Die Frömmigkeit der Maschinen Die große Litanei in der Documenta-Halle: Thomas Bayrle lässt Motoren Rosenkränze beten.
Am Eingang zur Documenta-Halle steht die „Monstranz“, ein feingliedriger Sternmotor, der einst ein tschechisches Saatflugzeug antrieb. Er ist längs durchgeschnitten, sein Inneres ist bloßgelegt, zusammen mit Lautsprechern ist er auf einen stählernen Fuß montiert. Die Maschine läuft, wenn das Stromkabel angeschlossen ist: Gleich wird ihr gleichförmig arbeitender Originalton mit einer vielkehligen Rosenkranzandacht aus dem Kölner Dom zusammenklingen. Der Motor betet. Es ist Pfingstmontag, der Heilige Geist ist grade herniedergekommen, selbst auf Kassel. Das ganze Erdgeschoss der Documenta-Halle ist, was es so noch nie gab, einem einzelnen Künstler gegeben, Thomas Bayrle, Jahrgang 1937. Oder genauer: Die hohe weite Halle gehört der Assemblage von Werken eines Künstlers, dessen Arbeit seit den sechziger Jahren Masse und Medien verhandelt, den Ort des Menschen im Feld der unbelebten Dinge vermessen hat, und umgekehrt – in Beschleunigung, Verschwinden und Aufscheinen. Acht schöne alte Motoren hat Bayrle über die große freie Fläche verteilt, die ihre Geräusche, jedes für sich ein eigener Sound, mit Rosenkränzen und Fürbitten vereinigen, die er im Laufe von drei Jahren vor allem in Frankfurter Kirchengemeinden aufgenommen hat, in verschiedenen Sprachen. Flankiert sind die frommen Maschinen von zwei monumentalen Wandarbeiten, die gewissermaßen ihren Resonanzraum bilden. Schon vor dreißig Jahren ist das acht mal fast dreizehn Meter messende „Flugzeug“ entstanden, auf dem sich die Form des Geräts selbst aus Tausenden kleiner Bildchen von ihm herausschält. Das janusköpfige Motiv der Einheit in der Vielheit gewinnt dort Gestalt. Die Überbietung dieser Imago, in der das Motiv von Auflösung und Wiederherstellung zur Vorstellung gerinnt, liefert das mit acht mal 25 Metern doppelt so große Papprelief aus diesem Jahr. Sein Titel „Carmageddon“ verweist auf ein Computerspiel mit tödlich rasenden Boliden und ist zugleich der Begriff für den ständig drohenden Verkehrsinfarkt in Los Angeles. Collagiert aus mehr als 150 Modulen, die zwei plastische Autobahnelemente in vielfach wiederholter Form des liegenden „S“, jenes Zeichens für Unendlichkeit, bilden, funktioniert dieses graue Menetekel als eine schallschluckende Mauer, Verbildlichung einer Bewegung ohne Anfang und Ende. Ja, Thomas Bayrle ist ein Mann des Gewebes. Er ist ja auch gelernter Weber, die Textur ist ihm zur Matrix seines Schaffens geworden. Serialität dient ihm als ein untergründendes Prinzip, die Anmutung musikalischer Notationen ist nicht fern. Nun das für Kassel: Rosenkranz und Zylinderhub, Fürbitten und Röhren, Hochamt und Gebrüll. Was beides – nur anscheinend so verschieden – bloß noch als random noises in einer stumpf gewordenen Nachmoderne wahrgenommen wird, ist verschaltet zum Miteinander. Da schließen zwei Maschinen aneinander an: Die im Beten zu einer Stimme vereinte Gemeinde, der kollektive Körper der religiösen Maschine ist kurzgeschlossen mit dem Dröhnen der Motoren von Autos und Flugzeugen. Das bewegte Innere der im Längsschnitt geteilten Maschinen vereinigt sich mit dem bewegten Innenleben der Gläubigen, die im gemeinsamen Gebet in eins verschmelzen. Die Maschinen sind in ihrer ausgeweideten Ungeschütztheit jetzt so bloßgelegt wie die Gesänge der Gläubigen. Sie sind auch nicht mehr angetrieben vom Rohstoff, den sie gemeinhin fressen. Einer wiederkehrenden Ölung bedürfen sie dennoch, ganz wie jede Gläubigkeit einem repetitiven Credo aufruht, bis zur Letzten Ölung. Auch so hebelt also die Documenta 13 den von ihr aufs Korn genommenen Anthropozentrismus aus. Denn Thomas Bayrles Intervention ist nichts so wenig wie eine schmeichlerische Wellness-Oase, sie ist hart und cool bis ans heiße Herz der Maschine und der Gläubigkeit. Und der Künstler macht sich wahrhaftig keinen Jux daraus. Er will, so sagt er, „nicht Kritik üben, sondern nebeneinander stellen“. Adieu Ideologie! Die moderne Welt, sagt Bayrle, funktioniert über immer mehr Teilungen; Henry Ford hat von den Schlachthöfen in Chicago gelernt: Nur über Arbeitsteilung waren dort die einzelnen schrecklichen Jobs auszuhalten, getötet wurde woanders als gehäutet und zerteilt. So hat dann auch die Autoindustrie funktioniert, kein ganzheitlicher Blick mehr, sagt Bayrle. Die Gesamtschau ist für den Menschen unaushaltbar geworden. Doch sie ist ihm auch genommen worden. Die Maschinen und der Rosenkranz, sagt Bayrle, gehören zusammen: Die menschlichen Rhythmen sind wie die Maschinenrhythmen. Von „Transsubstantiation“ spricht er, der kein Katholik ist, von einer Verschmelzung mithin. Atmen, Singen, Arbeiten – ora et labora –, die Wiederholung als schöne Übung, nicht als Zwang. Genau das inszenieren die Maschinen jetzt in der Documenta-Halle. Das ist nicht ironisch, nichts so wenig wie blasphemisch gemeint. Humorvoll, das schon. „Bitte für uns bitte für uns bitte für uns“
repetieren da die Scheibenwischer eines Mercedes in ihrem approximativ unendlichen Tun, als ein Mantra: Eine Art „meditative Sauce“, sagt der Künstler, ein „endlos sich wiederholendes Amalgam“ habe er schaffen wollen. Nennen wir es eine Litanei. Ein kleiner Citroën-2CV-Motor vereinigt sich mit französischen Gebeten; er steht auf einem Gestell, das Rodins „Schreitenden“ ins Gedächtnis ruft. Eine italienische Moto-Guzzi-Maschine macht aufgebockt in Machismo, vielleicht. Alles geschenkt. Bayrle nimmt Vermessungen der Imagination vor. Er unterminiert alle Ordnung der Symbole, die Sprache ist ohnehin ausgeblendet, indem er zu einem realen Kern vorzustoßen sucht, der im gläubigen Singsang und im Motorenrauschen erfahrbar wird. Schon immer war dafür der Sound das geeignete Mittel. Und wenn es denn sein soll, wird diese Überwältigungsstrategie in Kassel auch die Ohren eines Hunds erreichen, das überscharfe Gehör einer Katze ganz gewiss. Die Maschinen machen, was ihr Geschäft ist, sie laufen. Sie zu verschalten ist die Leistung des Humanum, indessen: Kein Mensch wird diese Synchronisation beherrschen können in ihrem rhythm and blues. Thomas Bayrles Maschinenpark stiftet selbstorganisierend eine neue Ordnung, aus unbelebter und belebter Materie. Das ist kein Lärm, es ist sogar ein eher verhaltenes Rauschen in der riesigen Halle, ein Murmeln und Summen, gedämmt vom „Carmageddon“, ein Hervorbringen und Verstummen. Ist das schön? Ja. Es sehnt sich die menschgemachte Maschine nach Gehör. Lauschen wir also.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv". Erstveröffentlichung am 5. Juni 2012 (Seite 28 & 29), Autor: Rose-Maria Gropp