verhältnisse, sondern ist insgesamt ein Hauptmittel der Entpo litisierung. Das hindert nicht, daß in der Übersteigerung des Sports sich auch die revolutionäre Massensehnsucht nach einem Naturrecht kund gibt, das wider die Schäden der Zivilisation aufgerichtet werden könnte. Nicht nur der vielen Seen wegen ist in Berlin der Wassersport so beliebt. Tausende junge Angestellte träumen vom Paddeln, und die in dem erwähnten „Uhu-“Streifzug berührten Müllers haben sich um ihres Segelbootes willen jedes andere Vergnügen versagt. „Das Boot ist eben
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Emil Lederer (1882–1939) war böhm.-öst. Ökonom und Soziologe.
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unser alles, auch unsere Sommerreise …“ Der nackte Körper wächst zum Sinnbild des aus den herrschenden gesellschaftlichen Zuständen befrei ten Menschen heran, und dem Wasser wird die mythische Kraft zuge schrieben, den Schmutz des Betriebes abzuwaschen. Es ist der hydrauli sche Druck des Wirtschaftssystems, der unsere Schwimmanstalten übervölkert. Aber das Wasser reinigt in Wirklichkeit nur noch die Körper. Im Lunapark wird abends mitunter eine bengalisch beleuchtete Wasserkunst vorgeführt. Immer neu geformte Strahlenbüschel fliehen rot, gelb, grün ins Dunkel. Ist die Pracht dahin, so zeigt sich, daß sie dem ärmlichen Knorpelgebilde einiger Röhrchen entfuhr. Die Wasserkunst gleicht dem Leben vieler Angestellten. Aus seiner Dürftigkeit rettet es sich in die Zerstreuung, läßt sich bengalisch beleuchten und löst sich, seines Ursprungs uneingedenk, in der nächtlichen Leere auf. Dieses Kapitel ist unter gleichem Titel erschienen in: Siegfried Kracauer: Die Angestellten – Kulturkritischer Essay. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1979, S. 88–97.
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Gerald Raunig schaut rückblickend auf die „Kulturindustrie“ und deutet diese nicht als Nachzügler der Fordisierung, sondern Vorwegnahme postfordistischer Produktionsweisen. Anschließend setzt er die Kritik ins Verhältnis mit den zeitgenössischeren „Creative Industries“ und zeigt ihre Unterschiede auf.
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Gerald Raunig ist Philosoph und Kunsttheoretiker und arbeitet an der Zürcher Hochschule der Künste und am eipcp (European Institute for Progressive Cultural Policies); Habilitation und venia docendi für Philosophie an der Universität Klagenfurt/A; Redaktionsmitglied des multilingualen Webjournals transversal, der Zeitschrift Kamion und der Zeitschrift für radikaldemokratische Kulturpolitik –Kulturrisse.
GERALD RAUNIG
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Kulturindustrie und Creative Industries […] Als Max Horkheimer und Theodor W. Adorno Anfang der 1940er Jahre ihren Essay „Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug“ als Teil der Dialektik der Aufklärung verfassten, richteten sie sich gegen den wachsenden Einfluss der Unterhaltungsindustrie, gegen die Kommerzia lisierung der Kunst und gegen die totalisierende Vereinheitlichung „der Kultur“, vor allem im Land ihrer Emigration, den USA. Ihre skeptische Haltung zu den damals brandneuen Medien Rundfunk und Film veran lasste die beiden Autoren dazu, in wortgewaltigem Stil mit kulturpessi mistischen Untertönen ein breites Spektrum des kulturellen Feldes mit einem Konzept zu fassen, das in kulturellen Sphären kaum fremder erscheinen konnte: Sie bezeichneten die Produktion in Medien und Film als „Industrie“. Die Thesen Horkheimers und Adornos blieben fast zwei Jahrzehnte lang, auch nach der Übersiedlung nach Europa, ein im Umkreis des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt verhandelter Geheimtipp. Im Laufe der 1960er Jahre begann ihre Wirkungsgeschichte sich jedoch langsam zu entfalten, um sich in der Aktualisierung der Medienkritik in den 1970er Jahren vollends durchzusetzen: Die Dialektik der Aufklärung wurde ein Eckpfeiler der Literatur nicht nur zur Ambivalenz der Auf klärung, sondern auch und vor allem zur rigorosen Zurückweisung einer „Industrialisierung“, einer „Ökonomisierung der Kultur“. Die Entwicklung der Kulturindustrie ist nach Horkheimer und Adorno als verspätete Transformation des kulturellen Feldes zu betrach ten, die jene Prozesse nachholt, welche in der Landwirtschaft oder in dem, was landläufig Industrie genannt wird, zum Fordismus geführt haben. Im Gegensatz zu den mächtigsten Sektoren der Industrie – Stahl, Öl, Strom und Chemie – seien die Kulturmonopole allerdings schwach und abhängig. Auch noch die letzten Festungen des Widerstands gegen den Fordismus waren zu Fabriken geworden. Die neuen Kreativitätsfab riken, das Zeitungswesen, das Kino, das Radio und das Fernsehen, passten sich den Kriterien der fordistischen Fabrik an. Der Fließband charakter ordnete demnach die Kreativitätsproduktion der Kulturindus trie ähnlich, wie er es zuvor mit der Landwirtschaft und der Metallver arbeitung getan hatte: durch Serialisierung, Standardisierung und die totale Beherrschung der Kreativität. Mechanisierung und technische Reproduzierbarkeit verloren in dieser Sicht all die Benjamin’schen Po
Max Horkheimer (1895– 1973) war ein dt. Sozialphilosoph; Theodor W. Adorno (1903– 1969) war ein dt. Philosoph, Soziologe und Musiktheoretiker. Beide sind Begründer und Hauptvertreter der Kritischen Theorie bzw. „Frankfurter Schule“ (eine von Hegel, Marx und Freud inspirierte Gesellschaftstheorie).
Nach 1. WK etablierte Form industrieller Massenproduktion (Fließband) und -konsumtion.
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tenziale, die bürgerliche Kultur zu überwinden und der faschistischen Bedrohung etwas entgegenzuhalten. Im Gegensatz zu Walter Benjamins Theorie der Autorschaft und der neuen Medien, in der sich AutorInnen durch Veränderung des Produktionsapparates in ProduzentInnen ver wandeln können, und auch im Gegensatz zu Bert Brechts Lehr stück-Theorie und -Praxis der frühen 1930er Jahre, in der es statt eines konsumierenden Publikums nur noch AutorInnen und ProduzentInnen gibt, sehen Horkheimer und Adorno nur eigentümlich passive ProduzentInnen, die in der Totalität der Kulturindustrie gefangen sind. Die Mechanisierung der Kunst verkörpert die totale Unterwerfung der lebendigen Arbeit, nunmehr vor allem ihrer kognitiven und kreativen Anteile, unter die tote Arbeit. Die Funktion der Kreativitätsfabriken besteht nach Horkheimer und Adorno nicht nur in der mechanisierten Herstellung von Unterhaltungsgütern, sondern – über die herkömmli chen Produktionsbereiche hinaus – in der Festlegung und Kontrolle der Erfahrung, des Konsums, der Reproduktion, wobei es gerade die Repro duktion ist, die den industriellen Produktionsweisen mehr und mehr angeglichen wird. Mehr als ein halbes Jahrhundert später gab es einigen Grund, den Blick winkel auf die Funktion der Kulturindustrie anders einzustellen. An statt die Kulturindustrie als etwas zu betrachten, das im kulturellen Feld die bürgerliche Kunst ersetzt und ein im Außen der Kultur entwi ckeltes, fordistisches Modell ins kulturelle Feld überträgt, fragt der postoperaistische Philosoph Paolo Virno vom anderen Ende her nach der Rolle, der der Kulturindustrie bei der Überwindung des Fordismus und des Taylorismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zukommt. Seinen Ausführungen in Grammatik der Multitude zufolge hat sie das Paradigma der postfordistischen Produktion in ihrer Gesamtheit früh zeitig auf den Punkt gebracht. Die Verfahrensweisen der Kulturindust rie hatten exemplarischen Charakter und sind danach in alle anderen Bereiche eingedrungen. Virno argumentiert, dass in der von Horkhei mer, Adorno und Benjamin auf unterschiedliche Weise untersuchten „archaischen Form“ der Kulturindustrie jene Produktionsweise vorweg genommen ist, die sich später als Postfordismus allgemein durchsetzt. Hier findet sich also eine fruchtbare Umkehrung der Interpretation der Kulturindustrie als verspätet industrialisiertes und seiner Freiheit beraubtes Feld, wie sie von der Kritischen Theorie konzeptualisiert wurde: Während Horkheimer und Adorno die Kulturindustrie als störri sche Nachzüglerin der fordistischen Transformation beschreiben, fasst Virno sie als Antizipation und Paradigma postfordistischer Produktions weisen. Für Horkheimer und Adorno bildet die Kulturindustrie moderne kulturelle Monopole und dennoch zugleich einen ökonomischen Bereich, in dem die Sphäre liberaler Zirkulation – neben der unternehmerischen
Walter Benjamin (1892– 1940) war ein dt. Philosoph, Literaturkritiker. Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936). These: durch massenhafte Reproduktion von Kunstwerken, verlieren diese ihre Aura – das biete Chance für gesellschaftliche Emanzipation; Vgl. ders.: Der Autor als Produzent (1934). Bertolt Brecht (1898-1956) war Dramatiker und Lyriker. Lehrstücke (Theater/Radio) sollten als Gemeinschaftsund Gebrauchskunst heraus eine politische Kollektivität entwickeln. Siehe auch Brechts „Radiotheorie“.
Paolo Virno (geb. 1952). ital. Philosoph des Post-Operaismus – Verbindung des Operaismus („Arbeiterwissenschaft“; neomarxistische Strömung u. soziale Bewegung der 60er Jahre aus Norditalien) mit Einflüssen des franz. Poststrukturalismus. Ders.: Grammatik der Multitude. Die Engel und der General Intellect, Wien: Turia & Kant, 2005. Hohe Flexibilität in Arbeitsorganisation; Mitspracherecht der Arbeitskräfte; Teamwork; Just-in-time Produktion; Laut Operaisten Reaktion des Kapitals auf Arbeitskämpfe von 1973–1974.
und trotz der Desintegration anderswo – teilweise noch überleben darf. Innerhalb der Totalität der Kulturindustrie tauchen so zwar kleine Räume von Differenz und Widerstand auf, aber auch diese Differenz muss ihr Überleben sichern, indem sie sich in jene Totalität eingliedert. In dieser Beschreibung ist die Differenz im Dienste der Erreichung neuer Produktivitätsstufen nichts mehr als ein Überbleibsel der Vergan genheit, das die allgemeine Fordisierung der Kulturindustrie als Rest abwirft. Aus Virnos Perspektive können gerade diese angeblichen Über bleibsel als Vorschein, als Vorahnung, als Vorwegnahme betrachtet werden. Die Kulturindustrie erweist sich nicht einfach als schwacher und verspäteter Industriezweig im Prozess der Fordisierung, sondern als ein Zukunftsmodell und eine Vorwegnahme der weiten Verbreitung postfordistischer Produktionsweisen: Informelle, nicht programmierte Räume, Offenheit für Unvorhergesehenes, kommunikative Improvisatio nen sind darin weniger Rest denn Brennpunkt, weniger Rand denn Mitte. Und zwar nicht nur für neue Formen der Kulturindustrie, son dern für die gesamte gesellschaftliche Produktion, auch die „alten“ Formen der Industrie. Die institutionelle Form, in der sich die Kulturindustrie in der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt, ist jene der riesigen Musik, Unterhal tungs- oder Medienkonzerne. Die Kreativen finden sich nach Horkhei mer/Adorno als Angestellte verwaltet und eingeschlossen innerhalb eines Institutionengefüges, in dem ihre Kreativität durch die Form abhängiger Arbeit unterdrückt wird. In der Dialektik der Aufklärung wird dieser Zusammenhang von die Kreativität einschließender Anstel lung und sozialer Unterwerfung allgemein als „Selbstverhöhnung des Mannes“ beschrieben, des „liberalen Mannes“ wohlgemerkt, der damit jede Möglichkeit verliert, zum Unternehmer zu werden. Wie also aus sichtslose Abhängigkeit und soziale Kontrolle in der Welt der Angestell ten im Allgemeinen vorherrsche, so wird selbst die letzte Zufluchtsstätte der Autonomie (und hier kündigt sich schon früh der Romantizismus der künstlerischen Autonomie aus Adornos Spätwerk, der Ästhetischen Theorie, an), die Produktion von Kreativität, als gerastert, strukturiert und klassifiziert beschrieben, die große Zahl ihrer ursprünglich als widerständig verstandenen AkteurInnen am Ende als Angestellte zivili siert. Für diese Bändigung verspricht die Institution im Gegenzug ein gewisses Maß an Handhabe unauflösbarer Widersprüche und soziale Sicherheit für die Angestellten. Auch wenn die spezifischen Institutio nen der Kulturindustrie nicht ewig währen, sollen ihre Apparate genau aufgrund ihrer Apparathaftigkeit den Eindruck ewigen Bestands erwe cken und auf diese Weise die Subjekte entlasten. Selbst wenn wir diese einseitig strukturale Sichtweise für frühe Formen der Kulturindustrie gelten lassen, scheint sich hier am Ende des 20. Jahrhunderts etwas verändert zu haben. Die heute unter Creative Industries gelabelten Gefüge sind nicht mehr in Form riesiger Medien
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unternehmen strukturiert, sondern hauptsächlich als Kleinbetriebe selbstständiger KulturproduzentInnen in den Bereichen neue Medien, Mode, Grafik, Design, Pop etc., im Idealfall als Anhäufung solcher Kleinbetriebe, also Cluster. Wenn wir nach den Institutionen der Creati ve Industries fragen, scheint es angemessener zu sein, von Nicht-Institu tionen oder Pseudo-Institutionen zu sprechen. Während die Modellinsti tutionen der Kulturindustrie große und langfristig bestehende Unternehmen waren, erweisen sich die Pseudo-Institutionen der Creati ve Industries zeitlich begrenzt, ephemer und projektbasiert. Diese projektbasierten Institutionen scheinen den Vorteil zu haben, sich auf Selbstbestimmung und die Ablehnung der rigiden Ordnung fordistischer Regime zu gründen. Anstelle der alten institutionellen Aufgabe der Entlastung und Verwaltung von Widersprüchen nachzu kommen, fördern sie ganz im Gegenteil Prekarisierung und Unsicher heit. Die Idee der „Projektinstitution“ zeichnet sich durch einen schrei enden Widerspruch in Bezug auf ihre Zeitlichkeit aus: Auf der einen Seite legt sie es auf die langfristige Entlastung an, die das Konzept der Institution impliziert, und auf der anderen Seite beruht das Projekt gerade darauf, dass es nicht ohne zeitliche Begrenzung zu denken ist. Die Zeit der modulierenden Projektinstitution ist völlig geglättet, doch keineswegs ewig. Zugleich ist sie in neuer Weise gekerbt, modularisiert und vielfach hierarchisiert. Beklagten sich Horkheimer und Adorno noch darüber, dass den Subjekten der Kulturindustrie als Angestellten die Möglichkeit vorent halten blieb, freischaffende UnternehmerInnen, ökonomische Subjekte zu werden, so erscheint dieses Problem in der gegenwärtigen Situation ins Gegenteil verkehrt. Der/die selbstständige UnternehmerIn ist zum hegemonialen Muster geworden. Und selbst die Nachfolger der Kulturin dustrie des 20. Jahrhunderts, die großen Medienkonzerne, betreiben unter der Flagge der Entrepreneurship eine Politik des Outsourcing und der ausgelagerten Subunternehmen. In diesen neueren Medienkonzer nen mit ihrer Konvergenz vom Printbereich über audiovisuelle Medien bis zu Social Media bleiben in vielen Fällen – und das gilt selbst für öffentlich-rechtliche Medien – nur noch einige Kernbereiche in der Administration für Festangestellte übrig. Dagegen arbeiten die meisten, die als Kreative bezeichnet werden, teilzeitbeschäftigt, freischaffend und/oder als selbstständige UnternehmerInnen mit oder ohne begrenz te(n) Verträge(n). Zynisch ließe sich sagen, dass Horkheimers und Ador nos Beschwerde über den Verlust der unternehmerischen Freiheit unter postfordistischen Arbeitsbedingungen auf perverse Weise Rechnung getragen wird: Die Kreativen werden in eine spezifische Sphäre der Freiheit, Unabhängigkeit und der Selbstregierung entlassen. Hier wird die Kreativität zum Imperativ, die Flexibilität zu einer despotischen Norm, die Prekarisierung der Arbeit zur Regel. Die Zeit ist nach dualen Parametern wie Arbeit und Freizeit, Produktion und Reproduktion,
Beschäftigung und Arbeitslosigkeit nicht mehr klar zuordenbar, ihre Kerbung und Glättung erfolgt jenseits dieser Zuordnungen, und zugleich ist die gesamte Zeit aufgesplittert und hierarchisiert in viele verschiede ne Zeitlichkeiten, die alle früheren Formen von Kerbung der Zeit aus fransen lassen: etwa eine Zeit des schlecht oder unbezahlten Prakti kums, eine Zeit der Arbeitssuche ohne oder mit Druck durch das Arbeitsamt, eine Zeit der Ausarbeitung neuer Projekte, eine Zeit für nicht bezahlte Praxen der Selbstorganisation, eine Zeit für Papierkram, eine Zeit für elektronischen Schriftverkehr, eine Zeit zur kurzen Rege neration, eine Zeit der Aus- und Weiterbildung, eine Zeit zum Sociali sing – sei es in direkter Kommunikation oder über Social Media, eine Zeit zur Entwicklung von Netzwerken, eine Zeit für unbezahlten Kran kenstand, eine Zeit für Behördenwege, und manchmal auch einiges davon zugleich. […]
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Ungekürzt ist das Kapitel erschienen unter dem Titel „Glatte Zeiten, gekerbte Zeiten“ in: Gerald Raunig: Industrien der Kreativität – Streifen und Glätten 2. Diaphanes 2012. Ausführlicher beschreibt Raunig den Gedankengang in dem Artikel „Kreativindustrie als Massenbetrug“ (2007) http://eipcp.net/transversal/0207/raunig/de
Weiterführende Literatur Theodor W. Adorno & Max Horkheimer: „Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug“ in: dies.: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M 2006. Paolo Virno: „Virtuosität im Postfordismus. Kulturindustrie als Vorwegnahme und Paradigma“, in: Kulturrisse 04/2005. Roger Behrens: Kritische Theorie. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2002.
Februar 2015