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Mit Hand und Nase sehen – Im Botanischen Blindengarten von Radeberg kommt es ganz auf die Sinne an

Mit Hand und Nase sehen

Im Botanischen Blindengarten von Radeberg kommt es ganz auf die Sinne an

Die behaarten Blätter des Silberwollziest schimmern in der Sonne. Sie fühlen sich wollig weich, fast flauschig an. „Deshalb wird diese Pflanze auch Hasenohr genannt“, verrät Marcel Soblik. Beim Rundgang durch den Botanischen Blindengarten in Radeberg ermuntert der Gärtnermeister immer wieder dazu, Blüten, Blätter und Früchte zu berühren.

von Anett Böttger

Rund um eine ehemalige Fabrikantenvilla gestaltete die Pastorin Ruth Zacharias einen Garten für Menschen mit nur drei Sinnen.

„Hier darf angefasst werden“, sagt Marcel Soblik. Schließlich ist die Anlage vor allem für Menschen gestaltet worden, die weder sehen noch hören können: für Blinde und Taubblinde. Wir finden den Silberwollziest im „Wuscheleck“. Neben Lavendelsalbei, Zitronenthymian, Katzenminze, Bärwurz und Vanilleblumen gedeiht er in gut greifbarer Nähe und fast vor der Nase, denn Hochbeete erleichtern den direkten Kontakt zu den Gewächsen. „Die Besucher werden an die Pflanzen herangeführt“, beschreibt der Gärtner den Effekt. Niemand muss sich weit nach unten beugen, um etwas zu ertasten, im grünen Teppich zu wuscheln, eine Prise Aroma zwischen die Finger zu nehmen und daran zu schnuppern.

Das Lebenswerk der Pastorin Ruth Zacharias „Duft ist die Farbe für blinde und taubblinde Menschen, Hände und Füße übernehmen das Sehen.“ So formulierte es die Pastorin Ruth Zacharias (1940–2021). Selbst mit zehn Jahren erblindet, sprach sie aus eigener Erfahrung. Auf ihre Initiative entstand der Blindengarten, der 1996 im sächsischen Radeberg nordöstlich von Dresden eröffnet wurde. In erster Linie war damit das Anliegen verbunden, die Pflanzenvielfalt all jenen näherzubringen, die sich die Welt überwiegend durch Fühlen und Riechen erschließen. Ruth Zacharias baute die Arbeit mit Taubblinden in der früheren DDR auf. Anfangs war die Theologin viel unterwegs, um Betroffene seelsorgerisch zu betreuen. Auf der Suche nach einer festen Stelle für Begegnung und Beratung fand sie Ende der 1980er Jahre das Grundstück in Radeberg, auf dem sich inzwischen der botanische Garten für Blinde befindet. Die ehemalige Fabrikantenvilla mittendrin war seinerzeit arg baufällig und wurde umfassend saniert. Seit 1993 dient das Gebäude als Gästehaus. Den damals noch verwilderten Garten um die Villa wollte die blinde Pastorin nicht einfach nur wiederherstellen lassen, sondern nach einer besonderen Idee und für Menschen mit nur drei Sinnen gestalten. „Es gab kein Lehrbuch, nach dem man sich richten konnte“, gesteht Marcel Soblik. Das Lebenswerk von Ruth Zacharias sei vielmehr im Zusammenspiel von Planern, Architekten und Gärtnern sowie durch Hinweise von Blinden schrittweise gewachsen. Rund 5.600 Quadratmeter umfasste das Gelände, als der Blindengarten vor mehr als 25 Jahren öffnete. „Später wurde er um angrenzende Grundstücke erweitert – auf nunmehr etwa 22.000 Quadratmeter“, berichtet der Meister für Garten- und Landschaftsbau, der die Entwicklung und Pflege der Anlage seit 1999 fachlich begleitet.

Wo sich feine Unterschiede offenbaren Über Spenden werden sowohl die beiden Gärtnerstellen von Marcel Soblik und seinem Kollegen als auch zwei Saisonkräfte finanziert. Der Taubblindendienst der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) e. V. ist Träger des einzigartigen Gartens. Ungefähr 1.300 Pflanzenarten gedeihen hier, darunter um die 700 Duftpflanzen.

Entlang vieler Wege auf dem 22.000 Quadratmeter großen Gelände geben Handläufe blinden Gästen Halt und Orientierung.

Foto: Anett Bött ger

„Die Besucher werden an die Pflanzen herangeführt.“

Marcel Soblik, Gärtnermeister im Botanischen Blindengarten von Radeberg Bei manchen davon wird Duft sogar erst freigesetzt, wenn sie berührt werden. Marcel Soblik verweist auf ein Liegehochbeet mit römischer Rasenkamille. Wer sich auf dieses grüne Bett legt und etwas räkelt, wird bald darauf von einem würzigen Geruch eingehüllt. Der Gärtnermeister betont, dass auf eine gewisse Harmonie geachtet wird, denn zu intensiv sollen die Eindrücke für die Nase auch nicht sein. Stark duftende Arten wie der Schneeball sind daher nur äußerst dezent platziert. Rund um den plätschernden Brunnen direkt vor der Villa füllen verschiedene Rosensorten die Beete, darunter schlicht wirkende Urformen mit betörendem Geruch. „Es gibt sie zum Glück noch, denn durch Züchtung ist leider viel Rosenduft verlorengegangen“, bedauert Soblik. Die Minze-Straße mit etwa 30 Arten fordert die Nase heraus, um beim Riechen die feinen Unterschiede zu erkennen. Parallel dazu verläuft die Duftpelargonien-Straße. Rund 50 getopfte Pflanzen sind dazu nebeneinander aufgereiht. Schaut und fühlt man genau, stellt sich heraus, dass die Blattformen stark differieren. Sie zeigen sich spröde, zackig, feingliedrig wie Spargelkraut oder aber mit abgerundeten oder ausgefransten Rändern.

Pflanzen und Früchte riechen, tasten, schmecken Vielfältig will der Blindengarten animieren, die Sinne zu schärfen und die Umgebung bewusster wahrzunehmen. Ruth Zacharias, die im Oktober 2021 verstarb und bis dahin selbst inmitten der von ihr erdachten Anlage lebte, schrieb einmal: „Sehen mit den Händen kann eine neue, wichtige Erfahrung werden.“ Tatsächlich können sich Pflanzen – und dabei insbesondere das Blattwerk – ausgesprochen unterschiedlich anfühlen: weich, hart, ledrig,

Foto: privat

Zur Autorin: Anett Böttger streift gern zu jeder Jahreszeit durch Natur und Landschaft, auch weil auf ausgedehnten Spaziergängen Gedanken wunderbar schweifen können. Die studierte Journalistin mag weitläufige Parks und schöne Gärten. Vor allem Anlagen in Ostsachsen haben sie thematisch immer wieder beschäftigt.

glatt, straff, samtig oder klebrig. Mitunter gibt es überraschende Erfahrungen. So bleiben beispielsweise die Blüten der Riesenapfelminze selbst bei 30 Grad Hitze angenehm kühl. Im Wassereck mit vier symmetrisch angeordneten Hochbeeten kommen Besucher ungewöhnlich nah an Seerosen heran – wie sonst kaum irgendwo. Naschhecken sprechen den Geschmackssinn an. „Damit sich niemand beim Pflücken der Früchte wehtut, wächst beispielsweise eine stachellose Brombeerart am Wegesrand“, sagt Marcel Soblik. Zum Ertasten sind außerdem Tierplastiken aus Bronze im gesamten Gelände verteilt, darunter Storch, Rabe, Hase, Ente und Frischling als naturgetreue Nachbildungen in Originalgröße. Durch den Koniferengarten schlängelt sich der Weg zum neuen Dufthaus, der jüngsten Investition im Blindengarten. 2019 eingeweiht, stand es wegen Corona bislang nur sehr begrenzt für das Publikum offen. In dem Gewächshaus sind 50 verschiedene Kamelien versammelt. „Zehn davon duften zwar nicht, fühlen sich aber gut an", erläutert der Gärtnermeister die Auswahl. Das älteste Exemplar kam als Geschenk zum 60. Geburtstag von Ruth Zacharias in den Bestand. Inzwischen zählt das „Duftglöckchen“ schon 35 Jahre.

Auf sicheren Wegen den Garten erkunden Wege mit insgesamt 1,5 Kilometern Länge erschließen die unterschiedlichen Teile des Radeberger Gartens. Handläufe geben blinden Gästen Halt und Orientierung im Gelände. Die hüfthohen Edelstahlrohre mögen für Sehende den Blick stören oder zu technisch aussehen, doch Menschen mit Einschränkungen in der sinnlichen Wahrnehmung erhalten dadurch wichtige Anhaltspunkte. An markanten Stellen sind kleine Hinweise in Brailleschrift für Blinde angebracht. Durch Erfühlen der Punktzeichen am Metall lässt sich unter anderem ablesen, wo der Weg abknickt oder wo Spaziergänger mit ihrer Hand auf die andere Seite des Leitsystems wechseln sollten. Zusätzlich sind Pflanzen auf Rabatten, Hochbeeten und Pflanzkübeln doppelt beschriftet – für Sehende und Blinde. Die Beschreibung in Brailleschrift befindet sich auf der Rückseite der Schilder. „Man legt die Hand dort locker von oben auf und liest von links unten nach rechts oben“, erläutert Marcel Soblik das Prinzip. Da die Bodenbeläge in der Anlage variieren, verändert sich auch das Gehgefühl immer wieder. Von der sicheren Route entlang der Handläufe zweigen hin und wieder Nebenwege ab. Ein Pfad mit Rindenmulch etwa läuft parallel zum Hauptweg. An anderer Stelle führen ein paar Holzstufen auf ein höhergelegenes Niveau. „Das ist etwas für fitte Leute, die sich mehr zutrauen“, sagt der Gärtner. Granitsteine oder Lücken in der Klopfkante markieren die Durchgänge, die sich mit dem Blindenstock ertasten lassen. Gäste, die nur eingeschränkt oder nichts sehen, können auf diese Weise selbständig und ohne Begleitung durch die Anlage schlendern. „Das Angebot nutzen Besucher, die in der

2019 wurde das Dufthaus mit 50 verschiedenen Kamelienpflanzen eröffnet.

Nähe leben“, berichtet Marcel Soblik. Gleich auf der anderen Straßenseite gibt es zwei Häuser für ambulant betreutes Wohnen mit Platz für zehn taubblinde und hörsehbehinderte Menschen. Drei weitere Personen haben eine eigene Wohnung unweit des Gartens. Unabhängig von Öffnungszeiten gelangen sie aufs Gelände, da sie mit eigenem Transponder ausgestattet sind und jederzeit das Tor passieren dürfen. Blindenstreifen und eine Ampel helfen dabei, den kurzen Weg von der Wohnanlage zum Garten völlig allein zu bewältigen und die Straße zu überqueren. „Manche kommen wirklich regelmäßig“, erzählt Soblik und nennt als Beispiel eine Frau, die das Wachstum der Birnenquitte über Monate hinweg aufmerksam verfolgt. Darüber hinaus besuchen auswärtige Gäste, Reisegruppen und Fachleute die Radeberger Anlage. Sie ist die einzige mit einer expliziten Ausrichtung auf blinde und taubblinde Menschen unter den 141 botanischen Gärten im deutschsprachigen Raum. Die präsentierte Artenvielfalt, Umweltbildung und das Angebot von Führungen waren ausschlaggebend dafür, dass der Verband Botanischer Gärten im Jahr 2000 seine Anerkennung erteilte.

Info

Botanischer Blindengarten Pillnitzer Straße 71 01454 Radeberg Tel. +49 3528 229240 marcel.soblik@taubblindendienst.de taubblindendienst.de

Gartenkunst trifft Barrierefreiheit

In zahlreichen Parks und Gärten in Deutschland gibt es barrierefreie Angebote, von denen ganz unterschiedliche Gästegruppen profitieren: ob jung oder alt, mit Rollschuh oder Rollstuhl, Dreirad oder Kinderwagen, Menschen mit und ohne Behinderung. Zu finden sind beispielsweise mehrdimensionale Tastmodelle der Grünanlagen, eine kontrastreiche, gut lesbare und mit verständlichen Piktogrammen versehene Beschilderung, stufenüberbrückende Rampen, Hochbeete und breitere Wege. Schon 1983 wurde der Blindengarten in der Bonner Rheinaue eröffnet, in dem heute 800 Gewürzpflanzen, Kräuter und Stauden blühen und gedeihen. In Initiativen wie dem Projekt „Reisen für Alle“ oder der Arbeitsgemeinschaft „Barrierefreie Urlaubsziele“ engagieren sich viele Parks, darunter das Gartenreich Dessau-Wörlitz, der Erfurter egapark, der Schlosspark Dennenlohe in Mittelfranken, der Landschaftstherapeutische Park Römerkessel in der Eifel oder der Park der Gärten in Bad Zwischenahn. reisen-fuer-alle.de leichter-reisen.info

Foto: GesundLand Vulkaneifel/M. Rothbrust

Landschaftstherapeutischer Park Römerkessel in Bad Bertrich in der Eifel

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