Kantonsarchäologie / EX TERRA LUX (Leseprobe)

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EX TERRA LUX Geschichten aus dem Boden Schaffhauser Archäologie des Mittelalters


EX TERRA LUX Geschichten aus dem Boden Schaffhauser Archäologie des Mittelalters

Kurt Bänteli Anke Burzler Valentin Homberger Markus Höneisen Kurt Zubler

Kantonsarchäologie Schaffhausen Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen


Begleitpublikation zur Ausstellung im Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen 23. August 2002 – 22. Februar 2003 Konzept und Redaktion: Markus Höneisen Gestaltung: Katharina Bürgin Umschlag: Erwin Gloor Druck: © 2002 Baudepartement des Kantons Schaffhausen, Kantonsarchäologie ISBN 3-9521868-3-X


Einführung: Zur Archäologie des Mittelalters

8 10

Geschichte: Von der römischen Provinz zum eidgenössischen Ort

14 16

Schauplätze: Kastell – Stein am Rhein Siedlung, Gräberfeld und Kirche – Schleitheim Verschwundenes Dorf – Berslingen Kloster und Stadt – Schaffhausen

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Geschichten: Vertrauter Feind Gut gerüstet Leben hinter Festungsmauern Tote erzählen First Lady Reichtum der Gräber Was soll das bedeuten Schatzkammer Abfälle und Verlorenes Die Zeiten ändern sich Ein ungewöhnlicher Sarg Vil wunderbarlich Dings drin funden Tandaradei Ein Turnier in Schaffhausen 1436 Klösterlicher Technologietransfer Eine Strassenzeile entsteht Herd und Ofen In Sorge muss die Seele harren Gegrüsst seist du Maria Schutzengel mein lass mich dir befohlen sein Die toden ruffen on underlas Reformation und Bildersturm

68 70 74 78 82 86 92 108 120 148 152 162 166 174 184 198 204 210 216 222 230 234 244

Bild- und Quellennachweis Literaturauswahl Widmung und Dank

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In diesem Buch erzählen wir Ihnen eine Geschichte. Eine Geschichte? Viele Geschichten aus der Geschichte des Kantons Schaffhausen. Blättern wir also in Geschichtsbüchern und Archiven. Doch Vorsicht! So einfach geht das nicht: Wenn Sie von uns etwas über das Schaffhauser Mittelalter wissen möchten, müssen Sie ins Archiv des Bodens hinuntersteigen. Keine Angst, Sie benötigen kein robustes Schuhwerk, Sie kriegen keine schmutzigen Hände – wir haben die Geschichten bereits ausgegraben, gewaschen, zusammengeklebt und fein säuberlich für Sie bereitgelegt. Menschen hinterlassen Spuren, seit der Erfindung der Schrift auch schriftliche. Der grösste Teil der Menschheitsgeschichte liegt aber im Boden verborgen. Es ist die Aufgabe der Archäologie, diese versunkene Vergangenheit aus der Erde wieder ans Licht zu holen, die verdeckten Schichten wie die Seiten eines Buches aufzuschlagen und die schwachen, undeutlichen, oft verwirrenden Zeichen zu entziffern. Die Archäologie des Mittelalters hat in den letzten Jahren viele neue Erkenntnisse gewonnen. Sie verdankt das einer verbesserten Forschungsqualität und der regen Bautätigkeit der jüngsten Zeit. Die Geschichte geht weiter, Altes muss Neuem weichen: Immer schneller und immer tiefgreifender werden die Altstädte umgebaut und umgegraben. Die archäologische Ausgrabung bietet die letzte Chance das Bodenarchiv einzusehen, zu dokumentieren und zu erforschen. Danach ist es unwiederbringlich zerstört. Das Buch handelt von Schaffhauser Schauplätzen, ihrer Geschichte und ihren Geschichten. Nehmen Sie teil an der Beerdigung der glanzvollen Schleitheimer «First Lady», staunen Sie über die Beckibüetzer von Berslingen, besuchen Sie das stille Örtchen von Stein am Rhein, fliegen Sie mit den Engeln von Allerheiligen – aber schnell, bevor diese der Reformation zum Opfer fallen.



Zur Archäologie des Mittelalters


Einführung: Zur Archäologie des Mittelalters

Die Frage nach dem Woher und Wohin gehört zu den Grundfragen des Menschen. Die Archäologie kann darauf zumindest teilweise Antworten geben, denn sie deckt immer wieder frühere Spuren auf, sichert die Zeugen der Vergangenheit und erforscht anhand der materiellen Hinterlassenschaft das Leben unserer Vorfahren. Die im Boden oder in Gebäuden erhaltenen Quellen informieren uns über viele Bereiche des menschlichen Lebens, auch über jene, die nie schriftwürdig waren. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit kann Hilfe sein für die Gestaltung der Gegenwart und vermag Anregungen zu geben für die Zukunft, auf der Suche nach dem Wohin. Als Teilzweig der archäologischen Forschung befasst sich die Mittelalterarchäologie mit dem Zeitraum zwischen 400 und 1500. Zu ihren Schwerpunkten gehören die Freilegung von Reihengräberfeldern, die Erforschung von Dörfern und Städten sowie die Bauuntersuchung von Kirchen und Klöstern, Befestigungsanlagen, Burgen und Schlössern. Die Bauuntersuchungen erfassen einerseits die Spuren vergangener Bauten im Boden – wie Pfostenlöcher, Balkengräben, Latrinen und Gruben – andererseits noch vorhandene ältere Bauteile, die unter dem Verputz der jüngeren Einbauten zum Vorschein kommen. Zusammen mit den Funden ermöglichen die Bauanalysen Aussagen zur Siedlungs-, Wirtschafts- und Alltagsgeschichte. Während die archäologischen Überreste für die urgeschichtlichen Epochen und in unserer Gegend auch für die Römerzeit die einzigen Informationsquellen sind, kommen im Verlaufe des Mittelalters zunehmend noch andere Quellen hinzu: Schriftzeugnisse, bildliche Darstellungen und historisch überlieferte Objekte. Zu den frühen Schriftzeugnissen in Schaffhausen gehört die 1045 beurkundete Verleihung des Münzrechts durch König Heinrich III. In diesem Zusammenhang wird Schaffhausen auch erstmals namentlich er-


wähnt. Ein weiteres Beispiel ist die Erwähnung der Weihung von Altar und Baugrund für das Kloster Allerheiligen, anlässlich des Besuches von Papst Leo IX. am 22. November 1049 in Schaffhausen. Die frühen schriftlichen Überlieferungen hielten vor allem politische Ereignisse fest. Erst später kommen Schriftzeugnisse hinzu, die auch alltäglichere Ereignisse im Zusammenhang mit Eigentum, Abgaben, Rechten und Streitigkeiten überliefern. Zum Themenkreis «Ritterturnier» ist ein spanischer Bericht über ein im Jahre 1436 in Schaffhausen durchgeführtes Turnier bekannt. Zwei mittelalterliche Turniersättel aus den Beständen des alten kantonalen Zeughauses in Schaffhausen (heute Regierungsgebäude) sind als historisch überlieferte Objekte anzuführen. Ein anderes Objekt darf für Schaffhausen natürlich nicht unerwähnt bleiben: der Onyx, eine mittelalterliche Mantelschliesse, deren staufische Fassung gar eine antike Gemme überliefert. Die frühmittelalterliche Forschung konzentrierte sich bisher vor allem auf die Untersuchung von Reihengräberfeldern. Die zahlreichen Gräber, mit den oftmals reichen Beigaben, vermitteln einen selten grossen Einblick in die damalige Gesellschaft und werden oft als Spiegel des Lebens betrachtet. Zu Beginn des 8. Jahrhunderts bricht die langjährige Beigabensitte aber als Folge des Christentums plötzlich ab. Damit versiegt eine wichtige archäologische Quelle. Die Informationen sind ab diesem Zeitpunkt fast ausschliesslich aus den Siedlungen zu gewinnen. Die Anfänge unserer Dörfer und Städte gehen meist in die ersten Jahrhunderte des Mittelalters zurück. Da die meisten Siedlungen sich kontinuierlich bis heute entwickelt haben, ist es nicht immer leicht Spuren der Frühzeit nachzuweisen. Vieles ist durch spätere Überbauungen, Unterkellerungen und Umbauten zerstört worden. Die Archäologie gleicht daher in den meisten Fällen einem Puzzlespiel. Punktuelle Beobachtungen Vorangehende Doppelseite: Die Mittelalterarchäologie erforscht Dörfer und Städte und untersucht Gräberfelder, Kirchen, Klöster, Befestigungsanlagen, Burgen und Schlösser. Meist arbeitet sie unter grossem Zeitdruck im Rahmen von Bauvorhaben.


und Aufschlüsse müssen akribisch zu einem Ganzen gefügt werden, die Resultate werden meist erst später sichtbar. Gleichsam ein Glücksfall für die Forschung sind dagegen Siedlungen, die frühzeitig aufgegeben worden sind. Die sogenannten Wüstungen oder abgegangenen Siedlungen, beispielsweise Berslingen am Stadtrand von Schaffhausen, sind von späteren Überbauungen verschont geblieben und überliefern daher grossflächig die Zeugen der früheren Besiedlung. Ein besonderes Problem der Forschung ist in vielen Fällen die Siedlungskontinuität. Nicht alle Jahrhunderte sind gleich gut nachweisbar. Noch immer schlecht belegt ist vor allem der Übergang vom Früh- zum Hochmittelalter, also das 9. und 10. Jahrhundert. Interessante Kenntnisse vermitteln Kirchen und Klöster, auf die sich die Forschung lange konzentrierte. Klöster waren im Mittelalter besonders innovativ. Am Beispiel der Stadt Schaffhausen ist ablesbar, was eine Klostergründung alles bewirken konnte. Einen wichtigen Stellenwert darf die Burgenforschung in Anspruch nehmen. Als Ausbau- und Sicherungselement von Herrschaftsbereichen kam den Burgen eine besondere Bedeutung zu. Sogenannte Rodungsburgen spielten bei der Erschliessung von neuem Siedlungsland und bei der Bildung eigener Herrschaftsbereiche eine zentrale Rolle. Den Kirchen und Klöstern nicht unähnlich, waren die Burgen aber zweifellos auch Herrschafts- und Statussymbole. Als Ruinen sind viele Burgen noch erhalten; Schriftquellen überliefern im besten Fall noch die Namen der einstigen Besitzer. Zumeist aber sind die Burgen ein Reich für Sagen und Legenden. Die von den Archäologen ausgegrabenen, eher spärlichen Burgenfunde, belegen dagegen den harten Alltag: Ein abgeschiedenes Leben in zugig-kalten, feuchten und dunklen Räumen.


Was war überhaupt das Mittelalter? Entspricht unsere heutige Vorstellung jenem Zeitabschnitt zwischen Antike und Neuzeit? Wie «mittelalterlich» war das Mittelalter? Eigentlich gab es das Mittelalter gar nicht. Vielmehr gab es den Zeitraum von gut 1000 Jahren zwischen Antike und Neuzeit, den wir als das Mittelalter bezeichnen. Es setzt sich aber aus mehreren Abschnitten zusammen. Ihnen gemeinsam sind gewisse Lebensformen und Leitideen, aber auch gewaltige Veränderungen und krasse Unterschiede. Das Mittelalter erscheint uns fremd und andersartig. Mit ihm verbinden wir Völkerwanderung, Mord und Totschlag, Rache und Vergeltung, Aberglaube, Feudalismus, Ritter und Burgen, Minnesang, Dreck und mangelnde Hygiene, Hunger, Pest und Krankheiten. Den Clichés wird aber von Mittelalterhistorikern widersprochen: «In der Regel handelt es sich bei der heutigen Bezeichnung "mittelalterlich" nicht um Zustände, die sich zwischen 400 und 1500 finden lassen» (Horst Fuhrmann); «Das Mittelalter war eine Epoche, in der Europa lernte» (Ernst Schubert); «Die Neuzeit vergass rasch, was sie dem Mittelalter verdankte» (Arno Borst), «Unser Leben ist ein Geschäft, das damalige war ein Dasein» (Jacob Burckhardt). Die Archäologie kann vielleicht dazu beitragen, die Menschen des Mittelalters menschlicher erscheinen zu lassen. Die Bodenfunde machen den mittelalterlichen Alltag greifbarer und realer. Die folgenden Seiten handeln von Schaffhauser Schauplätzen, ihrer Geschichte und ihren Geschichten. Sie laden ein zum Besuch im Mittelalter.

Nachfolgende Doppelseite: Röm. Fundmünze aus Schleitheim/Columbus und Gallus auf dem Bodensee/Urkunde vom 10. Juli 1045.



Geschichte


Von der römischen Provinz zum eidgenössischen Ort

Vom Kaiser zum Kaiserchen – Aufstieg und Fall Roms 15 v.Chr. stossen römische Truppen erstmals über die Alpen an den Rhein vor. Der Versuch, auch die Germanen nördlich des Rheins zu bezwingen scheitert jedoch, als 9 n.Chr. ein römisches Heer bei Kalkriese, nordöstlich des heutigen Osnabrück, in einen germanischen Hinterhalt gerät und vernichtet wird. Rom muss sich an den Rhein zurückziehen. In den folgenden 150 Jahren aber kann die Grenze schrittweise wieder vorverschoben und durch den sogenannten obergermanisch–rätischen Limes gesichert werden. So durch Türme und Kastelle geschützt, scheint das Reich wahrlich für die Ewigkeit bestimmt. Es herrscht eine Zeit des Friedens. Doch jenseits der Grenze, im Innern Germaniens, brauen sich bereits neue Stürme zusammen. Dort geraten seit der Mitte des 2. Jahrhunderts immer mehr Stämme in Unruhe und Bewegung. Um 230 entsteht das neupersische Reich im Osten. Der gefährliche Gegner bindet zahlreiche römische Truppen. Dies nutzend, überrennen germanische Krieger 233 die Grenzen im Westen und durchstreifen plündernd die römischen Provinzen. Zahlreiche Einfälle folgen, während Roms Herrscher sich in inneren Kämpfen zerfleischen. Als sich um 260 mehrere westliche Provinzen für über zehn Jahre in einem gallischen Sonderreich von Rom abspalten, erreichen die Machtkämpfe einen traurigen Höhepunkt. Erst gegen Ende des 3. Jahrhunderts beruhigt sich die Lage: Zu spät für viele Gebiete. Im Jahre 284 besteigt Diokletian (284-305) den Thron. Durch rigorose Reformen können er und seine drei Mitregenten das Reich stabilisieren und zu einer letzten Blüte führen. Die rechtsrheinischen Gebiete werden aufgegeben; die Grenze liegt wieder an Rhein und Donau. Mit einem Gürtel von Kastellen und Türmen wird diese neu gesichert. Auch bei Stein


am Rhein entsteht nun eine Festung. Durch dicke Mauern geschützt, dienen diese «Kastellstädte» nicht nur den Soldaten, sondern bieten auch der Zivilbevölkerung eine sichere Bleibe. Der Nachfolger Konstantin (306-337) baut Reich und Reformen aus. Er fördert die Christen, gewährt ihnen erstmals Religionsfreiheit, nachdem es noch unter seinen Vorgängern zu schweren Verfolgungen gekommen war. Sich selbst aber lässt Konstantin erst auf dem Sterbebett taufen. Mit seinem Tod zerfällt die Einheit des Reiches. Fortan gehen Ost- und Westrom zunehmend getrennte Wege. Schon um 350 bricht neues Unheil herein. Innerrömische Machtkämpfe und germanische Einfälle verwüsten weite Landstriche. Als die Hunnen, ein zentralasiatisches Reitervolk, 375 die germanischen Westgoten aus dem Schwarzmeergebiet vertreiben, treten sie damit eine weitere Lawine los. Die Goten drängen nach Ostrom, wo sie vom römischen Kaiser Valens Siedlungsland erhalten. Wegen Versorgungsengpässen kommt es aber

Spätantiker Grenzverlauf: Donau-Iller-Rhein Limes und Verlauf des im späten 3. Jahrhundert aufgegebenen obergermanisch-rätischen Limes.


bald zu Ausschreitungen und Plünderungen durch die Goten. Ein römisches Heer, das sie zähmen soll, wird 378 bei Adrianopolis vernichtend geschlagen. Doch die Goten finden keine Ruhe. Schon 401 wandern sie wieder, ihr Ziel ist nun Westrom. Mit dem weströmischen Heermeister Stilicho, selber ein Germane, treffen sie aber auf einen fähigen Gegner. Erst nachdem dieser bei einer Verschwörung von seinem eigenen Kaiser verraten und hingerichtet wird, ist der Weg frei. Der von Stilicho veranlasste Abzug römischer Truppen zum Schutze Italiens bringt so keine Rettung: Rom fällt 410 und wird geplündert. Die Grenzen aber sind brüchig geworden. Vandalen, Sueben, Alanen und Burgunder überschreiten den Rhein auf der Suche nach einer neuen Heimat.

Wanderungen der germanischen Stammesgruppen.


Zwar kann der Vorstoss des Hunnenführers Attila 451 durch den römischen Heermeister Aëtius und seine Verbündeten noch abgewehrt werden – der Niedergang Westroms ist letztlich nicht mehr aufzuhalten. Längst sind die römischen Kaiser nur mehr Marionetten ihrer Generäle, längst können die Provinzen auf keine Unterstützung mehr hoffen. Als der letzte weströmische Kaiser Romulus Augustulus (Kaiserchen) 476 von seinem germanischen Söldnerführer Odoaker abgesetzt wird, ist dies nur der letzte Akt eines längst geschriebenen Trauerspiels. Die Zukunft gehört den germanischen Königreichen.

Die germanischen Königreiche um 500.


Von Chlodwig zu Karl dem Grossen Im entstandenen Machtvakuum können sich die germanischen Königreiche weiter ausdehnen. Die Franken beherrschen den Norden und Westen Frankreichs, die Westgoten den Süden mit weiten Teilen Spaniens; zwischen Rhône und Saône sitzen die Burgunder, die Vandalen sind in Nordafrika und in England lassen sich die Angeln und Sachsen nieder. Als neue Macht treten die Ostgoten hinzu, die – von den Hunnen befreit – ihr Reich nun in Italien errichten. Unter ihrem König Theoderich können sie die Herrschaft bis an die Küste Dalmatiens und vermutlich über die Alpen ausdehnen. Nördlich des Hochrheins befinden sich die Alamannen. Nach dem Fall des Limes im 3. Jahrhundert haben sie die ehemals römischen Gebiete schrittweise in Besitz genommen. Nicht in einem Zug freilich – ihr Vorstoss von der oberen Elbe an den Rhein dauert rund 200 Jahre. Auch ist es nicht ein grosser Stamm, der da wandert. Die Alamannen sind vielmehr eine ganze Gruppe von Teilstämmen und Kleinkönigtümern, die ein gemeinsames Ziel zusammengeführt hat. Mit dem 5. Jahrhundert beginnt für sie eine Blütezeit: neue Siedlungen entstehen, Höhenburgen werden errichtet. In reich ausgestatteten Gräbern tritt uns eine erstarkende Oberschicht entgegen. Doch die aufstrebende Macht trifft mit dem Frankenkönig Chlodwig auf einen gefährlichen Gegner im Westen. Bei Zülpich, nahe Köln, kommt es 496/7 zum Kampf, der mit einer Niederlage der Alamannen endet. Nur zehn Jahre später, um 506, stehen sich die beiden Parteien erneut gegenüber, diesmal mit katastrophalem Ausgang für die bereits geschwächten Alamannen. Fast der gesamte alamannische Adel fällt auf dem Schlachtfeld. Die Überlebenden fliehen ins Ausland. Chlodwig bleibt ungeschlagen. Bei seinem Tod, 511, sind grosse Teile Galliens und Alamanniens fest in fränkischer


Hand. Damit hat er den entscheidenden Schritt zum Aufstieg der Dynastie der Merowinger getan. Mit seiner Taufe und dem Übertritt zum katholischen Glauben stellt er zugleich die Weichen für die Religion der Zukunft. Unter seinen vier Söhnen wird das Reich aufgeteilt, woraus letztlich die grossen Teilreiche Neustrien (Neu-West-Reich) und Austrien (OstReich) entstehen. Trotz zahlloser Streitereien können sie die fränkische Herrschaft weiter ausdehnen: Das Burgund, Teile der Provence, Churrätien sowie Bayern und Thüringen werden dazugewonnen. Durch die fränkischen Eroberungen sind die Gebiete nördlich und südlich des Hochrheins wieder vereinigt. Mitte des 6. Jahrhunderts finden sich erstmals germanische Siedlungen auch südlich des Rheins in der heutigen Nordschweiz. Die Alamannen können sich nach ihren schweren Verlusten allmählich erholen. Eine neue alamannisch-fränkische Oberschicht bildet sich heraus. Mit den Franken gewinnt auch das Christentum bei den Alamannen weiter an Einfluss. Noch zu Beginn des 7. Jahrhunderts, als das Bistum in Konstanz entsteht, verehren sie vielerorts Bäume, Hügel und Erdspalten. Nun entstehen christliche Kirchen. Wer es vermag, lässt sich jetzt in geweihter Erde bestatten. Die Sitte, den Toten Beigaben mitzugeben, verschwindet; mit ihr verstummt eine wichtige Informationsquelle der Archäologie. Das merowingische Königreich aber kann diese Früchte nicht mehr ernten. Mit Dagobert stirbt 638 der letzte starke merowingische Herrscher. Danach reibt sich das Königshaus in endlosen, blutigen Machtkämpfen und Thronstreitigkeiten gegenseitig auf. Die neuen Machthaber am Hofe sind die hohen Verwalter und Beamten: die Hausmeier. Sie bestimmen nun die Geschicke der Zeit und bilden neue Dynastien, während die machtlosen Könige nurmehr nach ihren Pfeifen tanzen. Bei Tertry


kann der Hausmeier Pippin II. 687 mit einem austrasischen Heer seinen Konkurrenten in Neustrien besiegen und das Reich wieder vereinen. Als sein Enkel Pippin der Jüngere 751 den letzten merowingischen König absetzt und sich selber zum König salben lässt, ist diese Szene aus der spätantiken Geschichte schon vertraut. Die Herrschaft der karolingischen Könige beginnt. Auf Pippin folgt 768 Karl der Grosse, der das fränkische Grossreich mit tiefgreifenden Reformen festigt und in zahlreichen Kriegszügen vergrössert. Vom Vater Europas zur Entdeckung der Welt Karl dem Grossen gelingt es, das christliche Kerneuropa in einem Reich zu vereinigen. Schon zu Lebzeiten wird er deshalb Vater Europas genannt. Von Dänemark bis Italien, von Frankreich bis an die Donau reicht seine Macht. 800 krönt ihn der Papst in Rom zum ersten nachanti-

Die Teilreiche der fränkischen Grossreiche nach dem Vertrag von Mersen 870.


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