Märchen von den Sternen

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Über dieses Buch Von jeher galten wohl den Gestirnen Fragen, Wünsche und Sehnsüchte. Die unheimliche und chaotische Welt der Urzeit wurde für die Menschen zwar überschaubarer, als sie natürliche und immer wiederkehrende Zyklen bei Sonne, Mond und Sternen erkannten. Dennoch entstanden viele phantastische Geschichten rund um die Sterne und Planeten, zu denen man vormals auch Sonne und Mond zählte. Die Herausgeberin hat Altes und Neues gesichtet und diesen vorliegenden herrlich funkelnden Band zusammengestellt.

Über die Herausgeberin Sigrid Früh, Jahrgang 1935, studierte Germanistik und Volkskunde und ist eine der bekanntesten Märchenforscherinnen und Märchenerzählerinnen Deutschlands. Mit zahlreichen Publikationen, Seminaren und Vorträgen bringt sie Märchen einem breiten Publikum nahe. Zu der Ehrenplakette der Stadt Fellbach, dem Wildweibchenpreis und anderen Auszeichnungen wurde ihr im Mai 2011 die Sebastian-SailerMedaille in Würdigung und Anerkennung ihrer Verdienste um die schwäbische Mundart verliehen. Sie lebt und arbeitet in Fellbach in der Nähe von Stuttgart. Weitere Informationen unter: www.sigrid-frueh.de


M채rchen von den

Sternen Herausgegeben von Sigrid Fr체h


Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Sonderausgabe 2012 Krummwisch bei Kiel © 2012 by Königsfurt-Urania Verlag GmbH D-24796 Krummwisch www.koenigsfurt-urania.com Umschlaggestaltung: Jessica Quistorff, Rendsburg, unter Verwendung des folgenden Motivs von Fotolia.com: Night hanging stars on the sky. © dannywilde Satz: Stefan Hose, Götheby-Holm Lektorat: Claudia Lazar, Kiel Druck und Bindung: CPI Moravia Printed in EU ISBN 978-3-86826-035-9


Inhalt

Sternenmärchen Wie die Sterne entstanden sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Sterntaler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Sterne am Himmel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wie die Milchstraße an den Himmel kam . . . . . . . . . .

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Morgenstern und Abendstern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wie der Abendstern entstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Knaben mit den goldenen Sternlein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Der Sternenknabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

Der große Stern verneigt sich vor dem kleinen Stern . .

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Das Siebengestirn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Pulia und Morgenstern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zistel im Körbel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sonne, Mond und Sterne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Geschwister so schön wie Sonne, Mond und Morgenstern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Sternenring, der Mondenring und der Sonnenring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Borstenkind. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Als die Erde entstand, die Menschen und die Hunde . .

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Die Sternkinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die weiße Amsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Schwanentochter des Zacharias. . . . . . . . . . . . . . . . 104

Mondmärchen Der Mond . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Der Mond und seine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Das Märchen vom Mann im Monde . . . . . . . . . . . . . . . 117 Der Mond auf Zechtour. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Die begrabene Mondfrau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Der weiße Wolf, der König und der schwarze Jäger . . . 126 Sonne, Mond und Wind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Die Sonne und der Mond. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Begegnung mit der Sonne und dem Mond . . . . . . . . . . 136

Sonnenmärchen Die Entführung der Sonne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Der Mann, der den Sonnenjüngling zum Schwager hatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Sonnenkringel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Das Sonnenschloss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Das Sonnenross . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Die Sonnenmutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189


Sternenmärchen ! Wie die Sterne entstanden sind

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isst ihr, wie die Sterne entstanden sind? Einmal erzählte ein alter Mann: Hoch oben über der Welt der Menschen wölbt sich der Himmel. Dort leuchtet ewiges Licht, durch alle Räume tönt ein tausendstimmiger Chor. Das ist der Gesang der Geister. Und das Licht dort oben ist so gewaltig, wie es in unserer Welt nur die Sonne ist. Von der Erde aus können wir bloß die Außenseite des Himmelsbodens sehen. Der aber ist auf der Innenseite so glatt und blank, dass Gottvater sich auf einen langen Stock stützen muss, wenn er darüber schreitet. Während seiner jahrtausendlangen Wanderung sind in der Diele lauter Löcher entstanden. Das sind die Sterne. Märchen aus Norwegen

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DieSterntaler Sterntaler Die

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ss war war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter Mutter gestorben, gestorben, und es war so arm, dass es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte. Es war aber gut und fromm. Und weil es so von aller Welt verlassen war, ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld. Da begegnete ihm ein armer Mann, der sprach: »Ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so hungrig.« Es reichte ihm das ganze Stückchen Brot und sagte: »Gott segne dir’s«, und ging weiter. Da kam ein Kind, das jammerte und sprach: »Es friert mich so an meinem Kopfe, schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken kann.« Da tat es seine Mütze ab und gab sie ihm. Und als es noch eine Weile gegangen war, kam wieder ein Kind und hatte kein Leibchen an und fror: Da gab es ihm seins, und noch weiter, da bat eins um ein Röcklein, das gab es auch von sich hin. Endlich gelangte es in einen Wald, und es war schon dunkel geworden, da kam noch eins und bat um ein Hemdlein, und das fromme Mädchen dachte: »Es ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand, du kannst wohl dein Hemd weggeben«, und zog das Hemd ab und gab es auch noch hin. Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel und waren lauter harte blanke Taler, und ob es gleich sein Hemdlein weggegeben, so hatte es ein neues an und das war vom allerfeinsten Linnen. Da sammelte es sich die Taler hinein und war reich für sein Lebtag. Märchen der Brüder Grimm

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Sterneam am Himmel DieDieSterne Himmel

DE

s swar wareinmal einmalein einkleines kleinesMädchen, Mädchen, das das weinte vom Morgen genbis biszum zum Abend, Abend, es es wollte wollte die die Sterne vom Himmel haben, um damit zu spielen. Kein Spielzeug war ihr recht, sie verlangte immer nur nach den Sternen. So ging sie denn eines Tages fort, um sie zu suchen. Und endlich kam sie zu einem Mühlenwehr. »Guten Tag«, sagte sie, »ich suche die Sterne vom Himmel, um damit zu spielen, hast du keine gesehen, Wehr?« »Jawohl, mein hübsches Kind«, sagte das Wehr, »sie scheinen mir in der Nacht gerade ins Gesicht, so dass ich nicht schlafen kann. Spring’ nur herein, vielleicht findest du einen.« Sie sprang hinein und schwamm immer weiter und weiter, aber sie sah keinen einzigen Stern. Da ging sie weiter, bis sie zu einem Bächlein kam. »Guten Tag, Bächlein«, sagte sie, »ich suche die Sterne vom Himmel, um damit zu spielen, hast du keine gesehen, Bächlein?« »Oh ja, mein schönes Kind«, sagte das Bächlein, »in der Nacht scheinen sie an meinen Ufern. Plätschere nur ein wenig herum, vielleicht findest du einen.« Sie sprang hinein und plätscherte und plätscherte, aber sie fand keinen einzigen Stern. Da ging sie weiter, bis sie zu den Elfen kam. »Guten Tag, liebe Elfen«, sagte sie, »ich suche die Sterne vom Himmel, um damit zu spielen, habt ihr vielleicht einen gesehen?« »Gewiss, mein liebes Kind«, sagten die Elfen, »des Nachts scheinen sie auf das Gras. Tanze mit uns, da wirst du vielleicht einen finden.« Und sie tanzte und tanzte, aber sie fand keinen einzigen Stern. Da setzte sie sich hin, und sie weinte. 9


»Ach, liebe, gute Elfen«, sagte sie, »ich bin geschwommen und habe geplätschert und getanzt und wenn ihr mir nicht helft, so werde ich niemals die Sterne vom Himmel finden und ich möchte so gern mit ihnen spielen!« Da flüsterten die Elfen miteinander und eine von ihnen trat auf sie zu, fasste sie an der Hand und sagte: »Wenn du nicht zu deiner Mutter heimkehren willst, so geh’ immer weiter und weiter, aber nimm dich in Acht, dass du den richtigen Weg nicht verfehlst. Bitte Vierfuß, dich zu Ohnefuß zu tragen, und bitte Ohnefuß, dich zur Treppe ohne Stufen zu bringen, und wenn du die erklettern kannst, so … « »Ach, werde ich dann bei den Sternen am Himmel sein?«, fragte das Mädchen. »Wenn du nicht dort bist, so wirst du anderswo sein«, sagten die Elfen und begannen wieder zu tanzen. Frohen Mutes ging sie weiter, bis sie ein Pferd traf, das war an einen Baum gebunden. »Guten Tag, Pferd«, sagte sie, »ich suche die Sterne vom Himmel, um damit zu spielen. Willst du mich ein wenig tragen? Denn alle Glieder tun mir weh.« »Nein«, erwiderte das Pferd, »ich weiß nichts von den Sternen am Himmel. Und ich bin hier, um den Willen der Elfen zu tun, nicht was mir gefällt.« »Aber ich komme ja von den Elfen«, sagte sie, »und ich soll dir von ihnen ausrichten, du möchtest mich zu Ohnefuß tragen.« »Das ist was anderes«, sagte das Pferd, »steige auf und komme mit.« Sie ritten weiter und immer weiter, bis sie aus dem Walde herauskamen und sich am Ufer des Meeres befanden. Auf der Wasserfläche vor ihnen glänzte ein langer, gerader Pfad und am Ende desselben erhob sich ein wunderschönes Ding aus dem Wasser, geradewegs zum Himmel hinauf. Und das hatte alle Farben von der Welt, blau, rot und grün und sah wunderbar aus. 10


»Nun steige aber ab«, sagte das Pferd, »ich habe dich dorthin gebracht, wo das Land aufhört, und mehr kann Vierfuß nicht tun. Jetzt muss ich zu meinen Leuten zurück.« »Aber wo ist denn Ohnefuß?«, fragte das Mädchen, »und wo ist die Treppe ohne Stufen?« »Das weiß ich nicht«, erwiderte das Pferd, »es geht mich auch weiter nichts an. Lebe wohl, mein Kind«, und damit war es fort. Das Mädchen stand still und blickte auf das Meer hinaus, da kam ein seltsamer Fisch geschwommen. »Guten Tag, du großer Fisch«, sagte sie, »ich suche die Sterne vom Himmel und weiß nicht, wo die Treppe ist, die zu ihnen führt. Möchtest du mir den Weg zeigen?« »Nein«, antwortete der Fisch, »das darf ich nur, wenn du mir Botschaft von den Elfen bringst.« »Die bring’ ich«, sagte sie. »Sie sagten, Vierfuß würde mich zu Ohnefuß bringen und Ohnefuß zu der Treppe ohne Stufen.« »Dann ist’s recht«, sagte der Fisch, »komm auf meinen Rücken und halt dich fest.« Und − platsch! − tauchte er ins Wasser, den Silberpfad entlang, auf den glänzenden Bogen zu. Und je näher sie kamen, desto heller leuchtete er, so dass sie schützend die Hände vor ihre Augen halten musste. Und als sie endlich am Fuße der Treppe angelangt waren, da sah sie, dass es eine breite, lichte Straße war, die stieg langsam auf bis zum Himmel, und ganz weit oben, ganz am Ende der Straße konnte sie winzige, glitzernde Sternchen sehen. »Nun bist du da«, sagte der Fisch, »und dort ist die Treppe. Steige hinauf, wenn du kannst, nur halte dich fest. Aber ich glaube, die Treppe bei dir zu Hause wirst du leichter erklettern als diese da. Die ist nicht für Kinderfüße gemacht.« Sie stieg immer höher und höher hinauf, aber sie kam nie um einen Schritt weiter: Das Licht glänzte vor ihr und rings11


um, hinter ihr war das Wasser, und je mehr sie hinaufstrebte, desto mehr zog es sie in das kalte Dunkel hinab, je höher sie stieg, desto tiefer sank sie. Doch sie klomm immer weiter und weiter, bis die Sinne ihr schwanden und sie vor Kälte zitterte und die Furcht sie betäubte, doch immer höher klomm sie, bis sie endlich betäubt und schwindelig losließ und sank und sank und sank. Und − bums! − spürte sie harte Bretter unter sich und als sie erwachte − da lag sie weinend auf dem Boden neben ihrem Bette. Märchen aus England

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Wie die Milchstraße an den Himmel kam

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ei der Schöpfung bekam Ilmatütar, die Tochter der Witterung, den Auftrag, für die Vögel zu sorgen und sie zu schützen. Sie empfing im Frühling die heimkehrenden Vögel und stärkte und fütterte sie, wenn sie auf ihrem Flug nach Norden ausruhten. Wenn der Herbst nahte, sammelte sie wieder die Zugvögel und wies ihnen den Weg nach Süden. Ilmatütar war die schönste der Himmelstöchter. Der Ruf ihrer Schönheit ging über den ganzen Himmel und so wollten die Gestirne selber um sie freien. Da kam der Abendstern zu ihr und begehrte sie zur Frau. Doch sie wies ihn ab und sprach: »Du bist nicht dein eigener Herr, du bist nur der Begleiter der Sonne. Jemand wie du taugt nicht zu meinem Gemahl.« Als eine kurze Zeit vorübergegangen war, fuhr der Polarstern in einer prächtigen Kutsche, gezogen von sieben blanken Falben, vor und brachte sieben Geschenke für Ilmatütar mit. Doch sie nahm die Geschenke nicht an und sprach: »Ich will dich nicht zum Manne. Du musst immer auf deinem dir vorgeschriebenen Platz bleiben und darfst dich nicht fortrühren. Solch ein Leben würde mir nicht gefallen.« Nicht lange darauf kam der Mond in einem silbernen Wagen, gezogen von zwölf herrlichen Schimmeln, vorgefahren. Er brachte zwölf reiche Geschenke mit, doch Ilmatütar wies auch den Mond und seine Geschenke ab und sprach: »Lieber Mond, du taugst nicht zum Ehemann. Du bist allzu veränderlich, auf dich ist kein Verlass.« Kurze Zeit später kam eine goldene Kutsche, bespannt mit vierundzwanzig Goldfüchsen, gefahren. Darin saß der Sonnenjüngling mit vierundzwanzig Brautgeschenken für Ilma13


tütar. Doch sie wies auch den Sonnenjüngling ab: »Auch deine Frau will ich nicht werden. Tag für Tag musst du die gleiche Himmelsstraße entlangziehen.« Nun verging einige Zeit, da fuhr eines Tages ein diamantener Wagen vor, mit tausend Pferden bespannt, darin saß der Herr des Nordlichts und strahlte so hell, dass es die Augen blendete. Seine Diener aber sprangen vom Wagen und brachten Ilmatütar unzählige kostbare Geschenke: Gold, Silber, Diamanten. Ilmatütar empfing den Freier, verneigte sich und sprach: »Du bist dein eigener Herr, du ziehst über die Himmel, wann es dir recht ist und ruhst dich aus, wenn es dir gefällt. Du erscheinst immer wieder in neuen Kleidern und mit immer anderen Gefährten. Du bist der richtige Gemahl für mich!« Sie feierten zusammen das Fest der Verlobung und waren sehr glücklich miteinander. Doch nach Mitternacht machte sich der Herr des Nordlichts auf den Weg, und er sprach zu seiner Braut: »Bald komme ich wieder. Schmücke dich mit meinen Geschenken und bereite alles zur Hochzeit vor.« Dann fuhr er mit seinem strahlenden Wagen davon, und Ilmatütar bereitete das Hochzeitsfest vor. Sie schmückte sich mit dem Geschmeide und legte den Brautschleier an. Sie wartete und wartete, Tage und Nächte vergingen, doch ihr Verlobter kam nicht wieder. Sie wurde traurig, weinte vor Kummer und Enttäuschung. Der Winter ging vorüber und es wurde Frühling und nun bestand keine Hoffnung mehr, dass der Herr des Nordlichts mit seinem glänzenden Wagen und seinen blitzenden Rossen über den Himmel daher gejagt kommen würde. Inmitten blühender Blumen saß Ilmatütar in ihrem Brautschmuck, doch vor Kummer und Tränen sah sie nichts von der Pracht des Frühlings. In ihrem Kummer vergaß sie auch, für die Vögel, die aus dem Süden herbeigezogen kamen, zu sorgen. Sie brachte ihnen keine Nahrung und wies ihnen nicht 14


den Weg. Da flatterten diese hilflos umher, einige flogen zu Altvater, dem Schöpfer, und klagten ihm ihre Not. Da zeigte Altvater Erbarmen mit den Vögeln und mit Ilmatütar. Er sandte seine Boten, die Winde, zur Erde hinab. Diese hoben die weinende Ilmatütar behutsam von der Wiese auf, trugen sie empor und betteten sie auf das Himmelsgewölbe. Damit sie aber nicht zur Erde zurückfalle, heftete Altvater ihren Brautschleier mit den unzähligen Diamanten, mit denen sie geschmückt war, am Himmelsbogen fest. Der Schleier ist heute noch zu sehen und wird die Milchstraße genannt. Ilmatütar bemerkte, dass sich um sie herum etwas verändert hatte. Staunend blickte sie um sich. Ihr Herz wurde getröstet und sie begann aufs Neue, für ihre Schützlinge zu sorgen. Bis zum heutigen Tag leitet sie in Frühlings- und Herbstnächten die Züge der Wandervögel, wenn sie unter ihrem Schleier dahinziehen. Doch wenn der Winter kommt, ist ihre Freudenzeit. Da geschieht es immer wieder, dass der Herr des Nordlichts mit seinen blitzenden Rossen über das Himmelsgewölbe gejagt kommt und Ilmatütar besucht. Dann feiern die Liebenden ihr Wiedersehen und erneuern ihren Treueschwur. Doch heiraten können sie nicht, denn die Braut ist mit ihrem Schleier durch die Edelsteine am nachtblauen Himmel festgesteckt. Der durchsichtige Schleier weht von einem Himmelsende zum anderen und die Diamanten, die der Herr des Nordlichts seiner Braut geschenkt hat, funkeln als leuchtende Sterne darin. Märchen aus Estland

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Morgenstern und Abendstern

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or vielen tausend Jahren, als die Menschen und Überirdischen noch Glauben und Freude aneinander hatten, wandelte auch die mütterliche Frau Gode oder die »Wittefru«, wie sie wohl heißt, öfter als heute sichtbarlich unter uns und mühte sich und half, wenn man sie recht von Herzen bat. Nun lebte in jenen ältesten Zeiten, als die Menschen sich erst dumpf zu freuen vermochten, ein König hier im Land, der war der stärkste Mann, den die Erde bisher geboren hatte. Er war aber jung und wagemutig, sorgte sich von morgens bis abends um sein Volk und bedachte, wie er ihm helfen und dabei auch die Überirdischen zu Freunden halten könnte. Niemals hat er indes die Wittefru, die mütterliche Frau Gode, selbst gesehen, die doch manchem Alten und Hirten erschienen war. Einmal nun, als der König auf der Jagd einer trächtigen Hirschkuh folgte und sich weit von den Seinen verirrt hatte, geriet er in ein Bruchland, das kein Ende nahm. Von Busch zu Busch brach er sich Bahn, sah auch zuweilen das Wild auf seinem Wechsel vor sich und kam dem furchtsamen Tier näher und näher. Endlich wurde er gewahr, wie die Hirschkuh vor ihm zu einem Quellgebüsch flüchtete, er stieß seinen Jagdschrei aus und wog den riesigen Speer schon in der Faust. Da hörte er die Verfolgte mit alten Worten laut wie einen Menschen rufen: »Fru Gode, kumm, Fru Gode, Help mien Kind in sien Blode!« Im gleichen Augenblick lag eine Hand auf des Königs Arm, er vernahm eine Stimme: »Alles Mütterliche gehört mir!«, sagte 16


eine Unbekannte. Der Mann erschrak sehr und wandte sich um, aber er sah nur noch ein Lächeln, wie er es nie geschaut hatte, dann wehte ein Wind darüber hin. Der König hat es sich wohl zu Herzen genommen. Er hat für das Tier und sein Kälbchen gesorgt, hatte niemals wieder eine tragende Hirschkuh verfolgt. Ja, mehr als das. Jenes Lächeln, das ihm geworden, ging dem Mann nicht aus dem Sinn, Tag und Nacht war es um ihn, seine Sehnsucht, die mütterliche Frau wiederzusehen, wurde groß. Endlich verließ er Volk, Freunde und Brüder, floh ins Moor und baute sich nah an einem Quell eine Hütte, um über die Fremde nachzudenken und auszuschauen, ob sie noch einmal vorüberkäme. Lange, ich weiß nicht wie lange, wohnte der König dort, aber das Lächeln, das er suchte, blieb aus. Als er indes in seiner Einsamkeit wartete, fand er an manchen Bäumen und Blumen gefallen, ja, deren Liebreiz dünkte ihn oft jenem Lächeln der Weißen Frau näher als das Antlitz der Menschen. Einen weiten Garten hat der König um seine Hütte gepflanzt, wilde Äpfel, rote Nelken, helle Maßlieben und sogar kleinen blauen Ehrenpreis, der Unbekannten zum Ruhm. Er rief sie oft, um ihr seine Wunder zu weisen. Aber nur einmal, als er wohl viele Stunden in alle Blumen geschaut hatte, ging eine fremde Magd leisen Schrittes jenseits des Gartens entlang. Der Mann hob rasch den Kopf und sah noch ihr Antlitz, das nach ihm ausblickte. Als er sie indes anrief und zu ihr eilen wollte, war sie wie ein Nebel fort. Keine Spur war im Kraut zu finden. Da verzagte der König schier vor Verlangen nach der zweimal Geschauten und kehrte traurig zu den Menschen heim. Sein Volk war froh, ihn wieder bei sich zu haben. Nun war es inzwischen Herbst geworden, die Männer gingen auf Jagd und baten den König, mit ihnen auszuziehen. Einige von ihnen, die von dem Wunder gehört hatten, lockten ihn auch zu der Hütte und jenem Moor, wo die Wittefru 17


die Hirschkuh geschirmt hatte. Aber sie verloren ihren Herrn schon vorher zwischen Bruchland und Weide. Es war lange hell an jenem Abend, der Wind rief in den Büschen und rauschte. Viele Tiere flohen auf, wo der Mensch schritt, sie liefen indes nicht weit, sie fürchteten sich nicht. Frieden lag rundum, als sei eine große Gütige nah und als wüsste jeder sich gegen den andern in gutem Schutz. Als der König nun, müde vom langen Weg, Rast machte, kam das alte Verlangen noch einmal über ihn. Er erinnerte sich an seine Hütte, er dachte der Bäume, der Blumen und des Quells, wurde durstig und ging zum Wasser, um davon zu trinken. Da erblickte er, als er sich tiefer bückte, traumgleich ein anderes Gesicht neben dem seinen − das Herz wollte ihm stehenbleiben, er erkannte die Weiße Frau, die er suchte, leibhaft im Spiegel. »Schau nicht auf!«, sagte sie und er gehorchte. Ach, kaum wagte er sich zu rühren, so herrlich dünkte sie ihn. »Ich freute mich, dass du mein Tier schontest!« Da lächelte der Mann. »Wie schön bist du, Wittefru«, betete er. »Ich freue mich an deiner Liebe!« »Bleibst du bei mir?«, fragte er wie ein Knabe und reckte die Hand nach dem Antlitz im Wasser. Aber Frau Gode schüttelte das Haupt. »Was soll ich für dich tun?«, flehte der Mann. Mild kam es zurück: »Hüte immer alles Mütterliche, um meinetwillen.« »Ich will es wohl hüten, aber verlass mich nicht wieder«, stöhnte der Mensch. »Ich hab dich lieb!« Da war es, als glitte ein Mitleid über das Angesicht der Himmlischen. Sie bückte sich und knüpfte von ihren Schuhen zwei herrliche, glänzende Steine. Und sie warf einen von ihnen hoch, da blieb er als Abendstern stehen. Und sie ließ den andern weithin gegen Morgen rollen. »Weil du die Mütterli18


chen schonst«, sagte sie freundlich, »sollst du an mich denken, morgens und abends, in der blauen Frühe und in der grauen Dämmerung.« Ein neuer Stern stand funkelnd am Himmel, der Kniende musste andächtig in seinen Glanz aufschauen, er sah auch dem andern nach, der gen Osten wanderte. Dann kamen Männer und wollten den König heimholen. Sie hielten aber verwundert ein, als sie etwas vom Frohsinn der Überirdischen in seinem Antlitz erkannten und hoben die Hände, als sie das neue Licht am Himmel erblickten. Sie wussten sich nicht zu erklären, was geschehen war. Wir aber wollen dankbar sein, dass Morgenstern und Abendstern uns früh und spät geleiten, an die Liebe zu allem Mütterlichen mahnen. Märchen aus Schleswig-Holstein

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Wie der Abendstern entstand

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s war einmal ein alter Mann, der auf dem Eis stand und auf Seehunde wartete, die zu dem Atemloch kommen sollten, um Luft zu schöpfen. Aber genau gegenüber seinem Fangplatz spielte eine Schar Kinder in einer Felsschlucht. Jedes Mal, wenn ein Seehund sich näherte und er ihn harpunieren wollte, verscheuchten ihn die Kinder durch ihren Lärm. Schließlich wurde der alte Mann auf die Kinder, die ihm immer wieder seine Beute verscheuchten, böse, und er rief laut zum Lande hin: »Schließe dich, Schlucht, über die, welche mir meine Fangtiere verjagen!« Sofort schloss sich die Schlucht über den spielenden Kindern. Ein größeres Kind, das ein kleines trug, bekam dabei einen Pelzzipfel entzweigeschnitten. Jetzt fingen alle in der Schlucht zu schreien an, weil sie nicht mehr herauskommen konnten. Und keiner konnte ihnen da unten Essen hinbringen. Nur etwas Wasser ließ sich durch eine kleine Spalte hinuntergießen. Es wurde gierig von den Kindern aufgeleckt. Schließlich starben sie alle vor Hunger. Man stürzte sich nun auf den alten Mann, weil er die Felsenschlucht über den Kindern zu gezaubert hatte. Aber er lief davon und die anderen setzten ihm nach. Aber plötzlich begann er zu leuchten und flog zum Himmel hinauf und steht nun dort oben als ein großer Stern. Man sieht ihn im Westen, wenn das Licht nach der großen Dunkelheit zurückkehrt. Er steht aber ganz unten und kommt niemals hoch hinauf. Man nennt ihn Nâlagssartoq. Das heißt: der, welcher dasteht und lauscht. Diesen Namen bekam er nach dem alten Mann, der draußen auf dem Eise stand und lauschte, ob die Seehunde kommen würden. Märchen der Eskimo 20


Die Knaben mit den goldenen Sternlein

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s war einmal ein junger, schöner Graf, der kannte die Liebe noch nicht, und hatte daher den Vorstellungen seiner Mutter, sich zu verheiraten, noch nicht Raum gegeben. Er fand aber Vergnügen daran, bei Nacht im Dorfe herumzuschleichen und die jungen Burschen und Mädchen zu belauschen, was sie in ihren Spinnstuben trieben, sangen und sagten. Da hörte er einmal ein Gespräch, von dem er selbst der Gegenstand war. »Oh, wenn sich unser junger Graf ein Weib nähme«, sagte eines der Mädchen, »so wollte ich, wenn ich’s würde, ihm die leckersten Speisen kochen.« − »Und ich«, fiel eine Zweite ein, »sollte ihm seine Kinder recht gut warten und pflegen.« − »Ich aber«, sprach die Dritte, »wollte ihm zwei Knäblein schenken, wenn er mich zum Weib nähme, die sollten goldene Sternlein auf der Brust tragen.« Die andern lachten, der Graf aber hatte allerlei Gedanken und ging auf sein Schloss. Am andern Tag ließ er die drei Mädchen rufen und sie mussten ihm alles noch einmal sagen, was sie gestern miteinander über ihn gesprochen hatten, wenn er ein Weib nähme. Die Letzte weigerte sich lange, denn sie schämte sich, als sie aber endlich ihren kühnen Wunsch bekannt, nahm sie der Graf freundlich bei der Hand und sprach: »Du sollst mein Weib sein, wenn du mir zwei Knäblein gebären wirst, so wie du gesagt hast, wenn aber nicht, will ich dich mit Schande aus meinem Schloss jagen.« Das Mädchen willigte ein, denn sie war freudigen Mutes und hatte schon lange eine verborgene Liebe zu dem Grafen in ihrem Herzen. Die Hochzeit wurde gefeiert, obgleich die alte Gräfin sehr sauer zusah. Als nun einige Monate vergangen waren und die junge Gräfin sich guter Hoffnung fühlte, begab sich, dass der Graf in 21


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