KUNST EINSICHT
17 2/2020
Das gemeinsame Magazin von Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee
Seite 14
Nr.
Realität, Vision, Utopie – Kunst in Zeiten der Krise
Event & Congress Location Zentrum Paul Klee, Bern Inspirierender Raum für Dialog, Begegnung und Erlebnis Ob Workshop, Tagung, Seminar, Konferenz oder Konzert – das Zentrum Paul Klee verleiht Ihrer Veranstaltung eine unvergleichliche Atmosphäre. Entdecken Sie die aussergewöhnliche Location mit beeindruckender Architektur, lassen Sie sich vom kulturellen Rahmenprogramm inspirieren und profitieren Sie von der international ausgezeichneten Multimediainfrastruktur in den Räumlichkeiten.
www.zpk.org/events
n ocatio L e r Ih chere für si ltungen sta Veran
Editorial Das Jahr 2020 fordert und prägt uns alle. Unsere Welt sei vom Erstickungstod bedroht, sagt der kamerunische Theoretiker Achille Mbembe in seinem Essay, und dies nicht nur wegen der Corona-Pandemie. Was kann Kunst in solchen Krisensituationen leisten? Sie kann uns mit unseren Emotionen konfrontieren, uns neue Blicke auf die Realität eröffnen und unseren Horizont erweitern. Gleich zwei Ausstellungen im Kunstmuseum Bern setzen sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dieser Macht von Kunst auseinander, und die Kuratorinnen Kathleen Bühler und Marta Dziewańska lassen uns im Gespräch an ihren Ideen teilhaben. Noch etwas gedulden müssen wir uns, bis wir Paul Klee ab Januar im
Zentrum Paul Klee von seiner rebellischen und geniesserischen Seite kennenlernen können. Bis es soweit ist, tauchen wir in die eindrücklichen Fotografien der «unheilbar Reisenden» Annemarie Schwarzenbach ein und begeben uns mit Paul Klee in die Ferne. Mit Bernhard Giger, dem abtretenden Leiter des Kornhausforum Bern, und Roger von Wattenwyl, dem Präsidenten der Stiftung Albert Anker-Haus Ins haben wir über Vergangenheit, Gegenwart und vor allem die Zukunft gesprochen.
Nina Zimmer Direktorin Kunstmuseum Bern — Zentrum Paul Klee
Inhalt Persönlich
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Bernhard Giger
Debatte
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Der abtretende Leiter des Kornhausforum Bern und Präsident des Vereins bekult über zwölf spannende Jahre, die Herausforderungen im Kulturbetrieb und seine Zukunftspläne.
Der kamerunische Historiker, Politwissenschaftler und Theoretiker über eine Welt, die vom Erstickungstod bedroht ist.
Ausstellung
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Nordkorea Let’s Talk about Mountains Das Alpine Museum der Schweiz zeigt ab 20. Februar 2021 eine filmische Annäherung an das verschlossene Land Nordkorea. Sie zwingt hinzusehen, zuzuhören – und Fragen zu stellen.
Achille Mbembe Das allgemeine Recht aufs Atmen
Zu Besuch
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Ein Pavillon für Albert Anker Roger von Wattenwyl, der Präsident des Stiftungsrates der Stiftung Albert Anker-Haus Ins, über den grossen Schweizer Maler und das geplante Centre Albert Anker.
Ausstellung
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Paul Klee Rebell & Geniesser Vom Teufel besessen und den Göttern nah: Das Zentrum Paul Klee zeigt Paul Klee in all seinen Widersprüchen.
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Forum Kalender More to See Agenda Kolumne
Entdecken
Eintauchen
Liebe Aare
Wundergärten und Herbarien
Die Aare ist der längste Fluss innerhalb der Schweiz. Sie entspringt in den Berner Alpen, speist den Brienzer-, den Thunerund den Bielersee, umschliesst die Berner Altstadt in einer Umarmung. Ob kalt oder warm, smaragdgrün oder braun, wild oder ruhig und träge — die Aare ist Kult. Viele lieben sie, einige fürchten sie, alle sprechen über sie, besonders in den warmen Monaten, wenn der Fluss zum Bad oder zum weit über die Berner Kantonsgrenzen hinaus bekannten «Aareböötle» lockt. Liebe Aare thematisiert den Fluss in all seinen Facetten — vom Berner Oberland bis zur Rheinmündung. Von geologischen Eigenheiten, Wassertemperaturen, Flora und Fauna, Fan-Typen, Wasserfarbe und Namenserklärung über spezielle Orte in und an der Aare bis hin zu Songs über die Aare ist in den lehrreichen und unterhaltsamen Texten und Infografiken alles zu finden.
Stephanie Christ, Sabine Glardon, Maria Künzli Liebe Aare. Ein grafisches Fanbuch über den schönsten Fluss der Welt Werd & Weber Verlag AG 60 Seiten, gebunden, CHF 29
In der bildenden Kunst sind sie allgegenwärtig: Blumen. In Form von frischgepflückten Sträussen, detailreichen Studien, üppigen Gärten, bunten Wiesen, als Hutschmuck oder, wie in Ernst Kreidolfs Blumen-Märchen, als vermenschlichte Blumenwesen. Aber nicht nur das: Der Schweizer Bilderbuch illustrator malte sie auch in Stillleben und illustrierte Schulbücher wie Roti Rösli im Garte. Das Begleitprogramm zur Ausstellung Wachsen — Blühen — Welken. Ernst Kreidolf und die Pflanzen (04.09.2020—10.01.2021) im Kunstmuseum Bern geht dieser Faszi nation für Pflanzen im Rahmen von zwei Vorträgen auf den Grund. Die Kunsthistorikerin Anna Lehninger blättert durch Pflanzenbilder seit der Frühen Neuzeit und lädt zu einem Spaziergang durch die Blumengärten der bildenden Kunst. Margrit Wyder, Wissenschaftshistorikerin am Herbarium der Universität Zürich, betrachtet Ernst Kreidolfs Blumenwerke im Kontext ihrer Entstehungsepoche, als sich Wissenschaft, Patriotismus, Naturerfahrung und
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Freude an ästhetischen Formen vereinigten und Botanisierbüchse und Herbarium in fast jedem bürgerlichen Haushalt zu finden waren. Wundergärten. Ernst Kreidolf und die Pflanzen in der Kunst Vortrag von Anna Lehninger Sonntag, 15. November 2020, 11 Uhr Kunstmuseum Bern Als Flora regierte. Ernst Kreidolf und die Pflanzenbegeisterung seiner Zeit Vortrag von Margrit Wyder Dienstag, 1. Dezember 2020, 18 Uhr Kunstmuseum Bern Zur Ausstellung ist beim Michael Imhof Verlag ein Katalog erschienen. Wachsen — Blühen — Welken. Ernst Kreidolf und die Pflanzen, 128 Seiten, Hardcover, mit 179 Farb- und 4 Schwarz-Weiss-Abbildungen, CHF 29 Ernst Kreidolf, Iris, Bleistift und Aquarell auf Papier 45,2 × 42,3 cm, Kunstmuseum Bern, Verein Ernst Kreidolf
Shop
In der Nähe
Porzellan kollektion «UNSEEN»
Upcycling
Vanto AcrylglasOhrringe Lokales Upcycling: Die einzigartige OhrringKollektion von Veronica Antonucci wird aus Acrylglas-Abfällen aus der Industrie hergestellt, die in einem Radius von 100 km um den Produktionsort Biel gesammelt werden. Und sie recycelt nicht nur die Industrieabfälle: Auch die Schnittreste aus dem eigenen Atelier werden geschreddert, erhitzt, gepresst und zu neuem Schmuck verarbeitet. Die wunderschönen Farbund Formkombinationen bringen Schwung in jedes Outfit und sind echte Hingucker. CHF 75—100 im Museumsshop Zentrum Paul Klee.
Ob für Tee, Kaffee, als Vasen oder zur Dekoration — die Porzellangefässe von Yael Anders lassen sich vielseitig einsetzen und kombinieren. Die Objekte, von denen jedes ein Unikat und handbemalt ist, spielen mit Kontrasten: Ihre klaren, minimalistischen Formen treffen auf intuitiv entstandene Linien und organische Muster in purem Porzellan-Weiss, Anthrazit-Tönen und Blattgold.
100 % handgefertigt in Zürich. CHF 55—120 im Museumsshop KMB.
Wir gratulieren!
Aljoscha Ségard
Aljoscha Ségard, der Enkel Paul Klees, feiert 2020 seinen 80. Geburtstag. Aus diesem Anlass ist in der Edition Till Schaap ein Buch zum vielseitigen Schaffen, welches der Schweizer Maler, Grafiker und Objektkünstler in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, erschienen. Nebst zahlreichen Werkab bildungen beinhaltet es einen Essay des Berner Autors und Kulturjournalisten Konrad Tobler sowie ein Vorwort der Kuratorin Fabienne Eggelhöfer. Die ursprünglich für Sommer 2020 vorgesehene Geburtstags-
Kunstherbst Bern
ausstellung im Zentrum Paul Klee musste aufgrund des Coronavirus verschoben werden. Sie findet nun im Sommer 2021 statt. Aljoscha Ségard Mit einem Vorwort von Fabienne Eggelhöfer und einem Essay von Konrad Tobler Texte D/F/E, Bern: Till Schaap Edition, 2020 304 Seiten, in Naturleinen gebunden, zahlreiche Werkabbildungen in Farbe, CHF 59. Foto: Monika Flückiger
Das Kunstmuseum Bern und das Zentrum Paul Klee haben den Kunstherbst eingeläutet. Sechs hochkarätige Ausstellungen, drei Meisterkonzerte, zweimal Brunch im Klee sowie eine Lesung von Franz Hohler und ein Literaturgespräch mit Mathias Énard stehen auf dem Programm der beiden Häuser. Und weil Reisen im Moment nur eingeschränkt möglich ist, bringt die Kunst die Ferne nach Bern: Mit Paul Klee Italien, Frankreich und Nordafrika besuchen, mit Annemarie Schwarzenbach die Weiten der USA, der ehemaligen Sowjetunion und des Iran entdecken oder mit der Daros Latinamerica Collection der utopischen und revolutionären Kraft von Kunst in Lateinamerika auf die Spur kommen. Aber Bern ist nicht nur Kunststadt, sondern auch Wasserstadt, Genussstadt, grüne Stadt — sie hat ebenso viele Facetten wie Brunnen, Lauben und Kunstplätze. So können etwa im Chun Hee, gleich neben dem Münster, koreanische Spezialitäten geschlemmt werden und der PROGR ist Heimat von alternativer Kulturproduktion, Café-, Bar- und Clubbetrieb in einem. Für diejenigen, die mit offenen Augen durch die Bundesstadt spazieren, eröffnet sich der Blick aufs Meer und idyllische Schweizer Landschaftsszenen in taiwanesischem Stil, auf einen launischen Stadtbach, welcher der Gravitation zu trotzen scheint, wasserspeiende Kunstwerke und Meret Oppenheims «wachsenden» Brunnen. Hingehen — Innehalten — Einkehren und diesen Herbst in Bern die weite Welt entdecken.
Porträt von Annemarie Schwarzenbach mit Kamera, 1939 Fotograf: unbekannt, © Esther Gambaro, Nachlass MarieLuise Bodmer-Preiswerk
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Persönlich
Engagiert, fokussiert, pointiert
Bernhard Giger
Nach zwölf Jahren zieht sich Bernhard Giger Ende 2020 als Leiter des Kornhausforum Bern zurück. Im Gespräch erinnert er sich an spannende Debatten und vielbesuchte Ausstellungen und spricht über die Schwierigkeiten, mit denen der Kulturbetrieb in der aktuellen Situation zu kämpfen hat. Und er blickt in die Zukunft der Berner Kultur, die er mit seinem Engagement als Präsident des Vereins bekult weiterhin mitprägen wird.
Herr Giger, die Corona-Pandemie durchdringt jeden Lebensbereich. Wie führt man in diesen Zeiten eine Institution wie das Kornhausforum Bern, die von der Zusammenkunft der Menschen und deren Austausch lebt? BERNHARD GIGER Für das zweite Halbjahr haben wir in der Planung gewisse Korrekturen vorgenommen. Dennoch versuchen wir, einen einigermassen normalen Betrieb zu führen. Soweit Anwesenheitslisten und Gesichtsmasken normal sind. Aber jetzt ist vor allem eines entscheidend: Dass dieses sanfte Wiedererwachen der Kultur nach Corona sich auch festigen kann. Die Kultur muss, wie auch immer, wieder spielen können, auf den Bühnen, in den Museen, auf den Plätzen. Die Vorstellung ist entsetzlich, Kultur nur noch gestreamt konsumieren zu können. Geisterspiele sind nicht nur im Fussball tödlich. MTC Sie haben das im Jahr 1998 eröffnete Kornhausforum 2009 übernommen und werden sich Ende Jahr altershalber zurückziehen. Was denken Sie über Ihre Zeit im Kornhaus? Es war eine grossartige Zeit. Ich habe das Kornhausforum nach BG der Wiedereröffnung 2009 übernommen, mit weniger öffentlichen Mitteln als zuvor und mit neuem Konzept. Man gab uns nicht besonders viel Kredit. Aber das Kornhausforum ist zur Plattform in der Mitte der Region geworden, seine Debatten werden gehört und seine Ausstellungen beachtet. Besonders die Fotografie-Ausstellungen werden von Tausenden besucht, und es gibt dafür in Bern unterdessen ein festes Publikum. MARIA-TERESA CANO
Bernhard Giger, seit 2009 und noch bis Ende Jahr Leiter des Kornhausforum Bern, im Stadtsaal.
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Bernhard Giger MTC
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Gibt es eine Ausstellung, die Sie wahnsinnig gern gemacht hätten, die aber aus irgendeinem Grund nicht zustande gekommen ist? Es gibt einen Stapel mit solchen Ausstellungsprojekten. Auch wenn wir ein relativ dichtes Ausstellungsprogramm hatten, liess sich vieles nicht umsetzen. Oft waren es vor allem finanzielle Gründe. Das Kornhausforum verfügt über extrem beschränkte Mittel, da stösst man rasch an Grenzen. Aber wir haben probiert, mit dem, was da war, das Beste zu machen. Ich glaube, das ist uns nicht schlecht gelungen. Das Kornhausforum machte wohl die kostengünstigsten Ausstellungen der Stadt, und angesichts der guten Eintrittszahlen auch einige der erfolgreichsten. Im Kornhaus wird der Gedanke des Forums gelebt, das Zentrum Paul Klee ist ein Mehrspartenhaus: Die Idee von offenen Kulturhäusern, die verschiedene Interessengruppen und Gesellschaftsbereiche zusammenbringen, scheint eine gute Möglichkeit, Publikum anzusprechen und aktiv einzubinden. Wie kann dieser Ansatz weiterentwickelt werden? Das liegt ganz an uns, den Kulturschaffenden, den Veranstalterinnen und Veranstaltern, wie wir unsere Besucher*innen abholen. Gerade jetzt, mit der durch Corona ausgelösten Verunsicherung, in der viele nicht mehr recht wissen, wie sie mit Kultur umgehen sollen, ist das zentral. Niederschwelligkeit ist da sicher wichtig, im Preis und in der Form. Der Kulturbetrieb könnte günstiger werden. Ganz einfach: mehr freier Eintritt. Er müsste aber auch flexibler werden in seinen Formen der Vermittlung, und vielleicht etwas bescheidener in seinen Ansprüchen. Bern hat seit jeher ein sehr vielfältiges kulturelles Leben, kleine Formate bestehen neben grossen Institutionen, es gibt viel Experimentelles, aber auch Bewährtes. Ein bunter Mix und ein riesiges Angebot für die kleine Bundesstadt. Wie kann dieses Angebot bewahrt und weiter gefördert werden? Ich fürchte sehr um die Vielfalt der Berner Kultur. Gewiss, die Institutionen mit den Leistungsverträgen, also auch das Kornhausforum, die werden irgendwie durchkommen – mit zünftigen Defiziten vielleicht, aber durchkommen. Doch was der CoronaStillstand im Kulturbetrieb wirklich verursacht hat und noch anrichten wird, wissen wir nicht. Und vor einer ungewissen Zukunft stehen ja nicht nur kleine Betriebe oder freie Gruppen: Lassen sich grosse Festivals wie Gurten oder Buskers überhaupt noch so durchführen wie bisher? Oder näherliegend: Gibt es im Stadtsaal des Kornhausforums je wieder Partynächte mit 500 jungen Menschen, die sich verdammt nahe kommen? Die Vielfalt der Berner Kultur baut auf einem sehr fein gewobenen Netz. Ich bin nicht sicher, ob es hält.
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Wie erleben Sie in diesem Zusammenhang die Unterstützung durch Politik und Behörden? Der Gegenwind ist härter geworden. Kulturförderung ist nicht mehr so selbstverständlich wie noch vor ein paar Jahren. Und grosse Projekte, Visionen gar, von denen noch kürzlich als Leuchttürme die Rede war, werden hintenangestellt. Oder habe ich in letzter Zeit irgendeine Neuigkeit zum Museumsprojekt an der Hodlerstrasse verpasst? Sie werden auch weiterhin den Verein bekult – den Dachverband der Berner Kulturveranstalter*innen – präsidieren. Was tut dieser Verein, was kann er bewirken? Die über 80 Mitglieder von bekult vertreten das ganze Spektrum des Berner Kulturangebots. Wir sind nicht branchengebunden und mischen uns in die alltäglichen Belange der Kulturstadt Bern ein. Damit es endlich nicht nur in den Aussenquartieren, sondern auch in der Innenstadt Kultursäulen gibt. Damit, leider ohne Erfolg, die Bundesmillion weiter fliesst. Damit der Kulturkredit nicht gekürzt wird. Solche Dinge. Jetzt, in Corona-Zeiten, ist es sicher gut, dass die Kultur in Bern eine solche Stimme hat. Und mich dünkt, die Politik hört uns auch zu. Sie waren lange Jahre Journalist und Redaktor beim Bund und der Berner Zeitung, seit über einer Dekade leiten Sie nun das Kornhausforum. Aber eigentlich kommen Sie ja vom Bild: Sie haben eine Ausbildung als Fotograf und Sie drehten zahlreiche Spielund Dokumentarfilme. Wie hat Sie dieser Bezug zum stillen und zum bewegten Bild begleitet? Und kehren Sie in Zukunft wieder zum Bild zurück? Mit den Fotografie-Ausstellungen im Kornhausforum kehrte ich zu meinen Anfängen zurück, das war ein Heimkommen. Aber das fotografische Bild, ob still oder bewegt, hat mich immer begleitet, zuerst als freier Fotograf, dann als Mitarbeiter der Kellerkinos, als Filmer, als Redaktor auf Zeitungsredaktionen. Und ja, klar, eine Rückkehr zum Bildermachen, Fotografie oder Film, das wünsche ich mir, da gibt es genug Bilder im Kopf und in der Schublade. Für 2021 gibt es ein Ausstellungsprojekt in der Galerie Béatrice Brunner. Gibt es einen Film, den Sie mit auf die einsame Insel nähmen? Also zehn müssten das schon sein, die da mitkämen. Darunter wären sicher Une partie de campagne von Jean Renoir, The Tarnished Angels von Douglas Sirk und L’albero degli zoccoli von Ermanno Olmi. Und vielleicht Les deux anglaises et le continent, ein Liebesfilm von François Truffaut, den ich zu meinem 30. Geburtstag im Kellerkino gezeigt habe, weil ich damit eine Frau verführen wollte. b Das Interview führte Maria-Teresa Cano, Leiterin Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit.
«Aber jetzt ist vor allem eines entscheidend: Dass dieses sanfte Wiedererwachen der Kultur nach Corona sich auch festigen kann. Die Kultur muss, wie auch immer, wieder spielen können, auf den Bühnen, in den Museen, auf den Plätzen. Die Vorstellung ist entsetzlich, Kultur nur noch gestreamt konsumieren zu können. » 7
Nordkorea
Alpines Museum der Schweiz ab 20.02.2021 8
Unten: Willkommen im Skiresort Masikryong. Die Hotelangestellten Park un-Jung und Kim sun-Young in der Après-Ski-Zone Oben: Fototermin einer Arbeiterbrigade auf dem Paektusan, dem höchsten Gipfel Nordkoreas
Videostills: Alpines Museum der Schweiz / Katharina Schelling
Ausstellung
Nordkorea
Let’s Talk about Mountains Was fällt Ihnen als erstes ein, wenn Sie «Nordkorea» hören? Raketentests? Massenaufmärsche? Die Menschenrechts- oder Ernährungssituation? Das Alpine Museum der Schweiz zeigt ab 20. Februar 2021 eine filmische Annäherung an das verschlossene Land. Ein Filmteam des Alpinen Museums reiste 2018 und 2019 während mehrerer Wochen nach Nord- und Südkorea und suchte an unterschiedlichen Schauplätzen — im Stadtpark, auf Berggipfeln, im Schulzimmer — das direkte Gespräch. Die Ausstellung Let’s Talk about Mountains. Eine filmische Annäherung an Nordkorea wird das Publikum herausfordern. Sie zwingt hinzusehen, zuzuhören — und Fragen zu stellen.
Ja, Reisen nach Nordkorea sind möglich. Es gibt sie in Reisebüros als fixfertige Angebote, ähnlich wie Kreuzfahrten oder Pauschalarrangements im mediterranen Ferienresort, und es gibt massgeschneiderte Reisen, die ihr eigenes Programm verfolgen. Let’s Talk about Mountains gehörte zur zweiten Kategorie. Doch auch da gilt immer: Ein freies, selbständiges Reisen in Nordkorea ist nicht möglich. Reisen sind immer begleitet von hervorragend ausgebildeten Guides, die auch als Übersetzer wirken. Das Programm wird im Voraus festgelegt. Reisen in Nordkorea brauchen eine staatliche Bewilligung. Reisen mit Dreharbeiten in Nordkorea brauchen mehrere staatliche Bewilligungen, aber sie sind mit etwas Hartnäckigkeit, Charme und Willen zur Zusammenarbeit möglich. Let’s Talk about Mountains entstand als Angebot des Alpinen Museums der Schweiz an die Botschaft Nordkoreas in Bern. Nordkorea hat 25 Millionen Einwohner*innen. Wir wollten mit einigen wenigen an von uns gewünschten Schauplätzen über Berge sprechen. Das mag etwas harmlos klingen, wenn wir an Gespräche über
den Niesen oder den Gantrisch denken. Aber der Paektusan, der höchste Berg Nordkoreas, und der Hallasan, der höchste Berg Südkoreas, sind ideologische Landmarken. Sie waren 2018 die symbolischen Referenzpunkte der einmal mehr versuchten Verständigung auf höchster Staatsebene, als sich die beiden Staatschefs aus Nord- und Südkorea, Kim Jong-un und Moon Jae-in, auf dem Paektusan begegneten. Berge sind in Nordkorea wie überall auf der Welt mehr als topografische Erhebungen. Sie sind Bestandteil kultureller und ideologischer Konstruktionen, die in der Kulturgeschichte oft weit zurückgreifen, aber auch wandlungsfähig sind. Der Paektusan ist ein mächtiger Vulkanberg an der nordkoreanischen Grenze zu China. Er ist im öffentlichen Raum Nordkoreas omnipräsent, weil er für die Macht der herrschenden Dynastie steht. Der heilige Berg Koreas, den auch das alte China verehrte, mutierte in der nordkoreanischen Lesung zum «heiligen Berg der Revolution», in Südkorea ist er immer noch der «heilige Berg Koreas», der für Südkoreaner*innen nur von der chinesischen Seite zugänglich ist. Berge sind mit ihrem ideologischen Gewicht selbstverständlich auch Stoff in den Schulen, was Schweizer*innen leicht nachvollziehen können. Rütli, Gotthard und Réduit lassen grüssen. Berge sind zudem Schauplätze von Freizeitvergnügen, von Tourismusinvestitionen und von prekärer Berglandwirtschaft. Und Berge sind seit Jahrhunderten Gegenstand von Kunst und Kultur, von Ästhetik, Schönheit und stilisierter Harmonie, buddhistische Religion inbegriffen. Die Künste – Malerei, Musik, Film, Literatur – kommen ohne Berge nicht aus. Das ist in Nordkorea nicht anders. Let’s Talk about Mountains versucht dies zu zeigen. Das Material, aus dem die Ausstellung derzeit entsteht, ist überraschend unaufgeregt.
Es geht um Dialog und Verständigung mit Menschen aus einem Land, das hinter Mauern verschwindet. Das Filmteam fragte, Menschen antworteten. Zum Beispiel auf dem Kumgangsan, im Gebirge nahe der Demarkationslinie zu Südkorea. Die nordkoreanischen Wandertouristen werden nach den Bergen im Süden gefragt, auf dem Hallasan, dem einzigen Filmdrehort in Südkorea und höchsten Berg auf der Ferieninsel Jeju-do, nach den Bergen im Norden. Die Antworten fielen beidseits berührend offen aus. Die Reise in der Ausstellung führt auf den Stadthügel Pjöngjangs, in den Geschichts-, Geografie- und Zeichenunterricht in mehrere Schulzimmer, hinauf auf Berggipfel, ins vermeintliche Guerilla-Camp am Fusse des Paektusan, in Kunstateliers, in Landwirtschaftsbetriebe der hügeligen Provinz und ins grosse Skiresort von Masikryong. Die Kamera schaut manchmal auch nur zu. Etwa auf dem Gipfel des Paektusan beim geschäftigen SelfieTreiben. Let’s Talk about Mountains kommentiert nicht, sondern zeigt. Zu den Filmbildern erscheint ein reich illustriertes Magazin, das die Themen der Filmräume aufgreift, vertieft und interpretiert. Namhafte Nordkorea-Expert*innen konnten als Autor*innen gewonnen werden. Ein breites Vermittlungs- und Veranstaltungsangebot mit weiteren Berner Kulturinstitutionen ist in Vorbereitung, unter anderem mit dem Kunstmuseum Bern und seiner Korea-Ausstellung Grenzgänge mit Kunstwerken aus der Sammlung Uli Sigg. b Beat Hächler, Direktor des Alpinen Museums der Schweiz und Kurator der Ausstellung
Alpines Museum der Schweiz Let’s Talk about Mountains. Eine filmische Annäherung an Nordkorea ab 20. Februar 2021
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Kindermuseum Creaviva
Kunst in unsicheren Zeiten
Am 14. Mai 2020, drei Tage nach unserer Wiederauferstehung, wollten wir von unseren Gästen wissen, welche Rolle Kunst vor dem Hintergrund der aktuellen Pandemie für sie gespielt hat. Hier eine kleine Auswahl von Antworten, die uns erreicht haben:
In Zeiten von Krisen ist Kunst für mich wichtig, weil …
… Kunst das Leben atmen lässt – und wer atmet, bleibt begeistert! b Andreas, 50 … sie mich froh macht und mir zeigt, wie bunt und gross die Welt ist. b Félix, 5
Das Creaviva ist für mich unverzichtbar, weil …
… meine Enkelin im Creaviva mit 5 Jahren entdeckt hat, dass sie, wie Paul Klee, mit verschiedensten Materialien etwas gestalten kann, zaubern kann. Immer wieder wünscht sie sich ins Creaviva zu gehen. Der nächste Enkel wird sich hoffentlich genauso abenteuerlustig in die Kunst wagen. b Jeannette, 68 … es daran erinnert, die kindliche Lust, Freude und Verspieltheit beim Gestalten zu behalten. b Sarah, 42 … ich in der Schweiz keine andere Institution kenne, die mir und meinen Enkeln Kunst so unverkrampft und inspiriert nahezubringen vermag. b Max, 54
… sie das Leben bereichert, schöner macht, Gedanken herausfordert, die Sinne schärft, provoziert, ethische Fragen aufwirft, beruhigend wirkt, Entwicklungen nachverfolgt und Identifikation schafft. b Bea, 59 … sie mir hilft, die Gedanken fliegen zu lassen. b Rolf, 69 … sie mich darin unterstützt, zu realisieren, was Gesundheit und Leben überhaupt bedeuten, und wie privilegiert ich bin. b Martin, 74 … sie ein immerwährender Ort ist, der lebt, egal auf welchen Rutschbahnen des Lebens oder Leidens. Kunst zeigt uns den Weg im Alltag, in unserm Sein, wo immer wir unterwegs sind, auch im Träumen! b Paul, 34 … sie eine Begegnung ermöglicht, die lautlos und direkt in meinem Herzen Gefühle hervorbringt, die aus meinem tiefsten Innersten kommen. b Georg, 78
… es ein Ort ist, der mich einlädt zum Experimentieren, in Farben und Formen zu schwelgen, und ich mir dadurch nahe bin und mich lebendig und erfinderisch erleben darf. b Jan, 33 … für Gross und Klein ein Raum geschaffen wird, um sich in der Kreativität zu entfalten – ein grenzenloses «Hier und Jetzt» mit Staunen. b Simone, 44 … ich es liebe, Freude in den Augen meiner Kinder zu sehen, wenn sie Neues entdecken, schaffen können und sie aufgeregt und stolz auf ihr Ergebnis sind. b Ivana, 38 … es einfach gut tut, dort zu sein! Diese Vielfalt an Farben, Formen und Ideen. b Christel, 66
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Wären die Türen des Kindermuseums zu geblieben, hätte ich …
… dem Zauberer um die Ecke seinen Zauberstab stibitzt und das Creaviva wieder hergezaubert. Subito. Ohne Wenn und Aber! b Eva, 59
Ausstellung Paul Klee, Côte de Provence 1, 1927, 229, Aquarell auf Papier auf Karton, 15,1 × 23,5 cm, Zentrum Paul Klee, Bern
Mapping Klee
«Ohne Phantasie wird nichts» Zentrum Paul Klee 05.09.2020 – 24.01.2021 Ausstellung statt All-inclusive: Mit Mapping Klee in ungeahnte Welten eintauchen und das grenzenlose Reich der Fantasie bereisen. Beglückend, inspirierend, Horizont erweiternd und garantiert CO2-neutral.
Paul Klee reiste gern: nach Italien, an die französische Mittelmeerküste, bis nach Tunesien und Ägypten. Seine Aufgaben als Lehrperson am Bauhaus empfand er zuweilen als Belastung. Der regenerativen Kraft seiner Ferien in Südfrankreich, auf Porquerolles und Korsika im Sommer 1927, bedurfte er so sehr, dass er erst mit mehrwöchiger Verspätung zum neuen Semester ans Bauhaus zurückkehrte. Ab 1933 waren es nicht mehr berufliche Verpflichtungen, die ihn am freien Reisen hinderten. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland kehrte Klee Ende des Jahres in seine Heimatstadt Bern zurück. Neben den veränderten politischen Verhältnissen in Europa waren auch eine finanziell angespanntere Lage und ab 1935 Klees ernste Erkrankung schwerwiegende Hindernisse für grössere Unternehmungen. Seine Reisemöglichkeiten beschränkten sich fortan auf die Schweiz – vor allem auf Kuraufenthalte. Die Erfahrungen und Beobachtungen, die Klee auf seinen früheren Reisen gemacht
hatte, gaben ihm stets neue Impulse für sein kreatives Schaffen. Und doch wirkt Klees Spätwerk – trotz Reisestopps – nicht ärmer oder uninspirierter als seine früheren Arbeiten. Im Gegenteil: In seinen letzten Lebensjahren steigerte Klee seine Produktion ins Unermessliche – mit über 1300 registrierten Werken allein im Jahr 1939. «[…] ich komme diesen Kindern nicht mehr ganz nach. Sie entspringen», schrieb Klee im Dezember 1939 an seinen Sohn Felix über seine sprudelnden Bildeinfälle. Woher kamen diese Scharen von «Kindern»? Klees ungeheure Gabe der Imagination hauchte ihnen Leben ein. Körperliche Hinfälligkeit und geschlossene Grenzen konnten daran nichts ändern. Bereits früh hatte Klee das Potenzial der Fantasie erkannt. Im Jahr 1905 schrieb er an seine Verlobte Lily Stumpf: «In mageren Minuten sehe ich zu deutlich und klar, es fehlt der Glaube, und die Welt bleibt ungeschaffen. Ohne Phantasie wird nichts.» Was ihm damals zuweilen noch schwer zu fallen schien, kultivierte und perfektionierte er bis zu seinem Tod: das Erschaffen neuer Welten durch die Macht der Vorstellungskraft. Seine Bildwelten sind bevölkert von geheimnisvollen Wesen, absonderlichen Pflanzen, und sie entführen uns an mystische Orte – auch in der Ausstellung Mapping Klee. In einer
Serie von 17 Zeichnungen nimmt Klee uns beispielsweise mit auf einen schaurigen Spaziergang durch einen Infernen Park. eingangs betreten wir den Schauplatz, überwinden eine scheinbare Überbrückung, passieren die MordStelle, ehe wir uns zur verfrühten Rast niederlassen. Die Titel und reduzierten Zeichnungen evozieren Bilder im Geiste des Betrachtenden und lassen doch genügend Raum für die eigene Ausgestaltung der Leerstellen. Der therapeutische Nutzen von Fantasiereisen als imaginatives Verfahren zur Therapie und zur Entspannung wurde erst Jahrzehnte später erkannt. Und doch scheint dies in Klees Bildern bereits angelegt. Und nur zu gerne beanspruchen wir, gerade in diesen Zeiten, die heilvolle Wirkung der Bilder und begeben uns mit Klee auf eine Reise in die Fantasie – träumen von fernen Orten, tanken Kraft und finden Inspiration und Ausgleich. b Kai-Inga Dost, Ausstellungsassistentin Zentrum Paul Klee
Zentrum Paul Klee Mapping Klee 05.09.2020 — 24.01.2021
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Ausstellung Paul Klee, nach der Zeichnung 19/75, 1919, 113, aquarellierte Lithographie, 22,2 × 16 cm, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Livia Klee
Paul Klee
Rebell & Geniesser Zentrum Paul Klee 15.01.– 30.05.2021 12
Rebell & Geniesser
Lernbegieriger Schüler mit Bestnoten und schlechtestes Abitur seiner Klasse, jugendlicher Vagabund und moderner Hausmann, seriöser Bauhausmeister und Unterrichtsverweigerer, zurückgezogener Künstler und Mitglied des Aktionsausschusses revolutionärer Künstler im Zuge der Novemberrevolution, vom Teufel besessen und den Göttern nah. Das Zentrum Paul Klee zeigt Paul Klee in all seinen Widersprüchen. Grotesken und Karikaturen bevölkern manche Seiten von Klees Schulheften und -büchern und illustrieren seinen Drang zur Flucht vor schulischen – und später alltäglichen, beruflichen sowie politischen – Verpflichtungen mittels Bleistift in eine fantastische Gegenwelt. In der Schulzeit publiziert Klee gemeinsam mit seinen Mitschülern Hans Bloesch und René Thiessing die «stark gewürzte Commerszeitung» mit dem Titel Die Wanze. Er verleiht seiner Ablehnung gegenüber dem «Zuchthaus Waisenhausstrasse» – Klees Berner Schulhaus und heutigem Atelierhaus PROGR – Ausdruck, indem er in seinen satirischen Zeichnungen Teile der Lehrerschaft und ihre veraltete Pädagogik attackiert. Ebenfalls mit Bloesch bereitet er 1908 das unveröffentlichte Buch Der Musterbürger vor. In sieben Illustrationen verspottet Klee den spiessbürgerlichen Menschen samt der schweizerischen Bürokratie, die um 1900 einen ersten Höhepunkt erreicht. Er stellt den Protagonisten, einen Beamten («Er kostete nie gestohlnes Obst, war nie in Nachbars Garten») überspitzt, nunmehr als Karikatur seiner selbst, dar und legt so die Abgründe des vorbildlichen Menschen offen. Selbst Klees Entschluss, nach dem Abitur in München Kunst zu studieren, ist primär Akt der Rebellion und Emanzipation von seinem Elternhaus: Er stellt sich damit gegen den Wunsch seines Vaters, der für das Doppeltalent – als Geiger und Zeichner – eine Musikerkarriere vorsieht. In seinem Tagebuch schreibt Klee über seine Vorliebe für Verbotenes, dass ihn weniger die bildende Kunst an sich, «als die Aussicht, möglichst bald weit weg zu sein» nach München lockt. Dort bleibt
er regelmässig dem Unterricht bei Heinrich Knirr und später Franz von Stuck fern und begründet trocken seinen «Unfleiss» gegenüber den Eltern damit, dass es diesmal «ganz der gleiche Fall wie früher [ist], wenn ich die Schule schwänzte, nämlich, weil es momentan Wichtigeres zu tun gibt für mich.» Wichtiger sind Klee Reisen, musikalische Soirées, Theater- und Opernvorstellungen, Maskenbälle, üppige Abendessen in Restaurants sowie der Genuss seines Lieblingsgetränks: «guter roter Wein». Den in München lehrenden «akademischen Büffeln» kehrt Klee bald den Rücken und zieht sich zur Selbstausbildung und -findung nach Bern in sein Elternhaus zurück. Auch zu Beginn des Ersten Weltkrieges schliesst er sich nicht der unter vielen befreundeten Intellektuellen und Künstler*innen in München ausbrechenden Kriegseuphorie an. Anders als etwa Franz Marc meldet er sich nicht freiwillig zum Militärdienst, sondern flüchtet vor der «schreckensvollen Welt» in die abstrakte Kunst. Als Klee 1916 schliesslich als Landsturmmann zur deutschen Armee berufen wird, findet er Wege, dem «verhassten Soldatenspiel» zumindest teilweise zu entkommen und mietet etwa ein privates Zimmer ausserhalb der Kaserne. Den so geschaffenen Freiraum nutzt er, um heimlich zu malen, zu musizieren und zu kochen. In einer Zeit, in der die malerischen Mittel und Materialien schwer zu beschaffen sind, bedient er sich anderer Bildträger und verwendet etwa Reste von Leinen, die in den Gersthofener Werkstätten, wo er stationiert ist, zur Bespannung der Flugzeugflügel verwendet werden. Selbst auf sein geliebtes
Reisen verzichtet er nicht gänzlich – er begleitet Flugzeugtransporte und «reist» so nach Köln, Brüssel und an die Nordsee. Mit ironischen Kommentaren und später seiner Kunst kritisiert Klee nicht nur das vorherrschende Schulsystem, Bereiche der Kultur- und Mentalitätsgeschichte der Schweiz, wirtschaftliche und politische Autoritäten während des Ersten und Zweiten Weltkrieges in Deutschland, sondern auch die für viele unsichtbaren alltäglichen Widersprüche des modernen Lebens. In seinem künstlerischen Schaffen konfrontiert Klee sich und die Betrachtenden immer wieder mit der Absurdität des menschlichen Daseins. Die oppositionelle und geniesserische Seite Klees verträgt sich schlecht mit autoritärem Gehabe. In allen Systemen, in denen er sich bewegt – ob während der Schul-, Ausbildungs-, Militär-, Eltern- oder später der Bauhauszeit –, findet er stets ein Schlupfloch, einen realen oder imaginären Raum, und «ist einfach Mensch». Selbst wenn Klee die laute Revolution und das konkrete Politisieren lieber anderen überlässt, so zeugen sein Handeln und seine Bilderwelten von einem Bewusstsein für die «Traditionen der mächtigen Realitäten» und seinem lebenslangen Versuch, «in der Stille das Unmögliche zu vollbringen» – mit Pinsel, Geige und Kochlöffel. b Livia Wermuth, kunstwissenschaftliche Volontärin Zentrum Paul Klee
Zentrum Paul Klee Paul Klee. Rebell & Geniesser 15.01.— 30.05.2021 Eröffnung: Donnerstag, 14. Januar 2021
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Fokus
Realität Vision Utopie Die Macht von Kunst in Zeiten der Krise Zwei Sammlungen und unzählige Geschichten: Die Kuratorinnen Kathleen Bühler und Marta Dziewańska sprechen über ihre Ausstellungen, die vor und während der Corona-Pandemie entstanden sind. Im Fokus stehen Emotionen, Revolution und die Art und Weise, wie Kunst werke in verschiedenen Realitäten immer wieder neu aktiviert werden können. Beide Ausstellungen im Kunstmuseum Bern, Crazy, Cruel and Full of Love (J Seite 21) wie auch Tools for Utopia (J Seite 17), sind Sammlungsausstellungen. Eine schöpft aus der Sammlung von Gegenwartskunst des Kunstmuseum Bern, die andere aus der Daros Latinamerica Collection. Obwohl auf verschiedenen Kontinenten, zu unterschiedlichen Zeiten und vor anderen politischen und sozialen Hintergründen entstanden, lassen sich Parallelen zwischen den ausgestellten Werken ziehen. Sie alle dokumentieren Krisen, verarbeiten extreme Situationen und Emotionen und haben auch vor dem heutigen Hintergrund der Corona-Pandemie nichts an Aktualität eingebüsst.
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Realität
Vision
wie oft Kunstwerke erst Jahre nach ihrer Entstehung wirklich verstanden werden. Sie sind präzise Zeitdokumente, aber auch Ausdruck von dazugehörigen Träumen von einer anderen, besseren Welt. Die zeitgenössischen Werke hingegen reagieren extrem aktiv auf ihr Hier und Jetzt. Es geht weniger um utopische Zukunftsvisionen als vielmehr um konkrete Wege, die Gegenwart zu kommentieren, an ihr teilzunehmen und sie zu «reparieren» — was letztendlich natürlich auch sehr viel mit der Zukunft zu tun hat. Die chilenische Fotografin Paz Errázuriz zum Beispiel macht mit ihren Schwarz-Weiss-Fotografien diejenigen Menschen sichtbar, die das System zensiert, kriminalisiert und unterdrückt. Sie konnte diese Bilder in ihrer Entstehungszeit nicht publizieren, worum es ihr aber auch nicht in erster Linie ging. Es ging vielmehr darum, für ihre Protagonist*innen ein Umfeld des Vertrauens zu schaffen. Durch ihre Arbeiten — inhaltlich wie auch bezogen auf ihr Vorgehen — bot sie den bestehenden hierarchischen und gewalttätigen politischen Systemen die Stirn. Die Ausstellung folgt den Künstler*innen, wenn sie sich mit den verletzlichen Körpern und den Minderheiten in der Gesellschaft auseinandersetzen. Eine Art bescheidene, sehr lokale und doch hoffnungsvolle, und meiner Meinung nach mächtige Utopie. Das Gleiche versuchte ich auch im Katalog umzusetzen. Er ist im Stil einer Zeitung gestaltet, in der wir den aktuellen Zeitgeist zu erfassen versuchen. Historische Manifeste werden den Aussagen zeitgenössischer Künstler*innen über die momentane Situation in Guatemala, Costa Rica, Chile, Kolumbien oder Brasilien gegenübergestellt. Im Fokus stehen die persönlichen Eindrücke und Emotionen: die lokalen Krisen, die individuellen Lebensgeschichten und Entscheidungen hinter der globalen Krise.
Unsere Sammlung Gegenwartskunst ist für mich eine Sammlung von Geschichten und Erfahrungen. Ich möchte diese Werke nutzen, um auf empathische, aber auch sarkastische oder ironische Art und Weise darüber zu reflektieren, was wir momentan erleben. Künstler*innen haben in ihren Werken schon immer ausserordentliche Gemütszustände thematisiert, und mit der Ausstellung Crazy, Cruel and Full of Love schlage ich vor, sie unter dem Blickpunkt der globalen Covid-19-Pandemie und so als Antworten auf eine ganz aktuelle Erfahrung zu lesen. Die Werkauswahl ist sehr kontrastreich und soll die Unsicherheit und Haltlosigkeit widerspiegeln, der wir ausgesetzt sind. Ich habe mir erlaubt, die Werkinhalte spielerisch auf einer anderen Ebene zu befragen. Die Auswahl umfasst deshalb unterschiedlichste Werke, die sich mit starken und ambivalenten Emotionen befassen, und die losgelöst von ihrem Zeit- und Werkkontext gezeigt werden. Der Aus stellungstitel fasst dieses Wechselbad der Gefühle treffend zusammen: Unsere Situation ist verrückt, sie ist grausam, aber sie ist auch voller Liebe.
KATHLEEN BÜHLER
Ich denke, die ambivalenten Emotionen, die du ansprichst, umschreiben die aktuelle Situation sehr gut. Wir wissen nicht, was kommt, und verstehen nicht wirklich, was passiert. Was konntest du von den ausgewählten Werken lernen?
MARTA DZIEWAŃSKA
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MD
Utopie
Viele der Werke erzeugen aufgrund ihrer Motive oder ihrer Machart widersprüchliche Reaktionen. Es ist nicht immer klar, was sie eigentlich darstellen. David Hominal zum Beispiel malt seine romantischen Landschaften so übertrieben, dass er sie dadurch als Klischee entlarvt. Gleichzeitig durchbricht er das Klischee und kreiert so eine beunruhigende Mehrdeutigkeit. Manche Werke haben sprechende Motive, wie zum Beispiel Urs Lüthis doppeltes Selbstporträt. Das Werk verwebt zwei unterschiedliche Zustände und kann als Kommentar zu früheren Selbstporträts gelesen werden. Es ist die Ausstellung als Ganzes, die mir hilft, die vielen Emotionen und diese aktuelle Gleichzeitigkeit von Lebenslust und Gefährdung zu verstehen. Und sie ist ein Versuch, die Besucher*innen mit ihren eigenen Empfindungen zu konfrontieren, ohne dabei kathartisch wirken zu wollen. Wenn ich hier den Bogen zu Tools for Utopia schlage, sehe ich eine starke Ähnlichkeit, obwohl diese Werke in einem ganz anderen politischen Umfeld entstanden sind.
Tools for Utopia setzt sich aus einem historischen und einem zeitgenössischen Teil zusammen. Der historische Teil der Ausstellung umfasst Werke, die von 1950 bis in die 1970erJahre entstanden sind. In dieser Zeit waren die meisten lateinamerikanischen Länder Diktaturen. Die Künstler*innen versuchten nicht nur das, was passierte, zu beschreiben, sondern die Gesellschaft und die Politik neu zu denken und sich eine andere Welt zu erträumen. Anstatt die Werke anhand ästhetischer Parameter zu ordnen, habe ich versucht, sie als Aussagen über und Szenarien für die Zukunft zu verstehen. Die Künstler*innen waren nicht so sehr daran interessiert, Gemälde zu schaffen, die in Institutionen hingen, oder unbewegliche Skulpturen, die in abstrakten Situationen gezeigt werden. Ihre Kunstwerke behandelten sie als Werkzeuge zur Emanzipation. Ein wunderschönes Konzept, von dem wir heute lernen können, Kunst als politisches Werkzeug ernst zu nehmen. Ich bin überzeugt, dass Künstler*innen wie hochempfindliche Seismografen funktionieren — führen wir uns nur einmal vor Augen,
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Ich denke, das ist eine der Haupteigenschaften von Kunst: Sie kann einem alternative Perspektiven eröffnen und uns dabei helfen, Wandlungspotenzial zu erkennen. Und das in den unterschiedlichsten Situationen und losgelöst von ihrem Entstehungskontext. Ihre Inhalte sind auf vielfältige Weise aktivierbar: Das Gemälde BLAU von Miriam Cahn zum Beispiel zeigt einen Mann, eine Frau und ein Kind, die im Mittelmeer ertrinken, und ist der Kommentar der Künstlerin auf die Flüchtlingskrise im Mittelmeerraum. In einer wunderschönen Sinfonie in Blau visualisiert Cahn die körperliche Todeserfahrung. Natürlich ist dies immer noch der Inhalt des Werks, aber die Idee des unkontrollierten Treibens im Sinne eines Nicht-Wissens wohin etwas führt, erhält durch die Pandemie eine zusätzliche Bedeutungsebene.
MD
Künstler*innen blicken über den Tellerrand. Sie schlagen mutige, unmögliche und oftmals verrückte Sichtweisen vor, und gerade jetzt brauchen wir unbedingt mutige Visionen.
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Ich würde sagen, verrückte und grausame Visionen voller Liebe.
b Kathleen Bühler, Kuratorin der Ausstellung Crazy, Cruel and
Full of Love. Werke aus der Sammlung Gegenwartskunst
12.09.2020 — 14.02.2021, im Kunstmuseum Bern b Marta Dziewańska, Kuratorin der Ausstellung Tools for Utopia.
Ausgewählte Werke der Daros Latinamerica Collection
30.10.2020 —2 1.03.2021, im Kunstmuseum Bern b Text: Martina Witschi, Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit
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Ausstellung
Tools for Utopia
Ausgewählte Werke der Daros Latinamerica Collection
Kunstmuseum Bern 30.10.2020 — 21.03.2021
Die Ausstellung setzt sich mit den Spannungs feldern zwischen Wirklichkeit und Traum, Individuum und Gesellschaft, Vergangenheit und Zukunft und ganz besonders zwischen Realität und Utopie auseinander. Sie stellt historische Werke zeitgenössischen gegenüber und zeigt auf, wie lateinamerikanische Künstler*innen ihre Arbeiten in unterschiedlichen historischen, sozialen und politischen Kontexten als Werkzeuge zur Emanzipation genutzt haben. 17
Tools for Utopia Mit der Gegenüberstellung von historischen und zeitgenössischen Werken untersucht die Ausstellung, wie Kunst, die «den Willen zu handeln» erzeugt und zu einer «aktiven Inbesitznahme der Gegenwart» (Interventionistisches Manifest) einlädt, von den Künstler*innen der nachfolgenden Generationen weitergeführt, weiter kompliziert und hinterfragt wird. Wie haben die lateinamerikanischen Kunst bewegungen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts die kulturelle, soziale und politische Vorstellungskraft beeinflusst? Wofür stehen diese Ideen und Hoffnungen heute? Was bleibt von ihrem ästhetischen Erbe und dessen umfangreichen politischen Ambitionen? Solche Fragen scheinen im aktuellen Kontext sozialer und politischer Spannungen — in Lateinamerika, aber auch weltweit — besonders relevant, und Tools for Utopia versucht aufzuzeigen, wie dieses Erbe uns heute inspirieren und anregen kann.
In seinem programmatischen Text «El marco: un problema de la plástica actual» (Der Rahmen: Ein Problem der Gegenwartskunst), welcher 1944 publiziert wurde, führte der uruguayische Künstler Rhod Rothfuss seine Gedanken zum Bilderrahmen aus: Ein Gemälde, erklärte er, sollte «in sich selbst beginnen und enden», und «die Kante der Leinwand spielt eine aktive Rolle im Kunstwerk». Der Blick auf die Kante und, als Konsequenz davon, über den Bilder rahmen hinaus wurde für lateinamerikanische Künstler*innen zum Erkennungsmerkmal: Anders als ihre europäischen und eher an formalistischen Problemen interessierten Vorgänger (Max Bill, Josef Albers) interpretierten sie Konkrete Kunst als eine bildhafte Sprache des Engagements und behandelten ihre zentrale Maxime — die Erfindung — als ihr mächtigstes revolutionäres Instrument. Die «Auslöschung» des rechteckigen Rahmens — so einfach sie auch scheinen mag — ermöglichte dynamischere Kompositionen, die mit ihrer Umgebung in ganz neue Dialoge treten konnten. Der nachdenkliche Betrachter wurde so zum teilnehmenden Subjekt, das durch das Kunstwerk «auf wirkliche Gegebenheiten schliesst, und nicht auf Fiktionen» (Interventionistisches Manifest, 1946).
b Marta Dziewańska, Kuratorin der Ausstellung b Übersetzung aus dem Englischen: Martina Witschi, Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit Kunstmuseum Bern
Tools for Utopia. Ausgewählte Werke der Daros Latinamerica Collection
Den Ausgangspunkt der Ausstellung Tools for Utopia bilden Werke von Künstler*innen aus Brasilien, Venezuela, Uruguay und Argen tinien, die zwischen den frühen 1950er-Jahren und späten 1970erJahren entstanden sind. Die Schönheit der Werke ist unbestritten, sie wurden jedoch nicht aus rein ästhetischen Gründen ausgewählt. Das Hauptauswahlkriterium war vielmehr ihre politische Dimension. In einer Zeit entstanden, in der viele lateinamerikanische Länder durch interne und internationale Konflikte gespalten und von brutalen, korrupten und unberechenbaren Diktatoren beherrscht wurden, eröffneten diese Werke — ob konkret, neo-konkret oder konzeptionell — Möglichkeiten, die Funktion von Kunst in politischen Systemen weiterzudenken, deren Hauptmerkmale institutionalisierte Gewalt, Repression und Zensur sind. Die Abkehr von der Leinwand, das Durchbrechen des Rahmens und Experimente mit neuen Materialien reflektierten die Unsicherheit der Zeit und waren Ausdruck einer Suche nach Alternativen. So betrachtet stellen diese künstlerischen Experimente Mittel der bewussten Grenzüberschreitung dar, denn mit ihnen können soziale und politische Utopien geschaffen werden.
30.10.2020 —21.03.2021 Eröffnungstag: Donnerstag, 29. Oktober 2020, 10—20 Uhr. Am Eröffnungstag ist der Eintritt in die Ausstellung kostenlos.
Den unscharfen und mehrdeutigen Begriff «Utopie» zu verwenden mag gewagt scheinen. Anstatt für eine Fantasie der unmittelbaren Darstellung plädiert die Ausstellung jedoch für eine Rückkehr zur modernen Vorstellung von Utopie, wie sie von Ernst Bloch in seinem Werk Das Prinzip Hoffnung (1954) entwickelt wurde. Für Bloch ist die Utopie gleichbedeutend mit dem kritischen Potenzial, solch gegensätzliche Kategorien wie «vorher» und «nachher», «innen» und «aussen», «Optimismus» und «Pessimismus», die die Welt (und unsere Vorstellungskraft) unterteilen, zu überwinden. Die Utopie vermischt derartige Dichotomien, aktiviert unsere Fähigkeit zu träumen und wird so zu einer Waffe und Form des Widerstands. Die Erneuerung der utopischen Hoffnung entspringt einem Unbehagen am erlebten Hier und Jetzt, und die in Tools for Utopia gezeigten Künstler*innen setzen ebendiese Hoffnung als zukunftsorientiertes politisches Werkzeug ein, um der Gegenwart mit Widerstand zu begegnen und alternative Visionen zu entwickeln.
«Die Schönheit der Werke ist unbestritten, sie wurden jedoch nicht aus rein ästhetischen Gründen ausgewählt. Das Hauptauswahlkriterium war vielmehr ihre politische Dimension.»
Die Ausstellung ist demnach rund um die Auffassung von Kunstwerken als «Werkzeuge» aufgebaut. Sie bezieht sich auf die Geschichte von Arbeiten, die in unterschiedlichen sozialen und politischen Kontexten die reine Darstellung zu überwinden versuchen, die Räume ausserhalb des Kunstwerks beleuchten und so eine aktive Rolle in der Umgestaltung der Gesellschaft eingenommen haben.
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Ausstellung
Crazy, Cruel and Full of Love Werke aus der Sammlung Gegen wartskunst
Kunstmuseum Bern 12.09.2020 — 14.02.2021
Was erzählen uns zeitgenössische Kunstwerke zum Wechselbad der Gefühle, das wir im Lockdown erlebten? In unserer Zusammenstellung von Werken aus der Sammlung Gegenwartskunst — der Ausstellungstitel ist einem Werk der Genfer Künstlerin Vidya Gastaldon entlehnt — wagen wir einen Streifzug durch die jüngste Kunst geschichte. Immer auf der Suche nach dem, was die jeweiligen Künstler*innen uns über extreme Zustände erzählen können. 21
Die Begriffe «verrückt», «grausam» und auch «voller Liebe» beschreiben gut das Wechselbad der Gefühle, welchem viele Menschen während des Lockdowns ausgesetzt waren. Zur gesundheitlichen Gefährdung, zu Krankheit und Todesfällen kamen neue existenzielle Verunsicherungen dazu. Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Einkommenseinbussen schafften neue ökonomische Realitäten, und Social Distancing wurde zum Schlagwort der Stunde. Gleichzeitig konnte man aber auch stärkere Solidarität, Nachbarschaftshilfe und — aufgrund von Homeoffice und Homeschooling gezwungenermassen — mehr familiären Austausch erleben. Menschen mussten auf engerem Raum zusammen auskommen, und den Möglichkeiten, sich mit Vergnügen und Unterhaltung ablenken zu können, waren Grenzen gesetzt. Viele Menschen wurden vermehrt auf sich selbst zurückgeworfen. Diese existenzielle Konfrontation mit einer neuen Realität hatte positive und negative Auswirkungen. Sie konnte zu starken Ängsten führen, aber auch zu mehr mitmenschlicher Achtsamkeit, Gelassenheit und subjektiver Innenschau. Betrachtet man die Werke einer Kunstsammlung nicht nur als Ausdruck eines zeitspezifischen und individuellen Kunstbegriffes, sondern auch als visuelle und dreidimensional gestaltete symbolische «Erfahrungsberichte», dann lassen sich auch in jüngerer Zeit Beispiele von extremen Gefühlslagen, spannungsvollen Konstellationen und starken Krisenerlebnissen finden. Die vorgefundenen Beispiele führen uns von Verliebtheit und überbordender Lebenslust bis zu einer vertieften Konfrontation mit Vergänglichkeit.
Seite 16, oben: Antonio Dias, To the Police, 1968, Bronze, 3-teilig: 7,5 × 12,5 × 12,5 cm; 9 × 14,5 × 14,5 cm; 8 × 11 × 11 cm, Courtesy: Daros Latinamerica Collection, Zürich, Foto: Peter Schälchli, Zürich, © 2020, ProLitteris, Zürich
Ausgestellte Werke von: Marina Abramović, Luc Andrié, Christian Boltanski, Michael Buthe, Miriam Cahn, Martin Disler, Quynh Dong, Vidya Gastaldon, Daiga Grantina, David Hominal, Urs Lüthi, Markus Raetz, Jean-Frédéric Schnyder, Francisco Sierra
Seite 16, unten: Julio Le Parc, Continuel-lumière cylindre, 1962, Light-kinetic object: Wood, stainless steel, metal, motors, light sources, 280 × 280 × 50 cm, Courtesy: Daros Latinamerica Collection, Zürich, Foto: Adrian Fritschi, © 2020, ProLitteris, Zürich
b Kathleen Bühler, Kuratorin der Ausstellung
Seite 19: Ana Mendieta, aus der Serie Untitled (Glass on Body Imprints), 1972, Iowa (Estate print, 1997), Folge von sechs Farbfotos, je 50,7 × 40,5 cm, Courtesy: Daros Latinamerica Collection, Zürich, Foto: Peter Schälchli, Zürich, © 2020, ProLitteris, Zürich
Kunstmuseum Bern
Crazy, Cruel and Full of Love. Werke aus der Sammlung Gegenwartskunst 12.09.2020—14.02.2021
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Seite 20, oben: Vidya Gastaldon, Crazy, Cruel and Full of Love, 2011, Mischtechnik: Acryl und Öl auf Leinwand, 100 × 180,5 cm, Kunstmuseum Bern Seite 20, unten: Miriam Cahn, BLAU, 2017, Öl auf Leinwand, 280 × 225 cm, Kunstmuseum Bern, Sammlung Stiftung GegenwART Seite 22: David Hominal, Two Birds in the Space, 2008, Öl auf Leinwand, 100,7 × 101 × 2,5 cm, Kunstmuseum Bern
Debatte
Achille Mbembe
Das allgemeine Recht aufs Atmen
Die Welt ist vom Erstickungstod bedroht. Will die Menschheit nach Covid-19 weiterleben, muss sie sich um eine Neugestaltung der bewohnbaren Erde bemühen. Manche sprechen heute schon von der Zeit nach Covid-19. Dagegen ist nichts einzuwenden. Doch vor allem in den Weltregionen, in denen die Gesundheitssysteme jahrelang gezielt vernachlässigt wurden, steht für die meisten von uns das Schlimmste noch bevor. Da Krankenhausbetten, Beatmungsgeräte, Massentests, Masken und Desinfektionsmittel auf Alkoholbasis fehlen und ausser den bereits bestehenden noch keine weitergehenden Quarantänevorkehrungen ergriffen worden sind, werden unglücklicherweise viele Menschen auf der Strecke bleiben. Wenn jemand vor einigen Wochen versucht hat, angesichts der sich abzeichnenden Aufregung und Ratlosigkeit die heutige Zeit zu beschreiben, war von einer Zeit ohne Garantien und Verheissungen in einer mehr und mehr von ihrem eigenen Untergang besessenen Welt die Rede – aber auch von einer Zeit, in der «Verletzbarkeit ungleich verteilt ist» und «neue, verheerende Kompromisse mit ebenso futuristischen wie archaischen Gewaltformen eingegangen wurden» 1, ja mehr noch: von einer Zeit des Brutalismus. 2 Über seinen Ursprung in der gleichnamigen Architekturbewegung Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus würde ich den Brutalismus der Gegenwart als einen Vorgang definieren, «durch den Macht als geomorphe Kraft sich heute bildet, äussert, rekonfiguriert, auswirkt und
reproduziert» – durch etwas, das ich, wenn nicht als «Aufbrechen und Aufreissen», als «Entleerung der Gefässe», «Tiefenbohrung» oder «Ausschlachtung von organischen Substanzen» 3, schlagwortartig als «Depletion» im Sinne von Auszehrung bezeichnen würde.4 Zu Recht lag dabei die Aufmerksamkeit auf der molekularen, chemischen, ja sogar radioaktiven Dimension dieses Vorgangs: «Ist Giftigkeit, das heisst die starke Zunahme von chemischen Substanzen und gefährlichen Abfällen, nicht eine Strukturdimension der Gegenwart? Diese Substanzen und Abfälle greifen nicht nur Natur und Umwelt an (Luft, Böden, Gewässer, Nahrungsketten), sondern auch die Körper, die Blei, Phosphor, Quecksilber, Beryllium und Kühlmitteln ausgesetzt werden».5 Natürlich wurde in diesem Rahmen auch auf die «lebendigen, physischer Erschöpfung und einer ganzen Reihe von in manchen Fällen unsichtbaren biologischen Gefahren ausgesetzten Körper» verwiesen. Namentlich nicht erwähnt habe ich dagegen die (fast 600.000 bei allen Säugetierarten auftretenden) Viren – ausser auf metaphorische Weise in dem Kapitel, das den «Grenzkörpern» gewidmet ist. Doch davon abgesehen, ging es hier durchaus ein weiteres Mal um eine Politik des Lebendigen als Ganzem.6 Und diese nennt das Coronavirus ganz sicherlich beim Namen.
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Achille Mbembe
«Bald wird es nun aber nicht mehr möglich sein, seinen Tod an andere zu delegieren. Niemand wird mehr an unserer Stelle sterben.» Die Farbe unserer Zeit ist Purpurrot
Gesetzt den Fall, dass eine Farbe das Erkennungsmerkmal ihrer Zeit ist, sollte man deshalb in diesen purpurroten Zeiten womöglich anfangen, sich vor all denen zu verneigen, die bereits von uns gegangen sind. Nach Überwindung der schützenden Lungenbläschen ist das Virus in ihren Blutkreislauf eingedrungen und hat danach je nach deren Exponiertheit ihre Organe und weiteres Gewebe angegriffen. Daran hat sich eine systemische Entzündung angeschlossen. Diejenigen von uns, die schon vor dem Angriff des Virus Herz-Kreislauf-, Nerven- oder Stoffwechselprobleme hatten oder an Krankheiten im Zusammenhang mit der Umweltverschmutzung litten, waren besonders stark betroffen. Als ihr Atem stockte und keine Beatmungsgeräte zur Verfügung standen, haben manche uns sozusagen Hals über Kopf verlassen, ganz plötzlich, sodass es unmöglich war, sich zu verabschieden. Ihre sterblichen Überreste wurden umgehend eingeäschert oder begraben. Einsam und allein. Man müsse sich so schnell wie möglich davon trennen, heisst es. Unter diesen Umständen ist es eine Sache, sich über den Tod von weit entfernten anderen Gedanken zu machen. Etwas anderes ist es, wenn einem plötzlich die eigene Vergänglichkeit bewusst wird, wenn man auf einmal dem eigenen Tod ins Auge sehen und ihn als reale Möglichkeit betrachten muss. Unter anderem darin besteht für viele der Schrecken der Quarantäne. Sie müssen nun tatsächlich für ihr Leben und für ihren Namen einstehen. Im Grunde genommen fordern diese pathogenen Zeiten die menschliche Spezies auf, hier und jetzt für unser Leben mit anderen (einschliesslich der Viren) auf dieser Erde und gemeinsam für unseren Namen einzustehen. Doch diese pathogenen Zeiten sind auch katabole Zeiten par excellence, in denen Körper zerfallen, Spreu vom Weizen getrennt und Menschenabfall aller Arten beseitigt wird – «grosser Abstand» und «Gross-Quarantäne» sind Reaktionen auf die erschreckend schnelle Verbreitung des Virus und folglich die flächendeckende Erfassung der Welt. So sehr man auch versucht, sich von ihm zu befreien: Letzten Endes führen alle Wege zum Körper zurück. Wir mögen probiert haben, ihm andere Trägersubstanzen zu verschaffen, aus ihm ein Körper-Objekt zu machen, einen Maschinen-Körper, einen digitalen oder ontophanischen Körper: In der atemberaubenden Gestalt eines gewaltigen Alleszermalmers, Ansteckungsträgers, einer Pollen-, Sporen- und Schimmelschleuder kehrt er immer wieder. Dass man diese Prüfung nicht allein durchstehen muss beziehungsweise zu den vielen gehören könnte, die sich davonmachen, ist nur ein schwacher Trost. Warum auch, wo wir nie mit dem Lebendigen zu leben gelernt und uns nie wirklich um die von Menschen verursachten Schäden an den Lungen der Erde und ihrem Organismus gekümmert haben? Auf einmal haben wir auch nie sterben gelernt. Seit
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der Entdeckung der Neuen Welt und der Entstehung der «Industrievölker» einige Jahrhunderte später haben wir uns grösstenteils in einer Art von ontologischem Vikariat dazu entschieden, unseren Tod an andere zu delegieren und aus unserer Existenz ein grosses Opfermahl zu machen. Bald wird es nun aber nicht mehr möglich sein, seinen Tod an andere zu delegieren. Niemand wird mehr an unserer Stelle sterben. Wir sind nicht nur dazu verurteilt, unser eigenes, unvermitteltes Dahinscheiden zu akzeptieren, es wird auch immer weniger Verabschiedungsmöglichkeiten geben. Jetzt naht die Stunde der Autophagie und mit ihr das Ende der Gemeinschaft, denn es handelt sich nicht um eine sich ihres Namens würdig erweisende Gemeinschaft, wenn keine Verabschiedung, das heisst kein Gedenken an das Lebendige, mehr möglich ist. Denn die Gemeinschaft, oder besser: Gemeinsamkeit, beruht nicht bloss auf der Möglichkeit, auf Wiedersehen zu sagen, das heisst, jedes Mal mit anderen Einzelverabredungen zu treffen und diese Verabredungen jedes Mal einzuhalten. Gemeinsamkeit beruht auch auf der Möglichkeit, bedingungslos zu teilen und immer wieder neu bei etwas absolut Intrinsischem, das heisst Unberechenbarem, Unkalkulierbarem und deshalb Unbezahlbarem zu beginnen. Der Himmel verdunkelt sich also unaufhörlich weiter. Im Klammergriff von Ungerechtigkeit und Ungleichheit ist ein grosser Teil der Menschheit vom Erstickungstod bedroht, und das Gefühl, dass unserer Welt bloss eine Gnadenfrist bleibt, greift immer weiter um sich. Wenn es unter diesen Umständen überhaupt ein Nachher geben soll, darf es nicht auf Kosten von immer denselben Lebewesen gehen wie in der Alten Ökonomie. Es muss allen Erdbewohnern zur Verfügung stehen, ungeachtet ihrer Spezies, Ethnie, ihres Geschlechts, ihrer Staatsbürgerschaft, Religion oder eines anderen Unterscheidungsmerkmals. Mit anderen Worten müsste dafür ein gigantischer, sich einer radikalen Vorstellungskraft verdankender Bruch erfolgen. Blosse Flickschusterei reicht jedenfalls nicht aus. Im Inneren des Kraters müsste buchstäblich alles neu erfunden werden, angefangen mit dem Sozialen. Wenn arbeiten, sich versorgen, sich informieren, Kontakt halten, Bindungen pflegen und aufrechterhalten, miteinander sprechen und sich austauschen, zusammen trinken, Gottesdienste abhalten oder Begräbnisse organisieren nur noch durch die Zwischenschaltung von Bildschirmen stattfinden kann, ist es nämlich Zeit, sich klarzumachen, dass um uns herum die ganze Welt in Flammen steht. Zu weiten Teilen ist das Digitale das neue Loch, das die Explosion in die Erde gerissen hat. Als Schützengraben, Gedärm und Mondlandschaft zugleich, lädt es einsame Männer und Frauen ein, sich in seinem Bunker zu verkriechen. Durch Vermittlung des Digitalen, glaubt man, werde der Körper aus Fleisch und Blut, der physische und sterbliche Körper, sein Gewicht und seine Trägheit abwerfen. Am Ende dieser Verwandlung könne er endlich die andere Seite des Spiegels erreichen, ohne biologisch zu verfallen, und hätte die synthetische Welt der Ströme ihn wieder. Das ist eine Illusion, denn genauso wie es keine Menschheit ohne Körper geben kann, wird die Menschheit aussergesellschaftlich oder auf Kosten der Biosphäre keine Freiheit erleben. Die Logik von Gewalt und Stärke
Man muss also woanders anfangen, wenn es für unser eigenes Überleben unerlässlich ist, allem, was lebt (einschliesslich der Biosphäre), wieder den Raum und die Energie zu gewähren, den beziehungsweise die es benötigt. Auf ihrer dunklen Seite hat die Moderne von vorne bis hinten unablässig Krieg gegen das Lebendige geführt. Dieser Krieg ist keinesfalls zu Ende. Die Unterwerfung unters Digitale stellt eine seiner Modalitäten dar. Sie führt direkt zur Verarmung der Welt und zur Austrocknung ganzer Teile des Planeten. Es ist zu befürchten, dass die Welt nach der Katastrophe in eine neue spannungsgeladene und brutale Zeit eintritt und keineswegs alle
Debatte Lebewesen für unantastbar erklärt. Auf der geopolitischen Ebene wird die Logik von Gewalt und Stärke weiterhin vorherrschen. Da eine gemeinsame Infrastruktur fehlt, wird die blindwütige Aufteilung des Globus sich verschärfen und die Trennlinie sich vertiefen. In der Hoffnung, sich vor der Aussenwelt zu schützen, werden viele Staaten versuchen, ihre Grenzen zu befestigen. Zudem werden sie sich kaum um eine Zügelung ihrer konstitutiven Gewaltsamkeit bemühen, die sie wie gewöhnlich an denjenigen in ihrer Mitte auslassen werden, die am verletzlichsten sind. Das Leben hinter Bildschirmen und in von privaten Sicherheitsfirmen abgeschirmten Enklaven wird zur Norm werden. Besonders in Afrika und einer ganzen Reihe von südlichen Weltregionen werden das energieaufwendige Gewinnen von Rohstoffen, landwirtschaftliche Überdüngung und der Raubbau auf Basis des Ausverkaufs der Böden und der Zerstörung der Wälder unvermindert weitergehen. Die Beschaffung und Kühlung der Chips und Superrechner hängt davon ab. Die Versorgung mit und die Beförderung der für die Infrastruktur weltumspannender Computertechnologie erforderlichen Ressourcen und Energie werden auf Kosten einer grösseren Bewegungseinschränkung der Menschen erfolgen. Die Welt auf Abstand zu halten wird zur Norm werden, Gefahren aller Art verbannt man nach aussen. Doch weil sie unsere ökologische Prekarität nicht in Angriff nimmt, wird diese, sich aus Theorien der Immunisierung und Ansteckung speisende katabole Weltsicht uns keinen Ausweg aus der planetaren Sackgasse erlauben, in der wir uns befinden. Covid-19 als spektakulärer Ausdruck der Sackgasse
Man kann sagen, Kriege gegen das Lebendige zeichnen sich in allererster Linie dadurch aus, dass sie uns den Atem rauben. Weil es vor allem am Atmen und an der Wiederbelebung der menschlichen Körper und Gewebe hindert, gehört Covid-19 in dieselbe Kategorie. Denn worauf beruht die Atmung, wenn nicht auf dem Aufnehmen von Sauerstoff und dem Ausstossen von Kohlendioxid beziehungsweise dem dynamischen Austausch zwischen Blut und Gewebe? Doch so wie das Leben auf der Erde momentan abläuft und in Anbetracht dessen, was vom Reichtum des Planeten übrig ist: Sind wir tatsächlich noch weit von dem Zeitpunkt entfernt, wo mehr Kohlenmonoxid als Sauerstoff zum Atmen zur Verfügung stehen wird?
« So sehr man auch versucht, sich von ihm zu befreien: Letzten Endes führen alle Wege zum Körper zurück.»
Die Menschheit war schon vor diesem Virus vom Ersticken bedroht. Wenn wir also einen Krieg führen, muss er sich nicht unbedingt gegen ein einzelnes Virus richten, sondern gegen all das, was den grössten Teil der Menschheit zu einem vorzeitigen Atemstillstand verdammt, gegen all das, was die Atemwege von Grund auf angreift und gegen all das, was auf lange Sicht im Kapitalismus ganzen Bevölkerungsgruppen und Ethnien das Atmen und das Leben schwer gemacht und sie zum Keuchen gebracht hat. Um dem zu entgehen, muss man zudem unter Atmung mehr als ihre rein biologischen Aspekte verstehen, nämlich etwas, das uns gemeinsam ist und sich qua definitionem jeder Berechnung entzieht. Wer dies tut, spricht von einem allgemeinen Recht aufs Atmen. Als etwas, das nicht an den Boden gebunden und gleichzeitig unser gemeinsamer Boden ist, lässt das allgemeine Recht aufs Atmen sich nicht quantifizieren. Man kann es sich auch nicht erschleichen. Es handelt sich um ein universelles Recht nicht bloss jedes Mitglieds der menschlichen Spezies, sondern des Lebendigen als Ganzem. Man muss es also als Grundrecht auf Existenz verstehen. Als solches kann niemand es mit Beschlag belegen, es entzieht sich jeglicher Souveränität, weil es das Souveränitätsprinzip in sich lebendig hält. Zudem ist es ein ursprüngliches Wohnrecht auf der Erde, ein der Universalgemeinschaft menschlicher und anderer Erdbewohner zukommendes Recht.7 Die grösste all dieser Gefahren besteht darin, dass jede Form von Leben unmöglich gemacht wird. Zwischen denjenigen, die davon träumen, unser Bewusstsein auf Maschinen hochzuladen, und denjenigen, die der Überzeugung sind, dass die nächste Mutation der Spezies im Abstreifen unserer biologischen Hülle bestehen wird, fällt der Unterschied kaum ins Gewicht. Die eugenetische Versuchung ist nicht vorüber, im Gegenteil: Sie liegt den jüngsten Fortschritten in Wissenschaft und Technik zugrunde. In dieser Situation erfolgt jener plötzliche Stillstand nicht der Geschichte, sondern von etwas, das noch schwer zu fassen ist. Weil sie uns aufgenötigt wurde, ist diese Unterbrechung kein Akt unseres Willens. Sie war in mehreren Hinsichten sowohl unvorhergesehen als auch unvorhersehbar. Wir benötigen aber eine von allen gebilligte, bewusste und willentliche Unterbrechung, sonst wird es kein Nachher geben, sondern nur eine ununterbrochene Folge von unvorhergesehenen Ereignissen. Wenn Covid-19 tatsächlich der spektakuläre Ausdruck der planetarischen Sackgasse ist, in der die Menschheit sich befindet, dann geht es um nicht mehr und nicht weniger als um eine Neugestaltung der bewohnbaren Erde, die allen die Möglichkeit zu einem erträglichen Leben mit genügend Luft zum Atmen bietet. Es geht also darum, alle Kräfte unserer Welt zu bündeln, um neue Böden zu schaffen. Menschheit und Biosphäre sind eng miteinander verknüpft. Die eine hat keine Zukunft ohne die andere. Werden wir in der Lage sein, unsere Zugehörigkeit zur selben Spezies und unser unverbrüchliches Band mit allem, was lebt, neu zu entdecken? So lautet womöglich die Frage, die allerletzte Frage, bevor die Tür sich ein für alle Male schliesst. b Achille Mbembe, Historiker, Politwissenschaftler und Theoretiker b Dieser Artikel erschien zuerst in der Juniausgabe (6 / 2020) des Rotary Magazins (rotary.de). b Übersetzung aus dem Französischen: Christine Pries
1 Achille Mbembe / Felwine Sarr Hg., Politique des Temps, Paris: Philippe Rey, 2019, S. 8 f. 2 Achille Mbembe, Brutalisme, Paris: La Découverte, 2020. 3 Ebd., S. 11. 4 Ebd., S. 9 ff. 5 Ebd., S. 10. 6 Achille Mbembe, Necropolitics, Durham: Duke University Press, 2019. 7 Sarah Vanuxem, La propriété de la Terre, Paris: Wildproject, 2018; und Marin Schaffner, Un sol commun. Lutter, habiter, penser, Paris: Wildproject, 2019.
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Klee vor Ort und unterwegs
Digitale Angebote ersetzen weder den Besuch einer Ausstellung, eines Konzertes, noch den des Theaters. Die Angst, dass niemand mehr ins Museum geht, hat sich (einmal mehr) als unbegründet erwiesen. Kein Live-Stream oder Videorundgang konnte den Hunger auf Kunst und die Lust auf den Museumsbesuch stillen.
Man musste nur in die Gesichter der Menschen schauen, die Mitte Mai wieder die physische Begegnung mit Kunst, Musik oder Literatur suchten. Da war viel Freude und Begeisterung zu sehen. Und auch hier im Haus war die Erleichterung gross. Was digitale Angebote aber können: Sie finden ihr Publikum rund um den Globus, zu jeder Uhrzeit und haben kein Abbaubeziehungsweise Enddatum, bestenfalls auch kein Verfallsdatum. Sie sind da präsent, wo immer jemand im digitalen Raum nach Informationen sucht. Sie tauchen auch da auf, wo man vielleicht nicht nach dem Zentrum Paul Klee oder dem Künstler gesucht hätte – machen sozusagen eine Begegnung unter Unbekannten möglich. In unserem Fall sind es neben unserer Website, der Online-Zeitschrift Zwitscher-Maschine, der Online-Datenbank zu Paul Klees Bildnerischer Gestaltungslehre und der Online-Sammlung nun auch das Digitorial Mapping Klee und ein gleichnamiger Podcast, die Antworten auf Fragen nach Paul Klee, seinem Leben und Schaffen, seinem Künstler-Sein und seinem Verhältnis zu Familie und Freunden geben. Zumindest zu einem gewissen Grad, denn das Material in unseren Archiven und darüber hinaus scheint schier unerschöpflich. Die Ausstellung Mapping Klee gibt einen Überblick über das gesamte Schaffen Paul
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Klees. Das gleichnamige Digitorial erzählt anhand von fünf Reisen, wie der ratlose Student zu einem der bedeutendsten Künstler der Moderne wurde, während die Podcast-Serie Paul Klees ganz persönliche Erlebnisse wiedergibt. Sie machen eine Begegnung mit Paul Klee vor Ort, aber auch unterwegs möglich. Was aber können Digitorial und Podcast, das die Website nicht leisten kann? Welche Antworten liefern sie, die in anderen Angeboten nicht schon vorhanden sind? Was zeigen oder erzählen wir, was nicht schon in einem YouTube-Video zur Ausstellung zu sehen war? Das Digitorial entsteht aus einem Erzählstrang der Ausstellung und verknüpft verschiedene Elemente wie Bild, Text, Video und Ton zu einem Ganzen – die Ausstellung wird zu einem klickbaren Erlebnis, wer mehr wissen will, drückt drauf. Dass wir nicht die ganze Ausstellung abbilden können, war schon vor einem Jahr klar. Es musste eine Geschichte gefunden werden, die auf einer Seite erzählt werden kann. Zum Glück konnten wir auf die Unterstützung von maze pictures swiss zählen. Die Geschichte war dann auch schnell gefunden, aber wie sollte sie geschrieben werden? Denn das Angebot muss niederschwellig sein, ohne banal zu wirken. Zwischen der Idee und dem fertigen Digitorial liegen gefühlte hundert Konzepttabellen. Es waren letztlich 27. Aber nicht nur sprachlich, inhaltlich und formal gab es einen regen Austausch, der per Mail oder Video-Call zwischen Bern, Berlin und Frankfurt am Main stattfand. Es wurden Bilder angefragt, Rechte geklärt, weiter geforscht, Kataloge gewälzt, Themen recherchiert und wieder verworfen, weil sie sich als Irrweg erwiesen und für die Erzählung der Geschichte nicht dienlich
waren. Unsere Datenbank wurde hoch und runter nach Briefen, Postkarten und Tagebucheinträgen abgesucht. So entstanden ganz nebenbei Ideen für weitere Projekte. Die technische Umsetzung war dann beinahe ein Kinderspiel. Die letzte Version der Konzepttabelle, also unsere Geschichte zu Mapping Klee, im Zusammenspiel mit den Werken und Tagebuchauszügen nun auch zu sehen und zu erleben, war für uns Belohnung für die monatelange Arbeit. Und wer von uns hätte vor einem Jahr gedacht, dass daraus eine PodcastSerie mit den Stimmen von Sebastian Koch, Edwin Thomas und Carlos Leal entsteht und BOYS NOIZE den Sound dazu beisteuert. So bleibt nicht nur der Stolz auf unsere Arbeit, sondern unter anderem auch die Erinnerung an einen unerwarteten Video-Call mit Carlos Leal und die Freude, die wir bei der Arbeit mit allen Beteiligten hatten. b Maria Horst, Digitale Kommunikation Das Digitorial® zu Mapping Klee ist Teil von www.digitorials.ch, einer Initiative von maze pictures swiss und Engagement Migros, dem Förderfonds der Migros-Gruppe, in Kooperation mit Städel Museum, Liebieghaus Skulpturensammlung und Schirn Kunsthalle Frankfurt. Das Projekt wird von Engagement Migros unterstützt.
Zentrum Paul Klee Digitorial und Podcast mappingklee.zpk.org Der Podcast Mapping Klee ist unter anderem auf Spotify, Apple Podcasts, Google Podcasts, Deezer und Soundcloud verfügbar.
Kunstvermittlung
Museum für die Kleinsten
«KunstSpatz», «ARTUR», «Cool Kids’ Classes» — das Kunstmuseum Bern hat für seine jungen Besucherinnen und Besucher einiges zu bieten. Seit September können auch die Kleinsten das Museum und die Kunst auf ihre ganz eigene Art und in ihrem eigenen Tempo erkunden. Mit dem Pionierprojekt «Erste Schritte im Museum» lädt die Kunstvermittlung des Kunstmuseum Bern Klein kinder zwischen 1 und 3 Jahren in ihr Atelier und die Ausstellungen ein.
Normalerweise erwartet man sie eher auf dem Spielplatz als im Museum. Seit diesem September holt das Kunstmuseum Bern Kinder von 1 bis 3 Jahren jedoch aktiv in seine Ausstellungen, um ihnen auf spielerische Weise die Kunst und das Museum näherzubringen. Gemeinsam mit ihren erwachsenen Bezugspersonen sollen die Kinder die Ausstellungsräume erkunden und ihrer eigenen Kreativität auf die Spur kommen. Der Rundgang beginnt jeweils im Atelier, wo der erste Kontakt stattfindet und spielerisch die Regeln des Museums geübt werden. Es folgt eine Tour durch die Ausstellung, bei der die Kleinkinder die Erwachsenen an der Hand durch die Räume
führen. Wohin zieht es sie als erstes? Sind es die Farben, Materialien und Muster, die faszinieren? Oder lösen der junge Elefant im Bild oder die Zitrone auf dem Tisch Reaktionen aus? Wie lange verweilen die kleinen Gäste vor einem Werk, wenn sie eine Ausstellung in ihrem eigenen Tempo und in ihrer eigenen Reihenfolge anschauen können? Erwachsene wie Kinder erleben so Kunstwerke und die Museumsräume auf neue Art und Weise und lassen sich auf den Moment ein. Das Kunsterlebnis soll offen, flexibel und spontan sein. Zurück im Atelier stehen verschiedenste altersgerechte Materialien bereit. Es wird berührt, sortiert, gemalt und gezeichnet. Mit allen Sinnen erkunden die kleinen Besucherinnen und Besucher ihre kreativen Möglichkeiten und machen erste ästhetische Erfahrungen mit Formen, Farben, Oberflächen und Geräuschen. Man nimmt sich Zeit und schafft Raum für die kindlichen Erfahrungsprozesse – entdecken, staunen, wahrnehmen, tun und erkennen. Das Museum wird zur Lernumgebung und das vorher Gesehene kann im Atelier verarbeitet werden. Seit 2016 findet am Kunstmuseum Bern das Kooperationsprojekt «Mit jungen Kindern
ins Kunstmuseum» mit der Hochschule der Künste Bern HKB statt. Mit der Erfahrung, dem Austausch und den Erkenntnissen auch aus dieser Zusammenarbeit startet das neue Angebot «Erste Schritte im Museum». Ziel ist es, den Museumsbesuch ab der frühen Kindheit zu ermöglichen und die Schwellen für Familien mit kleinen Kindern abzubauen. Die Freude und das Interesse an sowie die Auseinandersetzung mit Kunst sollen so möglichst früh an die kommenden Generationen weitergegeben und das Kunstmuseum Bern zu einem Begegnungsort für alle Altersgruppen werden. Und wenn dabei neue Bekanntschaften und Vernetzungen entstehen – umso schöner! b Martina Witschi, Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit
Kunstmuseum Bern Erste Schritte im Museum Jeweils am Mittwoch, 21. Oktober, 4. und 18. November und 2. Dezember 2020, 10—11.30 Uhr Leitung: Anina Büschlen Weitere Infos: www.kunstmuseumbern.ch
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Zu Besuch
Ein Pavillon für Albert Anker Albert Anker ist einer der bekanntesten und beliebtesten Maler der Schweiz. Den Grossteil seines Lebens verbrachte er in einem stattlichen Bauernhaus in Ins. Das Albert Anker-Haus mit dem in seiner Art einmaligen Malatelier, das der Künstler über den Gaden einbauen liess, ist bis heute für die Öffentlichkeit erhalten. Um die vielen Kunstwerke und Objekte fachgerecht lagern und zugänglich machen zu können, wird das Anker-Haus nun um einen Kunstpavillon erweitert. Ein Gespräch mit Roger von Wattenwyl über das Projekt Centre Albert Anker.
Herr von Wattenwyl, wie hat das Albert AnkerHaus die Corona-Pandemie erlebt? Wie gingen Sie mit der Krise um, wie konnten Sie entgegenwirken? Corona hat insbesondere die Führungen im ROGER VON WATTENWYL Atelier beeinflusst. Viele vorgesehene Besuche wurden von den Gesuchsteller*innen abgesagt. Für alle Führungen wurden Hygienemassnahmen vorgeschrieben und bei mehr als 8 Personen gilt eine Maskenpflicht. Selbstverständlich werden ebenfalls die Abstände eingehalten. Alle Sommerveranstaltungen im Anker-Haus wurden abgesagt. Besuche des Anker-Hauses, die im Sommer jeden zweiten Sonntag möglich sind, waren sehr gefragt. MTC Albert Anker ist einer der bekanntesten Schweizer Maler des 19. Jahrhunderts. Er liegt den Schweizer*innen ganz besonders am Herzen. Wie erklären Sie sich diese grosse Beliebtheit seiner
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Roger von Wattenwyl, Präsident des Stiftungsrates Albert Anker-Haus Ins, im Garten des eindrücklichen Bauernhauses des bedeutenden Malers.
Bilder, und welchen aktuellen Diskurs können wir heute mit Albert Anker führen? Einerseits sprechen die naturalistische und meisterhafte Malerei die Betrachtenden an. Zudem hat Anker mit seinen Sujets die Eigenschaften, Charaktere und Probleme der Menschen der damaligen Zeit perfekt erfasst. Sehr oft finden sich die Betrachtenden auch in die heutige Zeit versetzt. Damit ist Anker jederzeit höchst aktuell und findet Zugang zur Gegenwart. Das Albert Anker-Haus in Ins ist ein Kulturgut von nationaler Bedeutung. Nun soll es mit einem Pavillon zu einem Centre Albert Anker erweitert werden. Wie steht es um die Finanzierung des Projekts? Können Sie mit dem Bau nach Plan beginnen, damit Sie im Frühling 2022 fertig sind? Das Projekt umfasst drei Teile, wobei der Pavillon als Neubau vorgesehen ist. Daneben wird das Anker-Haus einerseits durch die Renovation der bestehenden Wohnung im Ostteil modernisiert und anderseits die Infrastruktur des Ateliers den Bedürfnissen der Besucher*innen angepasst. Das Gesamtprojekt soll vorwiegend durch Spenden von Stiftungen, Institutionen und Privatpersonen finanziert werden. Dies gilt ebenfalls für den Betrieb des neuen Zentrums. Das Vorprojekt ist abgeschlossen und die Baubewilligung steht unmittelbar bevor, sodass der Stiftungsrat Albert Anker-Haus Ins damit rechnet, das Projekt bis 2022 realisieren zu können.
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Können Sie die Entstehungsgeschichte dieses Projektes beschreiben, was sind die groben Linien des Centre Albert Anker? Unsere Architekten Marcel Hegg, ein Inser, und Fabian Pauli belegten zusammen mit einem dritten Architekten mit ihrer Bachelor-Diplomarbeit «aami – Albert Anker Museum Ins» an der Berner Fachhochschule im Jahr 2012 den dritten Platz des TopBachelor-Wettbewerbs von NZZ Campus und MakingScienceNews. Der Stiftungsrat Albert Anker-Haus Ins wurde auf diese Arbeit aufmerksam. Da die Stiftung häufig Objekte und Bilder aus dem Nachlass Albert Ankers von Mitgliedern der zahlreichen Nachkommen erhält, gelangte man allmählich an die Grenzen der sicheren Einstellung und Aufbewahrung. So entstand der Kontakt mit den Architekten, verbunden mit dem Auftrag für eine Machbarkeitsstudie, die erfolgreich abgeschlossen wurde. Das Vorprojekt konnte dank der grosszügigen finanziellen Hilfe der Gemeinde Ins und des kantonalen Kulturfonds erarbeitet werden. Wie erleben Sie grundsätzlich die Unterstützung durch Politik, Behörden und andere beteiligte Institutionen und Personen? Die Stiftung konnte von Anfang an auf die grosse Unterstützung der Behörden, insbesondere der Gemeinde Ins und des kantonalen Amts für Kulturförderung, zählen. Zudem wurde von drei Absolventen des Fachbereichs «Strategisches Management» der Universität Basel ein Kulturbusinessplan für das Centre Albert Anker erarbeitet, der für die Betriebsplanung im Projekt wegweisend geworden ist. Ausserdem wurde das Projekt von vielen Privatpersonen nachhaltig unterstützt, sodass der Stiftungsrat mit grösstem Optimismus an die Realisation herangehen kann. Das Centre Albert Anker wird neu verschiedene Bereiche und Sparten beheimaten. Welche sind das und wie sollen sie zusammenspielen? Soll hier ein offenes Kulturzentrum entstehen? Der erwähnte Businessplan der Universität Basel sieht eine grosse Anzahl möglicher Aktivitäten im zukünftigen Anker-Haus vor. Mit der Realisierung des Projekts werden Möglichkeiten diverser Art wie zum Beispiel kulturelle Anlässe möglich. Diese setzen aber eine fachgerechte personelle Betreuung voraus, die zu gegebener Zeit gefunden werden muss. Bereits heute werden im Anker-Haus im Sommer musikalische und kulturelle Darbietungen und sogar kirchliche Anlässe, die jeweils relativ grossen Anklang finden, durchgeführt. Welches Publikum und welche Interessengruppen sollen mit dem Centre Albert Anker angesprochen werden? Es sollen nicht nur kulturell interessierte Personen, sondern vielmehr das breite Publikum angesprochen werden. Die Ausstellungen mit den Werken von Albert Anker beweisen das grosse Interesse nicht nur von älteren, sondern auch von jüngeren Besucher*innen. Dies bestätigte sich auch an den vielen Anlässen im Rahmen der Gedenkfeiern zum 100. Todestag Albert Ankers im Jahre 2010. Wir sind hier in Ins, einem Dorf im Berner Seeland mit vielen traditionellen Bauernhäusern. Wie fügt sich der Neubau des Pavillons in diese Ländlichkeit, was sind die Leitgedanken der Architekten zum Bau? Die Beantwortung dieser Frage überlasse ich gerne dem Inser Architekten Marcel Hegg: «Der Kunstpavillon ist in seiner Struktur eine Reminiszenz an die traditionellen bäuerlichen Speichergebäude, die als Aufbewahrungsort dienten. Die umlaufende Laube, ebenfalls ein typisches Element, schützt die Schatzkammer vor den Witterungseinflüssen und ist ein wichtiger Übergangsraum vom Garten ins Gebäude. Auch die Konstruktion des Neubaus mit seiner Vollholzhülle ohne Isolation strebt nach dem einfachen Bauen vergangener Tage, schafft ein konstantes Klima und reduziert den Bedarf an Energie auf ein Minimum.»
«Sehr oft finden sich die Betrachtenden auch in die heutige Zeit versetzt. Damit ist Anker jederzeit höchst aktuell und findet Zugang zur Gegenwart.»
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Albert Anker war ja nicht nur ein grossartiger Maler und Zeichner, er engagierte sich auch stark in der Politik, im Kirchenrat und in der Schulkommission. Ihm würde dieses neue Zentrum ganz gewiss gefallen. Anker war ein sehr aufgeschlossener Mensch und dem zeitgerechten Wandel durchaus angetan. Als Grossrat war er an der Gründung des Kunstmuseum Bern stark beteiligt. Er hat sich in der Schulkommission ebenfalls intensiv für eine Verbesserung des Schulsystems engagiert. Der Stiftungsrat ist davon überzeugt, dass Anker am modernen Bau des Pavillons grosse Freude hätte. Bei der Planung des Standortes wurde besonders darauf geachtet, dass durch die Modernität des Pavillons das Anker-Haus nicht negativ beeinträchtigt wird. Und welche Wünsche haben Sie für die Zukunft des Albert AnkerHauses und das Centre? Albert Anker lebte die längste Zeit seines Lebens in Ins. Er hat mit seiner Arbeit, seiner Lebensweise und seinem Wirken dem Dorf sehr viel gegeben. Ich hoffe, dass mit der Realisierung des Centre Albert Anker dem Ankerdorf eine weiträumige Ausstrahlung beschieden sein wird, die ihrem berühmten Bürger weiterhin zu grosser Ehre gereicht. Darauf darf das Dorf Ins sehr stolz sein. Was gibt Ihnen persönlich Albert Anker mit seiner Kunst? Haben sie gar ein Lieblingsbild von ihm? Ich betreibe Führungen für Besucher*innen des Ateliers im Anker-Haus. Diese Führungen ermöglichen mir, mich immer wieder mit dem Leben und den Werken Albert Ankers auseinanderzusetzen. Dies in dem Raum, in dem der grösste Teil der meisterhaften Gemälde, Porträts und Zeichnungen entstanden sind, tun zu dürfen, erfüllt mich mit grosser Befriedigung und Faszination. Der Gedanke, dass der Meister selbst jederzeit in der Türe zum Atelier erscheinen könnte, verstärkt meine Bindung zu diesem grossartigen Menschen, und vielleicht auch die Tatsache, dass ich ebenfalls Mitglied der Primarschulkommission Ins war. Der Schulbub mit brauner Mütze und der Tasche unter dem rechten Arm ist eines meiner Lieblingsbilder. Ich habe dieses Bild für die 85er Briefmarke zum 100. Todestag ausgewählt. b Das Interview führte Maria-Teresa Cano, Leiterin Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit
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GALERIE KORNFELD • BERN KENNERSCHAFT UND TRADITION SEIT 1864
© F.L. C/2020, ProLitteris, Zurich
Ergebnisse Auktionen September 2020
LE CORBUSIER Figure 1 ou Ozon et Georges IV. 1947 Öl auf Leinwand. 114 × 91,5 cm
© Succession Alberto Giacometti/2020, ProLitteris, Zurich
ZUSCHLAG: CHF 1 000 000.–
ALBERTO GIACOMETTI Nu debout sur socle cubique 1953, Guss 1991 Bronze. 43,2 × 11,5 × 9,5 cm
© D.Thalmann, Aarau, Schweiz
ZUSCHLAG: CHF 1 600 000.– © 2020, ProLitteris Zurich
MARC CHAGALL Le fête au village 1970–1975 Öl auf Leinwand 92 × 65 cm ZUSCHLAG: CHF 1 600 000.–
CUNO AMIET Obsternte (Skizze für Grisebach). 1912 Öl auf Leinwand. 62,5 × 62,5 cm ZUSCHLAG: CHF 850 000.–
EINLIEFERUNGEN NEHMEN WIR AB JETZT GERNE ENTGEGEN
Galerie Kornfeld Auktionen AG Laupenstrasse 41 | Postfach CH-3001 Bern
Tel. +41 (0)31 381 46 73 galerie@kornfeld.ch www.kornfeld.ch
cameratabern.ch 25. 1. – 26. 4. 2020 Sammlung Werner Coninx Eine Rundschau Denise Bertschi Manor Kunstpreis 2020
Bilder im Kopf
CARAVAN 1 / 2020: Dominic Michel
CAMERATA BERN
*Aargauer Kunsthaus
Saison 20—21
Aargauerplatz CH–5001 Aarau Di – So 10 –17 Uhr Do 10 – 20 Uhr www.aargauerkunsthaus.ch
Otto Morach, Erwartung (Intérieur), 1918 – 1919 Aargauer Kunsthaus, Aarau / Depositum Sammlung Werner Coninx © Hugo Stüdeli, Solothurn Foto: SIK-ISEA, Zürich (Philipp Hitz)
Endlich
Geschichte Schweiz Histoire de la Suisse Storia della Svizzera History of Switzerland
Forum
Kommission Kunst im öffentlichen Raum Text von Konrad Tobler
Warum in die Ferne schweifen?
Kunstwerke in der Nachbarschaft
Hunderte von Kunstwerken registriert das Inventar der öffentlichen Kunst in der Stadt Bern. Dazu gehören historische Denkmäler ebenso wie Werke der Gegenwartskunst, verborgene Schätze ebenso wie unbekannte Geschichten. Fünf Kunstführer laden nun zu Entdeckungsreisen in den Quartieren der Stadt Bern ein.
Sind Sie schon einmal durch Bümpliz spaziert und haben dabei neue Orte und, vor allem, unbekannte Kunstwerke entdeckt? Das Kunststoffrelief von Walter Vögeli bewundert, das so gegen wärtig wirkt, obwohl es seit über fünfzig Jahren existiert? Oder den Jüngling betrachtet, der seit Jahren geduldig auf einer Wiese an der Kirchenfeldstrasse kniet? Kunst im öffentlichen Raum gehört zu unserem Alltag. Obwohl die Kunstwerke Strassen und Plätze bevölkern und jeweils ihre eigene Geschichte erzählen könnten, finden sie oft keine Beachtung. Zwar reisen wir an sich gerne weit und bewundern all die Dinge, die uns Kunstführer empfehlen. In der eigenen Stadt jedoch scheint uns vieles selbstverständlich. Das könnte sich mit einer kleinen Wegleitung ändern: Eine Auswahl aller Kunstwerke im öffentlichen Raum ist nun in sechs Spaziergängen durch die verschiedenen Quartiere der Stadt Bern erlebbar. Als Reiseführer liegen dazu fünf handliche Kunsthefte vor, die im Erlacherhof gratis bezogen werden können. Online sind die Spaziergänge abrufbar unter: www.bern.ch (Kunst StadtBern Spaziergänge) Die kleinen Kunstführer sind entstanden, weil die Stadt Bern alle Kunstwerke im öffentlichen Raum inventarisiert. Ziel des Inventars ist es, den Bestand und den Unterhalt dieser wertvollen Kulturgüter zu sichern. Das Projekt des Inventars kann als umfassend ver standen werden, haben doch vier Zivildienstleistende im Sommer 2017 systematisch jede Strasse und jeden Weg auf dem Gebiet der Gemeinde abgeschritten und alles erfasst, was ihnen als möglicherweise kunstwürdig aufgefallen ist. Jeder der vier hat in zwei Monaten hunderte von Kilometern zurückgelegt. Der so entstandene Fundus wurde anschliessend als Grundlage für ein umfassendes Verzeichnis gesichtet. Der Autor hat bei diesem Projekt so zusammen mit den Berner Kunstschaffenden Renée Magaña und Martin Möll viele neue Erkenntnisse gewonnen — und vor allem neue Kunstorte und -werke entdeckt, so auch auf den Friedhöfen der Stadt. Ein Fazit war zwar nicht überraschend, jedoch als Spiegel der Gesellschaft und der Kunstgeschichte aufschlussreich: Künstlerinnen sind im öffentlichen Raum deutlich untervertreten. Im Kirchenfeld beispielsweise findet sich kein Werk einer Künstlerin, dafür stehen etliche nackte Frauen herum. Ob die Sonne sticht oder ob es schneit. b Konrad Tobler, freier Autor, Kulturjournalist, Kunst- und Architekturkritiker
Oben: Johann Rudolf Huber, Wandrelief, 1718, ausgeführt von den Gebrüdern Langhans, Kornhaus Bern, Giebelrelief, Foto: David Aebi
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Unten: Walter Vögeli, Wandplastik aus 101 Elementen, 1967—69, GF Polyester, Handlaminat, 300 × 800 × 14 cm, Schulhaus Schwabgut, Bern, Foto: David Aebi
Kommission Kunst im öffentlichen Raum KiöR Die Kommission Kunst im öffentlichen Raum initiiert in loser Folge zeitlich befristete Kunstprojekte im öffentlichen Raum. Bei den einen setzt die Kommission das Thema, andere realisiert sie unter dem Titel «Kunstplätze» gemeinsam mit Künstler*innen, der Bevölkerung und den Quartierkommissionen.
Forum
Berna arte e cultura Text von Rosalita Giorgetti-Marzorati
Arte, letteratura e cinema
Kultur auf Italienisch in Bern
Besonders beliebt bei den Führungen im Zentrum Paul Klee und im Kunstmuseum Bern sind Werke von Schweizer Künstlern wie Paul Klee, Ferdinand Hodler oder Johannes Itten. Links: Ferdinand Hodler, Der Niesen an einem Regentag, 1910, Öl auf Leinwand, 67 × 50 cm, Kunstmuseum Bern Rechts: Paul Klee, Segelschiffe, 1927, 225, Bleistift und Aquarell auf Papier und Karton, 22,8 × 30,2 cm, Zentrum Paul Klee
Die vielseitige Kulturstadt Bern, geprägt durch die Zweisprachigkeit des Kantons, bietet seit Langem zahlreichen Vereinen für Kunst- und Kulturinteressierte einen besonderen Platz. So auch dem italienischsprachigen Verein Berna arte e cultura. Kulturelle Zugänglichkeit und Inklusion sind aus der multikulturellen Hauptstadt nicht mehr wegzudenken. Entsprechend gross ist die Nachfrage nach einem breiten mehrsprachigen kulturellen Angebot. In diesem Sinne wurde 2017 der italienischsprachige Verein Berna arte e cultura (BAC) gegründet. Die an der italienischen Sprache und Kultur interessierte Gruppe, die sich am regen Geschehen in der Berner Kulturszene orientiert, trifft sich bereits seit mehreren Jahren regelmässig im Zentrum Paul Klee und nimmt an Führungen in italienischer Sprache teil. Der Grundgedanke, Veranstaltungen in italienischer Sprache für die zahlreichen Italienisch sprechenden Menschen in Bern und Umgebung anzubieten, wird von der gut verankerten und erfolgreichen institutionellen Zusammenarbeit mit der italienischen Botschaft und dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten getragen. Berna arte e cultura bietet ein abwechslungsreiches Kulturprogramm von bemerkenswertem Niveau in italienischer Sprache und deckt ein breites Spektrum ab: von der Malerei über die Literatur bis zum Kino. Verfechter dieser erfolgreichen Idee, die bei den italienischsprachigen Berner*innen mit Enthusiasmus aufgenommen wurde, ist Alessandro Simoneschi-Cortesi, heute Präsident des Ver-
eins. Es ist kein Zufall, dass der Verein unter den Wellen des Zentrum Paul Klee entstanden ist: Das Museum zeichnet sich in der Tat als ein Ort aus, welcher der Mehrsprachigkeit und besonders der italienischen Sprache grosse Aufmerksamkeit schenkt. Berna arte e cultura ist eine wahre Brückenbauerin: Heute zählt der Verein 60 Mitglieder, darunter Tessiner*innen und Bündner*innen, Italiener*innen der ersten, zweiten und dritten Generation sowie Personen, die sich «Dantes Sprache» verbunden fühlen. Die Mitglieder von BAC treffen sich jeweils im Zentrum Paul Klee und im Kunstmuseum Bern. Orte, die nach wie vor von grundlegender kultureller Bedeutung sind. Zusätzlich zu den Führungen organisiert Berna arte e cultura monatlich Lesungen mit italienischsprachigen Autor*innen, Vorführungen von Kunstdokumentarfilmen, Besuche von kulturellen Einrichtungen in und ausserhalb der Region Bern sowie gesellschaftliche Ausflüge. Beliebt sind auch der Leseclub sowie themenspezifische Vorträge. Im bevorstehenden Herbstprogramm ist die Vortragsreihe Die Schweiz der Utopien (La Svizzera delle utopie) geplant, in der namhafte Referent*innen Themen rund um den Monte Verità in Ascona, die Anarchie in der Schweiz und Hermann Hesse behandeln. b Rosalita Giorgetti-Marzorati, Vize-Präsidentin des Vereins Berna arte e cultura und freie Kunstvermittlerin im Zentrum Paul Klee Für weitere Informationen zu Berna arte e cultura: www.berna-arte-cultura.ch
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Forum
Vitromusée Romont Text von Francine Giese
Das Vitromusée Romont:
Lokale Tradition und globale Innovation erleben
Das Vitromusée Romont präsentiert als schweizerisches Museum für Glasmalerei und Glaskunst Werke aus 15 Jahrhunderten und legt dabei den Akzent auf lokale Tradition und globale Innovation. Im Austausch mit Schweizer Künstler*innen werden neuartige Aus stellungs- und Vermittlungsformate entwickelt, um Glaskunst in all ihren Aspekten erlebbar zu machen. Das 1981 als «Musée Suisse du Vitrail» in den historischen Mauern von Schloss Romont gegründete Vitromusée Romont feiert im kommenden Jahr sein 40-jähriges Bestehen. Als neue Direktorin dieses schweizweit einzigartigen Museums, das in seiner Dauerausstellung und mit einem reichhaltigen Ausstellungsprogramm alle Facetten der Glaskunst vom Mittelalter bis in die Gegenwart abdeckt, setze ich mich für die Vermittlung von Tradition und Innovation mittels neuartiger Formate ein. Dabei soll in den kommenden Jahren der Blick auf die bedeutende lokale Tradition der Glaskunst intensiviert und gleichzeitig eine globale Perspektive eröffnet werden. Mit Werken von Künstlern wie Alexandre Cingria oder Yoki, Mitbegründer des «Musée Suisse du Vitrail», wird die Bedeutung von Romont als eines der Zentren der Erneuerung der Glasmalerei in der Zwischenkriegszeit und der Öffnung des Mediums für aktuelle Tendenzen zeitgenössischer Kunst aufgezeigt. Die Rolle der Glaskunst als eine wichtige Ausdrucksform der zeitgenössischen Kunstproduktion wird auch im Rahmen der noch bis am 28. Februar 2021 geöffneten Sonderausstellung La redécouverte de la couleur deutlich. In sechs Sektionen werden vielfältige Aspekte des im 19. und 20. Jahrhundert zunehmenden Interesses von Wissenschaft und Kunst an der Farbe thematisiert. Die Ausein-
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andersetzung mit Farbe durch Glaskünstler wie John La Farge, Louis Comfort Tiffany oder Jakob Adolf Holzer wird dabei genauso angesprochen wie die Bedeutung der Farbe für Vertreter des Bauhauses, darunter die Schweizer Künstler Johannes Itten und Paul Klee. Letzterer experimentierte in seinen zwischen 1905 und 1919 entstandenen Hinterglasmalereien mit dem für ihn neuartigen Medium und liess bereits vor seiner Zeit am Bauhaus Anklänge an die 1921 und 1925 publizierten Theorien zu Form und Farbe erkennen. Dass auch im Bereich des Hohlglases zeitgenössische Tendenzen aufgenommen und globale Trends gesetzt werden, zeigen wir ab dem 27. November 2020 in der neugeschaffenen Glas-Sektion des Vitromusée Romont. Darin veranschaulicht das Werk Ellipsoid Prismatic des amerikanischen Künstlers Harvey K. Littleton, Initiator der von den USA aus die internationale Kunstwelt erobernden Studioglas-Bewegung, die transkontinentale Bedeutung von Glas. b Francine Giese, Direktorin Vitromusée Romont Vitromusée Romont Die Wiederentdeckung der Farbe 21.06.2020 — 28.02.2021
Links: Yoki, Sans titre, 2001, Glasmalerei, in Blei gefasstes Farbglas, 86 × 80 cm, Atelier Michel Eltschinger, Villars- sur-Glâne, © Vitromusée Romont
Rechts: Harvey K. Littleton, Ellipsoid Prismatic, 1981, Überfangtechnik in mehreren Schichten aus farblosem und farbigem Glas, H. 23,2 cm, USA. © Musée de design et d’arts appliqués contemporains, mudac, © Atelier numérique de la ville de Lausanne
Forum
Hermann und Margrit Rupf-Stiftung Text von Susanne Friedli
Von 1954 bis heute
Ein Blick hinter die Kulissen
Die Hermann und Margrit Rupf-Stiftung ist eine der über zehn dem Kunstmuseum Bern assoziierten Stiftungen. Ihre Sammlung umfasst rund 1000 Werke, wobei den Kern der Sammlung etwa 300 Werke bilden, die das Sammlerpaar bei Gründung der Stiftung 1954 ins Stiftungsgut einbrachte. Dabei handelt es sich grösstenteils um bedeutende Werke der Klassischen Moderne — unter anderem von Georges Braque, Pablo Picasso, Juan Gris, Fernand Léger, Henri Laurens, André Masson, Wassily Kandinsky und Paul Klee. Das Ehepaar Rupf hinterliess neben seiner Kunstsammlung auch ein grosszügiges Portfolio, das es dem Stiftungsrat bis heute erlaubt, weitere Werke zu erwerben und so die Sammlung stetig zu erweitern. Bisher wurden verschiedene künstlerische Konzepte bis hin zur Gegenwart verfolgt, so beispielsweise des Surrealismus und der Minimal Art. Die Sammlung ist mittlerweile zu gross, als dass sie permanent präsentiert werden könnte. Einzelne Werke tauchen aber für einen bestimmten Zeitraum in den Sammlungspräsentationen auf, andere wiederum sind als Leihgaben in Ausstellungen im In- und Ausland zu sehen. Anfragen für Leihgaben können leider nicht immer positiv beantwortet werden, da viele Werke zu fragil und empfindlich sind. Gerade die Bilder von Paul Klee, die über mehrere Schichten von Papier über Gips und Jute aufgebaut sind, oder auch Werke von Pablo Picasso oder André Masson, bei denen die Künstler jeweils Sand im Bild verwendet haben. Gerade diese Werke reagieren besonders heikel bei Erschütterungen, weshalb Transporte vermieden werden sollten. Dennoch bleibt es ein Anliegen der Rupf-Stiftung, durch grössere Ausstellungen im Gespräch zu bleiben und die Werke auch einem erweiterten Publikum zugänglich zu machen; entsprechend konnte beispielsweise eine grosse Überblicksausstellung 2016 im Guggenheim Museum in Bilbao realisiert werden. Besondere Betreuung erhalten im Moment die vierzehn Gemälde von Juan Gris, die Hermann Rupf zwischen 1913 und 1935 erworben hat. Der Zustand der Werke war bisher sehr unterschiedlich — einzelne befanden sich in originalem Zustand, andere wurden zu einem späteren Zeitpunkt mit einem Firnis versehen, was der Künstler selber abgelehnt hätte. Im aktuellen Projekt werden die Bildträger konserviert und restauriert, der heute oft gelblich anmutende Firnis wird entfernt und der Zustand der Werkgruppe kann so vereinheitlicht und verbessert werden. Im Hintergrund ist die Stiftung ebenso aktiv: Das Archiv konnte in den letzten Jahren kontinuierlich digitalisiert werden. Über 700 Briefe beinhaltet die Korrespondenz zwischen dem Sammler Hermann Rupf und seinem Pariser Galeristen und Freund Daniel-Henry Kahnweiler, die transkribiert und in einer Datenbank erfasst worden ist. Der Briefwechsel gibt einen einmaligen Einblick in die Jahrzehnte dauernde Freundschaft zwischen Sammler und Händler.
Ebenfalls erhalten sind die Briefwechsel mit Paul und Lily Klee, mit Wassily und Nina Kandinsky sowie mit weiteren interessanten Pro tagonisten aus dem damaligen Umfeld von Margrit und Hermann Rupf. Projekte zur Korrespondenz des Sammlerpaares sind in Planung. b Susanne Friedli, Geschäftsführerin und Kuratorin www.rupf-stiftung.ch Vor einigen Wochen wurde die neue Website der Rupf-Stiftung aufgeschaltet. Sie informiert über die Geschichte der Sammlung, zeigt eine Auswahl der wichtigsten Werke, die Chronologie und Hinter gründe der Sammlung und informiert über die Tätigkeiten der Stiftung. Bis Ende des Jahres werden die Inhalte nicht nur auf Deutsch und Englisch, sondern auch in französischer Sprache verfügbar sein.
Hermann und Margrit Rupf, Brückfeldstrasse 27, Bern. Foto: Kurt Blum, 1950erJahre
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Kalender Kunstmuseum Bern
Zentrum Paul Klee
Wachsen — Blühen — Welken. Ernst Kreidolf und die Pflanzen 04.09.2020—10.01.2021
Mapping Klee 05.09.2020—24.01.2021
Crazy, Cruel, and Full of Love. Werke aus der Sammlung Gegenwartskunst 12.09.2020—14.02.2021 Tools for Utopia. Ausgewählte Werke der Daros Latinamerica Collection 30.10.2020—21.03.2021
Aufbruch ohne Ziel. Annemarie Schwarzenbach als Fotografin 18.09.2020—03.01.2021 Paul Klee. Rebell & Geniesser 15.01.—30.05.2021
Meisterkonzerte Geneva Camerata mit Gilad Harel, Klarinette & David Greilsammer, Leitung Mittwoch, 21. Oktober 2020 19.30 Uhr
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Lesungen Franz Hohler liest aus Fahrplanmäßiger Aufenthalt Sonntag, 15. November 2020 11 Uhr
Vilde Frang, Violine, Lawrence Power, Viola & Nicolas Altstaedt, Violoncello Mittwoch, 4. November 2020 19.30 Uhr
Mathias Énard, Literaturgespräch und Lesung aus Le Banquet annuel de la confrérie des fossoyeurs Donnerstag, 24. November 2020 19.30 Uhr
Nils Mönkemeyer, Viola & Friends Sonntag, 6. Dezember 2020 17 Uhr
Änderungen vorbehalten: www.zpk.org
More to See
Museum für Gestaltung Zürich Lee Miller Fotografin zwischen Krieg und Glamour 28.08.2020—03.01.2021
Hamburger Bahnhof Museum für Gegenwart Berlin Katharina Grosse: It Wasn’t Us 14.06.2020 —10.01.2021 Die Vorstellung, dass Malerei nicht an das Format eines Stückes Papier oder einer Leinwand gebunden ist, sondern überall in Erscheinung treten kann, ist die zentrale Idee der künstlerischen Praxis von Katharina Grosse. Grenzen, oder besser Begrenzungen, spielen für die deutsche Künstlerin keine Rolle. Vielmehr ist die Frage von Interesse, wie sich die Erscheinungsform des Bildes mit seiner Umgebung verbindet. Spätestens seit ihrer Ausstellung in der Kunsthalle Bern 1998 überschreitet sie die Begrenzung einer Leinwand und verwandelt seitdem selbst Bäume oder Strände in farbig leuchtende Kunstwerke. Kaum treten die Besucher*innen der Ausstellung It Wasn’t Us durch den Vor hang im Eingangsbereich des Hamburger Bahnhofs in die Historische Halle, sind sie auch schon Teil eines immensen Farbschau spiels. Sie betreten das Kunstwerk ganz im wörtlichen Sinne. Die Malerei beginnt auf dem Boden, sie streift die Säulen und gipfelt zunächst in einer Landschaft, die an massive Eisberge erinnert. Die meterhohe Styropor konstruktion greift in den Raum und nimmt Besitz von diesem. Bereits hier verwandelt Katharina Grosse den Bereich, in welchem sonst die Besucher*innen wandeln, in Aus stellungsfläche, die Wände bleiben jedoch
unberührt. Die angestammten Plätze von Kunstwerk und Betrachter*in, von Ausstel lungsflächen an sich, werden neu verhandelt. Auf der Rückseite des Farbberges ange kommen, schlängelt sich der Farbverlauf aus der Halle hinaus, in den Garten, hinüber zu und an den Seitenwänden der Rieckhallen hoch, die zurzeit noch die Flick-Collection beherbergen und im nächsten Jahr wohl ab gerissen werden. So lässt sich die Ausdeh nung der Malerei hier vielleicht auch als eine Art Kommentar lesen: Die Kunst greift noch ein letztes Mal auf einen Ort zu, an dem ihr bald kein Platz mehr zugesprochen wird, wenn Ausstellungsfläche dem Projekt eines Immobilieninvestors weichen muss.
Die 1907 geborene Lee Miller war Foto modell, Muse, Künstlerin, Fotografin und Kriegsreporterin. Diese Aufzählung lässt die haarsträubend wechselhafte Karriere und den alle Konventionen bre chenden Willen der Amerikanerin erahnen. Mit 19 Jahren wird sie durch Zufall von Condé Nast, dem Gründer des Mode magazins Vogue, entdeckt. Miller wird daraufhin zu einem der beliebtesten Foto modelle ihrer Zeit. Wenige Jahre später zieht sie nach Paris: «Ich möchte lieber Fotos machen, als eins zu sein», erwähnt sie einmal. Miller wird Studentin von Man Ray, dann seine Assistentin, seine Geliebte und Muse. Bis in die 1950er-Jahre ist sie als Porträt- und Modefotografin und während des Zweiten Weltkrieges als Kriegsberichterstatterin tätig. Surrealisti sche Bilder stehen in ihrem vielfältigen Schaffen neben überraschenden Insze nierungen für Modefotos sowie neben erschütternden Bildern aus den befreiten Konzentrationslagern. Das Museum für Gestaltung in Zürich zeigt jetzt einen Überblick über Millers gesamtes Schaffen. Empfohlen von Dominik Imhof Leiter Kunstvermittlung Zentrum Paul Klee www.museum-gestaltung.ch
Empfohlen von Katharina Otterbach Wissenschaftliche Assistenz Provenienzforschung Kunstmuseum Bern www.smb.museum/ museen-einrichtungen/ hamburger-bahnhof
Katharina Grosse, It Wasn’t Us, Ausstellungs ansicht Hamburger Bahnhof — Museum für Gegenwart — Berlin, 2020 / Courtesy KÖNIG GALERIE, Berlin, London, Tokyo / Gagosian / Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder, Wien © Katharina Grosse / VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Foto: Jens Ziehe
Lee Miller, Fire masks, London, 1941, © Lee Miller Archives England 2020. Alle Rechte vorbehalten. www.leemiller.co.uk
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Agenda
Kunsthalle Bern No Dandy, No Fun 17.10.—06.12.2020 Die Ausstellung No Dandy, No Fun widmet sich der konzeptuellen Figur Dandy und betrachtet diese vor dem Hintergrund unserer Gegenwart. Sie versammelt Werke, die unterschiedliche Aspekte dandyesken Verhaltens aufgreifen, die in der Aus stellung durch Begriffsbilder strukturiert werden. Dazu wird eine Publikation erscheinen, herausgegeben bei Sternberg Press. Helvetiaplatz 1, 3005 Bern www.kunsthalle-bern.ch
Miriam Sturzenegger Manor Kunstpreis 2020 19.09.—22.11.2020 Die Skulpturen und Installationen der Manor Kunstpreisträgerin Miriam Sturzenegger (*1983, CH) entstehen häufig situativ, ausgehend von einer längerfristigen Auseinandersetzung mit einem bestimmten Raum. Sie erinnern an architektonische Elemente, werden jedoch konsequent in der Reduktion entwickelt. Seevorstadt 71, Faubourg du Lac, 2502 Biel/Bienne www.pasquart.ch
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Max Hari. Ich schaue mir beim Sehen zu Soft Shell 27.08.—15.11.2020 Das Kunsthaus zeigt den ersten umfassenden Überblick über das Schaffen des Schweizer Künstlers Max Hari, in dessen Werken stets die Spannung zwischen Figurativem und Ungegenständlichem spürbar ist. Parallel versammelt Soft Shell fünf junge Kunstschaffende, deren Arbeiten von alltäglichen Eindrücken, gesellschaftlichen Machtverhältnissen sowie digitalen und popkulturellen Bildwelten geprägt sind.
Musée des beaux-arts Le Locle Stanley Kubrick 24.10.2020—31.01.2021 Bevor er zum weltbekannten Filmemacher wurde, durchkämmte Stanley Kubrick die Strassen New Yorks mit seiner Kamera für das amerikanische Magazin Look. Die Ausstellung Sous un autre angle : Stanley Kubrick, photographe zeigt den berühmten Regisseur in einem neuen und unbekannten Licht. Marie-Anne-Calame 6, 2400 Le Locle www.mbal.ch
Marktgasse 13, 4900 Langenthal www.kunsthauslangenthal.ch
Kunsthaus Centre d’art Pasquart Biel/Bienne
Oben: Mathieu Malouf, The origins of the milkyway 2, 2019, Öl auf Leinwand, 200 × 200 × 2 cm, Courtesy der Künstler und Galerie Lars Friedrich, Berlin, Photo: Lothar Schnepf
Kunsthaus Langenthal
Unten: Miriam Sturzenegger, Figures archéospheriques, 2017, Ausstellungsansicht Galerie Bob Gysin, Zürich, Courtesy the artist
Kunstmuseum Thun Johannes Itten & Thun. Natur im Mittelpunkt 08.08.—22.11.2020 Johannes Itten prägte als Bauhaus-Meister die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. Die Ausstellung setzt sich vertieft mit der Frühphase des Künstlers auseinander. Sie zeigt auf, wie er am Thunersee den Weg zu seiner Kunstauffassung und Malweise fand und verdeutlicht anhand der Naturdarstellungen, welche grundlegenden Impulse von der Region für sein gesamtes Schaffen ausgegangen sind. Hofstettenstrasse 14, 3602 Thun www.kunstmuseumthun.ch
Oben: Ray Hegelbach, A Birthday Arrangement, 2019, Ausstellungsansicht. Foto: Magnus Wibe, Courtesy of the Artist
Unten: Johannes Itten, Herbstblätter, 1963, Privatbesitz © 2020 ProLitteris, Zürich (Foto: Jörg Pütz)
Musée jurassien des Arts Moutier Mingjun Luo 20.09.—08.11.2020 Die in der Schweiz lebende Künstlerin Mingjun Luo verbindet in ihrer Kunst ihre chinesischen Wurzeln mit ihrer europäischen Gegenwart. Diese Suche nach Identität hat sie in ihren ganz eigenen «dritten Raum» geführt. Die Ausstellung lädt zu einsamer Betrachtung, als fernes Echo von gegenwärtig Erlebtem. Rue Centrale 4, 2740 Moutier www.musee-moutier.ch Oben: Stanley Kubrick for Look magazine. Naked City, 1947. Museum of the City of New York. The LOOK Collection. Gift of Cowles Magazines, Inc., 1956. Used with permission of SK Film, Archives and Museum of the City of New York
Unten: Mingjun Luo, Under the sky 5, 2020, huile sur toile, 45 × 55 cm, © l’artiste
Agenda
Museum Franz Gertsch
Kunsthaus Zürich
Aargauer Kunsthaus
Franz Gertsch. Gräser Die Sammlung KWS zu Gast (Kabinett) 24.10.2020—28.02.2021
Ottilie W. Roederstein Eine Schweizer Künstlerin wiederentdeckt 18.12.2020—05.04.2021
Kosmos Emma Kunz. Eine Visionärin im Dialog mit zeitgenössischer Kunst 23.01.—24.05.2021
Franz Gertsch malt — auch im hohen Alter — noch ein Werk nach dem anderen. Seit 2018 stehen wieder Gräser im Zentrum seines Schaffens. Erstmals werden die Gräser VI, VII und VIII (2019—2020) in Kombination mit Holzschnitten verschiedener Thematik gezeigt. Im Kabinett findet zeitgleich eine Sammlungsausstellung der Keller-Wedekind-Stiftung für gegen ständliche Kunst statt.
Ottilie W. Roederstein (1859—1937) war zu ihren Lebzeiten eine international erfolgreiche Malerin. 1912 vertrat sie die Schweiz neben männlichen Kollegen wie Giovanni Giacometti und Ferdinand Hodler als einzige Künstlerin bei der epochalen Kunstausstellung des Sonderbundes in Köln. Über 80 Jahre nach ihrem Tod wird ihr erstmals eine monografische Werkschau in der Schweiz gewidmet.
Die Aargauer Heilerin, Forscherin und Künstlerin Emma Kunz (1892—1963) stiess mit ihrem ganzheitlichen Wirken in ihrer Zeit noch auf taube Ohren. Heute ist vieles selbstverständlich, was sie damals vor weggenommen hat. Das zeigen die Arbeiten der jungen und internationalen Künstler*innen, die in der Ausstellung im Aargauer Kunsthaus mit ihr in einen Dialog treten.
Platanenstrasse 3, 3400 Burgdorf www.museum-franzgertsch.ch
Heimplatz 1, 8001 Zürich www.kunsthaus.ch
Stadtgalerie
Kunstmuseum Basel
PRICE. Prologue: Mantras for a Club 15.08.—03.10.2020
Isa Genzken. Werke von 1973—1983 05.09.2020—24.01.2021
Textile Kompositionen, umgeben von prozedural generierten akustischen Landschaften. Nur durch seine Stimme ist der Performer PRICE präsent und sucht nach neuen Räumen, Allianzen und Resonanzen bei den Besucher*innen. Prolog zu einer Serie von Performances unter dem Titel Mantras for a Club in Co-produktion mit Arsenic Lausanne und Theater Neumarkt Zürich.
Isa Genzken gehört zu den bedeutendsten lebenden Künstler*innen. Das Kunst museum Basel macht mit seiner Ausstellung auf ihr herausragendes Frühwerk aufmerksam. Mit ihrem Schaffen, das auch jüngere Generationen inspiriert und herausfordert, bewegt sich die deutsche Künstlerin innerhalb unterschiedlicher Disziplinen wie Skulptur, Installation, Architektur, Fotografie, Film und Malerei.
PROGR, Waisenhausplatz 30, 3011 Bern www.bern.ch/stadtgalerie
St. Alban-Graben 8, 4010 Basel www.kunstmuseumbasel.ch
Oben: Franz Gertsch, Gräser VII, 2019, Eitempera auf ungrundierter Baumwolle, 240 × 340 cm, Besitz des Künstlers, © Franz Gertsch
Oben: Ottilie W. Roederstein, Drei Lebensalter, 1900, Tempera auf Pappe, 50 × 61 cm, Von der Heydt-Museum Wuppertal
Unten: PRICE, Melodies are so far my best friend, 2019, Performanceansicht, Beursschouwburg, Festival Performatik Brussels, Belgium, © Reto Schmid
Aargauerplatz, 5001 Aarau www.aargauerkunsthaus.ch
Teatro dell’architettura Mendrisio Le Corbusiers frühe Zeichnungen. 1902—1916 19.09.2020—24.01.2021 Die Ausstellung ist den Zeichnungen gewidmet, die zwischen Le Corbusiers Eintritt in die Kunstgewerbeschule in La Chaux-de-Fonds und seiner endgültigen Übersiedelung nach Paris entstanden sind. Gezeigt werden unter anderem 80 erstmals ausgestellte Originalzeichnungen. Via Turconi 25, 6850 Mendrisio www.arc.usi.ch
Unten: Isa Genzken in her studio, Düsseldorf 1982, Foto: Andreas Schön, Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne/New York, © 2020, ProLitteris, Zürich
Oben: Emma Kunz, Werk-Nr. 393, o. J., © Emma Kunz Zentrum
Unten: Le Corbusier, Scultura su legno del museo di Cluny, 1909, Mina di grafite e matita nera su carta, 25 × 32,5 cm, Coll. privata, Svizzera, Fotografia © Éric Gachet
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Kader Attia, Culture, Another Nature Repaired, 2014; Ausstellungsansicht, Musée cantonal des Beaux-Arts, Lausanne, 2015 Courtesy of the artist, Kunsthaus Zürich, Musée cantonal des Beaux-Arts, Lausanne, Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main, Kunstmuseum Bern, Galerie Nagel Draxler; Foto: Nora Rupp; © 2020 ProLitteris, Zurich
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Cuno Amiet. Mutter und Kind. 1899, überarbeitet vor 1904. Tempera auf Leinwand. 80 × 57 cm (Detail). Auktionsergebnis: CHF 830 000
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Membership
Kunstengagement aus Überzeugung
Kulturbetriebe und Kreative waren dieses Jahr gefordert wie noch nie. Sie mussten Wege finden, ihr Publikum trotz aller Einschränkungen zu erreichen. Dass kultureller Austausch ein Grundbedürfnis und ein institutionelles Angebot wichtig ist, wurde vielen erst in dieser besonderen Situation bewusst.
Bern ist nicht nur politisches Landeszentrum, die Stadt zeichnet sich auch durch reges Kulturleben und eine international bedeutende Museumslandschaft aus. Wie zentral gerade diese Aspekte für die Identität und das kulturelle Selbstverständnis einer Stadt sind, hat die Corona-bedingte Abstinenz in der ersten Jahreshälfte deutlich gemacht. Keine leichte Situation für die sonst so offene Kulturszene. Neue Ideen, wie man das Publikum erreichen kann, waren gefragt und gleichzeitig schrumpfte der finanzielle Spielraum. Langjährige Partnerschaften wie diejenige zwischen dem Kunstmuseum Bern und der Credit Suisse sind da wichtige Stützen. Zum Engagement der Bank und was dieses für sie persönlich bedeutet, äussern sich Martin Arregger, Leiter Privatkunden Region Mittelland, und Martin Bützberger, Kundenberater und Leiter der «Art Community Mittelland».
MTC
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Wie haben Sie das erste Halbjahr erlebt? Es war in jeder Hinsicht einschneidend. MARTIN ARREGGER Wirtschaftlich ebenso wie gesellschaftlich. Als der Lockdown kam, lief die von uns unterstützte Ausstellung El Anatsui. Triumphant Scale im Kunstmuseum Bern erst drei Tage. Das war hart für alle Beteiligten. Aber zum Glück hat das Museum kreative Möglichkeiten gefunden, die Ausstellung indirekt zu vermitteln. Durch die Verlängerung um gut vier Monate bis am 1. November hat sie dann doch noch ihr Live-Publikum gefunden. MARTIN BÜTZBERGER Ich habe das ähnlich erlebt. Viele Kunden haben den Ort der Inspiration und des Austausches vermisst – MARIA-TERESA CANO
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diese besondere Qualität, die nur im direkten Dialog entstehen kann und die etwas Verbindendes hat. Im Rahmen der «Art Community Mittelland» hatten wir zusammen mit dem Kunstmuseum Bern einen virtuellen Event mit Showrooms an der Art Basel, die ja auch nicht durchgeführt werden konnte, organisiert. Es war ein Erfolg, aber eine echte Alternative zum Live-Erlebnis ist es nicht. Die zweite von der Credit Suisse unterstützte Ausstellung in diesem Jahr ist Tools for Utopia. Ausgewählte Werke der Daros Latin america Collection (30.10.2020 – 21.03.2021). Warum ist Sponsoring im Bereich Kunst für die Bank wichtig? Wir blicken da auf eine lange Tradition zurück. Das Kunstmuseum Bern unterstützen wir bereits seit 1996 und wir konnten dieses Jahr den Vertrag um weitere zwei Jahre verlängern. Diese Kontinuität hat mit Werthaltungen und gesellschaftlicher Verantwortung zu tun. Die Bank bekennt sich zum Heimmarkt, steht für die Schweiz ein, will Werte erhalten und in Dialog treten. Natürlich kommt auch eine grosse Portion Begeisterung hinzu. Denn Kunst ist sehr emotional. Sie ermöglicht Austausch, Perspektivenwechsel, Inspiration, Vernetzung und vieles mehr. Stimmt, genau diese Qualitäten zeigen sich bei unseren Netzwerk-Events sehr deutlich. Da werden Bögen gespannt im Austausch zwischen Kunstschaffenden und Kunstinteressierten, die nicht selten nachhaltige Effekte für junge Talente haben. Unser Engagement kann etwas bewegen!
Martin Bützberger und Martin Arregger sind stolz auf die Kunstsammlung in der Credit Suisse-Filiale Bern Bundesplatz.
Membership Verein der Freunde Kunstmuseum Bern
Freunde ZPK
Bernische Kunstgesellschaft BKG
Berner Kunstfonds
Die Mitglieder des Vereins der Freunde Kunstmuseum Bern leisten einen wertvollen Beitrag an das Museum und an das Berner Kunstleben. Der Verein erwirbt mit den Beiträgen seiner Mitglieder hauptsächlich Kunstwerke für das Museum und rundet damit die Sammlung in ihren Schwerpunkten ab.
Als Freund*in des Zentrum Paul Klee profitieren Mitglieder von freiem Eintritt in alle Ausstellungen, umfassenden Informationen über die viel fältigen Aktivitäten des Zentrum Paul Klee und exklusiven Einblicken.
Die BKG fördert das Verständnis für die zeitgenössische Kunst und unterstützt insbesondere begabte junge Kunstschaffende, das Kunstmuseum Bern sowie die Kunsthalle Bern. Die BKG veranstaltet Führungen in Ausstellungen und organisiert Kunstreisen, Atelierbesuche und Vorträge. Jährlich vergibt sie mit dem Louise Aeschlimann und Margareta Corti-Stipendium den höchstdotierten privaten Kunstpreis der Schweiz. Im Jahr 1813 gegründet, gehört die BKG zu den ältesten In stitutionen, die sich in der Schweiz der Kunstförderung widmen.
1993 wurde der Berner Kunstfonds durch den Verein der Freunde Kunstmuseum Bern, die Bernische Kunstgesellschaft BKG und die Kunsthalle Bern gegründet, um die Be ziehungen zu Mäzen*innen und Sponsor*innen auf privatwirtschaftlicher Basis zu pflegen und zu koordinieren. Die Mitglieder leisten jährlich mit rund CHF 90 000 einen wichtigen Beitrag zur Inten sivierung der Zusammenarbeit zwischen Kunstmuseum Bern und Kunsthalle Bern sowie zur Kunstvermittlung und zum Kunstleben. Der Berner Kunstfonds zählt an die 60 Mit glieder ( Private, Firmen und Institutionen ).
Mitglieder profitieren von di versen Vergünstigungen, Einladungen zu Eröffnungen und exklusiven Veranstal tungen. Zudem erhalten sie freien Eintritt in die Sammlung und Wechselausstellungen des Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee. Mehr Infos unter www.kunstmuseumbern.ch/ vereinderfreunde Verein der Freunde Kunstmuseum Bern Hodlerstrasse 8—12 3011 Bern +41 31 328 09 44 member@kunstmuseumbern.ch
Zudem leisten Mitglieder einen wichtigen Beitrag an ein in der Schweiz einzigartiges Kunst- und Kulturzentrum. Mehr Infos unter www.zpk.org/freunde Freunde Zentrum Paul Klee Monument im Fruchtland 3 3006 Bern +41 31 359 01 01 freunde@zpk.org
Den Mitgliedern bietet die BKG freien Eintritt in die Sammlungs- und Wechselausstellungen des Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee.
Mehr Infos unter www.kunstmuseumbern.ch/ bernerkunstfonds
Mehr Infos zu den exklusiven Angeboten für BKG-Mitglieder unter www.kunstgesellschaft.ch
Berner Kunstfonds Hodlerstrasse 8—12 3011 Bern +41 31 328 09 44 member@kunstmuseumbern.ch
Bernische Kunstgesellschaft BKG Hodlerstrasse 8—12 3011 Bern 7 +41 31 328 09 44 info@kunstgesellschaft.ch
Impressum Kunsteinsicht Das gemeinsame Magazin von Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee, info@kunsteinsichtbern.ch. HERAUSGEBER: Kunstmuseum Bern, Hodlerstrasse 8—12, 3011 Bern, www.kunstmuseumbern.ch. Zentrum Paul Klee, Monument im Fruchtland 3, 3006 Bern, www.zpk.org. Gegründet von Maurice E. und Martha Müller sowie den Erben Paul Klee. REDAKTION: Maria-Teresa Cano, Martina Witschi, Thomas Soraperra. LEKTORAT: Atelier CK. KORREKTORAT: Gila Strobel AUFLAGE: 18 000 Ex., erscheint 2-mal jährlich. BEZUG: In der Jahresmitgliedschaft der Gönnervereine enthalten, aufgelegt im Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee. GESTALTUNG: www.salzmanngertsch.com. DRUCK: www.staempfli.com. INSERATE: Willy Beutler, +41 31 300 63 82, willy.beutler@staempfli.com UNTERSTÜTZUNG: Wir bedanken uns für die grosszügige Unterstützung beim Verein der Freunde Kunstmuseum Bern und der Bernischen Kunstgesellschaft BKG. TITELBILD: Lenora de Barros, Poema, 1979/2012, 6 s/w Fotografien; Fotos von Fabiana de Barros, je 25,5 × 32,2 cm, Courtesy: Daros Latinamerica Collection, Zurich, © The artist
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Augenblicke b Austausch mit Quartier-
bewohner*innen zur Nutzung des Aussenraums.
b Jazzpianist Hans
Feigenwinter und Fabienne Eggelhöfer diskutieren in der Sendung Jazz Collection mit Moderator Jodok Hess über erstaunliche Parallelen in der Musik und dem Werk von Lee Krasner.
b Live aus dem Lockdown: Ueli Schmezer führt die kleinen Besucher*innen online durch die Ausstellung El Anatsui. Triumphant Scale.
b Kreativ im Creaviva:
Besucher*innen zu Gast im Kindermuseum im Rahmen des Jubiläumstags am 6. September 2020.
b Endlich! Besucher*innen warten nach der Wiedereröffnung nach dem Lockdown mit Abstand auf den Einlass ins Museum.
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Augenblicke b Die Künstlerin Teruko
Yokoi und Direktorin Nina Zimmer bei der Eröffnung von Teruko Yokoi. Tokyo — New York — Paris — Bern.
b Staatsbesuch im Kunst-
museum Bern. Kuratorin Kathleen Bühler führt Ghanas Präsidenten Nana Addo Dankwa Akufo-Addo und Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga durch die fast fertige Ausstellung El Anatsui. Triumphant Scale.
b Das Zentrum Paul Klee
feiert Geburtstag: Mit einem Jubiläumstag der offenen Türen am 6. September.
b Der diesjährige Preis-
träger des Paul Boesch Kunstpreises, Michael Emil Klein, an der Preisverleihung im Kunstmuseum Bern.
b Satirische Führung von
Lisa Christ durch die Ausstellung Lee Krasner. Living Colour im Rahmen des Internationalen Frauentags 2020.
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Kolumne
Viril 2020 Text : Anaïs Meier / Illustration : Serafine Frey
Im März dieses Jahres rannte Boris Johnson, der Premierminister Grossbritanniens, in die Covid-Abteilungen der Kranken häuser seines Landes und schüttelte allen Erkrankten begeistert die Hände. Dabei wollte er sehr gerne fotografiert werden, denn was er hier tue, das habe Vorbild charakter. Einige Wochen später lag er auf der Intensivstation. Als er wieder entlassen wurde und weiterhin denselben Unsinn wie vor der Erkrankung erzählte, wurde langsam bekannt, dass eine Infektion mit dem Coronavirus zu bleibenden kognitiven und physischen Schäden führen kann. Sofort liess sich Johnson dabei filmen, wie 50
er Liegestütze machte. Gleichzeitig be teuerte er seinem Volk keuchend, dass er fit wie ein Turnschuh sei. Den Teil mit den kognitiven Einschränkungen hatte er entweder vergessen oder infolge eben dieser beschlossen, auf andere Werte zu setzen: Er zeigte der Welt, dass er ein starker Kerl ist, ein wirkliches Mannsbild, dem eine mickrige Woche auf der Intensivstation nichts anhaben kann. Im Juli dann verkündete plötzlich Jair Bolsonaro, dass er viel stärker sei als Johnson. Er habe nämlich auch Corona, er hingegen hätte bloss leichtes Fieber! Bolsonaro blieb auf seinem riesigen Anwesen, kuschelte dort mit seinen Nandus und liess sich dabei ebenfalls ständig filmen, um zu beweisen, wie viril er dem Virus trotzt. Doch kaum waren Bolsonaros Nandus fertig gefüttert, verkündete Alexander Lukaschenko, auch er habe eine Erkrankung mit Covid hinter sich. Aber im Gegensatz zu Bolsonaro habe er es nicht einmal bemerkt! Deshalb konnte er problemlos weiterhin der beliebteste Machthaber Europas sein und extrem viele Leute treffen! Nun fragt sich, wie kernige Kollegen wie zum Beispiel Wladimir Putin auf das Virus reagieren werden, wenn sie ihm persönlich begegnen. Wird er es mit seinen blossen Fäusten niederringen und danach zufrieden auf einem wilden Bären davonreiten? Und was bleibt Donald Trump dann noch übrig? Eigentlich nur, daran zu sterben, um dann von den Toten aufzuerstehen und zu erklären: «Nobody died more than me.»
03.01.21
Mit der UnterstĂźtzung von:
18.09.20
Annemarie Schwarzenbach als Fotografin — Aufbruch ohne Ziel