COMPLEXITYINAFRAME

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• STREETPHOTOGRAPHY • GRAUSAME FOTOGRAFIE • REZENSIONEN


COMPLEXITYINAFRAME

INHALT:

IMPRESSUM: COMPLEXITYINAFRAME IST DAS ELEKTRONISCHE MAGAZIN ZUM GLEICHNAMIGEN WORDPRESS-BLOG VON KURT LHOTZKY. HERSTELLUNGSORT: WIEN DIE ZEITSCHRIFT WIRD MIT OPENSOURCEPROGRAMMEN ERSTELLT. LAYOUT: SCRIBUS TEXTVERARBEITUNG: LIBRE OFFICE GRAFIKEN: GIMP UND DARKTABLE

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Editorial In Zeiten der Liebe und des Krieges Wenn die Gelassenheitsreserven aufgebraucht sind Wissenschaft, lesbar und Spannend Portfolio So it was Wien - Stadt der Nackten

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EDITORIAL Am Anfang war der Blog, und der heißt „complexityinaframe“. Warum ich mich mit Fotografie beschäftige, könnt ihr dort erfahren. Warum jetzt auch noch ein Magazin dazu kommt? Weil einige meiner Blogbeiträge für das Medium Internet zu lang und ausführlich ausfallen. Andererseits mache ich den Blog nicht nur für die Leserinnen und Leser – ich mache ihn auch für mich. Und wenn mir ein Thema wichtig ist, will ich mich nicht durch die engen Grenzen des Mediums „Blog“ beschränken lassen. Wer also Lust hat, sich auf mehr als die kurzen Beiträge im Internet einzulassen (ich gelobe Besserung, die Textbeiträge werden kürzer und das Magazin umfangreicher!), kann die Langfassungen beziehungsweise komplett andere Beiträge hier elektronisch oder in Papierform lesen. Abgesehen davon: Besucht weiter meinen Blog complexityinaframe.wordpress.com Kurt

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Rezensionen / BELLETRISTIK

In Zeiten der Liebe und des Krieges Manchmal geht’s im Leben so zu wie im Computerspiele-Klassiker Tetris (kennt das eigentlich noch wer???). Da häufen sich Steinchen an, unterschiedliche Formen fallen irgendwie hinab – und mit etwas Glück und Geschick kann man geschlossene Reihen bilden. Mir ist es so gegangen, als ich auf den Roman „Warten auf Robert Capa“ von Susana Fortes gestoßen bin. Wie ihr ja aus meinem Blog wisst, ist die Beschäftigung mit der Frage, welche Bilder den Menschen zumutbar sind und welche gesellschaftlich-politische Dimension Fotografie (oder, genauer: Fotojournalismus und Dokumentarfotografie) haben kann irgendwie ein hauchzarter roter Faden, der „complexityinaframe“ durchzieht. Offensichtlich ist dieses Thema nicht meine alleinige „Obsession“ – immerhin sind im Lauf des

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Jahres schon vier Romane erschienen, die sich unter verschiedenen Blickwinkeln diesem Thema auch oder hauptsächlich annähern: William Boyds „Die Fotografin“, Owen Sheers „I saw a man“, das Buch von Susana Fortes und jüngst Sabine Grubers „Daldsossi oder das Leben des Augenblicks“. Liegt es an der zunehmenden „Macht der Bilder“? Liegt es daran, dass uns die Konflikte und Kriege immer näher rücken? Liegt es daran, dass die harte Realität unseres Jahrzehnts den schöngeistigen Eskapismus austreibt? Liegt es daran, dass wir den „schrecklichen Bildern“ immer wenige ausweichen können? Aber zurück zum Roman der spanischen Journalistin Susana Fortes über Gerda Taro (eigentlich Gerta Pohorylle, geboren 1910 in Stuttgart) und Robert Capa (eigentlich Endre Ernö Friedmann, geboren 1913 in Budapest).


COMPLEXITYINAFRAME Susana Fortes erzählt, gestützt auf reichhaltige fotohistorische Literatur, die Geschichte der Liebes- und Arbeitsbeziehung zwischen diesen unterschiedlichen und doch ähnlichen, von den gleichen Ansprüchen geleiteten Menschen, die vor allem durch ihre Reportagen aus der spanischen Revolution den modernen Fotojournalismus geprägt haben. Zugleich wagt Fortes die Gratwanderung, sich in die Gedankenwelt ihrer Protagonisten hinein zu versetzen. So entsteht ein faszinierendes Bild einer „amour fou“ – zumindestens seitens Capas – in den „Zeiten von Liebe und Krieg“. Endre lernt Gerta 1934 in Paris kennen – dorthin war die Tochter eines polnisch-jüdischen Kaufmanns 1933 mit ihrer Schweizer Freundin Ruth Cerf geflüchtet, nachdem sie mit viel Glück im März 1933 der Gestapo entkommen konnte, die sie wegen ihrer politischen Kontakte verhaftet hatte. Endre, gerade 21, war seinerseits im faschistischen Horthy-Ungarn der Polizei in die Hände gefallen, die ihn wegen seiner Aktivitäten in der linken Schülerbewegung brutal misshandelte. Vor die Wahl gestellt, in Haft zu bleiben oder das Land zu verlassen, ging er zuerst nach Berlin, wo er an der Deutschen Hochschule für Politik Fotografie erlernte und beim Deutschen Photodienst Dephot landete. 1932 erregte eine Fotoserie internationale Aufmerksamkeit: Der 19jährige hatte als einziger die Gelegenheit genutzt, im Auftrag der Dephot beim ersten öffentlichen Auftritt des aus Russland vertriebenen Revolutionärs Leo Trotzki Fotos zu machen. Nach der Machtergreifung der Nazis übersiedelte Endre kurzfristig nach Wien und dann eben in die französische Hauptstadt. In Paris gab es eine wachsende, künstlerisch und politisch hochaktive, Exilbewegung. Denn der Faschismus breitete sich metastasenartig in Europa aus. Ein beliebter Treffpunkt der linksgerichteten deutschsprachigen Emigranten war das Café Capoulade im Quartier Latin. Dort verkehrte unter anderem Gerta und beteiligte sich an den regen Debatten im verrauchten Ecklokal. Endre Friedmann überredete Ruth Cerf zu einem Fotoshooting für eine Inseratenserie – diese nahm ihre Freundin mit, weil sie dem quirligen

und charmanten jungen Ungarn nicht so recht traute. Bald bahnte sich zwischen Endre und Gerta eine Beziehung an – nicht nur eine erotische, sondern auch eine künstlerische. Durch Endre kam Pohorylle mit der Fotografie in Berührung, und sie wollte dieses neue Terrain betreten und sich frei darin bewegen – ihr Freund lehrte sie Technik, Bildaufbau und das „Warten auf den richtigen Augenblick“. Es waren die Jahre der Leica und der Rolleiflex – handliche kleine Kameras machten es möglich, nahezu überall zu fotografieren. Im Gegensatz zu anderen großen Fotografen seiner Zeit verstand sich Friedman immer als Jour- Gerda Taro in Paris (Anfang der 30er nalist, die Arbeit in Jahre). Die intelligente und der Dunkelkammer humorvolle junge Frau faszinierte hasste er (als sein Robert Capa (damals hießen die Bruder Cornell Un- beiden noch Pohorylle und garn verlassen konn- Friedmann) von ihrer ersten te, wurde er derjeniBegegnung an. ge, der die Negative von Endre und Gerta ausarbeitete). Er hatte auch keine Probleme, wenn seine Bilder von Redaktionen beschnitten wurden (ein großer Unterschied zu seinem Freund Henri CartierBresson, der sich jeden Eingriff in seine Kompositinen verbat). Mit Hilfe ihres Freundes hatte Gerta mittlerweile eine Arbeit in einer Bildagentur gefunden, Endre machte teilweise vielbeachtete Fotoreportagen wie jene über die Lage im Saarland vor der Ab-

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COMPLEXITYINAFRAME stimmung über die Zukunft dieses zwischen Frankreich und Nazideutschland umstrittenen Territoriums. Auch Paris war damals kein sicherer Hafen für Flüchtlinge. Faschistische Banden wie die Action Francaise und die Croix de Feu verbreiteten antisemitische Propaganda und griffen Mitglieder und Funktionäre der Linksparteien an. Mit dem Sieg der französischen Volksfront 1936 schien sich der Wind zu drehen. Die 40-Stunden-Wo-

che wurde eingeführt, erstmals Gerda Taro und Robert Capa konnten die französischen Arbeiter bezahlten Urlaub machen, die faschistischen Ligen wurden verboten. Dann kam der 17. Juli 1936: In Spanien putschten die Generale Franco, Queipo de Llano und Mola gegen die junge Republik und stützten sich auf die faschistischen Organisationen des Landes sowie Teile der Monarchisten. Als Reaktion auf den Offizierscoup entwaffneten in den großen Städten Arbeiter die Soldaten, bildeten Milizen und begannen mit der Verteidigung gegen die Faschisten; am Land verjagten die armen Kleinbauern die Grundbesitzer, es kam zu Kollektivie-

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rungen, und die Kirchen, Inbegriff der unheiligen Allianz zwischen Klerus und Reaktion, brannten. Gerda, die mittlerweile zur inoffiziellen Managerin ihres Freundes geworden war, war im Jahr zuvor ein echter „scoop“ geglückt: Gemeinsam mit Endre hatten sie die Kunstfigur „Robert Capa“ geschaffen – einen jungen, gutsituierten amerikanischen Fotojournalisten aus besten Kreisen, der nach Paris gekommen war, um Leben in die Szene zu bringen. Aus Gerta Pohorylle wurde Gerta Taro – vom Klang her eine Referenz an die vor ihr bewunderte Greta Garbo. Zwar wurde der „Schwindel“, der eher ein practical joke war, aufgedeckt: Das änderte nichts daran, dass der angebliche Amerikaner um etliches mehr für seine Fotos erhielt als der kleine ungarische Fotograf Endre Friedmann. 1935 hatte Capa erstmals eine Reportage in Spanien fotografiert – nun waren er und Gerta entschlossen, nach Spanien zu gehen, um über den Krieg gegen die Faschisten zu berichten. Am 8. August, knapp drei Wochen nach dem Putsch, flogen sie nach Barcelona – und hatten zum ersten Mal Glück: Die Maschine stürzte beim Landeanflug beinahe ab, die Bruchlandung war eine ziemliche Katastrophe, aber Robert und Gerta gehörten zu den wenigen unverletzten Passagieren. So wie später ihrem Journalistenkollegen George Orwell war es den beiden klar, dass sie diesen Krieg nicht neutral covern konnten. Sie verstanden sich als Partei – hier, in Spanien, wurde die Grenzlinie gegen die faschistische Flut gezogen, und ihre Kameras waren scharfe Waffen in dieser Auseinandersetzung. Gerta Taros Fotos unterschieden sich deutlich von denen Roberts. Nicht nur, weil sie mit der Rolleiflex im Format 6 x 6 arbeitete, und er mit dem Leica-Kleinbild 24 x 36. Gerda „komponierte“ ihre Bilder – sie war nicht langsam, aber nicht


COMPLEXITYINAFRAME so spontan wie Robert (der wohl auch deswegen kein Problem damit hatte, wenn sich durch Beschneiden der Fokus seiner Fotos änderte). Beide waren waghalsig – sie fotografierten nicht wie andere im Hinterland, sie gingen ganz nach vorn, auf den Barrikaden in Madrid genauso wie auf den Schlachtfeldern Kataloniens und Brunetes. Halten wir uns vor Augen: Sie war 26, er 23. In nahezu jugendlichem Alter sahen sie Zerstörung, Tote, Flüchtlinge, vergewaltigte Frauen, Kinder auf der Flucht, um sie herum schlugen Granaten und Kugeln ein, bald verdunkelten deutsche Kampfflieger den Himmel. Sie wollten der Welt die Wahrheit über diesen schrecklichen Krieg entgegen schreien, sie wollten aufrütteln – aber die westlichen „Demokratien“, allen voran die befreundete französische Volksfront, ließen das kämpfende spanische Volk im Stich. Am 5. September 1936 machte Robert Capa jenes Foto, das ihn weltberühmt machte: Der fallende Soldat – die Aufnahme eines Milizionärs im Moment seines Todes, getroffen von einer Kugel der Faschisten. Das Foto erschien in allen großen Zeitungen und Zeitschriften, wurde eine fotografische Ikone, tauchte in den 60er und 70er Jahren – aus dem Zusammenhang gerissen – auf antimilitaristischen Plakaten auf. Sehr glaubhaft beschreibt Susana Fortes die Verzweiflung Capas über dieses Bild, die bohrenden Zweifel, ob der Milizionär noch am Leben wäre, wenn er, Capa, nicht auf der Suche nach dem „besten Bild“ gewesen wäre. Das besondere am Roman Fortes ist sein „hybrider“ Charakter. Manchmal glaubt man, eine Monographie über Taro und Capa zu lesen, dann folgen Einschübe mit inneren Monologen der beiden, Beschreibungen ihres gemeinsamen Lebens, ihrer sexuellen Ekstase und ihrer Entfremdungen voneinander, auch immer wieder Vorgriffe in der Geschichte, bis nach Vietnam 1954, wo Robert Capa sein gewaltsames Ende ereilte. Dennoch ist „Warten auf Robert Capa“ ein geglückter Roman, nicht nur eine Hommage an zwei große Persönlichkeiten der Fotografie des 20. Jahrhunderts. So, wie das Foto vom fallenden Milizionär das Leben Capas veränderte, veränderte sich auch

die Beziehung zwischen ihm und Gerta Taro. Sie liebten einander, aber sie gingen oft genug getrennte Wege. Nicht nur bei Susana Fortes, auch in der Realität scheint Robert viel schwerer mit

diesem Leben und Gerda Taros Tod war in vielerlei der Unabhängigkeit Hinsicht ein Schock. Ihr Engagement der Partnerin fertig und ihre Jugend machten sie zu geworden zu sein. einem Symbol für den Eifersucht auf Kolleantifaschistischen Kampf. gen plagte ihn, wähPresseleute trauerten weltweit um rend sie in Spanien eine der ihren, die in Ausübung ihrer war und er in Frankreich im gemeinsa- journalistischen Arbeit getötet men Atelier arbeite- worden war. te, das ein Treffpunkt von Kollegen wie Cartier-Bresson, Brassai oder Künstlern wie Giacometti war. Umgekehrt ertrug Gerta es nur schwer, in Paris den notwen-

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COMPLEXITYINAFRAME digen Tagegeschäften nachzugehen, während Robert irgendwo an der Front unterwegs war. Beide konnten, in unterschiedlicher Intensität, Menschen mit ihrem Charisma bezaubern. Ihre Lebensfreude, ihr Mut zogen fast zwangsläufig Menschen in ihren Bann, und oft genug knisterte es ganz gehörig zwischen ihnen und anderen, was wiederum gegenseitige Eifersucht nährte. Am 25. Juli 1937 verbrachte Gerta den ganzen Tag in den vordersten Linien an der BruneteFront. Es war ein schrecklicher Tag für die Antifaschisten. Den ganzen Tag über feuerte die Artillerie der Faschisten, deutsche Kampfflieger der Legion Condor bombardierten die republikanischen Stellungen, Tiefflieger mähten flüchtende Gegner nieder. Am Abend war ein Rückzug unvermeidlich, und gemeinsam mit ihrem kanadischen Kollegen Ted Allan schaffte es Taro gerade noch, am Trittbrett eines Pressewagens mitgenommen zu werden. Und dann rammte im allgemeinen Chaos der Flucht ein Panzer der eigenen Truppen den Wagen, zermalmte ihn ,und mit ihm Gerta Taro, die aber – trotz ihrer schwersten Verletzungen – am Leben blieb. gerda taro funeral 2Sie starb am nächsten Tag im Militärlazarett in El Escorial. Ihre letzten Worte sollen ihrer Kamera gegolten haben – ob diese gefunden worden sei, fragte sie die Krankenschwester. Als diese verneinte, sagte sie: „Wie schade, sie war fast neu“. Die Beisetzung Gerta Taros in Paris, am Friedhof Père Lachaise, war eine antifaschistische Massenkundgebung. Zehntausende folgten dem Sarg, unter ihnen Schriftsteller wie Pablo Neruda oder Louis Aragon. Der völlig gebrochene Robert

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Capa wurde von seinem Freund Henri CartierBresson gestützt und war in Tränen aufgelöst. Vierzehn Tage sperrte er sich in seinem Atelier ein um zu trauern und damit fertig zu werden, dass er in der Stunde ihres Todes nicht bei seiner Gefährtin gewesen war. Freunde und Kollegen vermuten, dass Capas spätere spektakuläre Arbeiten – etwa die Fotos von der Landung der Allierten in der Normandie, wo er an der ersten Welle des Angriffs auf den blutigen Omaha-Beach teilgenommen hatte – deswegen so beeindruckend waren, weil er sich nach dem Tod Gertas nichts mehr aus dem Leben machte, Risiken einging wie kaum ein anderer seiner Kollegen. Sein Tod durch eine Mine in Thé Binh 1954 nährte diese Interpretation. Aber auch der gemeinsame Freund und Kollege David „Chim“ Seymour kam 1956 durch eine Kugel um’s Leben – zu einem Zeitpunkt, als der Krieg, über den er berichtete (um den Suez-Kanal) eigentlich schon vorbei war. Ich kann Susana Fortes Buch allen Leserinnen und Lesern empfehlen, die ein fesselndes und berührendes Buch über zwei große Fotografinnen/Fotografen lesen wollen. Es ist aber auch ein „voraussetzungsloses“ Buch für alle, die eine dramatische und bewegende Liebesgeschichte lesen wollen. Susana Fortes Warten auf Robert Capa ebersbach und simon 255 Seiten, EUR 20,40


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Wenn die Gelassenheitsreserven aufgebraucht sind Wenn die Gelassenheitsreserven aufgebraucht sind … Sabine Grubers jüngster Roman ist … ja, was eigentlich? Ein Roman über „Kriegsfotografen“? Ein Roman über eine langsam verstorbene Liebesbeziehung? Ein Roman über Mitleid, Verantwortung? Über Sprachlosigkeit angesichts der Gräuel der Gegenwart? Auf jeden Fall ist es ein großartiges Buch. Bruno Daldossi, rund um die 60, ist auf dem Rückzug aus seinem Beruf. Als „war photographer“ hat er die Schauplätze von Straßenkämpfen irgendwo im Irak genauso gesehen wie das Leiden der Zivilbevölkerung in Sarajewo, langsam wahnsinnig werdende tschetschenische Aufständische in ihrem eisigen Unterstand in den Bergen des Kaukasus, verstümmelte Leichen in Afghanistan. Der Südtirole hat seine „homebase“ in Wien, aber seiner Freundin Marlis, einer Zoologin, die sich der Rettung der Bären verschrieben hat, sind im Laufe ihrer durch ständige Kriegseinsätze ihres Lebenspartners unterbrochenen Beziehung die Gelassenheitsreserven abhanden gekommen, wie sie Bruno sagt. Denn immer sind es die grausigen Bilder, die sich zwischen sie drängen. „Das Leiden anderer betrachten“ ist an Daldossi

nicht spurlos vorbeigegangen – wie der (reale) bedeutende Photoreporter James Nachtwey ist er vom „war photographer“ zum „anti-war photographer“ geworden; er ist kein Fotograf von „Kriegs-Pornos“ (um noch einmal Susan Sontag zu zitieren) – er will mit seinen schockierenden Fotos (die schockierendsten werden ohnehin nie gezeigt) etwas bewegen. Er zahlt einen hohen Preis: Marlis verlässt ihn, gerade in dem Augenblick, wo er sein Leben neu einrichten will; aber wie soll er das schaffen – er ist Alkoholiker, fällt ständig aus der Realität des Augenblicks in Erinnerungen an andere, furchtbare Augenblicke. Kann es für einen wie Daldossi eine Rückkehr in die Normalität geben? Er reist nach Venedig, will sich mit Marlis aussprechen, und wacht übel verkatert in einem Hotel auf, in das ihn seine Ex befördert hat: Gegenüber der Wohnung ihres neuen Freundes hat er auf sie gewartet, und sich buchstäblich bis zur Besinnungslosigkeit besoffen. Nicht er findet Marlis, sie findet ihn, und zwar in einem Zustand, der alles bestätigt, was sie zur Trennung mit Bruno bewegt hat. Johanna, Journalistin und Exfrau eines schreibenden (nicht fotografierenden) Kollegen, soll eine Repoprtage über die Situation auf Lampe-

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COMPLEXITYINAFRAME dusa schreiben. Bruno hat sie vor seiner Abreise nach Venedig in Wien getroffen – nun folgt er ihr. Wer sich jetzt eine seichte Liebesgeschichte erwartet, täuscht sich gewaltig. So einfach macht es Sabine Gruber weder ihren Protagonisten noch den Leserinnen und Lesern. Sabine Gruber macht uns mit höchst realistischen gebrochenen Charakteren bekannt. Hier wird nicht moralisiert (nichts wäre leichter, als das Klischee vom versoffenen Kriegsreporte à la Ernest Hemingway zu bedienen), der Tod einer Liebesbeziehung ernst und ohne parteiische Seitenhiebe beschrieben, ein zutiefst unglücklicher, weil ethischen Prinzipien folgender, Fotograf porträtiert, ohne ihn auf ein Podest zu stellen. Ja, hier wird der Leserin, dem Leser allerhand abverlangt. Trotzdem ist „Daldossi oder das Leben des Augenblicks“ kein pessimistisches Buch, es lässt das Publikum nicht ohne Hoffnung zurück. Sabine Gruber hat die Schicksale vieler großer Fotografinnen und Fotografen in dieses Buch hinein verwoben, es ist auch eine berührende Hommage an diejenigen, die mit ihren Bildern aufrütteln und etwas bewegen wollen. Vielleicht wird man Bruno Daldossi nicht lieben lernen – aber man wird ihn ein bisschen besser verstehen. Und auch Marlis. Und warum ihre Beziehung zerbrochen ist. Sabine Gruber: "Daldossi oder Das Leben des Augenblicks" C.H.Beck, 316 Seiten 22,60 Euro

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Rezensionen / sachbuch

Wissenschaft, lesbar und spannend Annette Vowinckel, Leiterin der Abteilung für Mediengeschichte am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Privatdozentin am Institut für Geschichtswissenschaft der HU Berlin, könnte auf eine beeindruckende Veröffentlichungsliste verweisen – das Spektrum ihrer Themen reicht von der Habilitationsschrift “ Das relationale Zeitalter. Individualität, Normalität und Mittelmaß in der Kultur der Renaissance“ über Aufsätze zur Geschichte der RAF, eine „Kulturgeschichte der Flugzeugentführungen“ zu einer ganzen Reihe von Arbeiten über Fotografie.

Nun ist im Wallsteinverlag ein neues Buch Vowinckels erschienen: „Agenten der Bilder – Fotografisches Handeln im 20. Jahrhundert“. Agenten der Bilder? Was will uns das sagen? Wieder ein Buch, das uns mit der Exegese von Susan Sontag oder gar Roland Barthes intelektuell niederknüppelt, eventuell versüßt mit einer Prise John Berger?

Keineswegs. Ich bin schon nach den ersten Seiten in dieses Buch „hineingekippt“, begeistert von der unprätentiösen Sprache und den vielen Denkanstößen, die sich aus der Lektüre ergeben haben. Besonders angesprochen haben mich Formulierungen wie jene auf Seite 15: „Gegenstand dieses Buches ist deshalb nicht eine Kritik der bildfeindlichen Kulturkritik (…) Ich konzentriere mich dabei auf das, was ich als ‚Bildhandeln‘ bezeichne, gehe also nicht von den Bildern aus, sondern von den Handlungen, deren Ziel und Inhalt die Produktion und Zirkulation von Bildern ist“.

Oder, auf Seite 17: „Dass der Fotografie nur zögerlich ‚Authentizität‘ zugesprochen wird, liegt weniger an der Fotografie selbst als daran, dass postmoderne Menschen die bloße Möglichkeit von Authentizität gern grundsätzlich in Frage stellen.“

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Als Leser, der sich genau über solche, speziell in Zeitschriften und Blogs zirkulierende, postmoderne Schwurbeleien ärgert, weil sie ihm schon viel Zeit gestohlen haben, ohne substanziell etwas Neues beizutragen, finde ich solche Spitzen ausgesprochen herzerfrischend.

Was Annette Vowinckel meint, sagt sie klar und unverschnörkelt: „Als Bildhandlungen beschreibe ich deshalb solche Formen der Kommunikation, die gezielt das Bild als Medium einsetzen“ (S. 14).

Rolle des ‚Agenten‘ für ihre Bilder, die sich ja nicht selbst zu den Redaktionen und Agenturen tragen können. In einigen Fällen übernehmen sie auch die Funktion, die Anliegen der abgebildeten Personen der Öffentlichkeit zu übermitteln. Sofern sie fotografische Evidenz generieren, ähnelt ihre Tätigkeit mitunter auch der des Geheimagenten, zumal dann, wenn dieser im Auftrag eines Staates arbeitet (in der Realität dürften die beiden letzten Fälle allerdings nur selten zusammenfallen).“(S. 28)

Schon der zweite Abschnitt des Buches, „Die Entstehung einer globalen visuellen Öffentlichkeit“, ist für jede und Jeden an Fotografie und Journalismus Interessierten ein „must“. Mit Schwerpunkt auf die Geschichte der Nachrichtenagentur AP (Associated Press) als Bildagentur entwickelt Vowinckel auf knapp 20 Seiten ein kompaktes Bild über die Entwicklung eines weltweiten Marktes für Bilder. Hier begegnen uns auch schon kursorisch die Akteure des dritten Kapitels „Agenten der Bilder: Berufsgruppen“: Fotojournalisten und Bildredakteure.

Annette Vowinckel

Und dass auch subtiler Humor nicht fehlen muss, beweisen Passagen wie folgende: „Der Begriff Agenten der Bilder als Titel und Gegenstand dieses Buches ist insofern erklärungsbedürftig, als er zum einen dem Kontext der Handels- oder Interessensvertretung und zum anderen dem Kontext der Geheimdienste entstammt, die beide auf den ersten Blick nichts mit der Genese visueller Öffentlichkeit zu tun haben. Tatsächlich sind hier aber beide Wortbedeutungen relevant. Fotojournalisten übernehmen die

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Anhand exemplarischer Biografien versucht Vowinckel, das „Werden“ der Bildjournalistinnen und Bildjournalisten zu zeigen. Was waren Motive für die Berufswahl, wie vollzog sich der Einstieg in den Beruf, welche Ausbildungswege legten Bildjournalisten zurück? Natürlich musste die Autorin hier eine Auswahl treffen, und von ihrem Ansatz her . der Schaffung einer transnationalen Bildöffentlichkeit – konzentriert sie sich in erster Linie auf international agierende Fotografen. Erfreulicherweise wird hier sehr viele aus Interview und Oral-History-Quellen zitiert. Es ist spannend, Fotojournalisten „in ihren eigenen Worten“ und nicht (nur) durch ihre Bilder kennen zu lernen.

Ein Beispiel: Der Kriegsfotograf Eddie Adams spricht über seine subjektive Form der Angstbewältigung: „When I have a camera in my hands, I do strange things. When I raised my camera an invisible six-foot


COMPLEXITYINAFRAME wall of steel came between me and the bullets and it protected me. The bullets used to bounce off it. It is all psychological and I know that but the camera protected me.“ (S. 80)

“Eine historische Untersuchung dieser Berufsgruppe wird dadurch erschwert, dass Bildredakteure in der Öffentlichkeit stets in zweiter Reihe standen.“ (S. 109)

Natürlich werden hier auch schon Fragen angeschnitten, denen im 5. Kapitel („Bildsteuerung und Bildverwendung“) eigene Abschnitte gewidmet sind, etwa der fotografischen Ethik. Dass in diesem Zusammenhang James Nachtwey (und die Kritik eines Kollegen an ihm) nicht fehlen kann, ist klar (S.86). Auch die großen Fotojournalistinnen wie Gerta Taro, Margaret Bourke-White, Hansel Mieth, aber auch klar (nazi)propagandistische fotografierende Frauen Hansel Mieth wie Leni Riefenstahl und Lieselotte Purper werden behandelt und ihre Arbeiten analysiert. Mit Bezug auf den großen Anteil geflüchteter und emigrierter europäischer Fotografen unter den später international berühmten Fotojournalisten des 20. Jahrhhunderts kommt Anette Vowinckel zur Schlussfolgerung: „Ich würde deshalb die Existenz eines weiblichen Blicks, ebenso wie die eines jüdischen Blicks, der von einigen Autoren diagnostiziert worden ist, bestreiten.“ (S. 107)

Und sehr treffend scheinen mir die abschließenden Sätze dieses Abschnitts: „Fotojournalisten begreifen sich deshalb nicht nur als Beobachter oder Dokumentaristen des Weltgeschehens, sondern als öffentliche Akteure. Indem sie die Dinge zeigen, fordern sie auf, sie zu verändern.“ (S. 108)

Auch die in der Öffentlichkeit viel weniger beachteten Bildredakteure kommen in „Agenten der Bilder“ zu ihrem Recht.

Die Autorin macht hier bewusst, wie schwierig, verantwortungsvoll und menschlich heikel die Auswahl der „richtigen“ Bilder ist. Wie sehr die Anforderungen der Blattlinie, die Befindlichkeit der „Produzenten“, also der Fotografen, und der eigene Geschmack und das eigene journalistische Gespür ein Spannungsfeld schaffen, das leicht zum Minenfeld mutieren kann. Aufschlussreich sind die Biografien – unter anderem vom Fotografen, die Bildredakteure wurden. Denn in diesem speziellen Bereich der Schaffung von Öffentlichkeit ist die Frage nach der „Balance“ von Bild und Wort natürlich besonders wichtig.

Rudolf Gillhausen, Bildredakteur beim Stern und Quereinsteiger, wird mit der maliziösen, aber vermutlich nicht ganz unrichtigen Definition zitiert: „Ein guter Blattmacher ist die Summe nichtswürdiger Fähigkeiten.“

Auch für Bildredakteure sind Fragen des Berufs-

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COMPLEXITYINAFRAME mationspolitik und Public Relations sei deshalb – und darin stimme ich ausdrücklich zu – kaum möglich.“ ( S. 143)

Die Darstellung der Armeefotografie ist ein wirklich faszinierender Überblick. Immerhin handelt es sich um ein tatsächlich politisch brisantes Thema, das bis heute (Stichwort: „embedded journalism“) heftig diskutiert wird.

Foto vom D-Day: Chief Photographer's Mate (CPHoM) Robert Sargent (Marinefoto) ethos entscheidend. So war die Veröffentlichung des mittlerweile „ikonischen“ Vietnamkriegsfotos (Vowinckel hat übrigens sehr berechtigte Einwände gegen den Begriff ikonisch!) „Napalm Girl“ von Nick Út 1972 bei der Veröffentlichung ein Verstoß gegen die geltende Richtlinien: „no frontal nudity“. (Die Diskussionen zu facebooks Richtlinien und diesem Bild nehmen sich da wirklich als Farce aus).

Das 4. Kapitel „Fotografen und Fotografie im Staatsdienst“ habe ich besonders spannend gefunden, weil hier das weite Feld der Propaganda beleuchtet wird.

„Zu den militärischen Einheiten, deren Kernaufgabe die Fotografie war, gehörten ab dem späten 19. Jahrhundert die Fotografeneinheiten des U.S. Army Signal Corps, seit 1915 Uhr die Sektion Photografique de l’Armée in Frankreich, von 1938 bis 1945 die Propagandakompanien der Wehrmacht, von 1940 bis 1946 die Army Film and Photografic Unit (AFPU) der britischen Armee und die 1941 gegründete Canadian Army Film and Photo Unit (CFPU).Wie viele Armeen bis Ende des Zweiten Weltkriegs eigene F. Foto- und Filmeinheiten eingerichtet hatten, ist nur schwer zu ermitteln. Auffällig ist indes, dass die Rote Armee zwar Fotografen als Infanteristen an die Front schickte, sie dort aber nicht zu spezialisierten Einheiten zusammenführte – dies ist meines Wissens ein Sonderfall“. ( S. 146).

Nach Lektüre dieses Abschnitts staunt man nicht nur über die Menge an (teilweise nie der Öffentlich zugänglich gemachten) Bildmaterial, sondern auch über die „Ästhetik“ der offiziellen Kriegsfotografie und die entsprechenden Richtlinien.

Mindestens ebenso spannend, weil deutlich verdeckter, ist die Behandlung der „Zivilen Fotografen in staatlichen Institutionen“.

Unter Berufung auf Christoph Classen schreibt Vowinckel: „Vor allem aber betont er, dass Propaganda – wie auch immer man sie definieren mag – keine Einbahnstraße sei, sondern eine wechselseitige Verständigung von Sendern und Empfängern voraussetze. Eine eindeutige Unterscheidung zwischen Propaganda, Infor-

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Natürlich nimmt die Auseinandersetzung mit dem Fotoprojekt der amerikanischen Farm Security Administration zwischen 1935 und 1944 breiten Raum ein. Viele Fotos des Projekts sind heute „visuelles Allgemeingut“ geworden, wie Dorothea Langes „Migrant Mother“, Bilder von Arthur Rothstein oder Gordon Parks.


COMPLEXITYINAFRAME Wieso „leistete“ sich eine [bürgerliche] US-Administration ein Projekt, dessen sozialkritische Dimension klar auf der Hand liegt? „Regierungskritisch war das Fotoprojekt der FSA allerdings insofern, als Präsident Roosevelt die Verantwortung für die sozialen Misssände seiner Vorgängerregierung zuschreiben und sich selbst mit fortschreitender Zeit als derjenige präsentieren konnte, der Abhilfe schaffte. (…) Aus dieser Konstellation heraus erklärt sich auch die dem Projekt inhärente historische Teleologie: Wo 1935 noch Armut dokumentiert werden sollte, war es wenige Jahre später schon opportun, etwas weniger arme Menschen zu zeigen“. (S. 216)

Sinn) darf auch die Nutzung der Fotografie durch das Ministerium für Staatssicherheit nicht fehlen: Fotos von Hausdurchsuchungen, das Abfotografieren von potenziellen „Staatsfeinden“, die „dunkle Seite“ der DDR-Fotografie also.

„Bildsteuerung und Bildverwendung“ ist – vor den abschließenden „Fallbeispielen“ das vorletzte Kapitel des umfangreichen, aber nie langatmigen Buches. Über „Bildhandeln“ kann man – spe-

Direkte „Regierungspropaganda“ finden wir dann bei der United States Information Agency (USIA). Fotografie als Waffe im Kalten Krieg spielte keine geringe Rolle, wie Annette Vowinckel unter anderem an der Wanderausstellung der US-Regierung zur „Berliner Mauer“ illustriert. Dass diese Konzepte greifen konnten lag wohl nicht zuletzt daran, dass die Betrachter der Fo- Pete Souza, Cheffotograf des Weißen Hauses - er setzt toausstellungen oder der teilweise in Barack Obama richtig in's Licht mehreren Sprachen verlegten USIA-Broschüren (auch während des Vietnamkrieges) im ziell im 20. und 21. Jahrhundert – nicht ernsthaft Unklaren darüber gelassen wurden, aus welchen diskutieren, ohne sich mit Bildzensur auseinanQuellen die Fotos stammten. derzusetzen.

Ein „Sidestep“ ist die Geschichte der „White House Staff Photographers“. Überzeugend wird analysiert, welchen Prozess der Professionalisierung dieser spezielle Sektor der amerikanischen „Staatsfotografie“ durchgemacht hat.

Als Gegenstück wird die Bildagentur Zentralbild der DDR-Nachrichtenagentur ADN untersucht. „Eine der Schwierigkeiten, mit denen Zentralbild zu kämpfen hatte, war die dauerhafte Kritik an der sogenannten Protokollfotografie, die zu viel steifes Zeremnoniell imd zu wenig ‚lebendige, überzeugende Fotos‘ hervorbrachte.“ (S. 257)

Und natürlich („Agenten“ im geheimdienstlichen

Vowinckel räumt mit dem Irrglauben auf, dass Zensur auf diktatorische Regimes beschränkt wäre: „Ein Blick auf die Geschichte der Zensur zeigt, dass auch demokratische Staaten gelegentlich im zivilen Leben und fast immer im Krieg Zensurmaßnahmen ergriffen. Und es zeigt sich auch, dass es ein sehr breites Spektrum von Zensurmaßnahmen gab, die vom strikten Verbot der Publikation über steuernde Maßnahmen, zeitlich und räumlich begrenzte Einschränkungen und Verbote bestimmter Anwendungen, die Überwachung von Akteuren, die Erteilung von Berufsverboten, die Schließung von Institutionen bis zur Protektion und Subventionierung besonders erwünschter Beiträge reichten“. (S. 269).

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Neben der Schließung der staatlichen japanischen Nachrichten- und Bildagentur Domei durch die amerikanische Besatzungsmacht nach Kriegsende 1945 untersucht Vowinckel die Zensur im Nationalsozialismus. Bezüglich der Bildzensur in der DDR setzt sie sich vor allem mit dem „Gutachterwesen“ auseinander – und zeigt, wie breit hier der Gestaltungsraum der begutachtenden Experten war. Und wie überraschend „liberal“ manche Beurteilung ausfielen.

Ein Thema für sich ist die fotografische Evidenz. Meist wird hier an Fotos von NS-Verbrechen und deren Verwendung in Kriegsverbrecherprozessen oder Prozessen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gedacht.

Vowinckel verweist aber auch auf Beispiele aus Ungarn nach der Niederschlagung des (Arbeiter)Aufstands von 1956, als die siegreiche stalinistische Justiz Fotos aus Privatbesitz oder aus westlichen Zeitungen benutzte, um Einzelpersonen als „Konterrevolutionäre“ identifizieren und aburteilen zu können.

Da denkt unsereiner doch gleich auch an das mittlerweile in Österreich in Mode gekommene großräumige Abfotografieren von Demonstrationsteilnehmern durch die Polizei, auch wenn weit und breit kein strafbarer Tatbestand in Sicht ist. Und, siehe Zensur, an die großzügig ausgesprochenen Platzverbote für Journalisten bei Veranstaltungen wie dem „Akademikerball“ in Wien.

Evidenzfotografie – da muss natürlich noch Greg Marinovich (Südafrika) genannt werden,

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der mit seiner Reportage nach dem MarikanaMassaker (2012) wesentlich dazu beigetragen hat, den von der Polizei kaltblütig ermordeten streikenden Bergarbeitern zumindest ein ehrendes Andenken zu bereiten.

Unter den Fallbeispielen möchte ich besonders auf das Kapitel über „Fotojournalismus in Afrika“ verweisen. Natürlich sind auch Themen wie Faschismus und Antifaschismus, Kalter Krieg und Politische Subversion in der DDR , Vietnam etc. wichtig – gerade Afrika ist aber, wie ich glaube, ein besonders „unterbelichtetes“ Thema.

Abgesehen von ein paar kleinen Druckfehlern (einer bezüglich des Kongo ärgerlich) ist das Buch auch von Satz und Gestaltung her auf gewohnt hohem „Wallstein“-Niveau. Hier zeigen Autorin und Verlag, wie aufregend und faszinierend Wissenschaft sein kann. Ein Buch, das prinzipiell für eine sehr breite Leserschaft geeignet ist. Wer sich für Zeitgeschichte interessiert, oder wer beim Fotografieren über gelegentliche Schnappschüsse mit der Handycam hinausgekommen ist, wer über Fragen menschlicher Verantwortung nachdenkt oder ganz einfach Freude an einem anderen Blickwinkel auf die moderne Bilder- und Medienwelt hat, wird mit diesem Buch seine Freude haben. Anette Vowinckel Agenten der Bilder – Fotografisches Handeln im 20. Jahrhundert 480 Seiten, Wallstein-Verlag, € 34,90 (D) | € 35,90 (A)


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PORTFOLIO Auf den folgenden Seiten stelle ich euch ein paar Fotos vor, die Teil einiger Projekte sind, mit denen ich mich derzeit beschäftige. Die ersten vier Bilder erzählen eine Geschichte: „So it was". Die Fotos sind im Wiener Stadtpark entstanden - ich habe vom gleichen Standort aus innerhalb einer Stunde Fotos von der genau gegenüberliegenden Seite des Parks geschossen. Irgendwie hat sich dann daraus diese Anordnung ergeben, die eine Geschichte erzählt. Oder besser: Die Betrachterin, der Betrachter kann sich dazu seine Geschichte erfinden. Erstaunlich: Bisher haben die meisten Menschen, mit denen ich darüber gesprochen habe, eine Krimihandlung erfunden. Die im Anschluss folgenden drei Fotos sind Teil eines Projekts mit dem Arbeitstitel "Wien - Stadt der Nackten". Wenn man durch die Straßen Wiens geht und den Blick über die Hausfassaden schweifen lässt, kann man nur staunen, wo überall in der angeblich so prüden „guten alten Zeit" nackte Gestalten zu sehen waren.

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SO IT WAS

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SO IT WAS / 2

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SO IT WAS / 3

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SO IT WAS / 4

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Wien - StADT DER nACKTEN

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WIEN 9, NUSSDORFER STRASSE KARYATIDEN, ALSO SKULPTUREN WEIBLICHER FIGUREN MIT TRAGENDER FUNKTION IN DER ARCHITEKTUR WAREN IN WIEN ZUR GRÃœNDERZEIT SEHR BELIEBT

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WIEN 6, GUMPENDORFER STRASSE INWIEWEIT DIE KARYATIDEN TATSÄCHLICH EINE „TRAGENDE FUNKTION" HATTEN, SEI DAHINGESTELLT. DAS BÜRGERTUM GENOSS ES ABER OFFENSICHTLICH, EINEN HAUCH ANTIK KASCHIERTER EROTIK INS STADTBILD ZU BRINGEN.

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WIEN 7, MARIAHILFER STRASSE SPEZIELL IN DEN „GUTBÜRGERLICHEN" STADTVIERTELN SIND DIE MEHR ODER MINDER ÜPPIGEN DAMEN RECHT MASSIV VERTRETEN. ABER (UND DAS WERDEN EINIGE ANDERE FOTOS DOKUMENTIEREN) AUCH ZINSKASERNEN IN EHER ÄRMEREN BEZIRKEN WURDEN MIT NACKTHEIT BEHÜBSCHT.

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WARREN RICHARDSON, DIESJÄHRIGER PREISTRÄGER DES WORLD PRESS PHOTO AWARD. FOTOGRAFIERT IN WIEN (GALERIE WESTLICHT)


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