Märchen von Drachen & Dämonen

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Über dieses Buch »Der Kampf mit den Drachen und Dämonen, ein Lieblingsmotiv des europäischen Märchens, erinnert zunächst an den Kampf des Menschen mit wirklichen Untieren, ein Geschehen, das die Phantasie früherer Zeiten mit großer Gewalt beschäftigt haben muss. Gerade deshalb wird der Kampf mit dem Untier zum Symbol für den Kampf des Menschen überhaupt, den Kampf mit der feindlichen Umwelt, mit dem Bösen außerhalb und in uns, […].« (Max Lüthi) Für diese Sammlung haben wir einige der schönsten europäischen Drachen- und Dämonenmärchen ausgewählt.

Über die Herausgeber Sigrid Früh, Jahrgang 1935, studierte Germanistik und Volkskunde und ist eine der bekanntesten Märchenforscherinnen und Märchenerzählerinnen Deutschlands. In zahlreichen Seminaren und Vorträgen bringt sie Märchen einem breiten Publikum nahe. Sie lebt und arbeitet in Fellbach in der Nähe von Stuttgart. Weitere Informationen unter: www.sigrid-frueh.de Hariolf Reitmaier, Jahrgang 1951, stammt aus Heilbronn. Als gelernter Zeitungsredakteur hat er in fast allen journalistischen Sparten gearbeitet, u. a. bei der Rhein-Neckar-Zeitung, der Heilbronner Stimme, der Stuttgarter Zeitung, der Deutschen Presseagentur, Quick und der Abendpost-Nachtausgabe. Anfang der 80er Jahre wechselte er zum ZDF, wo er besonders im investigativen Bereich für die Redaktionen »heute«, »heute-Journal«, »Länderspiegel«, »Studio 1« und »Frontal«, zuletzt als stellvertretender Leiter des Landesstudios Baden-Württemberg tätig war.


MÄRCHEN DRACHEN UND DÄMONEN VON

Herausgegeben von Sigrid Früh und Hariolf Reitmaier


Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Originalausgabe Krummwisch bei Kiel 2011 © 2011 by Königsfurt-Urania Verlag GmbH D-24796 Krummwisch www.koenigsfurt-urania.com Umschlaggestaltung: Stefan Hose, Götheby-Holm, unter Verwendung eines Motivs aus »Das Keltische Drachen Tarot« Lektorat: Claudia Lazar Satz: Stefan Hose, Götheby-Holm Druck und Bindung: CPI Moravia Printed in EU ISBN 978-3-86826-023-6


INHALT Drachen Der goldene Held Dragan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Prinzessin in der Drachenburg . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die goldenen Äpfel und die neun Pfauhennen . . . . . . . .

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Das Ungeheuer Tarasque . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Kaiserin Wundersohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die beiden Soldatensöhne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

Der dreizehnte Sohn des Königs von Erinn . . . . . . . . . .

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Ragnar Lodbrok . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

König Lindwurm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Vom Drachen Gorynytsch und dem Helden Dobrynja . .

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Der Drachentrank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Drache im Schwarzen Wald . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Aschenhans und der Urlindwurm . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dämonen Der beherzte Flötenspieler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rattenkönig Birlibi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Zauberring und das Zauberschloss . . . . . . . . . . . . . .

123

Donner, Blitz und Wetter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Nachtheil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Schimmelchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Katzenkönig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Berend Fock bringt ein Kind an Land . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Mäher als Werwolf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die drei Werwölfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Werwolf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Drachen

DER GOLDENE HELD DRAGAN

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s war einmal und ist doch nie geschehen. Damals herrschte ein mächtiger Kaiser, der eine wunderschöne Tochter hatte. Doch eines Tages kam Unglück über sie und das Reich. Die furchtbaren Zmei, die Drachenriesen, raubten ihm Sonne und Mond vom Himmel, und die Dunkelheit im Lande war schwärzer als die Nacht. Da ließ der Kaiser überall verkünden, dass der, der ihm Sonne und Mond zurückbringe, seine Tochter zur Frau bekäme und das halbe Reich dazu. Wer sich aber zu den Drachenriesen aufmache und mit leeren Händen zurückkehre, der müsse es mit seinem Leben bezahlen. Da machten sich viele auf den Weg, doch bei allen war es für die Blüten des Apfelbaumes, und alle mussten es mit ihrem Leben bezahlen, denn der Kaiser war unerbittlich. Nun lebte in des Kaisers Reich auch der goldene Held Dragan, dessen Kreuzbruder ein zauberkundiger Schmied war. Als eines Tages der goldene Held Dragan die Kaisertochter um Sonne und Mond weinen sah, bekam er sie über die Maßen lieb. Da nahm nun der Held seinen Mut zwischen die Zähne, trat vor den Thron des Kaisers und verkündete, dass er ausziehen werde, um Sonne und Mond zurückzubringen. Er machte sich auf den Weg, und sein Bruder begleitete ihn. Zuerst aber gingen sie zu dem zauberkundigen Schmied, und Dragan sprach: »Kreuzbruder, der Tod zieht mich mit einem Faden zu sich heran, hilf mir, dass ich mit reinem Gesicht aus dieser Gefahr gehe.« Der Schmied lehrte Dragan drei Tage lang seine Künste, und als die drei Tage und

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die drei Nächte vorüber waren, wanderte der Held Dragan mit seinem Bruder davon. Die Brüder wanderten, bis sie zu einem Kreuzweg kamen, dort nahmen sie Abschied voneinander. Zuvor aber stieß Dragan ein blankes Messer in einen Baum und sprach: »Hierher wollen wir wieder zurückkehren, wer zuerst kommt und findet das Messer rostig, soll auf den anderen nicht mehr warten, denn er ist dann gestorben.« Dann wanderte Dragan nach Westen und der Bruder, den man den Guten nannte, nach Osten. Der Bruder wanderte lange, ohne die Drachenriesen zu finden. Als er wieder zu dem Baum am Kreuzweg zurückkam und das Messer blank fand, war er voller Freude und wartete, bis Dragan Sonne und Mond befreien würde. Der goldene Held Dragan aber wanderte seinen Weg immer weiter, er wanderte bis zum Ende der Welt, wo der Teufel seine Jungen entwöhnte. Dort stand das Haus der Drachen. Der goldene Held Dragan aber schlug drei Purzelbäume, war in einen Vogel verwandelt und flatterte ins Drachenhaus. Die Drachin stand mit ihren zwei Töchtern am Herd. Wie die Drachin den Vogel erblickte, schrie sie: »Kein Vogel ist dies, mir scheint, dass der goldene Held Dragan ins Haus gekommen, der uns Unheil bringen wird, darum fangt und erwürgt den Vogel.« Da verwandelte sich der goldene Held Dragan in eine Fliege und verbarg sich in einer Mauerritze, bis er gehört hatte, wo die drei Drachenriesen waren. Er eilte in den Wald Schattengrün, in dem die drei Drachenriesen jagten, und verbarg sich unter einer Brücke, über welche diese heimkehrten. Als der Abend seine Schatten warf, kam der jüngste Drachensohn geritten. An der Brücke bäumte sich sein Ross und wich drei Schritte zurück. »Mögen dich die Wölfe zerreißen, du Schindmähre, nichts auf der Welt kann uns erschrecken als der goldene Held Dragan, und auch den werde ich überwinden, sollte ich ihn treffen«, rief der Drachensohn.

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Da sprang Dragan unter der Brücke hervor: »Her mit dir, Drachensohn, rühme dich nicht, sondern kämpfe.« Der jüngste Drachensohn sprang von seinem Ross: »Entscheide dich für Schwertkampf oder Ringkampf.« – »Ringkampf ist ehrlicher«, rief der goldene Held Dragan, und sie umschlangen sich und begannen zu ringen. Bis zu den Knien in der Erde, warf der jüngste Drachensohn den goldenen Helden in den Boden, aber der goldene Held Dragan befreite sich, drückte den Drachensohn bis zum Hals in die Erde, dann zog er sein Schwert und hieb ihm den Kopf ab. Als die Mitternacht nahte, kam der zweite Drachensohn geritten. An der Brücke bäumte sich sein Ross und wich sieben Schritte zurück. »Mögen dich die Wölfe zerreißen, du Schindmähre, nichts auf der Welt kann uns erschrecken als der goldene Held Dragan, und auch den werde ich überwinden, sollte ich ihn treffen«, rief der zweite Drachensohn. Dragan sprang wieder unter der Brücke hervor und rief: »Her mit dir, Drachensohn, rühme dich nicht, sondern kämpfe.« Wieder entschied sich Dragan für Ringkampf. Bis zur Hüfte warf der mittlere Drachensohn den goldenen Helden in den Boden, aber Dragan befreite sich, drückte den Drachensohn bis zum Kopf in die Erde, dann zog er sein Schwert und schlug ihm den Kopf ab. Als der Morgen graute, kam schwarz wie die Finsternis der Hölle der älteste Drachensohn zur Brücke geritten. An der Brücke bäumte sich sein Ross und wich zwölf Schritte zurück. »Mögen dich die Wölfe zerreißen, du Schindmähre, nichts auf der Welt kann uns erschrecken als der goldene Held Dragan, und auch den werde ich überwinden, sollte ich ihn treffen«, rief der älteste Drachensohn. Dragan sprang erneut unter der Brücke hervor: »Her mit dir, Drachensohn, rühme dich nicht, sondern kämpfe!« Der älteste Drachensohn sprang vom Ross: »Entschei-

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de dich für Schwertkampf oder Ringkampf!« – »Ringkampf ist ehrlicher!«, rief der goldene Held Dragan, und sie umschlangen sich und begannen zu kämpfen und zu kämpfen, dass der Schweiß von ihnen rann. Die Sonne stand hoch im Mittag und noch neigte sich der Sieg nach keiner Seite. Da flog ein Rabe über sie. »Rabe, du schwarzer Rabe«, rief der Drachenriese, »bring mir einen Krug voll süßen Wassers, und ich verspreche dir den goldenen Helden Dragan zum Fraße!« Doch Dragan rief: »Rabe, du schwarzer Rabe, bringe mir einen Krug voll süßen Wassers, und ich gebe dir drei Drachenriesen samt ihren Pferden zum Fraß.« Da brachte der Rabe dem goldenen Helden Dragan das Wasser, und als dieser davon getrunken hatte, kehrte alle Kraft in ihn zurück, ja sie verdreifachte sich sogar, und bis zum Hals drückte er den Drachenriesen in die Erde und rief: »Gestehe, wo hast du Sonne und Mond verschlossen?« Der Drachenriese spürte, dass er seine Macht verloren, und sprach: »Im Walde Schattengrün, wo er am finstersten ist, steht ein Turm, meine rechte Hand ist der Schlüssel dazu, und in diesem Turm habe ich Sonne und Mond eingeschlossen.« Da schlug der goldene Held Dragan dem Drachenriesen den Kopf und die rechte Hand ab, gab die drei Riesen samt ihren Pferden dem Raben zum Fraße und drang in den Wald Schattengrün ein. Dort, wo er am finstersten war, stand der verschlossene Turm. Dragan schloss ihn mit der rechten Hand des Drachenriesen auf, und Sonne und Mond strahlten ihm entgegen. Dragan ergriff die Sonne mit seiner Rechten und mit seiner Linken den Mond und warf beide zum Himmel empor. Danach kehrte er zum Kreuzweg zurück und umarmte seinen Bruder. Die Brüder nahmen zwei Pferde, um schneller als der Wind am Kaiserhof zu sein. Da stand am Wege ein Birnbaum voll goldgelber Birnen. »Wir haben Hunger und Durst«, sprach der Bruder, »lass uns von diesen Birnen essen.« Doch Dragan zog sein Schwert und stieß es in

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die Wurzeln des Birnbaumes. Siehe, da floss Blut und Gift heraus, und die Stimme der jüngsten Drachentochter ertönte: »Nun tötest du mich wie bei der Brücke den Bruder«, und der Birnbaum zerfiel in ein Häuflein Staub. Weiter ritten sie, bis ein herrlicher Garten am Wege sich ausbreitete. Die schönsten Blumen blühten darin, und ein silbernes Wasser floss hindurch. »Lass uns hier rasten«, bat der Bruder, »und von dem Wasser trinken.« Doch Dragan fuhr mit seinem Schwert durch Blumen und Wasser. Siehe, da trübte sich das Wasser und färbte sich rot. Gift und Blut flossen aus den Blumen, und die Stimme der ältesten Drachentochter ertönte: »Nun tötest du mich wie bei der Brücke den Bruder.« Der Garten stürzte zusammen, und ein Häuflein Asche war alles, was übrig blieb. Weiter ritten die Brüder, doch der goldene Held Dragan wusste, dass die größte aller Gefahren noch bevorstand. »Schau hinter dich, Bruder, was siehst du?«, rief er. »Eine Wolke, dunkler als die Nacht, schneller als der Wirbelwind, ist hinter uns her.« – »Ach, dies ist die Drachenmutter selbst, die kommt, um uns zu verschlingen.« Sie trieben die Pferde an, und schneller als der Gedanke flogen sie dahin, bis sie beim Kreuzbruder, dem zauberkundigen Schmied, ankamen und hinter seiner Tür Schutz fanden. Draußen schrie die Drachenmutter und spuckte Feuer vor Zorn. Doch dann versuchte sie es mit List und Heuchelei. Schmeichelnd sprach sie: »Nur ein winziges Loch, Dragan, breche in die Mauer, damit ich deine Schönheit schaue.« In Wahrheit aber wollte sie ihr Gift durch das Loch sprühen und den goldenen Helden vernichten. Der Kreuzbruder bohrte ein Loch in die Mauer, und als die Drachin den goldenen Helden aufsaugen wollte, stieß er ihr ein Stück glühendes Eisen in den Rachen, und siehe, die Drachin verwandelte sich in einen Berg von Eisen. Da schmiedete der zauberkundige Schmied aus dem Eisen eine Kutsche mit sieben Pferden, hauchte die Pferde an,

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und sie waren lebendig. Der goldene Held Dragan aber und sein Bruder, der Gute, setzten sich in die Kutsche und fuhren davon. Unterwegs band Dragan das siebente Pferd los, damit der gute Bruder vorausreite und dem Kaiser seine Ankunft melde. Doch als der Held selbst zum Kaiserhof kam, lag der gute Bruder im Kerker, und die Hochzeit der Kaisertochter wurde mit einem anderen vorbereitet. Als Sonne und Mond wieder am Himmel standen und die Finsternis vergangen war, da jauchzten und jubelten die Menschen und lobten Gott und den Helden. Nur ein böser Thronrat, dessen Herz voller Neid war, stimmte nicht in den Jubel ein. Er schloss mit dem Teufel einen Pakt, und mit Hilfe des Teufels verblendete er den Kaiser, dass dieser glaubte, er habe Sonne und Mond befreit. Der goldene Held Dragan trat vor den mächtigen Kaiser, zeigte die Hand des Drachen und sprach: »Erleuchteter Kaiser, dies ist der Schlüssel, mit dem der Turm verschlossen war, in dem Sonne und Mond gefangen waren.« Jetzt sah der Kaiser seinen Irrtum ein, er wollte den Thronrat töten, aber der goldene Held bat um Gnade für ihn, da wurde er verbannt. Der gute Bruder wurde aus dem Kerker geholt, und die Hochzeit des goldenen Helden Dragan und der Kaisertochter wurde mit großer Pracht gefeiert. Auch ich war beim Fest dabei. Ich führte das Brennholz auf dem Bratspieß ins Haus und trug die Späße im Kochkessel zu Tisch. Zuletzt schwang ich mich auf den Löffel aus Buchenholz und gab jedem, der meiner Geschichte nicht zuhören wollte, einen Nasenstüber. Märchen aus Rumänien

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DIE PRINZESSIN IN DER DRACHENBURG

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s war einmal ein König, der war groß und mächtig. Über viele Reiche und Länder herrschte er. Er hatte einen einzigen Sohn. Als dieser herangewachsen war, zog er hinaus in die Welt, um sich eine Braut zu suchen. Aber wohin er auch reiste, nirgendwo fand der Königssohn das Mädchen, dessen Bild er in seinem Herzen trug. Endlich gelangte er auf den Gipfel eines hohen Berges. Dort stand ein Turm und in diesem Turm wohnte ein ururalter Mann, dessen Bart bis zum Erdboden reichte. Der Alte aber war ein Sternseher, und als der Königssohn ihm gesagt hatte, dass er nach einer Braut suche, da nahm er sein Fernrohr und schaute hindurch und sprach: »Deine Braut ist eine Prinzessin, die in einer Burg von drei Drachen gefangen gehalten wird. Die Burg aber steht auf einem hohen Berge inmitten einer einsamen Insel, die von Stürmen umtobt ist. Es ist schwer, dorthin zu gelangen, und es ist noch schwerer, die Drachen zu besiegen.« Der Prinz dankte dem Weisen, schwang sich auf sein Ross, nahm sein scharfes Schwert in die Hand und vertraute auf Gott. Als er so lange, lange Zeit in der Welt umhergeritten war, begegnete ihm eines Tages eine alte Frau, die fragte ihn, wohin er gehe. Als sie vernahm, dass er zu der Burg der drei Drachen wollte, sprach sie: »Oh, es ist schwer, mit den Drachen zu streiten. Aber wenn du mir einen Dienst erweisen willst, so will ich dir gerne helfen. Wisse, ich hatte eine Tochter, die war die Schönste weit und breit. Als sie herangewachsen war, da kam ein Drache geflogen und raubte sie

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mir. Seitdem bin ich um die ganze Welt gewandert und habe sie gesucht. Ich habe sie bis zum heutigen Tage nicht gefunden. Suche sie mir auf deinem Wege und ich will dir ein Döschen wunderkräftiger Salbe geben. Wenn du damit deinen Leib bestreichst, wird Kraft in dich zurückkehren, die dich verlassen hat.« Der Jüngling dankte der Alten, versprach, nach ihrer Tochter zu suchen und ritt weiter in die Welt hinaus. Als er so viele, viele Tage und Nächte in der Welt herumgeritten war, begegnete ihm eines Tages ein alter, gebrechlicher Mann und der Königssohn sah, dass ihn großer Kummer plagte und fragte ihn nach der Ursache seiner Betrübnis: »Ach«, antwortete der Alte, »siebenmal bin ich um die Welt gereist und über die Meere gezogen und habe nach dem Schatz gesucht, den mir ein Drache geraubt hatte. Doch all meine Mühe war vergebens.« »Ich bin auf dem Wege zur Burg der drei Drachen, denn dort ist ja meine geliebte Braut. Wenn ich deinen Schatz finde, so will ich ihn dir gerne bringen.« »Der Himmel segne dich, mein Sohn. Hier nimm diesen Beutel mit Samen. Wenn du diese Samenkörner gegen harten Felsen wirfst, so wird er zerspringen.« Der Königssohn dankte dem Alten, gab seinem Ross die Sporen und ritt weiter in die Welt hinaus. Er ritt und ritt, viele Tage und viele Nächte ritt er so dahin. Endlich gelangte er zum Meeresufer. Weit draußen in der Ferne sah er die felsige Dracheninsel. Traurig setzte er sich am Ufer nieder, denn wie sollte er jemals hinüberkommen? Auf einmal kam ein riesengroßer schwarzer Rabe geflogen und sprach mit menschlicher Stimme: »Wer bist du? Was willst du hier an diesem öden Strand?« »Ich möchte auf diese Insel dort hinübergelangen und meine Braut von dem Drachen befreien, denn sie wird ja in der Drachenburg gefangen gehalten.«

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»So bist du der Königssohn, auf den ich schon einundzwanzig Jahre warte. Steig auf meinen Rücken und ich werde dich hinüberbringen.« Der Jüngling stieg auf den Rücken des Raben und dieser flog mit ihm schneller als der Wind durch die Lüfte. Der Weg aber war weit und dem Vogel erlahmten die Kräfte. Der Königssohn aber nahm von seiner Salbe und bestrich den Leib des Raben damit und siehe, dessen Kräfte kehrten wieder zurück, und er brachte ihn heil auf die Felseninsel. Der Königssohn dankte dem Vogel und kletterte an den steilen Felsen empor. Auf einmal kam ein dreiköpfiger Drache herbeigeflogen und er spie Rauch und Feuer und Schwefel. Rasch bestrich der Prinz seinen Leib mit der wunderkräftigen Salbe und er kämpfte mit dem Untier. Nach langem Gefecht gelang es ihm, die drei Köpfe des Drachen abzuschlagen. Voller Freude betrat er nun die Burg und da saß in einer Kammer die Prinzessin. Sie war so wunderschön, wie der Jüngling noch nie eine gesehen hatte, und sie war schöner als ihr Bild, das er in seinem Herzen getragen hatte. Sie war voller Freude, als sie den dreiköpfigen Drachen tot am Boden liegen sah. Dann aber sprach sie: »Wir müssen auf der Hut sein, denn bald kommen die beiden andern Drachen zurück, und wenn sie dich sehen, verschlingen sie dich mit Haut und Haar!« Kaum aber hatte sie diese Worte gesprochen, da hörte man ein Sausen und Brausen in der Luft. Ein Drache mit sechs Köpfen kam geflogen und spie Feuer, Rauch und Schwefel. Schnell bestrich der Jüngling seinen Leib mit der wunderkräftigen Salbe und nach langem, langem Kampf gelang es ihm, dem Drachen alle sechs Köpfe abzuschlagen. Glücklich umarmte und küsste ihn die Prinzessin. Dann aber sprach sie: »Eile, verstecke dich in der Truhe. Gleich wird der dritte Drache kommen und der ist schrecklicher als die beiden ersten.«

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Kaum hatte der Königssohn den Truhendeckel über seinem Haupt geschlossen, da hörte man auch schon ein Sausen und Brausen gleich einem Erdbeben. Herein kam der dritte Drache geflogen und er hatte neun Köpfe und spie Feuer und Flammen, Rauch und Schwefel und schrie mit gewaltiger Stimme: »Es riecht nach Menschenfleisch!« »Nein, nur ein Rabe hat einen Menschenknochen fallen lassen«, sprach die Prinzessin. Da setzte sich der Drache an den Tisch und fraß neun Stiere, die er vorher gefangen hatte. »Diese Nacht träumte mir, es käme eine alte Frau und fragte mich, wo ihre Tochter geblieben sei«, sprach die Prinzessin. »Das war dein Glück. Hättest du gesagt, dass du es selber bist, ich hätte dich gefressen bei lebendigem Leib.« »Und dann träumte mir von einem Mann, der war sieben Jahre um die Welt gereist und hat doch nie mehr seinen Schatz gefunden.« »Das war dein Glück. Hättest du ihm gesagt, dass ich es selber bin, der seinen Schatz besitzt, so hätte ich dich gefressen, ungesotten und ungebraten.« Unterdessen hatte der Königssohn alles wohl vernommen und sich den Leib mit dem Rest der wunderkräftigen Salbe bestrichen. Er sprang mit einem Male aus der Truhe und kämpfte mit dem Drachen. Lange, lange tobte der Kampf. Endlich aber gelang es ihm, dem Drachen alle neun Köpfe abzuschlagen. Zu Tode ermattet sank der Königssohn nieder. Da bestrich ihm die Prinzessin die Stirn mit ein wenig Drachenblut und sogleich kehrte wieder alle Kraft in ihn zurück und sie gingen miteinander in die Schatzhöhle. Dort aber war das Tor mit einem riesigen Felsbrocken verschlossen. Da gedachte der Jüngling seiner Samenkörner und warf sie gegen den Felsen. Da zerbarst dieser mit gewaltigem Krachen und gab die Schatzkammern des Drachen frei, die

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unermessliche Mengen Gold, Silber und kostbarer Geschmeide bargen. Sie fanden auch den Schatz des alten Mannes. Da rief der Prinz nach dem Raben und gab ihm von dem Drachenblut zu trinken, denn von der Salbe war nichts mehr übrig geblieben. Der Rabe wurde davon so stark, dass er den Prinzen und die Prinzessin samt all ihrer Schätze ans andere Ufer tragen konnte. Noch ehe die beiden ihm danken konnten, hatte er sich in die Lüfte erhoben und ward nicht mehr gesehen. Bald aber begegneten sie dem alten Mann und der war froh und glücklich, seine Schätze wieder zu haben. Es dauerte nicht lange, so begegnete ihnen auch die alte Frau, die Königin, die ihre Tochter in die Arme schloss. Alle zogen sie dann zusammen an den Königshof, in dem der Vater des Jünglings regierte. Am selben Tage noch wurde dort die Hochzeit gefeiert. Viele Tage und viele Nächte lang feierte und jubelte das Volk, und wenn sie nicht gestorben sind, so feiern sie noch heute. Märchen aus Norddeutschland

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DIE GOLDENEN ÄPFEL UND DIE NEUN PFAUHENNEN

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s war einmal ein Zar, der hatte drei Söhne und vor seinem Palast einen goldenen Apfelbaum, der jede Nacht erblühte und reife Früchte brachte. Aber irgendwer pflückte sie, und man konnte nicht entdecken wer. Einmal sprach der Zar mit seinen Söhnen darüber: »Wo bleibt nur die Frucht von unserem Apfelbaum?« Darauf sagte der Älteste: »Ich werde diese Nacht den Apfelbaum bewachen und sehen, wer da pflückt.« Als es nun Abend wurde, legte er sich unter den Baum, um ihn zu bewachen, aber als die Äpfel gerade am Reifen waren, schlief er ein, und als er in der Frühe erwachte, war der Apfelbaum leer. Da ging er zu dem Vater und erzählte ihm alles getreulich. Darauf erbot sich der zweite Sohn, den Apfelbaum zu bewachen, aber es ging ihm ebenso: Er schlief unter dem Baume ein, und als er in der Frühe erwachte, waren die Früchte verschwunden. Jetzt kam die Reihe an den jüngsten Sohn, den Baum zu bewachen; er machte sich fertig, trug sein Bett unter den Baum und legte sich schlafen. Gegen Mitternacht erwachte er und warf einen Blick auf den Baum, die Äpfel waren gerade im Reifen, und der ganze Palast erglänzte von ihnen. In dem Augenblick kamen neun goldene Pfauhennen geflogen, acht ließen sich auf dem Apfelbaum nieder, die neunte zu ihm auf das Bett, und sie ver wandelte sich in ein Mädchen, wie es kein schöneres im ganzen Reiche gab. So herzten und küssten sich die beiden bis nach Mitternacht, dann stand das Mädchen auf und dankte ihm für die Äpfel, er aber bat sie, ihm wenigstens einen zu lassen, und sie ließ ihm zwei, einen für sich und den andern sollte er seinem Vater bringen; darauf

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verwandelte sich das Mädchen wieder in eine Pfauhenne und flog mit den anderen davon. Als es Tag wurde, stand der Zarensohn auf und brachte seinem Vater die zwei goldenen Äpfel. Dem war das sehr lieb, und er lobte seinen jüngsten Sohn. Am nächsten Abend richtete sich dieser wieder so ein wie vorher, bewachte wieder den Baum und brachte am nächsten Morgen dem Vater wieder zwei goldene Äpfel. Als er so einige Nächte nacheinander verfahren war, fingen die Brüder an, es ihm übel zu nehmen, dass sie die Äpfel nicht hatten bewachen können und er es jede Nacht vermocht hatte. Gerade zu der Zeit fand sich ein verfluchtes altes Weib ein, das ihnen versprach, den jüngsten Bruder zu ertappen und herauszubringen, wie er den Apfelbaum bewache. Als es wieder Abend war, schlich sich die Alte unter den Apfelbaum, kroch unter das Bett und versteckte sich dort. Darauf kam auch der jüngste Zarensohn, und er legte sich schlafen wie früher. Um Mitternacht, siehe da, die neun Pfauhennen, acht lassen sich auf dem Baum nieder, die neunte zu ihm auf das Bett und ver wandelt sich in ein Mädchen. Da nahm die Alte ganz leise eine Haarflechte des Mädchens, die über das Bett heraushing, und schnitt sie ab, das Mädchen aber fuhr auf, verwandelte sich in die Pfauhenne und flog davon, und die andern aus dem Baume mit ihr. Da sprang auch der Zarensohn auf und rief: »Was ist das?« Dabei fasste er unter das Bett, ergriff die Alte und zog sie hervor; und am nächsten Morgen ließ er sie Pferden an die Schweife binden und in Stücke reißen. Die Pfauhennen aber kamen nicht mehr zum Apfelbaum, und darüber klagte und weinte der Zarensohn in einem fort. Endlich beschloss er, in die weite Welt zu gehen und seine Pfauhenne zu suchen und nicht eher heimzukehren, bis er sie gefunden habe. Damit ging er zu seinem Vater und sagte ihm, was er beschlossen habe.

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Der Vater wollte ihn davon abbringen und redete ihm zu, es zu lassen, er werde ihm ein anderes Mädchen aus seinem Reiche verschaffen, welches er wolle. Aber das war ganz vergeblich, der Zarensohn machte sich auf und zog mit nur noch einem Diener in die Welt, seine Pfauhenne zu suchen. Nach langer Wanderung kam er an einen See, fand dort einen großen reichen Palast und darin eine alte Frau, eine Zarin, und ein Mädchen, ihre Tochter. Die Alte fragte er: »Ich bitte dich um Gottes willen, Mütterchen, weißt du etwas von neun goldenen Pfauhennen?« Darauf antwortete die Alte: »Ja, mein Sohn, sie kommen jeden Mittag hierher an diesen See und baden, aber lass du die Pfauhennen fahren, hier hast du meine Tochter, ein schönes Mädchen, und viel Geld und Gut, das soll alles dein sein.« Er aber konnte kaum erwarten, die Pfauhennen zu sehen, und wollte nicht einmal anhören, was die Alte von ihrer Tochter sagte. Am nächsten Morgen stand er auf und begab sich an den See, um die Pfauhennen zu erwarten. Die Alte aber hatte den Diener bestochen, ihm den kleinen Blasebalg gegeben und ihm gesagt: »Du siehst diesen Blasebalg; wenn ihr an den See kommt, blase ihm unbemerkt in den Nacken, nur ganz wenig, dann wird er einschlafen und kann sich nicht mit den Pfauhennen bereden.« Der unselige Diener tat das auch. Als sie an den See gekommen waren, fand er eine Gelegenheit, seinem Herrn mit dem Blasebalg in den Nacken zu blasen, und der Arme schlief sogleich ein wie tot. Kaum war er eingeschlafen, da erschienen die neun Pfauhennen, acht ließen sich am See nieder, die neunte zu ihm aufs Pferd, umarmte ihn und versuchte ihn zu wecken: »Wach auf, mein Labsal! Wach auf, mein Herz! Wach auf, meine Seele!« Aber er merkte nichts, als wäre er tot; und die Pfauhennen,

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