unser Sohn Raoul Wüthrich Andreas Beverly Wüthrich

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Wir bedanken uns mit diesem Buch bei all jenen Menschen, die uns in der schweren Zeit mit Rat und Tat und mit Spendengeldern beigestanden haben. Unser Dank gilt sowohl den Schulkindern aus den Bündner Bergen Malans als auch der mutigen Unterstützung der öffentlichen Pressemedien, wie BLICK, DER SPIEGEL, stern, Ringier-Pressemedien, derinund ausländischen Tagespresse, dem Schweizer Fernsehen DRS, dem Österreichischen Fernsehen, dem Deutschen Fernsehen ARD, ZDF sowie RTL und dem sternTV, Tele 24 usw. Ganz besonderer Dank gebührt auch dem EDA (Eidgenössisches Departement für Auswärtige Angelegenheiten), Minister Walter Thrunherr, dem Schweizer Honorarkonsul Walter Wyss von Colorado und dem österreichischen Botschafter und Rechtsanwalt Arnold C. Wegher, Colorado, Rechtsanwalt Vincent Todd, Colorado, Rechtsanwalt Steffan Ufer sowie unseren Angehörigen in der Schweiz und in den USA. Beverly und Andreas Wüthrich


Inhaltsverzeichnis

Seite

Dank

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Prolog

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1. Kapitel Der Überfall

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2. Kapitel Rückblick in die Vergangenheit

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3. Kapitel Die Flucht

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4. Kapitel Unmut und Zorn aus Europa

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5. Kapitel Die Anhörung

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6. Kapitel Der große Betrug

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7. Kapitel Das Vergleichsverfahren

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8. Kapitel Endlich nach Hause

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Epilog

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Quellen

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Prolog Dieser Bericht entspricht der Wahrheit, der ganzen und unverfälschten Wahrheit. Ich habe sie niedergeschrieben, weil von Anfang an eine bewußte Täuschung vorlag. Bis heute wollte mir niemand glauben, weil bedauerlicherweise die Medien meist kein Interesse an den wahren Hintergründen hatten, sondern lediglich an dem, was sich für ihre Leser, Fernsehzuschauer oder Radiohörer als Schlagzeile oder Thema am quoten- und auflagenstärksten vermarkten läßt: Sex und Kriminalität. Und mit dem Wissen, daß in der heutigen Zeit leider oft nur dies allein bei der Bevölkerung Aufsehen erregt und glaubhaft erscheint, hat die Staatsanwaltschaft in Colorado eine unglaubliche Verleumdungskampagne in Gang gesetzt. Die Justiz in Golden Denver stand unter großem Erfolgsdruck und war mit Blick auf die Neuwahlen im Herbst auf ein solches Komplott angewiesen. Dabei schreckte sie selbst nicht davor zurück, als es um die Existenz einer jungen Familie, insbesondere um die eines spätentwickelten Jungen im Alter von zehn Jahren ging, die geopfert werden sollten. Die kleine Halbschwester, die in die Rolle des angeblichen Sexualopfers gepreßt wurde, war gerade mal fünf Jahre alt! Mein Bericht ist gleichzeitig ein Beweis, wie die Medien zum Segen und zum Fluch werden können. Zum Segen, wenn es gilt, Unrecht aufzudecken (natürlich nur, sofern man sich bemüht, die wahren Hintergründe

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zu erfahren). Zum Fluch, wenn falsche Informationen verbreitet werden und so nicht nur die beiden Opfer, der kleine Junge und seine noch jüngere Halbschwester, sondern auch die Eltern zu Tätern abgestempelt werden. Mit welchen Mitteln dabei gearbeitet wurde, werde ich in diesem Buch erläutern. Im US-Bundesstaat Colorado, genauer gesagt in Littleton im Bezirk Denver, der Hauptstadt von Colorado, hatten die beiden siebzehn- und achtzehnjährigen Teenager Dylan Klebold und Eric Harris am 20. April 1999 in der Colombine High School ein Blutbad angerichtet, bei dem vierzehn Schüler und ein Lehrer im Kugelhagel ums Leben kamen. Die Jugendlichen hatten eigentlich die komplette Zerstörung der High School durch Bomben vorbereitet; nur dank dem Umstand, daß die selbstgebastelten Bomben nicht zündeten, wurde eine noch größere Katastrophe verhindert. Solche Vorstädte wie Littleton sollen angeblich eine Zone der Geborgenheit sein: Dort sei alles beschützt und unter Kontrolle, es gebe keine kriegsähnlichen Zustände wie in mancher Großstadt, auch keinen Rassismus. Aber das ist oftmals nur Fassade, das Blutbad in Littleton brachte tiefe Abgründe von Haß und Grausamkeiten zutage. Fassungslos mußten die Einwohner mit ansehen, wie ihre kleine heile Welt zerbrach. An Brutalität kaum zu überbietende Einzelheiten des Massakers erschütterten die Menschen: Wie beispielsweise Eric Harris, einer der Attentäter, lachend seine ihm verhaßte Lehrerin Cassie Bernall, eine Schwarze, in der Bücherei aufstöbert, wo sie und seine Mitschülerinnen und Mitschüler sich versteckt hatten; wie er ihr vor den

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Augen der Klasse den Lauf einer abgesägten Schrotflinte vors Gesicht hält und abdrückt; wie er dann schreit: «Nigger! So sieht das Gehirn von einem Nigger aus!» Der Ruf nach mehr Härte, Sicherheit und Schutz bestimmte nach dem Blutbad von Littleton das öffentliche und politische Leben, hektische Betriebsamkeit und die Suche nach Schuldigen und Verantwortlichen setzte ein. Es galt, die Öffentlichkeit zu beruhigen und zu dokumentieren, daß Recht und Ordnung herrschen. Unser Wohnort, die kleine Vorstadt Evergreen in Jefferson County, liegt nur zwanzig Meilen von Littleton entfernt; somit standen die dortigen Untersuchungsbehörden unter Erfolgsdruck, verschärft noch durch die bevorstehenden Wahlen. In den USA werden alle Richter, Staatsanwälte und selbst die Polizisten direkt vom Volk gewählt. Die nächste Wahl fand im Spätherbst 1999 statt, und jeder wollte natürlich wiedergewählt werden. Um sich hierfür die Wählermehrheit zu sichern, kam den Untersuchungsbehörden die abstruse Geschichte der verwirrten angeblichen «Künstlerin» Laura Mehmert gerade recht. Damit konnte man zumindest etwas konstruieren, das helfen sollte, nochmals die Wahlen zu gewinnen. Denn Laura Mehmert ist nicht irgendwer: Sie war unsere Nachbarin, eine einsame, verschrobene Frau mittleren Alters, die stets aus dem Fenster schaut und alle Nachbarn ausspioniert. So scheute sie sich beispielsweise nicht, mit ihrem Wagen ostentativ durch unser Grundstück zu fahren und zu überprüfen, mit welchen Personen wir Kontakt hielten oder verkehrten.

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Als junge Familie mit vier zauberhaften Kindern, die sie haßte, waren wir ihr ein Dorn im Auge. Hinzu kam, daß ich aus Europa stamme; dort, so ihre Meinung, liefe sowieso vieles falsch. Außer ihrem hörigen Mann, der nichts anderes tun darf als alles bejahen, hatte sie nur einen Hund. Diesen schlug sie verschiedentlich mit dem Stock oder mit dem Besen, je nachdem, wie es ihr gerade paßte und was sie in die Hände bekam. Der Schock der Bürger von Colorado über das Massaker von Littleton, dessen Tätermotive auch in Rassismus und Hitler-Verehrung lagen, ließ Laura Mehmert aufhorchen. Schon sah sie in uns Europäern die wahre Gefahr und die Sünder, von denen ein solches Gemetzel jederzeit wieder ausgehen könnte. Bereits vor Wochen — unmittelbar nach dem Amoklauf der beiden Jugendlichen in Littleton - hatte sie die Sozialbehörde darauf aufmerksam gemacht, daß die Kinder ihrer Nachbarn ohne ständige Aufsicht in dem über dreitausend Quadratmeter umfassenden Grundstück spielen. Dazu muß man wissen, daß in Amerika Eltern von nicht ununterbrochen beaufsichtigten Kindern - selbst wenn sich diese im eigenen Garten aufhalten - zur Verantwortung gezogen und wegen Vernachlässigung bestraft werden, wohingegen es in Europa eine Selbstverständlichkeit ist, den Kindern zu erlauben, auch alleine in ungefährlicher Umgebung zu spielen und sich selbst zu beschäftigen. Da meine Frau für das Haus, den Einkauf, Haushalt und die Erziehung der Kinder während meiner Abwesenheit alleine zuständig ist, kann sie sich nicht ausschließlich um die Aufsicht der Kinder kümmern. Es gibt Zeiten, da sind sie sich allein überlassen, spielen

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draußen und kommen meistens dann ins Haus, wenn sie etwas wollen oder es ihnen zu langweilig wird. Die Behörde bestrafte aufgrund der Klage von Laura Mehmert meine Frau mit einem Bußgeld von 78 Dollar und vermerkte dies auch in den dortigen Akten. Kurze Zeit darauf kam es dann zum Eklat: Laura Mehmert konnte es nicht mit ansehen, wie ihr Mann mit dem Hund spielte. Er warf dem Golden RetrieverMischling immer wieder einen Stock auf die Wiese, den dieser freudig zurückbrachte. Als der Stock auf unser Grundstück fiel, holte ihn sich unser Sohn Raoul und warf ihn ebenfalls weit von sich. Offenbar gefiel dies dem Hund und auch dem Mann der Nachbarin - nicht aber ihr selbst. Sie rief ihren Mann nach einiger Zeit zu sich und verschwand mit dem Hund im Haus. Später war das Heulen und Wehklagen des Hundes zu hören, die Strafe für sein fröhliches Spiel mit den Nachbarskindern. Szenenwechsel: Die fünfjährige Sophia und Raoul spielen weit hinten im Garten zwischen den niederen Tannen und Büschen. Sophia merkt plötzlich, daß sie dringend Wasser lassen muß, und da ihr der Weg bis ins Haus zu weit ist, hilft Raoul ihr dabei. Er zieht Sophia die Hose herunter und stellt sich hinter sie, damit er ihr unter die Arme greifen kann, wenn sie in die Hocke geht. Anschließend zieht Raoul seine Schwester hoch, die sich wieder anzieht. Die beiden Kinder spielen dann weiter zusammen im Garten. Raoul ist übrigens trotz seiner zehn Jahre noch sehr kindlich, spielt am liebsten stundenlang mit seinen Legosteinen oder Bauklötzen,

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verwechselt beim Anziehen meistens seine Socken mit andersfarbigen und vergißt mit schöner Regelmäßigkeit immer noch, den Reißverschluß der Hose zu schließen. Laura Mehmert aber hatte angeblich trotz einer Sichtweite von mehr als fünfzig Metern, die auch noch von Tannen und Büschen verdeckt war, alles genau verfolgt und gesehen. Sie will auch mehr, viel mehr gesehen haben, als sich in der Tat zugetragen hatte. Wiederholt rief sie bei der Sozialbehörde an, was sie machen solle, da der Nachbarsjunge seine kleine Schwester im Garten vergewaltigt habe! Ein schwerwiegender Vorwurf, den auch eine Behörde - gerade in dem vom Littleton-Skandal erschütterten Jefferson County - nicht auf sich beruhen lassen konnte. Die Sozialarbeiterin Rhonda Miklic informierte den Staatsanwalt Noel Blum und dieser wiederum die Jugendrichterin Marylin Lennard, die den Eindruck hatte, hier sei dringender Handlungsbedarf. Vor allem mit Blick auf die anstehenden Herbstwahlen mußten der County und die Staatsanwaltschaft ein Erfolgserlebnis vorweisen, um den potentiellen Wiederwählern klar zu machen, daß Gericht und Polizei alles unter Kontrolle haben und ein Vorfall wie das Massaker in Littleton sich nicht wiederholen könne. Dafür sollten unser kleiner Raoul und seine ganze Familie über die Klinge springen! Es ist reiner Zynismus, wenn am Ende der Staatsanwalt Sergej Thomas, dem dieser «Fall» vollkommen aus dem Ruder gelaufen ist, verkündet, das - Zitat:

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«Monster» (!) Raoul benötige jetzt dringend eine sexualpsychologische Behandlung, andernfalls sei das Unheil in der Familie vorprogrammiert; denn Raoul werde seine kleine Schwester erneut sexuell belästigen. Und wenn man anhand der Videoaufnahmen sieht, mit welcher Wut er das den Vertretern der Medien als seine Prophezeiung entgegenschleuderte, fragt man sich, ob das Amt des Staatsanwaltes mit diesem Mann richtig besetzt ist und was das alles mit Rechtsprechung oder Gerechtigkeit zu tun hat. Beverly und ich haben zusammen mit dem Menschenrechtler Ingo Schmidt einen Fonds für die von uns neu gegründete Kinderschutzorganisation «Childrens Protection Foundation <Papillon>» eingerichtet. Ein Teil des Erlöses aus dem Verkauf dieses Buches fließt diesem Fonds zu. Wir verfolgen mit diesem Buch keine finanziellen Interessen, sondern möchten aufzeigen, was sich hinter den Kulissen des ganzen Falls tatsächlich abgespielt hat und unser Sohn bei seiner Odyssee durch Gefängnis, Gerichtsverhandlungen und Pflegefamilien alles erleiden mußte. Zudem möchten wir die Öffentlichkeit auf das Schicksal der vielen tausend Kinder in den Gefängnissen von Amerika aufmerksam machen und versuchen, diesen Kindern, deren Eltern meist mittellos sind, eine Chance auf ein Leben in Freiheit zu ermöglichen. Sommer 2000 Andreas Wüthrich

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1. KAPITEL Der Überfall Montag, 30. August 1999 7.00 Uhr Raoul, unser Sohn, ist bereits angezogen und hat seine drei Schwestern geweckt. Jeder wartet, bis er an die Reihe kommt, um ins Bad zu gehen. Die Kinder müssen zur Schule. Meine Frau bringt Sophia, die zweitjüngste der Töchter, in die Denver International School, eine Privatschule. Alle Kinder in Amerika sind bis zum Nachmittag um 16.00 Uhr in der Schule. Dort werden sie auch verpflegt. Mein Büro liegt in der Stadt. Ich hatte vor einigen Monaten ein Ingenieurbüro mit dem Schweizer-bündnerischen Namen «Grischa-Engineering» eröffnet, aber erst vor kurzem den ersten größeren Auftrag für ein Datennetzwerk mit Verkabelung für eine existierende Anlage erhalten. Als Elektroingenieur war Amerika für mich Neuland, aber mein Onkel, der seit vielen Jahren dort geschäftlich tätig war, hatte mir einige Tips gegeben. Für mich und meine Familie waren schwierige Zeiten angebrochen, nachdem wir uns in den Staaten niedergelassen hatten, um Arbeit und Aufträge zu erhalten. Meine Frau ist Amerikanerin und Schweizerin. Sie hat wie alle vier Kinder - Tatjanna, die älteste Tochter, Raoul, Sabrina und Sophia - die amerikanisch-schweizerische Doppel-Staatsbürgerschaft.

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Das kleine Städtchen Evergreen bei Denver liegt am südlichen Ausläufer der Rocky Mountains, 2700 Meter über dem Meer. Da ich aus den schweizerischen Btindner Bergen stamme, ist die Höhe kein Problem für mich, und auch meine ganze Familie, die mehrere Jahre in der Nähe von Chur in der Schweiz verbracht hatte, hat sich sehr gut in Colorado eingelebt. Wegen dem Heimweh meiner Frau hatten wir seinerzeit den Entschluß gefaßt, nach Amerika auszuwandern. Zuerst lebten wir in Tucson, der Wüstenstadt in Arizona, die dortige Hitze ertrug ich aber nicht. So machten wir uns auf nach Colorado in die Berge, die wir bereits kannten. Im Winter ist es hier nicht viel anders als bei uns in der Schweiz. Was mich als Schweizer beeindruckte war die unendliche Weite, die Größe dieses Landes Amerika. Man nennt es ja auch «Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten». Unbegrenzt war ich als Schweizer bestimmt nicht: Wir hatten von klein auf gelernt, mit dem auszukommen, was wir besaßen. Zwar schreckte uns die Weite Amerikas, ich wollte aber hier etwas aufbauen, von dem ich glaubte, es als kleinen Beitrag in die Gesellschaft einbringen zu können. So erwarben wir außerhalb des hügeligen Evergreens ein Grundstück von dreieinhalbtausend Quadratmetern mit einem freistehenden Holzhaus, wie es hier im allgemeinen gebaut wird. Fünf Zimmer, Küche und Bad alles in allem gefiel es uns sehr gut. Um das Haus standen über fünfundzwanzig mächtige Föhren, die jedoch viel größer und umfangreicher waren, als wir sie in den Schweizer Bergen kennen. Des weiteren gab es noch viele Büsche und Sträucher und vor einem Abhang zum nächsten Nachbar sogar einen kleinen Mischwald mit 18


Tannen und Laubbäumen. Der Vorbesitzer hatte dort einen Maschendraht- und einen Bretterzaun errichten lassen; wir rätselten, welchem Zweck dieser dienen sollte. Das Haus steht an einem Hang und hat wie die meisten Häuser auf dem Land keinen Keller, dafür aber einen keilförmigen Hohlraum, der hinter dem Haus endet. Vorne und seitlich sind Bretterverschläge angebracht, damit keine spielenden Kinder oder unliebsame Tiere unter das Haus kriechen können, denn unter dem Haus befinden sich die offenen Zuleitungen für beispielsweise Abwasser, Strom und anderes. An unser Grundstück grenzten fünf Nachbargrundstücke. Oberhalb unserer Quartierstraße wohnte ein älteres pensioniertes Ehepaar, das aus Kalifornien stammte. Mit einem anderen Nachbar hatten wir auch Kontakt wegen des Gartens, wiederum ein anderer war in der Gemeinde beim Elektrizitätswerk beschäftigt; er hatte zwei Kinder, die älter als unsere waren. Westlich von uns lebte Laura Mehmert mit ihrem Mann. Anfänglich schien sie eine nette Frau zu sein; sie brachte uns sogar hin und wieder Selbstgebackenes. Daß es ihr bereits damals schon lediglich ums Ausspionieren ging, konnten wir nicht ahnen. Eine andere Nachbarin war geschieden und hatte eine Tochter. Unsere beiden älteren Kinder hatten weitere Freundschaften geknüpft, den besten Kontakt hatten wir aber zu dortigen Europäern: zum einen ein Deutscher und seine österreichische Frau, die gegenüber wohnten, zum anderen eine Familie mit einen behinderten Jungen im Rollstuhl. Er war zwar etwas älter als unser Sohn Raoul, sie wurden aber 19


trotzdem gute Spielkameraden. Für diesen Jungen war das eine willkommene Abwechslung, denn seine Behinderung ließ in diesem einsamen Landstrich fast keinen Kontakt mit anderen Kindern zu.

Montag, 30. August 1999 22.20 Uhr Es ist etwa 22.20 Uhr, als zwei Polizeiautos vorfahren. Kurz darauf läutet mein Handy, während ich auf dem Weg vom Büro nach Hause bin. «Darling», sagt meine Frau ziemlich nervös und aufgeregt, «hier sind zwei Sheriff-Deputies. Sie wollen irgend etwas, ich weiß nicht, was ich tun soll. Wann kommst du nach Hause?» Genauer gesagt waren es ein weiblicher Deputy und ein Sheriff-Deputy. «Haben sie nicht gesagt, was sie zu uns führt?» «Eben nicht. Das macht mir Sorgen. Sie reden und reden, ich glaube, es geht um den Jungen.» «Um Raoul? - Was wollen die denn von Raoul?» «Wenn ich das wüßte! Sie drücken sich nicht klar aus!» «Nun beruhige dich, ich bin ja gleich zu Hause. Dann möchte ich zuerst wissen, was das alles zu bedeuten hat.» Es ist nicht zu überhören, daß Beverly nervös und verängstigt ist.

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«Es geht um Ihren Raoul», sagt die Deputy - ein richtiges Mannweib, breitschultrig und mit groben Gliedern - kaugummikauend zu meiner Frau. «Um Raoul? - Was um Himmels willen soll er denn angestellt haben?» Die Deputy schaut sich um. Ihr Kollege senkt sein Haupt, offensichtlich ist es ihm peinlich, darüber zu sprechen. «Wir müssen ihn mitnehmen. Wo ist er?» «Er schläft natürlich. Sie wollen ihn doch jetzt nicht wecken?» «Es muß sein», erwidert kauend die Deputy. «Dann warten Sie, bis mein Mann kommt. Er muß jeden Moment hier sein.» «So lange können wir nicht warten. Wo ist der Boy?» «Oben im Schlafzimmer.» «Dann gehen wir ihn holen», wendet sie sich ihrem Kollegen zu. Beverly zittert am ganzen Leib und ist den Tränen nahe. «Hören Sie, Deputy, Sir, Sie haben doch einen Haftbefehl oder sonst einen Wisch? Sonst geben wir Ihnen den Jungen nicht heraus.» «Tut mir leid, aber wir gehen nicht ohne den Boy», sagt die stramme Dame mit Nachdruck. «Muß das denn jetzt sein? Können Sie nicht bis morgen warten?» «Es muß jetzt sein. Tut uns leid. Wir führen nur den Befehl der Staatsanwaltschaft aus.» Zwischenzeitlich sind die beiden Deputies in das Zimmer von Raoul gegangen. Beverly läuft ihnen nach und weckt halb schluchzend den Jungen. Ganz verschlafen versteht er zuerst gar nicht, was vor sich geht.

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Sie redet beruhigend auf ihn ein, nimmt ihn in die Arme und flüstert ihm leise ins Ohr: «Erschrecke jetzt nicht, Darling, hinter mir sind zwei Polizisten. Du mußt aufstehen, sie wollen dich mitnehmen.» Verwirrt schaut Raoul um sich. Als er endlich richtig wach ist und merkt, daß etwas Ungeheuerliches mit ihm geschehen soll, fängt er an zu weinen. Er hält sich an der Decke fest und verkriecht sich in eine Ecke des Bettes. Aber die Deputy zerrt ihn hervor, legt ihm eine Wolldecke um und führt ihn barfuß ins Wohnzimmer. Dort legen sie ihm Hand- und Fußfesseln an; die Ketten sind um den Bauch gesichert. Gerade in diesem Moment komme ich nach Hause. Zuerst traue ich meinen Augen nicht: Ein zehnjähriger Junge in Hand- und Fußfesseln! Raoul weint fürchterlich. Völlig verstört und mit Tränen in den Augen schaut er zu Beverly und dann zu mir, als ob ich durch ein Machtwort imstande wäre, ihn von den Fesseln zu befreien. Die Deputies stehen mit versteinerter Miene da. «Um was handelt es sich eigentlich?» frage ich ziemlich barsch und gerate angesichts dieser grauenhaften Szene in Wut. «Was soll ein so kleiner Junge schon angestellt haben, daß Sie ihn auf diese Weise fesseln! Und warum kann das nicht bis morgen warten?» «Es ist ein Befehl», erwidert die Deputy ungerührt. «Sie können sich morgen bei der Staatsanwaltschaft melden. Die werden Ihnen den Grund nennen.»

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«Aber lassen Sie den Jungen doch wenigstens heute Nacht hier schlafen! Wir kommen dann morgen zu Ihnen.» «Nichts ist», antwortet sie. «Wir gehen nicht ohne den Boy aus dem Haus. Wir haben den strikten Befehl, ihn mitzunehmen.» Ich koche vor Zorn. «So, jetzt habe ich genug! Wo ist überhaupt Ihr Arrest- oder Haftbefehl? Was für einen Grund gibt es, daß Sie ein zehnjähriges Kind mitten in der Nacht aus dem Bett holen?» «Wir brauchen keinen Haftbefehl, wenn Gefahr in Verzug ist», trumpft die Deputy auf. Auch sie gerät langsam in Fahrt, ihr Busen hebt und senkt sich rhythmisch mit ihrem schnellen Atmen. «Gefahr in Verzug?» wiederhole ich höhnisch. «Wollen Sie etwa sagen, daß der Kleine ein Mörder ist oder sonst ein schwerwiegendes Verbrechen begangen hat, das eine solche Handlung rechtfertigt?» «Es liegt eine Strafanzeige vor. Eine schwerwiegende Strafanzeige. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen», entgegnet die Vollbusige und bahnt sich den Weg Richtung Haustür. Beverly weint. Verstört schluchzt sie in ihre kleinen Hände, ich bleiches Gesicht wird noch fahler. Ich halte sie fest, während Raoul, ebenfalls weinend und völlig verstört, von den beiden Deputies aus dem Haus in einen der Wagen geführt wird. Der Sheriff-Deputy hat Mitleid mit dem Kleinen und tröstet ihn mit liebevollen Worten. Auch er ist wohl Familienvater und kann offensichtlich nachvollziehen, wie es einem Kind und den Eltern bei so etwas zumute sein muß.

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Kurz darauf fahren beide Autos weg. Tatjanna ist wach geworden und fragt, was los sei. Ich kann nicht antworten; Beverly hat ihr Gesicht an meine Schulter gelehnt und weint unaufhörlich. Tatjanna schaut besorgt drein. «Ich werde gleich morgen früh der Sache nachgehen», versuche ich sie zu beruhigen. «Im Moment können wir nichts tun. Ich bin sicher, daß es sich um einen Irrtum handelt.»

Dienstag, 31. August 1999 8.00 Uhr Es ist leider kein Irrtum. Unsere «liebe» Nachbarin Laura Mehmert hat Anzeige bei der Staatsanwaltschaft erstattet: Raoul soll seine Stiefschwester unsittlich berührt und dann noch vergewaltigt haben. Von wem diese Anklage kam, wußten wir damals aber noch nicht. «Wie bitte? Ich höre wohl nicht recht! Soll das ein Scherz sein?» «Nein», antwortet Noel Blum, der Staatsanwalt. «Das ist kein Scherz. Wir müssen einer solchen Anzeige auf den Grund gehen. Zudem soll Ihre Frau ja bereits wegen Vernachlässigung ihrer Kinder angezeigt und mit einem Bußgeld bestraft worden sein.» «Was wird nun aus meinem Sohn?» frage ich. «Stiefsohn», korrigiert Blum mit den fettigen, schütteren Haaren. «Er bleibt hier. Bei uns besteht wenigstens nicht die Gefahr, daß er eine solche Tat wiederholen kann.»

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«Das glaube ich einfach nicht!» entgegne ich entrüstet, und Beverly fügt hinzu: «So etwas kommt in meinem Haus überhaupt nicht vor!» «In Ihrem Haus nicht, aber in Ihrem Garten, hinter den Büschen», kontert Blum. «Welchen Beweis haben Sie dafür?» will ich wissen. «Eindeutige und unumstößliche. Die Staatsanwaltschaft wird schon alles herausfinden.» «Wollen Sie damit sagen, daß ein zehnjähriger Junge nur wegen einer haltlosen Anschuldigung in ein Gefängnis gesteckt wird? Und von wem kommt diese Anschuldigung überhaupt?» «Das steht zur Zeit nicht zur Debatte», lautet Blums Antwort. «Ich kann Ihnen im Moment überhaupt nicht helfen. Sie können ein Gesuch einreichen, damit Sie Ihren Sohn besuchen dürfen. Außerdem empfehle ich Ihnen dringend, einen Rechtsanwalt aufzusuchen. Sollten Sie sich keinen leisten können, wird Ihr Stiefsohn von einem Pflichtverteidiger vertreten.»

Dienstag, 31. August 1999 10.30 Uhr Mein Kopf droht zu zerspringen, die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen, und jetzt auch noch das! Ich muß einen Ausweg finden - da kommt mir der Gedanke, die Schweizer Botschaft anzurufen. Die zuständige Schweizer Botschaft hat ihren Sitz in der mexikanischen Stadt Houston.

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Dienstag, 31. August 1999 11.15 Uhr Der Botschaftsmitarbeiter Baumeier gab mir die Telefonnummer von Walter Wyss, dem Schweizer Honorarkonsul von Denver. Seine Frau nahm unseren Anruf entgegen und fiel aus allen Wolken, als sie von unserem Schicksalsschlag hörte. Zwar sei ihr Mann im Moment nicht erreichbar, er werde sich dann aber sofort mit uns in Verbindung setzen, versprach sie uns. Es lag auf der Hand, daß uns die Botschaft einen Rechtsbeistand vermitteln sollte, da wir keinerlei Erfahrung hatten, wer die notwendigen Fähigkeiten und Kenntnisse für ein solches Verfahren besaß. Walter Wyss rief dann wirklich kurz darauf zurück und empfahl uns den Rechtsanwalt Arnold C. Wegher. Die Zeit drängte, da für 13.15 Uhr Ortszeit die erste Gerichtsverhandlung anberaumt war. Arnold C. Weyher ist neben seinem Beruf als Rechtsanwalt auch Botschafter für Österreich in Denver. Er reagierte sofort und schaffte es tatsächlich, rechtzeitig im Gerichtssaal zu sein. Staatsanwalt Mister Noel Blum als Ankläger wartet bereits im Gerichtssaal, die Sozialarbeiterin Rhonda Miklic und die Bezirksanwältin Nancy Hooper sind ebenfalls anwesend. Den Vorsitz führt die ehrenwerte Richterin Marylin Lennard. Alle fünf in der vergangenen Nacht Verhafteten werden in den Saal geführt und im Schnellverfahren abgeurteilt. Ganz zum Schluß kommt Raoul an die Reihe. Während andere Jugendliche, die beispielsweise gewaltsame Raubüberfälle mit Waffen begangen haben, eine Kaution von 5.000 USDollar hinterlegen müssen, wird die für Raoul auf

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25.000 US-Dollar festgesetzt; eine Summe, die sonst in der Regel nur für erwachsene Straftätige, die Verbrechen mit Waffengewalt verübt haben, ausgesprochen wird. Raoul ist nicht nur der kleinste, sondern auch der jüngste Inhaftierte in Golden, Colorado. Als wir den Kautionsbetrag zur kommenden Verhandlung aufgebracht hatten und die 25.000 US-Dollar hinterlegen wollten, wurde die Kaution sofort aufgehoben. Raoul wurde mit der Begründung «Fluchtgefahr» nicht aus der Haft entlassen. Die Staatsanwaltschaft hatte nämlich überprüft, wie wir das Geld für die Kaution beschafften. Und als feststand, daß wir eine Hypothek auf das Haus aufgenommen hatten, sah sie darin ihre These von der Fluchtgefahr bestätigt; denn ohne das Haus war ein Verschwinden aus den Staaten wesentlich einfacher geworden - auch wenn eine solche Absicht überhaupt nicht bestand. Ich fragte mich immer mehr, ob dies wirklich das angebliche «Land der unbegrenzten Möglichkeiten» oder nicht vielmehr das der eingeschränkten Möglichkeiten sei. Nein, das hätte ich von diesem Land, das sich weltweit rühmt, angeblich für «Freiheit und Gerechtigkeit» einzustehen, nicht erwartet. Noch ist die ganze Sache nicht ausgestanden; und sofern der Leser dieses Buch bis zum Ende verfolgt, wird er erfahren, was uns Amerika mit seiner vielgerühmten Freiheit noch alles bescherte! Denn neben der Kaution wandte man bei Raoul noch den Safety-Plan (Sicherheitsplan) an. Wie dieser jedoch aussehen sollte, das wußte nicht einmal das Gericht, geschweige denn die Staatsanwaltschaft und noch weniger das Sozialamt. Es war lediglich die Rede davon, daß

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unsere Töchter unter gar keinen Umständen mehr mit Raoul zusammenkommen dürften. Ein Vorschlag von mir war, die Mädchen zu ihrer Großmutter nach Houston zu bringen. Da dann die Kinder aber dem Zugriff des Gerichts von Colorado entzogen wären, wurde er abgelehnt.

Donnerstag, 2. September 1999 10.00 Uhr Auch bei der zweiten Verhandlung weiß niemand, was der Sicherheitsplan beinhalten soll. «Euer Ehren», wendet sich der Verteidiger an die Richterin Marylin Lennard, «wir würden es doch sehr begrüßen, wenn die Verteidigung endlich Informationen bekäme, wie weit der Sicherheitsplan fertiggestellt ist und was er beinhaltet. Mein Mandant leidet große Not und möchte zu seiner Familie zurückkehren. Die Kaution ist ebenfalls bereitgestellt, so daß wir in dem Verfahren keinen Hindernisgrund erkennen können.» Die Richterin blickt über ihre Brille hinweg zur Staatsanwaltschaft und fragt: «Ist die Staatsanwaltschaft mit dem Sicherheitsplan soweit fertig?» Der Bezirksstaatsanwalt Noel Blum steht auf, blickt etwas überrascht und besorgt zugleich zwischen der Richterin und der Verteidigung hin und her, flüstert etwas zu der Sozialarbeiterin, richtet sich wieder auf und erwidert: «Es gibt da einige Schwierigkeiten, Euer Ehren.» «Schwierigkeiten?» entgegnet die Richterin, «was für Schwierigkeiten? Wo liegt das Problem?»

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«Entschuldigen Sie, Euer Ehren», nimmt Blum den Faden wieder auf und beginnt zu schwitzen, «es gab beim Sozialdienst einen Personalwechsel in Bezug auf diesen Fall. Wir brauchen noch etwas Zeit, um alles zu klären.» «Euer Ehren», wirft die Verteidigung ein, «es ist völlig unzumutbar, daß man ein zehnjähriges Kind in einer Zelle einschließt. Und wie Sie sehen, Euer Ehren, wird der Angeklagte immer noch in Hand- und Fußfesseln vor Gericht geschleppt.» «Das verlangt das Gesetz. In diesem Land werden jugendliche und erwachsene Straftäter gleich behandelt», entgegnet Blum. Die Verhandlung ist zu Ende, Raoul muß weiterhin im Gefängnis bleiben. Wir dürfen unseren Sohn zweimal in der Woche im Mount View-Gefängnis besuchen, müssen uns jedoch zuvor anmelden. Die Besuche des Anwalts und des Honorarkonsuls unterliegen keiner Beschränkung, auf diese Weise hat Raoul mehr Kontakt zur Außenwelt. Die Zelle ist zwei Mal drei Meter groß, völlig kahl und hat zwei hochgelegene Milchglasfenster. In der Ecke steht ein Bett mit einer Wolldecke und einem Kunststoffkissen. Es gibt kein Spielzeug, Raoul darf weder Fotos, Bilder noch sonst irgend etwas Persönliches an den Wänden aufhängen; er hat nur seine Farbstifte und Zeichenpapier, das ihm ausgehändigt wird. In der Zelle gibt es weder einen Tisch oder Stuhl noch eine Toilette. Wenn Raoul seine Notdurft verrichten muß, hat er eine Klingel zu drücken, um dadurch den Wärter zu holen. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie genervt diese Wärter sein müssen, wenn sie ein Foot-

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balispiel im Fernsehen anschauen wollen und an den spannendsten Stellen Delinquenten läuten, die auf die Toilette wollen! Täglich gibt es einen Hofspaziergang. Die Gefängnisinsassen müssen grüne Häftlingskleidung tragen, ihre Haare wurden kurzgeschnitten, die Arme müssen während des Rundgangs hinter dem Rücken verschränkt sein. Gesprochen werden darf nicht, es gibt den täglichen Drill in der Zeichensprache. Wenn jemand etwas sagen will, hat er Mittel- und Zeigefinger auf Brusthöhe nach vorn zu strecken, erst auf Befehl des Wärters darf er sprechen. Die Worte haben kurz und laut zu sein - keine Nuschelei! Eine Hand hochzuhalten wie in der Schule gilt als Bedrohung und wird mit langen und schweren körperlichen Übungen bestraft. Irgend etwas ohne Befehl zu tun oder aufzublicken, wenn der Wärter nicht eine Antwort verlangt, werden ebenso bestraft. Die Erlaubnis zum Austreten wird mit einem Daumen nach oben, im Winkel zur Brust gehalten, angezeigt. Nur wer dazu entlassen wird und mitteilt, was er alles machen muß, ob es eine große oder eine kleine Notdurft ist, hat die Möglichkeit, ungestraft seine Bedürfnisse zu verrichten. Die Wärter sind weiß gekleidet, sie tragen einen schwarzen Gurt, in dem eine Feuerwaffe steckt. Zudem sind sie noch mit Pfefferspray und einem Elektroschock-Gerät ausgerüstet. Raoul ist der Jüngste und der Kleinste. Im Aufenthaltsraum, wo alle zur gleichen Zeit die Mahlzeiten gemeinsam einnehmen, gibt es auch ein Fernsehgerät. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Raoul nur Kinderfilme

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gesehen, die ich und meine Frau uns vorher angeschaut hatten und bei denen wir sicher waren, daß dort keine Gewaltszenen vorkommen. Hier im Jugendknast, wo Elf- bis Siebzehnjährige eingesperrt sind, werden oft die gewalttätigsten Actionfilme gezeigt. Kein Wunder, daß in Amerika die Gewalt überhandnimmt! Bereits am zweiten Tag wurde Raoul von einem der größten und brutalsten Gefangenen so lange blutig geschlagen, bis er nicht mehr aufstehen konnte und bewußtlos liegenblieb. Die Wachmannschaft, die oben in der Galerie durch das Fenster das Geschehen beobachtete, unternahm nichts dagegen. Auf meine Frage, wie so etwas passieren könne, erklärte man mir lapidar, daß dies der einzige Freiraum sei, den die Gefangenen hätten, und irgendwie müßten sie sich auch austoben. Zudem sei es Brauch, alle Jüngeren und Schwächeren müßten da durch. Raoul zeichnet in der Zelle und auch im Gericht. Offenbar läßt ihn dies all seine Nöte und das Elend vergessen. Einmal pro Woche darf er uns anrufen, wir ihn ebenfalls wöchentlich nur einmal. Wenn er dann völlig verzweifelt am Telefon weint, verbieten ihm das die Wärter und drohen, er dürfe nicht mehr telefonieren, falls er sich nicht zusammenreiße. Wir trösten ihn, so gut es geht. Bei späteren Telefonaten, wenn seine Mutter oder Großmutter ihrerseits in Tränen ausbrechen, ist es dann Raoul, der sie tröstet und erklärt, es gehe ihm soweit gut. Ich entdecke in diesem kleinen tapferen Burschen immer mehr, was mich stolz und glücklich macht und mir Hoffnung und Trost gibt, daß er sich nicht unterkriegen läßt.

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Einmal hatte Raoul kein Papier mehr für seine Zeichnungen und malte deshalb etwas auf den blanken Boden. Zur Strafe mußte er ein gelbes T-Shirt anziehen, ein äußeres Schandmal, das zeigen soll, daß er etwas angeblich «sehr Verwerfliches» getan hat; als Folge wird er von der ganzen Gruppe mit Verachtung gestraft. Er muß separat in einer Ecke essen und als erster, getrennt von allen anderen, im Kreis gehen. Aber Raoul verstand überhaupt nicht, warum er im Gefängnis war und worum es in diesen Verhandlungen eigentlich ging. Meine Arbeit blieb liegen, ich mußte den Auftrag einem Kollegen übergeben, weil ich keine Chance sah, meine Arbeit aufzunehmen, solange die Familie nicht wieder glücklich zusammen und alles ins Lot gebracht war. Meinen ganzen Einsatz und alle Kraft brauchte ich für meine Familie und die Verfolgungsbehörde. Hätten wir den Schweizer Honorarkonsul und Rechtsanwalt Wegher nicht gehabt, es stünde nicht nur schlecht um Raoul, sondern auch um unsere anderen Kinder, die man uns ebenfalls wegnehmen wollte. Und um uns selbst - denn auch wir sollten bei diesem Komplott geopfert werden. Je mehr die Justiz mit ansehen mußte, wie sich das Schweizer Konsulat in den Fall einschaltete, um so größer wurde ihre Angst, die Sache könnte ihr aus den Händen gleiten. Bislang hatte sie nämlich noch keinen einzigen brauchbaren Beweis erhalten für einen sexuellen Übergriff, wie sie ihn konstruieren wollte. Raoul interessierte sich überhaupt nicht für Sex und war auch von seiner physischen Entwicklung her noch viel zu infantil.


Sheriff John P. Stone und die Sozialarbeiterin Rhonda Miklic nehmen nun die fünfjährige Sophia ins Verhör. Eine Videokamera zeichnet alles auf, was sie sagt. An einem langen Tisch sitzen an einem Ende die Sozialarbeiterin, am anderen Ende der Sheriff; Sophia muß in der Mitte, direkt vor der Kamera Platz nehmen. Vor ihr liegen zwei Puppen, eine davon ist ein Mädchen, die andere ein Junge mit erigiertem Glied. Der Sheriff fragt Sophia, was Raoul mit ihr gemacht habe. Dabei weist er auf die männliche Puppe und hält diese so, daß das Gesicht der Puppe auf der Höhe des Beckens der Mädchenpuppe ist. «Hat er das gemacht?» fragt er und drückt die männliche Puppe zwischen die Beine der Mädchenpuppe. Sophia ist verwirrt und weiß nicht, was damit gemeint ist. Der Sheriff bohrt weiter: «Hat er dich hier geküßt? Hat er sonst etwas mit dir gemacht?» «Ich weiß nicht», erwidert Sophia und rutscht unruhig auf dem Stuhl hin und her. «Wo hat er dich geküßt?» fragt die Sozialarbeiterin energischer. Da zeigt Sophia auf das Gesicht. Auf die Stirne, auf die Augen, auf den Mund. «So kommen wir nicht weiter», stellt der Sheriff fest, nimmt die Puppen, plaziert die männliche hinter die weibliche und ahmt die Bewegung des Sexualverkehrs nach. «Hat er das mit dir gemacht? Sag schon, wir sagen es niemandem. Wir sind doch unter uns.» Sophia ist es sichtlich unwohl zumute, sie gibt kleine wimmernde Laute von sich.

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«Ich weiß nicht, was das heißt und was das ist. Raoul hat mir nichts gemacht. Ich weiß nicht.» Sie blickt verstört mal nach dem Sheriff, mal in die Richtung der Sozialarbeiterin und fragt dann: «Kann ich jetzt nach Hause gehen? Ich habe in die Hosen gepinkelt.» Eine halbe Stunde lang dauerte diese Prozedur, die nichts brachte. Im Anschluß an dieses Verhör fand folgende Unterhaltung statt: «Ich glaube, ihr müßt einen anderen Weg einschlagen», beginnt der Sheriff. «Da ist überhaupt nichts passiert. Das Mädchen weiß nicht einmal, von was die Rede ist. Wäre etwas mit ihr geschehen, würde sie anders reagieren. Vielleicht sollte man mal die Eltern überprüfen, ob sich da irgend etwas ereignet hat, das Aufschluß geben kann.» «An was denken Sie?» fragt Rhonda Miklic. «An eine Hausdurchsuchung nach Sex- und Brutalofilmen, eventuell an Waffen, Drogen oder was weiß ich. Aber so kriegen wir die Wüthrichs nicht!» «Eine schöne Blamage», wirft die Sozialarbeiterin ein, «Ich werde es mit Nancy Hooper, der Bezirksanwältin, besprechen.» «Hat sie jetzt den Fall übernommen?» «Ja, wir brauchen Resultate. Die Zeit drängt, die nächste Gerichtsverhandlung ist bereits kommende Woche. Dann wird entschieden, unter welchen Bedingungen der Junge auf freien Fuß gesetzt werden kann. Die Verteidigung verlangt dann auf der Stelle den Sicherheitsplan.

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Und ohne neue Indizien können wir den Jungen hier nicht mehr festhalten.» Sheriff Stone starrt zum Fenster hinaus. «Wenn sie den Jungen entlassen, können wir nichts mehr tun. - Sie wissen doch, die Wahlen!» Die Sozialarbeiterin nickt sinnend und sagt nichts. Sophia sprach drei Tage kein einziges Wort mehr, so verstört war sie. Wir fragten uns, was die Staatsanwaltschaft diesem Kind angetan hat, daß es dermaßen verunsichert und frustriert von ebendiesem Amt zurückkam, von dem man Hilfe und nicht zusätzlichen Schaden hätte erwarten müssen. Heute noch, nach mehr als einem Jahr, hat Sophia Mühe, darüber zu reden. Sie brauchte psychologische Betreuung, ebenso wie Raoul. Mit Bitterkeit erinnere ich mich an die zornerfüllten Worte von Staatsanwalt Sergej Thomas zu den Pressevertretern, nachdem der Richter das Verfahren ohne Gerichtsverhandlung einstellt hatte: «Der Junge braucht jetzt in der Schweiz dringend psychologische Hilfe, sonst wird er am Ende noch dieses Monster, für das wir ihn halten! Er ist eine lebende Zeitbombe!» Im nachhinein klingt das wie blanker Hohn, wenn man bedenkt, was Raoul und seiner kleinen Halbschwester alles angetan wurde und warum diese Kinder später psychologische Hilfe benötigten. Nancy Hooper, die Bezirksanwältin, rief die Zeugin Laura Mehmert an, sie solle möglichst gleich morgen bei ihr im Büro in Jefferson County erscheinen. Bei diesem Gespräch wurde die Zeugin dann aufgefordert, ver-

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mehrt ein Auge auf die Nachbarn Wüthrich zu werfen. Vor allem bestand die Bezirksanwältin auf mehr Details, an die Laura Mehmert sich erinnern sollte; möglicherweise begann damit das ganze Unheil, worüber aber lediglich Vermutungen anzustellen sind. Auf jeden Fall gab Laura Mehmert ab da völlig andere, viel dramatischere Aussagen vor dem Richter und der Presse von sich. Schließlich muß sie sich regelrecht in die ganze Sache hineingesteigert haben, da sowohl die Bezirksanwältin als auch das Sozialamt ihr Standhaftigkeit in Bezug auf ihre Aussagen attestierten. Diese Glaubwürdigkeit der einzigen «Augenzeugin» brachte ihre Phantasie in Schwung: Nun war sie wer, man glaubte ihr! Sie wurde eine Stütze des Gerichts, von ihr hing es ab, ob sie in der Öffentlichkeit als glaubwürdig galt und der kleine Kerl hinter Gitter sollte oder nicht. «Gott hat mich erhört!» betonte sie immer wieder gegenüber den Personen, die mit ihr in dieser Sache zu tun hatten. Und bei den Gerichtsverhandlungen, wo sie als Zeugin auftrat, war sie auf einmal schön frisiert, trug ein schwarzes Kostüm mit Rollkragenpullover und eine schwarze Macho-Brille wie die Sicherheitsbeamten vom State Department. Sie rauschte, nein schwebte trotz ihres beträchtlichen Umfangs über das Parkett vor den Richter, wo sie feierlich die Hand zum Schwur erhob, «die Wahrheit und nur die ganze Wahrheit zu sagen, so wahr mir Gott helfe». Denn sie habe alles gesehen - und sehr genau gesehen! «Jetzt müßt ihr aufpassen», warnte uns Onkel Frank, der selbst Strafverteidiger ist und den wir konsultierten. «Was meinst du damit?»

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«Ich würde vorschlagen, die anderen Kinder außer Landes zu schaffen oder sie wenigstens so unterzubringen, daß die Bezirksanwaltschaft ihrer nicht habhaft werden kann.» «Ja, das denke ich auch. Können wir die Kinder in die Schweiz schicken?» meinte ich zu Beverly. «Meine Mutter hat diesen Vorschlag auch schon gemacht.» Meine Eltern und Dianna Wood, Raouls Großmutter von Beverlys Seite, sowie weitere Personen standen uns bei. Sie konnten es nicht fassen, was unserem Raoul vorgeworfen wurde und was mit dem Jungen geschah. Alle empfahlen uns, die Kinder in die Schweiz zurückzuschicken, damit sie in Sicherheit seien; zudem sei die Belastung für die Kinder zu groß. Beverly konnte sich mit dem Gedanken noch nicht recht anfreunden, sie wollte die Kinder um sich haben. Aber von Tag zu Tag wurde die Situation chaotischer.

Freitag/Samstag, 3-/4. September Einen Tag nach der zweiten Gerichtsverhandlung kam abends das befreundete Schweizer Ehepaar Mark und Sabine Allenspach aus Texas zu Besuch. Wir erzählten ihnen die ganze Geschichte, und nach einer Gedankenpause schlug Sabine Mark vor, die Kinder für eine bestimmte Zeit zu sich zu nehmen, damit wir uns ganz auf den Gerichtsfall und die Besuche bei Raoul konzentrieren könnten. Beverly und ich waren damit sofort einverstanden, weil wir befürchteten, daß uns die anderen Kinder auch noch entzogen werden, wenn sie zeitweise

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ohne ständige Aufsicht blieben. Raouls Verteidiger hatte uns bereits auf diese Sache angesprochen und darauf hingewiesen, daß die Staatsanwaltschaft sicher alles daransetzen würde, die Kinder aus unserem Umfeld zu entfernen und in Pflegefamilien unterzubringen. Viele Familien würden sich als Pflegefamilien zur Verfügung stellen, da dies ein lukratives zusätzliches Einkommen darstellt. Ob die Kinder dann allerdings die nötige Pflege erhalten und in guter Obhut seien, dafür gäbe es keine Garantie. Auch wir waren gefährdet und mußten sicherheitshalber vor einem Zugriff der Behörde untertauchen. Denn etwas stimmte hier in diesem Colorado nicht, wenn man auf derartige Weise versuchte, eine ganze Familie zu zerstören. Wir beschlossen, alles, was die Kinder brauchten, zusammenzupacken, und fuhren anderntags mit zwei Wagen nach Texas. Noch am Sonntag kehrten Beverly und ich zurück, kamen völlig erschöpft wieder zu Hause an und informierten Raouls Rechtsanwalt, die Botschaft und den Honorarkonsul Walter Wyss.

Dienstag, 7. September 14.00 Uhr In Golden, der kleinen Vorstadt von Colorado, findet wieder eine - bereits die dritte - Gerichtsverhandlung statt, an der auch der Bezirksanwalt Noel Blum teilnimmt. Außer ihm haben noch die Staatsanwälte Sergej Thomas, ein Schwarzer, und Nancy Hooper Platz genommen. Die Richterin Marylin Lennard fragt den Be-

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zirksanwalt, wie nun der Sicherheitsplan aussehe und ob der Angeklagte jetzt gegen Kaution und mit dem Sicherheitsplan auf freien Fuß gesetzt werden könne. «Euer Ehren, die Staatsanwaltschaft hat neue schwerwiegende Anschuldigungen gegen den Angeklagten erhalten, so daß sie von einer Entlassung des Angeklagten unter allen Umständen abraten muß.» «Was sind das für Anschuldigungen?» Der Verteidiger wirft ein: «Euer Ehren, die Verteidigung hat bis heute keine neuen Erkenntnisse von der Staatsanwaltschaft erhalten. Wir erheben Einspruch.» «Warten wir doch einmal ab, was die Staatsanwaltschaft zu sagen hat», erwidert die Richterin und blickt zum Bezirksanwalt hinüber. «Was sind das für Anschuldigungen?» Noel Blum räuspert sich und beginnt: «Die Staatsanwaltschaft hat gesicherte Beweise für schweren Inzest, von Blutschande. Da die Blutsverwandtschaft und der Verwandtschaftsgrad nicht feststehen, müssen wir von einem Inzest ausgehen. Das Opfer ist die Halbschwester des Angeklagten. Sollte er nun aus der Haft entlassen werden, könnte es zu einer Wiederholungstat kommen. Davor muß die Staatsanwaltschaft warnen. Wir wollen nur das Beste für den Angeklagten und genügenden Schutz für seine Geschwister.» «Euer Ehren», wendet der Verteidiger ein, «das ist doch alles völlig absurd und abstrus. Bis heute hat die Staatsanwaltschaft keinen stichhaltigen Beweis erbracht, daß der Angeklagte die ihm zur Last gelegte Tat überhaupt begangen hat. Wir müssen auf der Entlassung des Angeklagten bestehen. Offensichtlich ist es doch der Staatsanwaltschaft bis heute, nach nun fast

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zwei Wochen, nicht gelungen, einen stichhaltigen Grund für die Inhaftierung zu liefern.» «Euer Ehren», legt sich Noel Blum ins Zeug, «sowohl die Untersuchung der Sozialbehörde als auch die des Sheriffs vom County haben ergeben, daß ein klarer Beweis für die sexuelle Belästigung existiert. Im weiteren können wir uns nicht vorstellen, daß der Angeklagte weiterhin mit seinen Geschwistern zusammen sein darf. Eine Tatwiederholung wäre praktisch vorprogrammiert. Im übrigen, Euer Ehren, werfen Sie einen Blick in diese Dokumente, schauen Sie sich diese Familie an, dann können Sie verstehen, warum die Staatsanwaltschaft unter keinen Umständen dulden kann, daß eines dieser Mädchen wieder mit dem Angeklagten zusammenkommen darf! Und vor allem dürfen diese Kinder auf gar keinen Fall unseren Bundesstaat verlassen.» Die Richterin sieht zur Verteidigung hinüber: «Was meint die Verteidigung dazu?» «Euer Ehren, mir scheint, die Staatsanwaltschaft überschreitet hier bei weitem ihre Grenzen. Nicht nur, daß sie den Jungen verurteilt haben will, möchte sie jetzt sogar die ganze Familie auseinanderreißen und unter Anklage stellen. Es kann doch nicht der Wille des Gerichts sein, diesen kleinen Jungen in einer Umgebung zu belassen, wo sonst nur schwer straffällig gewordene Jugendliche und Verbrecher untergebracht sind. Wir haben bis heute lediglich die Aussage der Zeugin Laura Mehmert vorliegen, die seit Monaten gegen die Familie Wüthrich einen regelrechten Krieg führt. So eine Zeugin kann einem hohen Gericht nicht als glaubwürdig erscheinen.»

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«Euer Ehren, die Zeugin Mehmert können wir jederzeit vorladen, damit das Gericht ihre Glaubwürdigkeit selbst prüfen kann», kontert der Staatsanwalt. «Gut», erwidert Richterin Marylin Lennard, «das Gericht setzt einen neuen Termin auf den 14. September 1999 um 13.15 Uhr fest. Die Staatsanwaltschaft hat dafür zu sorgen, daß die Zeugin Laura Mehmert zu diesem Zeitpunkt hier erscheint. Ist das im Sinne der Staatsanwaltschaft?» Der Bezirksanwalt streckt den Kopf zu den Beisitzern, die zustimmend nicken. «Ja, Euer Ehren, wir sind damit einverstanden.» «Einwände, Herr Verteidiger?» «Gegen den Termin nicht, Euer Ehren, nicht einverstanden hingegen erklärt sich die Verteidigung mit dem weiteren Verbleib des Angeklagten im Mount View-Gefängnis.» «Das wird dann auch zu diesem Zeitpunkt geklärt. Möglicherweise wird man ihn in eine Pflegefamilie oder in ein Heim einweisen, bis das Gericht über weitere Maßnahmen entschieden hat.» Die Sozialarbeiterin räuspert sich vernehmlich, so daß die Richterin sie fragt: «Will das Sozialamt etwas dazu sagen?» Rhonda Miklic erhebt sich und erklärt: «Ja, Euer Ehren. Unsere Abteilung hat sich bereits überall umgeschaut, um einen geeigneten Platz für den Jugendlichen zu finden. Leider ist uns bis heute aus ganz Colorado nichts angeboten worden, was die Auflagen der Staatsanwaltschaft an uns erfüllt. Wir werden uns aber weiterhin darum bemühen.»

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Die Richterin antwortet: «Lassen Sie das Gericht sofort wissen, wenn Sie eine Lösung gefunden haben. Die Sitzung ist geschlossen.» Der Hammer fällt auf das Richterpult. Der Verteidiger murmelt etwas. Die Richterin schaut zu ihm hinüber: «Ist noch etwas, Herr Verteidiger?» «Ja, Euer Ehren. Die Verteidigung will noch mitteilen, daß die drei Mädchen der Wüthrichs bereits wieder in die Schweiz zurückgekehrt sind.» Die Nachricht schlägt im Gerichtssaal wie eine Bombe ein. Ungläubiges Staunen, für einen Moment ist es totenstill, man hört nur ein wütendes Schnauben. Dann springt die Richterin mit hochrotem Kopf auf und schreit wutentbrannt: «Wenn das so ist, muß ich die Kaution als verfallen erklären und den Angeklagten zu seinem und dem Schutz der Bevölkerung in Haft belassen !» Auch die Staatsanwaltschaft hat sich zwischenzeitlich wieder gefaßt, nachdem es ihr zunächst die Sprache verschlagen hatte. «Das ist unverzeihlich», überschlägt sich Noel Blums Stimme vor Entrüstung, während Sergej Thomas ihm beipflichtet. «Dazu hätten Sie uns zuerst fragen müssen. Es kann nicht angehen, daß in einem laufenden Verfahren Personen, die auch als wichtige Zeugen vor Gericht geladen werden könnten, dem Umfeld der Justiz entzogen werden, ohne die Staatsanwaltschaft darüber zu informieren.» «Die Verteidigung möchte Euer Ehren und die Staatsanwaltschaft ungern darüber belehren, daß die Anklage nur gegen Raoul Wüthrich und nicht gegen ein anderes Familienmitglied läuft. Die Verteidigung hat erst unmit-

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telbar vor der Gerichtsverhandlung von der Wegbringung der Kinder in die Schweiz erfahren.» «Dann hätten Sie das Gericht früher darüber informieren müssen», kommentiert die Richterin, und die Staatsanwälte nicken eifrig dazu. Damit hatte sich der Verteidiger elegant aus der Affäre gezogen. Auch wenn sich die Kinder noch in Dallas befanden, so waren sie in einem anderen Staat und somit dem Zugriff der Justiz von Colorado entzogen. Die offenkundige Empörung des Gerichts zu unserem Schachzug freute uns irgendwie. Wir waren der Meinung, dieser traurige Tag war dadurch mindestens teilweise gerettet, auch wenn wir die bittere Pille zu schlucken hatten, daß Raoul ins Gefängnis zurück mußte. Aber das Gericht hätte ihn ohnehin unter keinen Umständen wieder freigelassen. Schließlich hatten wir nicht nur die Kaution von 25.000 Dollar bereitgestellt, sondern auch eine ganze Reihe von Vorschlägen eingebracht, die eigentlich vom Gericht hätten akzeptiert werden müssen, aber von der Staatsanwaltschaft und der Richterin als ungenügend abgewiesen wurden. Im übrigen fand die Staatsanwaltschaft ein früheres Protokoll der Sozialarbeiterin Rhonda Miklic, wonach Sophia bereits im Mai vernommen worden war. Auf der Fahrt zum Sozialamt hatte es zuvor im Auto Reibereien gegeben, weil Sophia nicht am Fensterplatz sitzen durfte. Raoul soll dabei seine kleinere Schwester weggestoßen haben. Beverly hatte daraufhin der Sozialarbeiterin den Vorschlag gemacht, die Sitzung zu verschieben, die Sozialarbeiterin lehnte dies jedoch ab.

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So kam es zu jener unheilvollen Aussage, die Sophia angeblich gemacht haben soll, als sie von der Sozialarbeiterin befragt wurde, ob und wo Raoul sie geküßt hat. Sophia soll überlegt und schnell «am ganzen Körper» geantwortet haben. Eine solche Ausdrucksweise und Wortwahl stammen wohl kaum von einen knapp fünfjährigen Mädchen! Des weiteren lagen noch drei Protokolle vor: eines von den Sozialarbeitern Dan Jarbot und Rhonda Miklic, datiert vom 17. Juni, die Aussagen von Raoul zur Befragung vom 19. Juni durch Polizeiinspektor Tom Acierno und das Telefonat vom 30. Juni mit Laura Mehmert. Die Staatsanwaltschaft war der Meinung, damit nun konkrete, aussagekräftige Beweise in den Händen zu haben. Beverly hatte beide Kinder einzeln befragt, was sich im Garten zugetragen hat, und beide antworteten das gleiche. Laut einem Protokoll, das die Staatsanwaltschaft dem Gericht vorlegte, soll Raoul angeblich seiner kleinen Schwester gesagt haben, die Mutter dürfe nichts davon erfahren, daß er sie an der Vagina geküßt habe. Uber diesen Fachausdruck, dieses Vokabular soll ein fünfjähriges Kind verfügen? Später meinte Sophia zu ihrer Mutter, es tue ihr leid, der Sozialarbeiterin etwas Unwahres erzählt zu haben, als diese sie fragte, ob und wo sie von Raoul geküßt worden sei. Auf die Frage der Mutter, was sie denn nun tatsächlich der Sozialarbeiterin geantwortet habe, entgegnete Sophia: «Ich habe gesagt überall.» Raoul, der dem Gericht teils aufmerksam, dann wieder abwesend zuhört und gleichzeitig mit Farbstiften Zeichnungen auf einen großen Bogen Papier malt, sieht

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bleich und verängstigt aus. Nur wenn sein Name fällt, blickt er interessiert hoch und flüstert dann dem Verteidiger etwas ins Ohr, wie dies Kinder so tun. Ich sitze mit meiner Frau neben Konsul Wyss. Die Sitzung dauert knapp eine Stunde. Wir sind alle geschockt, fassungslos. Mit dieser Hinhaltetaktik treibt die Staatsanwaltschaft das Spielchen weiter.

Donnerstag, 9. September 1999 7.30 Uhr Es klingelt an der Haustüre, noch verschlafen mache ich auf. Die Frau und der Mann davor weisen sich als Staatsanwalt Mike Harris und eine Mitarbeiterin aus. Sie werden umringt von mehr als einem halben Dutzend Polizisten. Ich spüre förmlich, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht. «Wir müssen das Haus und das ganze Grundstück durchsuchen», erklärt mir Mike Harris den Grund für das Aufgebot an Polizeiuniformen. «Was hoffen Sie zu finden?» frage ich ihn. «Das wird sich noch zeigen!» faucht er und dringt in das Haus ein. «Ist Ihre Frau auch hier?» «Ja, sie ist noch im Bett. Ich werde sie gleich wecken.» «Nicht nötig», meldet seine Assistentin, «hier kommt sie.» Beverly steht in ihrem Nachthemd ebenso verwirrt da wie ich.

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«Was ist denn jetzt schon wieder los?» will sie wissen. «Hausdurchsuchung, Madam», antwortet Harris und geht an ihr vorbei. «Man könnte meinen, wir wären Verbrecher, so wie man uns behandelt.» War es, daß sie die letzte Nacht so schlecht geschlafen hatte oder einfach der Dauerstreß? Es erstaunte mich, wie diese kleine Frau genau die richtigen Antworten zu geben imstande war. Denn jetzt war sie wütend, wirklich wütend. Harris dreht sich wortlos um und gibt dem Einsatzleiter der Polizei ein Zeichen: «Sie können anfangen.» Die Polizisten dringen in alle Zimmer ein, durchsuchen Schubladen, Kästen und Kartons, jeden Winkel. Harris erkundigt sich: «Gibt es noch andere Räume außer denen im Haus?» «Die Garage», gebe ich zurück, während ich meine Kleider anziehe und er mich dabei beobachtet. Er geht voraus, und da das Garagentor sich nur durch einen elektrischen Impuls öffnen läßt, der jedoch im Haus liegt, gehe ich um die Garage herum zum Hintereingang. Plötzlich steht ein schwarzvermummter Mann mit einer feuerbereiten Schußwaffe vor mir - ich erschrecke fast zu Tode. «Keine Angst», meint der Staatsanwalt lapidar, «das ist einer von uns.» Daraufhin kann ich beobachten, wie eine ganze Schar solcher vermummter Polizisten sternförmig auf das Haus zukommen und hinter jedem Busch und Baum stochern. «Was soll das Ganze?» frage ich Harris.

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«Wir müssen das komplette Grundstück durchsuchen.» «Was erhoffen Sie sich davon?» Er bleibt die Antwort schuldig und sieht mich nur an. Nachdem er in der Garage und auch noch im Dachstock nachgesehen und nichts Verdächtiges gefunden hat, gehen wir wieder ins Haus zurück. Dort sind weitere Polizisten, die sogar unter das Haus kriechen und mit Taschenlampen alles durchsuchen - ohne Erfolg. Im Haus entdecken sie dann einen verschlossenen Schrank im Flur. «Milchen Sie den auf!» befiehlt einer der Polizisten. «Hier sind nur einige Videokassetten und CompaktDisc drin.» Der Staatsanwalt und seine Mitarbeiterin sehen sich erwartungsvoll an, so als ob sie jetzt plötzlich etwas gefunden haben, was sie dringend suchten. Aber in dem Schrank sind nur harmlose Videos, Kinderfilme und Actionfilme, die es in jedem Laden zu kaufen gibt. Filme jedoch, zu denen die Kinder keinen Zugang haben. Beverly und ich schauen uns vorher immer alle Filme genau an, und auch fernsehen dürfen die Kinder nur, wenn Beverly oder ich dabei sind. Sexfilme, wie die Staatsanwaltschaft gehofft hatte, gab es keine, und auch nichts anderes Verdächtiges. Später erfuhren wir, daß unser Kindermädchen Betsy, die in unserer Abwesenheit die Kinder beaufsichtigte, mit der Staatsanwaltschaft Kontakt aufnahm und ihnen erklärte, daß sie noch nie in einer Familie gewesen sei, wo derart stark kontrolliert wurde, was die Kinder im Fernsehen anschauen durften und was nicht. Aber die Staatsanwaltschaft ignorierte einfach alle entlastenden Fakten.

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Nach rund drei Stunden verließen sie das Grundstück. Ihre Autos hatten sie zu unserem großen Erstaunen außerhalb unseres Grundstücks, hinter Bäumen gut versteckt, geparkt. Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und ich verstand die ganze Aktion. Wir hatten nur noch den einen Gedanken: So schnell wie möglich die Kinder in die Schweiz bringen - und vor allem keine Nacht mehr in diesem Haus schlafen! Wir packten alles zusammen, was wir unterwegs brauchten, verstauten es im Auto und fuhren weg.

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2. KAPITEL Rückblick in die Vergangenheit Unser Familienleben in den USA hatte sich nicht viel anders gestaltet als in der Schweiz, wo ich aufgewachsen bin und meine Frau und unsere Kinder drei Jahre lang im Kanton Graubünden lebten. Für Beverly war die Schweiz etwas Neues. Sie brauchte einige Zeit zum Eingewöhnen und bis sie sich dort wohlfühlte. Ein Hauptgrund hierfür mag auch in der eher kühlen Reserviertheit, ja man möchte fast sagen berglerischen Verschlossenheit des Bündners ganz allgemein liegen. Meine Familie hingegen hatte alle Kinder und auch meine Frau sehr lieb und gut aufgenommen. Wir wohnten zuerst in Untervaz, einem kleinen Dorf vor Chur, der Hauptstadt des Kantons Graubünden; hier lernte Beverly auch, nach Schweizer Art zu kochen. Später zogen wir in die Bündner Herrschaft, wo die wunderbaren Weine reifen und die Berge sich nicht mehr so schroff über den Köpfen erheben, was besonders Beverly in eine gewisse Angst und Unruhe versetzte. In Malans gingen die größeren Kinder zur Schule. Sie gewannen viele Freunde, es war wirklich schön, dort zu leben. Nach drei Jahren bekam Beverly wieder Heimweh, außerdem war es mein Wunsch, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen, und ich glaubte immer noch dem Slogan «Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten». Also wandelten wir nach Amerika aus. Im Sommer machten wir mit unseren Kindern viele Wanderungen in die Rocky Mountains. Man konnte

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auch Pilze suchen gehen, und die Kinder hatten ihre helle Freude. Sie waren gut und fleißig in der Schule, wir hatten in keinerlei Hinsicht Probleme. Einzige Sorge war mein berufliches Fortkommen, aber auch hier gab es Abhilfe. Die Bevölkerung dort ist sehr zugänglich und offen, man freundet sich in diesem Land sehr viel schneller an als in meiner Heimat, der Schweiz. Wenn Freunde zu Besuch kamen, tischten wir anfangs unsere Schweizer Küche auf; schnell stellte sich aber heraus, daß diese nicht bei allen Gästen ankam. Während man bei uns ein Raclette, bestehend aus feinstem Schweizer Schmelzkäse mit frischen jungen Kartoffeln, sehr schätzt, können die Amerikaner einem solchen Essen nichts abgewinnen. Nach dem Motto: Was der Bauer nicht kennt, ißt er nicht! Die Amis bevorzugen eindeutig ein T-bone-Steak, einen Hamburger oder sonst einen Fastfood-Fraß. Ebensowenig kennt man in den Staaten das Abendessen als solches, überhaupt ist eine gemeinsame Mahlzeit höchst unüblich. Nicht einmal das Frühstück wird zusammen eingenommen; statt dessen macht sich jeder selbst ein Rührei mit Toast, Kaffee oder Fruchtsaft, und zum Mittagessen wird irgendein Lunch eingepackt. Abends geht jeder wiederholt zum Kühlschrank, holt sich dort heraus, was er will, Sandwich oder ein Bier, ein gekochtes Ei oder was weiß ich was. Unsere Familie hingegen sitzt seit eh und je zu jeder Mahlzeit gemeinsam am Tisch. Seit Raoul mit einigen Mormonen-Kameraden zusammen war, pflegt er nicht nur abends, sondern auch bei Tisch ein Gebet zu sprechen. Er kennt sich in der Bibel bereits recht gut aus und ist sehr wißbegierig, was das Leben von Jesus

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Christus anbelangt. Eine Tatsache, die uns Eltern etwas beschämt, weil er bereits weit mehr darüber zu wissen scheint als wir. Und so ist auch Raouls Einstellung zum Leben: Er liebt die Tiere, die Pflanzenwelt und er liebt seine Geschwister. Er paßt auf sie auf, weil wir ihm klar gemacht haben, daß er der Mann im Haus ist, wenn ich nicht daheim bin. Er wußte dies anscheinend richtig zu deuten, denn er benahm sich seiner Mutter gegenüber nie wie ein kleiner Macho - die Mutter war für ihn immer noch Sinnbild der Liebe und der Güte. Offensichtlich haben ihm dies auch die Mormonen nahegebracht. Raoul liebt Raclette und Fondue ganz besonders. Uberhaupt gefiel ihm alles, was wir in der Schweiz hatten: Die Berge, das Land, die Tiere, die Menschen und besonders seine Malanser Schulkameraden. Er ist ein Junge, der zwar etwas verträumt, aber liebevoll und hilfsbereit ist. Er spielt immer noch mit Lego-Bausteinen, Holzklötzen und Eisenbahnen, damit kann er sich stundenlang beschäftigen. Mit besonderem Genuß ißt er - wie übrigens die ganze Familie - die typischen einfachen Schweizer Gerichte, wie Käsemakkaroni, Teigwaren mit gehacktem Fleisch, Braten mit Kartoffelstock und Gemüse. All das wurde auch in Amerika bei uns gegessen, Beverly ist eine ausgezeichnete Köchin, die sich immer viel Mühe gibt. Raoul ist ein echter Schweizer geworden. Seine Ausstrahlung nimmt die Menschen für ihn ein, er ist ein sonniger, lieber Junge. Daß er einen Vater gesucht und in mir gefunden hat, beweist mir sein Bemühen, mich in allem nachahmen zu wollen. Wir haben alle große Freude an ihm, auch mit den Mädchen sind wir eng verbun-

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den und lieben sie. Es gibt nichts, was wir uns gegenseitig nicht anvertrauen. Auch wenn es hin und wieder zu kleineren Streitereien kommt: Ein Wort von mir schlichtet sofort, und ich gebe nicht auf, ehe jedes Kind dem andern seine Hand zur Versöhnung reicht. Auf diese Weise bewahren wir den Frieden in unserem Haus. Am 7. Oktober 1968 in Chur geboren, wuchs ich in Domat Ems auf. Zuerst wohnten wir in Bonaduz, dem südlicheren Dorf von Domat Ems. In Domat Ems ging ich auch zur Schule. Ich verbrachte eine glückliche Kindheit, hatte gute Freunde und war von meinen Eltern liebevoll umsorgt. Mein Vater stammt aus dem Emmental im Kanton Bern, geboren wurde er in Trueb. Nach Jahren zog er dann nach Horgen am Zürichsee. Dort absolvierte er eine Berufsausbildung als Elektromonteur und bildete sich dann weiter als Elektroingenieur. Als er in St. Gallen arbeitete, begegnete er meiner Mutter, die von Beruf Sekretärin war. Kurze Zeit später heirateten sie und ließen sich im Kanton Graubünden nieder. Ich habe noch zwei Schwestern, die eine jünger als ich, die andere älter. Ich bin der einzige Sohn der Familie Wüthrich. Nach Beendigung der Schule erlernte ich wie mein Vater den Beruf des Elektromonteurs und besuchte zunächst das Technikum in Buchs, St. Gallen, anschließend die Fachhochschule in Kalnach im Kanton Bern. Bis 1992 arbeitete ich bei meinem Vater. Von 1995 bis 1997 studierte ich Elektrotechnik an der Kennedy Western University in den USA.

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1992 beschloß ich, die englische Sprache zu erlernen, und verbrachte einen achtmonatigen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten. Ich entschied mich für Amerika und nicht England (das ja näher lag), weil ich einen Onkel in Kalifornien habe, der mich einige Male zu sich einlud. Er wohnt in Plaserville zwischen Sacramento und Lake Taho, und so bot es sich an, dort die englische Sprache zu erlernen. Einige Monate lang wollte ich durch die Staaten tingeln und dieses Land kennenlernen, von dem in Europa vor allem junge Menschen oft so schwärmen. Ich bereiste Kalifornien, Colorado, Nevada, Arizona und auch Texas. Während meines Aufenthaltes in Denver, wo ich am Arapahow Comunity College mein Sprachstudium durchlief, lernte ich meine Frau kennen; sie war damals ebenfalls Studentin. Mein Onkel machte uns beide bekannt, da wir weitläufig miteinander verwandt sind. Zwar wußte ich, daß ich eine Cousine habe, kannte sie aber bislang noch nicht. Ebensowenig wußte ich etwas über ihre Vergangenheit, sie war verheiratet gewesen und zwischenzeitlich geschieden. Diese Frau war Beverly. Sie wußte nicht einmal, daß sie einen Cousin hat, kannte mich bis zu diesem Zeitpunkt nicht. In Denver trafen wir uns zum ersten Mal, ich war damals vierundzwanzig Jahre alt, sie ein Jahr jünger. Unser Kennenlernen fand unter erschwerten Bedingungen statt, da ich der englischen Sprache noch nicht mächtig war; die ersten «Unterhaltungen» bestanden mehr aus Gesten und Zeichensprache.

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Beverly studierte an der Denver University Psychologie und wollte von mir etwas über Europa erfahren. So diskutierten wir stunden-, tage- und nächtelang, vor allem auch über unsere Familie. Dadurch ergab es sich, daß Beverly und ich uns immer näher kamen. Beverly hatte damals bereits zwei Kinder, Tatjanna und Raoul. Nach Beendigung des Studienganges faßte ich den Entschluß, wieder in die Schweiz zurückzukehren, und wollte Beverly und die Kinder mitnehmen. Ein für Beverly nicht ganz leichter Entschluß, da sie nicht wußte, was sie in der Schweiz erwartete. Sie kannte die Schweiz nur von Postkarten und aus Büchern. In Malans fand ich ein frisch renoviertes Bauernhaus, wo wir uns niederließen. Aber bereits nach drei Jahren entschlossen wir uns, nach Amerika auszuwandern. Der Hauptgrund war, daß Beverly Heimweh bekam. Unsere Bergwelt im Kanton Graubünden mag ja recht schön sein, für eine Amerikanerin, die an die unendliche Weite gewöhnt ist, ist das etwas anderes. In den drei Jahren in Malans, im südlichsten Teil der Bündner Herrschaft, lernte meine Frau einigermaßen das Schweizerdeutsch, auch wenn ihr dieses Wissen kaum von Vorteil war, wenn sie mit Menschen außerhalb der Schweiz kommunizieren wollte. Aber sie gab sich Mühe und lernte von meiner Schwester und meiner Mutter auch die Schweizer Küche kennen, wovon sie noch heute profitiert, denn sowohl unsere Kinder als auch ich lieben diese Küche. Was Beverly etwas Mühe bereitete, waren die Ansprüche an eine Hausfrau in der Schweiz. Wenn in der Schweiz Besuch erwartet wird, steht kein Geschirr her-

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um; die Wohnung oder das Haus sind aufs peinlichste geputzt, Staub ist gewischt und die Kinder haben saubere Kleidung zu tragen. Schmutzige Wäsche ist entweder ordentlich verstaut oder bereits wieder frisch gewaschen und gebügelt in den Schränken untergebracht. Wer all das nicht tut, wird in der Schweiz als unordentliche Person betrachtet - und nichts ist schlimmer für eine Schweizer Hausfrau, als unordentlich zu sein! Die Hausfrauen stehen in der Schweiz in höherem Ansehen als in Amerika. Sie tragen die Verantwortung für den kompletten Haushalt, die Erziehung der Kinder, Hilfe bei den Hausaufgaben und müssen jederzeit die Übersicht behalten. Beverly war natürlich vor allem bei der Hausaufgabenbetreuung in der deutschsprachigen Welt völlig überfordert. Das frustrierte sie, auch wenn die Kinder ohne ihre Hilfe in der Schule gut zurechtkamen. Schwer tat sich Beverly auch mit der Kühle der Menschen hier; in Amerika geht man aufeinander zu, in der Schweiz lebt man distanziert und ist nur dann bereit zu helfen, wenn man sieht, daß ein Mensch in Not ist. Wir wurden von der Dorfbevölkerung nur «die Amerikaner» genannt. Zwar gefiel auch Beverly die Bündner Herrschaft außerordentlich - nur die Menschen waren zu verschlossen und unnahbar. Aber sie fühlte sich hier in der Schweiz geborgen. Später, als wir wieder in Colorado waren, wiederholte Beverly oft, wie sehr sie die Schweiz vermisse. Wir wanderten stundenlang und oft Kilometer weit, bis in den Heidihof, wo sich Raoul bei einem Unfall eine auf den ersten Blick schwere Verletzung zuzog. Er rannte auf der Wiese herum, spielte unter den Bäumen

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mit anderen Kindern Fangen und achtete nicht auf einen abgesägten Ast in Kopfhöhe. Raoul rannte direkt hinein, die anderen Kinder kreischten und schrien um Hilfe. Zunächst sah es auch recht schlimm aus, Raouls Gesicht war blutüberströmt. Ich hob ihn hoch und trug ihn in das anliegende Restaurant, legte ihn dort auf einen Tisch und wusch ihm mit einer Serviette das Gesicht ab. Schon bald aber stellte sich heraus, daß es nur eine Hautverletzung war, zu der sich allerdings eine ordentliche Beule gesellte. Meine sprichwörtliche Ruhe in solchen Notfällen verdanke ich nicht zuletzt dem Militärdienst. Für die Dorfbevölkerung war es etwas Ungewohntes, Amerikaner in der Schule zu haben. Raoul und Tatjanna lernten fließend die schweizerdeutsche Sprache, Raoul im Kindergarten in Malans und Tatjanna in der Grundschule. Obwohl Beverly niemanden aus dem Dorf kannte, fiel sie um so mehr durch ihre strohblonden Haare auf. Auch alle unsere Kinder sind blond, was etwas eigentümlich ist, da Beverlys erster Mann, ein Doppelstaatsbürger, aus Mexiko stammte und dunkelhaarig wie ich war. Beverly und ich heirateten am 21. Januar 1995 in Malans. Sophia, die in Chur geboren ist, und Sabrina, die in Tucson/Arizona zur Welt kam, vollendeten zusammen mit Tatjanna und Raoul unser vierblättriges Glückskleeblatt. Während unseres Aufenthaltes in der Schweiz wurde ich von meinen Eltern unterstützt. Ich wollte mich aber bewähren und selbstständig machen, und dafür schie-

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nen sich mir in den USA aussichtsreichere Möglichkeiten zu bieten als hier die Schweiz. All diese Gründe bewogen uns dann dazu auszuwandern. Beverly wurde 1969 in Kalifornien geboren. Ihre Eltern ließen sich früh scheiden, Beverly und ihre Mutter lebten teils in Los Angeles, teils in der Wüstenstadt Tucson in Arizona. Meine Frau hat noch eine Schwester und einen Bruder. Wenn Beverly von ihrer Heimat spricht, dann meint sie Tucson, wo fünf Generationen vor ihr lebten. Dort lernte Beverly auch ihren ersten Mann kennen, von dem sie die zwei Kinder bekam. Diese Kinder habe ich durch die Heirat mit Beverly angenommen. Und ich habe das noch keinen einzigen Tag, keine einzige Stunde bereut. Es sind liebe und gut erzogene Kinder. Der kleine Raoul ist natürlich unser Prinz, und die Mädchen sind die Prinzessinnen. Nach unserer Ankunft in Colorado suchten wir ein geeignetes Haus und erfuhren, daß unser späteres Haus gerade zu verkaufen sei. Den Grund für den Wegzug der Familie kannten wir nicht - wir sollten es aber vier Jahre später am eigenen Leib erfahren. Da wir zurückgezogen lebten und alle Kraft und Zeit für den Neuanfang in dieser Welt benötigten, merkten wir viel zu spät, was für eine böse Nachbarin wir uns dort eingehandelt hatten.

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3. KAPITEL Die Flucht Von nun an schliefen wir keine Nacht mehr in unserem Haus. Der Schock der Hausdurchsuchung saß tief, sehr tief, und wir fühlten uns beobachtet und unsicher. Beverlys Mutter holte für uns allwöchentlich die Post ab und sandte sie an unsere Adresse nach. Sie besuchte auch Raoul im Gefängnis. Offensichtlich ging es ihm nun von Tag zu Tag schlechter - den wahren Grund hierfür sollte ich erst später erfahren. Jedenfalls war er ängstlicher und verstörter geworden, zweifelsohne machte ihm die Hackordnung im Gefängnis schwer zu schaffen. Nacht für Nacht weinte er in sein Kissen hinein, das war das einzige, was man ihm nicht verbieten konnte. Denn bei Telefonaten oder Besuchen saß er mit zusammengebissenen Lippen da und deutete stets auf den Wärter, der sich in einer Ecke plaziert hatte und ihn aufmerksam beobachtete. Wir munterten ihn auf, doch zu erzählen, wie er so seinen Tag verbringe; aber mit einem Auge blickte er immer wachsam zu jenem Mann, der ihn ganz offensichtlich das Fürchten lehrte. Dank einem glücklichen Zufall wurde der Wärter hinausgerufen, und nun begann Raoul zu erzählen, daß uns die Haare zu Berge standen. Nach jedem Besuch müsse er sich völlig nackt ausziehen, und die Wärter hätten den größten Spaß daran, alles an ihm zu untersuchen. Diese peinliche Tortur gehe sogar so weit, daß es immer gleich mehrere dieser tugendhaften Wächter seien, die mit Taschenlampen und

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Handschuhen ihm in den After guckten und ihn befühlten. Sie machten auch nicht Halt davor, ihn im vorderen Bereich der Genitalien herumzuzupfen und zu drücken. Am meisten abgestoßen fühlte er sich davon, wenn ihm einer der Wärter gar mit dem Finger in den After fuhr. Anscheinend machte es den Wärtern Spaß, das Wimmern des Jungen zu hören, jedenfalls rissen sie stets ihre Witze darüber. Auch die größeren jugendlichen Delinquenten hätten ihn gepufft, gestoßen, geprügelt, obszön angerempelt und ihn immer wieder unsittlich vorne zwischen die Beine gefaßt oder am Hintern festgehalten. Daß ein kleiner Junge, der von Sex noch keine Ahnung hat, sich in dieser Rolle außerordentlich bedrängt und beschämt vorkommt, kann man wohl gut verstehen. Raouls entsetzte Reaktion auf diese Vorkommnisse war gleichzeitig ein Beweis dafür, daß er in keinster Weise fähig war, irgendwelche Doktorspielchen oder sogar Schlimmeres, wie ihm das Laura Mehmert und die Staatsanwaltschaft vorwarfen, getan zu haben. Die sexuellen An- und Ubergriffe überstiegen bei weitem den «Spaß», dem sich laut Auskunft eines Wärters jeder Neuankömmling in einer solchen Anstalt zu unterziehen habe. Zumal das alles in feucht-fröhlicher Offenheit vom Anstaltspersonal selbst betrieben und unterstützt wird. Man kann sich lebhaft ausmalen, was alles mit Jugendlichen in einem solchen Gefängnis geschieht. Und voller Wut und Bitterkeit mußten wir uns dann noch anhören, wie der Bezirksanwalt vor den Schranken des Gerichts erklärte, er wolle «nur das Beste für den Jugendlichen».

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Wäre Raoul nicht freigesprochen worden, als was für ein Mensch wäre er letztlich in diese Gesellschaft zurückgekehrt? Und was wäre an ihm alles ver- und zerbrochen worden? Wir waren nicht nur entrüstet, sondern richtig geschockt; Beverly weinte, und der tapfere kleine Kerl preßte seine Lippen zusammen, weil in diesem Augenblick der Wärter wieder den Raum betrat. Er verkündete, die Zeit sei abgelaufen. In der Tat, die Zeit war nun tatsächlich abgelaufen! Wir setzten uns sofort mit dem Rechtsanwalt und mit dem Konsul in Verbindung. Jetzt war uns und auch dem Verteidiger klar, warum Raoul solche Angst vor den Besuchen hatte. Nicht weil er diese nicht liebte, sondern wegen der ekelerregenden «Nachbehandlung». Hätten wir das aber an die große Glocke gehängt, wäre unser Sohn noch mehr gefährdet gewesen. Wir wollten deshalb versuchen, daß Raoul unter allen Umständen sofort entweder in einer Pflegefamilie oder in einem Heim untergebracht wird. Das Sozialamt hatte bereits Vorbereitungen für die Einweisung in ein christlichen Heim getroffen. Rechtsanwalt Wegher war nach unserem Bericht über die Zustände im Gefängnis nicht mehr dafür, Raoul in ein Heim zu bringen, da auch dort wieder solche Gefahren seitens der Jugendlichen oder der Aufseher lauern könnten. Aber eines stand fest: Es eilte. Ich hatte Raoul mitgeteilt, daß ich am nächsten Tag in die Schweiz fliegen würde. Er sollte darüber aber strengstes Stillschweigen bewahren, damit die Behörde

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keine Möglichkeit hätte einzugreifen Als ich das sagte, konnte ich die Angst in seinen Augen sehen. «Von der Schweiz aus kann ich viel mehr für deine Freilassung unternehmen», versuchte ich ihm Mut zu machen. Auf diese Zusicherung und den Trost der Mutter hin, daß sie ja noch hierbleibe und mit der Großmutter zusammen ihn weiterhin besuchen komme, erklärte er sich damit einverstanden. Sein Hoffnungsschimmer, möglichst bald aus diesem Gefängnis zu kommen, war wie ein Hilfeschrei. Unsere Familie hatte immer ein fröhliches und harmonisches Leben geführt; mit einem Schlag war alles vorbei, seit die Nachbarin Laura Mehmert uns beim Sozialamt und dann auch bei der Staatsanwaltschaft und vor Gericht verleumdete. Durch unseren Rechtsanwalt erfuhren wir Details über die Klageerhebung gegen Raoul. Das erste Mal hatte Laura Mehmert im September 1998 anonym beim Sozialamt angerufen. Die Nachbarin gab an, daß unsere Kinder unbeaufsichtigt herumstreunten. Einen Tag zuvor war Raoul mit seinen Geschwistern zu ihr gegangen und hatte ihr Selbstgebackenes gebracht. Sie nahm das Gebäck zwar entgegen, fragte dann aber die Kinder, ob die Mutter denn nicht zu Hause sei. Worauf diese antworteten, die Mutter sei im Haus und koche. Das von den Kindern selbst Gebackene gab sie dem Hund, der sich sofort gierig darauf stürzte; vermutlich hatte er schon lange nichts mehr zu fressen bekommen. Dieser Vorgang irritierte die Kinder, weil sie sich beim Backen soviel Mühe gegeben hatten. Raoul meinte dann

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zu Laura Mehmert, das Gebäck sei eigentlich für sie gedacht gewesen und nicht für den Hund; die Mehmert ging aber nicht darauf ein, sondern schloß die Tür. Es sah so aus, als wollte sie die Kinder bewußt provozieren und vor den Kopf stoßen - sie kontrollierte nämlich durch den Spion an der Türe noch genau, was die Kinder nun unternahmen. Als sie sah, daß sie wieder zurück zu ihrem Haus gingen, rief sie das Sozialamt an. Am 25. Mai 1999, so stand es in den Akten der Staatsanwaltschaft, geschah die Geschichte von Sophia und Raoul beim Wasserlassen im unteren Teil des Gartens. Laura Mehmert will dabei vom Fenster aus die beiden Kinder beobachtet haben, wie sie, hinter Büschen und Bäumen versteckt, beide gebückt dastanden. Am 3. Juni 1999, war weiter vermerkt, berichtete die neu eingesetzte Sozialarbeiterin Rhonda Miklic Sheriff Al Nelson von dem anonymen Anruf, worauf die Wüthrichs nach Aktenlage mit einer 78 Dollar-Buße bestraft wurden, weil die Kinder unbeaufsichtigt gewesen waren. Dann habe Rhonda Miklic den neuen Eintrag der Vorgängerin gelesen, die Anzeige von Laura Mehmert; wie Raoul Wüthrich seiner Schwester im Garten die Hosen heruntergezogen, sich hinter sie gestellt und sie von hinten mißbraucht haben soll. Später will die Zeugin festgestellt haben, daß Raoul noch den Reißverschluß seiner Hose offen gehabt habe. Am 17. Juni 1999 befragten die Sozialarbeiter Dan Jarbot und Rhonda Miklic die fünfjährige Stiefschwester. Sophia wird unter Druck gesetzt, bis sie die Fragen - ohne zu wissen, was sie bedeuten - bejaht. Eine dieser Fragen lautete, ob Raoul ihr die Vagina geküßt und mit den Fingern berührt habe. Daß das Mädchen den medi-

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zinischen Fachausdruck Vagina nicht kannte und mit dem Wort Wange verwechselte, war den Sozialarbeitern offenbar völlig gleichgültig. Sophia erzählte auf weitere Befragung zu ihrer Familie unter anderem, ihr Vater habe beim Campen einen Tiger erlegt. Am 19. Juni 1999 verhörte Polizeiinspektor Tom Acierno Raoul über den angeblichen Vorfall im Garten. Unser Sohn gab zur Antwort, er habe aus Angst vor der Nachbarin Mehmert zuerst ausgesagt, daß er Sophia Steine aus der Unterhose genommen habe. Später räumte er ein, Sophia nur beim Urinieren geholfen zu haben. Bei dieser Aussage blieb er bis zum letzten Tag des Gerichts. Am 30. Juni 1999 telefonierte Inspektor Acierno mit Laura Mehmert, die wiederum ihre Aussage bestätigte, sie habe mit eigenen Augen gesehen, daß Raoul am 25. Mai seiner kleinen Halbschwester die Hosen heruntergezogen und sie von hinten vergewaltigt habe. Mit dieser Aktenlage ging der Sheriff schließlich zur Staatsanwaltschaft. Zuerst verhandelte Noel Blum den Fall mit der Bezirksanwältin Nancy Hooper. Nach Rücksprache gab sie am 30. August 1999 Sheriff John P. Stone den Befehl, Raoul Wüthrich sofort abzuholen und ins Gefängnis zu stecken; ein Haftbefehl wurde nicht ausgestellt. Entgegen den rechtlichen Gepflogenheiten wurden weder den Eltern noch dem Jungen ihre Rechte vorgelesen, es erfolgte kein Hinweis darauf, daß sie einen Anwalt hinzuziehen können. Das Ehepaar wurde völlig überrumpelt, weil sie Ausländer waren. Daß Raoul aber nach der Festnahme bis morgens um vier Uhr von zwei Polizeibeamten ohne einen Beistand stundenlang verhört wurde, kam erst viel später heraus.

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Noch glĂźcklich bei uns zu Hause in den Tagen vor der Verhaftung

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Raoul in all seiner Fröhlichkeit

Eine glückliche Großfamilie: Raoul mit seiner Großmutter Dianna Wood und seiner Cousine

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Erste Schatten am Tag danach Raoul, die Hände in Handfesseln auf dem Rücken, beim Rundgang im Gefängnis Mount View


A Das Gerichtsgebäude in Denver (im Volksmund auch «Tadsch Mahal» genannt) V Das Mount View-Gefängnis, das die Justizbehörden ironisch mit «Schulheim» betiteln.

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Daß es sich um einen reinen «Knast» handelt sieht man erst innen.


Die Zelle von Raoul: ein kleines Milchglasfenster, ein Feldbett mit dĂźnner Matratze, darunter ein Kistchen mit einer Bibel, einem Kinderbuch, Malstiften und einem Zeichenblock. AuĂ&#x;er zwei Fotos ist nichts Privates zugelassen.


Sheriff John P. Stone; er lieĂ&#x; Raoul durch die Deputies verhaften.


Die internationalen Medien berichten täglich über Raoul. Die Medienvertreter dürfen für zwei Stunden unter Aufsicht den «Knast» begutachten und filmen, dürfen sich aber den Delinquenten nicht nähern.


Arnold C. Wegher, Rechtsanwalt und รถsterreichischer Diplomat, vertritt die Rechte Raouls.


Der «schärfste» Staatsanwalt von Jefferson County, Sergej Thomas

Die Staatsanwälte bei der Gerichtsverhandlung in Corpore: (v. I. Noel Blum, Nancy Hooper, Hall Sargent und Sergej Thomas)


Unser eigener Verteidiger Vincent Todd


A Der Schweizer Bundesrat Joseph Deiss mit seinem Minister Walter Thurnherr. Beide sind über das Vorgehen der US-Justiz empört. V Beverly und ich in der Talkshow «sternTV» mit Günter Jauch

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Sie wollten den Jungen im Gefängnis noch unter dem Schock der Festnahme zu einem Geständnis zwingen; ein Geständnis über etwas, was er nicht nur nicht getan hatte, sondern wovon er nicht einmal wußte, über was die Polizisten redeten. Nach ganzen zwei Stunden Schlaf, um sechs Uhr, wurde Raoul im Gefängnis wieder geweckt, wo er sich waschen mußte und die Morgenarbeit zu machen hatte, für die er eingeteilt war. Wir mußten nun untertauchen, weil wir nicht mehr sicher waren, ob nicht auch Haftbefehl gegen uns ergehen könnte. Wir hatten hierzu Informationen von Personen bekommen, die uns wohlgesonnen und über die Botschaft informiert worden waren. Und schließlich wollte die Staatsanwaltschaft die Kinder in fremder Obhut wissen, was in den USA gang und gäbe ist. Das würde auch das rüde Vorgehen der Justiz in der Öffentlichkeit rechtfertigen. Jetzt brauchten sie nur noch Dutzende von Verhaftungen und Verurteilungen, damit die gleiche Justiz aufgrund dieser großartigen «Ergebnisse» nach dem Schlamassel von Littleton im Herbst wiedergewählt würde. Wer letztlich auf der Strecke blieb, das war für die Rechtschaffenen unwichtig; was zählte waren «Erfolge», selbst wenn diese getürkt waren. Die letzten Tage lebten wir nur noch in Motels und wechselten täglich Ort und Unterkunft. Sowohl dem Botschafter als auch Raouls Verteidiger gaben wir die neuen Anschriften bekannt und orientierten sie über jeden Schritt, den wir unternahmen. Wir versuchten, möglichst wenig mit dem Handy zu telefonieren, sondern riefen von überall dort aus an, wo wir eine öffent-

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liehe Sprechstelle fanden, somit hatten wir Kontakt zu den Personen, die uns nahe waren. Ich informierte Rechtsanwalt Wegher, daß ich mit den Kindern in die Schweiz fliegen würde und meine Frau noch einige Tage hierbleibe, weil sie Raoul nicht allein lassen wollte. Samstag, 11. September 1999 9.00 Uhr Ich hatte in Denver früh die Maschine nach Dallas bestiegen und vereinbart, zusammen mit den Kindern die gleiche Fluglinie nach London zu nehmen, und zwar von Dallas aus ohne Zwischenlandung. Es kostete mich einiges mehr, als wenn ich einen regulären Flug zu einem späteren Zeitpunkt gebucht hätte. Aber ich hatte große Angst, daß mich vielleicht die Behörden nicht ausreisen lassen könnten, und wollte unbedingt in einem Flugzeug sitzen, das nach Europa flog und dessen Oberhoheit nicht amerikanisch, sondern europäisch war. Meine Freunde in Dallas waren besorgt. Sie hatten uns schon früher gebeten, die Kinder abzuholen, da sie befürchteten, in dem ganzen Fall wegen Beihilfenschaft auch verhaftet zu werden. Ein befreundeter Rechtsanwalt hatte ihnen aber klargemacht, daß sie schlimmstenfalls in juristische Schwierigkeiten verwickelt werden könnten. Die Mädchen freuten sich riesig, als ich sie abholte. Aber sie fragten nach der Mutter, und ich erklärte ihnen,

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sie müsse noch für einige Tage in Denver bleiben, um gewisse Angelegenheiten zu regeln. Durch meine vorherige Benachrichtigung waren die Koffer gepackt und die Kinder reisefertig. Wir wurden von unseren Freunden zum Flughafen von Dallas gefahren, wo wir die Maschine bestiegen. Ich schwitzte vor Aufregung und Angst. Erst als die Maschine abhob und über dem Atlantik war, wußte ich: Es ist vorbei. Wenigstens für mich und die drei Kinder - überstanden war alles andere noch nicht. Auch die Rückkehr von Beverly nicht; ich hatte mir vorgenommen, Beverly zu bitten, so rasch als möglich nachzukommen, schon wegen der Kinder. Was Raoul angeht, so war meine Schwiegermutter Dianna Wood zuverlässig und für das Gericht nicht von Interesse. Dann waren da zu meiner Beruhigung noch Konsul Walter Wyss und Raouls Rechtsanwalt Arnold C. Wegher. Sie würden in jedem Fall dafür sorgen, daß der kleine große und tapfere Mann nicht vergessen wird. Ich sah in meinen Gedanken nochmals das bleiche Gesicht von Raoul, wie er die Tränen beim Abschied und der Umarmung unterdrückte; aber eine kullerte ihm doch über die Wange. Das Essen sei spärlich, sie bekämen nie genug - auch das eine erzieherische Maßnahme in Amerika. Und die Großen würden einfach in den Teller der Kleinen greifen und ihnen auch noch einen Großteil wegessen. Und wehe, wenn jemand petzt! Ich machte mir Sorgen um den Jungen. Wie lange würde er es durchhalten?

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Schnell hatte er die Träne auf der Wange weggewischt, damit der Wärter sie nicht sieht. So groß ist die Angst davor, erwischt zu werden. Ich war so müde geworden, daß ich während des Fluges mit den Gedanken an Raoul und die Vergangenheit eingeschlafen war. Mindestens fünf bis sechs Stunden mußte ich geschlafen haben, meine Beine waren steif und gefühllos geworden, als mich eine sanfte Hand an der Schulter berührte und ich mit sanften Worten gefragt wurde, was ich zu essen wünschte. Zuerst wußte ich wirklich nicht, wo ich war. Ich blickte mich um, sah neben mir die kleine Sabrina friedlich schlafen, auch die beiden anderen Mädchen lagen im Tiefschlaf. Ich fragte die Stewardeß, was es denn zu essen gebe, und sie zählte irgend etwas von Huhn mit Salat und Kompott oder ähnlichem auf. Jedenfalls verspürte ich plötzlich richtigen Hunger und aß mit großem Appetit alles auf, auch wenn es kaum nach etwas schmeckte. Ich überlegte, ob ich die Kinder jetzt aufwecken sollte oder warten, bis sie selbst erwachen. Dann bat ich die Stewardeß, ob sie mit dem Essen für die Kinder noch etwas warten könnte, damit diese weiterschlafen und weniger dem Streß ausgesetzt sind. Sie war sehr freundlich und versprach, alles bereitzuhalten, bis die Kinder erwacht seien. Ich nickte bald wieder ein, und als ich erwachte, waren wir bereits im Anflug auf Heathrow. Die Kinder hatten gegessen und spielten Karten. Es war frühmorgens, als wir in die British Airways stiegen, um den Flug über den Kanal nach Zürich zu unternehmen - das letzte Stück Weg nach Hause. Ich wünschte, ich könnte die Jahre zurückdrehen, als wir

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noch in Malans waren. Aber dieser Wunsch ließ sich leider nicht verwirklichen. Von London aus rief ich meine Eltern an und teilte ihnen mit, wann wir in Zürich-Kloten eintreffen würden. Meine Schwester wartete bereits zusammen mit meiner Mutter in Kloten. Wir fielen uns alle in die Arme. Meiner Mutter brach in Tränen aus, als sie sehen mußte, daß der kleine Raoul nicht mit dabei war. Die Kinder waren müde, und es gab nur noch eines: ausschlafen! Ich hatte noch schnell Beverly angerufen und sie gebeten, so schnell wie möglich in den Staaten alles abzuwickeln. Wir brauchten nämlich dringend für uns als Vertretung einen weiteren Rechtsanwalt, da Arnold C. Wegher unseren Sohn vertrat und wir getrennt einen für unsere Sache brauchten. Beverly war von dritter Seite Vincent Todd, ein renommierter Rechtsanwalt und Strafverteidiger, empfohlen worden. Im ersten Telefongespräch war er sehr erstaunt gewesen, daß wir noch keinen Rechtsvertreter hatten. Jedenfalls war ihm unsere Geschichte anderweitig zu Ohren gekommen, und Beverly hatte mit ihm einen Termin für den kommenden Tag vereinbart. Vorher wollte sie noch unbedingt Raoul im Gefängnis besuchen, wovon ich ihr aber abriet; zumindest solange nicht, bis sie mit Rechtsanwalt Todd gesprochen habe.

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4. KAPITEL Unmut und Zorn aus Europa Zwei Tage später hatte ich in Bern beim EDA (Eidgenössisches Departement für Auswärtige Angelegenheiten) eine Sitzung, in der alles haarklein durchgesprochen wurde, was bisher geschehen war. Natürlich berichtete ich auch vom Verlauf der Gerichtsverhandlungen, worüber die Herren allerdings schon weitgehend durch den Honorarkonsul Walter Wyss und durch die Botschaften in Houston und Washington informiert waren. Mein Ansprechpartner war Minister Walter Thurnherr, der direkt Unterstellte des Departements von Bundesrat Josef Deiss. Ich wußte nicht, wie aktiv die Schweizer Botschaft bereits gewesen war; so hatte sie sowohl bei der Schweizer Botschaft in Washington interveniert, die wiederum beim Staate Departement vorstellig geworden war, als auch in Houston (zuständig für den Staat Colorado), beim Gouvernement in Colorado und bei der lokalen Behörde. Das State Departement verwies den Botschafter auf die staatlichen Gesetze von Colorado, und der Gouverneur Bill Owens, der als Hardliner gilt, kümmerte sich wenig um Raouls Schicksal, da er den Fall Raoul Wiithrich als einen von vielen betrachtete. In Amerika sind die Schwachen immer gehandicapt, dort werden Gelder und Aufwendungen für Schulen und Soziales laufend zusammengestrichen. Wer dabei auf der Strecke bleibt, ist selber schuld. Aus den vor Jahren gemachten großen Vorsätzen und Wahlversprechen der Clintons, ein so-

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ziales Umfeld für die Armen und die minderbemittelte Bevölkerung zu schaffen, wurde nichts. Hillary Clinton, die sich speziell diesem traurigen amerikanischen Problem der Not und des Unrechts, besonders bei Familien und Kindern, widmen wollte, versagte kläglich. Der Kongreß und die Regierung in dem materialistischen Land wollten keinen müden Cent für jene ausgeben, die es nicht aus eigener Kraft schaffen konnten. In Bern zitierte der Vorsteher des EDA, Bundesrat Joseph Deiss, den amerikanischen Botschafter ins Departement und setzte den Botschafter unter massiven Druck. Aber alle schönen Worte und gutes Zureden halfen nichts. Die Amerikaner waren der Meinung, dies sei eine Sache der Justiz von Colorado, und niemand hätte sich dort einzumischen, weder die Schweiz noch Washington. Alle diese Ämter und Amtsinhaber hatten kein Verständnis für die Sorgen aus dem kleinen Land und die Nöte unserer Familie. Die Justiz in Denver fühlte sich natürlich in ihrem Handeln bestätigt und bestärkt; Bern und die Verteidigung Raouls wie auch unsere Familie wurden in die Schranken gewiesen. Wir steckten inmitten dieses Dilemmas und wußten uns nicht mehr zu helfen. Nachdem eine weitere Woche vergangen war und Beverly sich noch immer in Colorado befand, machte ich mir um sie große Sorgen, zumal mir von höchster Stelle bestätigt worden war, in welcher Gefahr meine Frau nun schwebte. Sie hatte zwar inzwischen in Vincent Todd einen fähigen und einflußreichen Strafverteidiger, aber von Stunde zu Stunde wurde die Angelegenheit

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prekärer. Nach einem Besuch bei Raoul im Gefängnis entdeckte die Justiz, daß ich ebenfalls in die Schweiz zurückgekehrt war, und ich bat Beverly, unverzüglich die Zelte in Amerika abzubrechen und in die Schweiz zu kommen. Sie hingegen wollte noch länger in Denver bleiben, weil sie der Meinung war, durch Rechtsanwalt Todd beschützt zu sein. So setzte ich mich direkt mit Todd in Verbindung und berichtete ihm, was zwischenzeitlich bereits alles vom Bundesrat in dieser Sache - bislang ohne Erfolg - unternommen worden war. Nachdem sich die Denver-Justiz in ihrer Haltung gegenüber Raoul bestärkt fühlte, war mit aller Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, daß zumindest ein Familienmitglied zur Rechenschaft gezogen und dem Gericht überführt und verurteilt werden sollte. Ich bat Todd, ebenfalls auf Beverly einzuwirken, damit sie kein unnötiges Risiko eingehe. Das Raoul zur Last gelegte angebliche «Verbrechen» war in Denver geschehen, und so glaubte die Justiz, unverwundbar zu sein. Schließlich konnten wir Beverly davon überzeugen, Amerika zu verlassen, sie hatte ja noch die drei anderen Kinder, für die sie die Verantwortung mit zu tragen hatte wie für Raoul. Neben den beiden Rechtsanwälten Wegher und Todd waren da ja noch die Großtante Linda Campos, die Grandmum Dianna Wood und der Schweizer Honorarkonsul Walter Wyss, die Raoul besuchten. In Amerika werden jährlich über zweieinhalb Millionen Kinder inhaftiert, denen es nicht anders ergeht als Raoul. Allerdings hat unser Sohn durch unser Land und den öffentlichen Druck wenigstens einen Rechtsraum

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erhalten, was man von vielen hunderttausend anderen Jugendlichen nicht behaupten kann. Im gleichen Gefängnis war beispielsweise auch ein zwölfjähriger Junge, wie ich später aus der Zeitung BLICK erfahren konnte; die Redaktion nannte ihn Tim. Tim war mit einem Freund auf dem Weg nach Hause. Auf der Straße spielten Kinder in einem Kreis. «Sie lockten ein dreijähriges Mädchen und einen fünfjährigen Buben zu sich», berichtete Tim. «Dann fragten sie uns, ob wir den beiden beim Sex zusehen wollen. Wir fanden das widerlich und liefen weg.» Obwohl keinem der Kinder etwas geschehen war, hatte die Nachbarin sofort einen Schuldigen ausgemacht: Tim. Sie bearbeitete die Mutter seines Freundes so lange, bis dieser gegen Tim aussagte: Er beschuldigte Tim, die Kinder mit gezücktem Messer zum Sex gezwungen zu haben. Im Mai 1998 geriet Tim in die Mühlen der Justiz vom Bundesstaat Colorado. Fast ein Jahr später, am 18. Februar 1999, kam die Polizei, verhaftete Tim und brachte ihn in Handfesseln nach Mount View. 130 Tage verbrachte Tim im Jugendgefängnis. Am schlimmsten waren für ihn die Schläge seiner Mitinsassen, sein Arme und seine Beine waren übersät mit blauen Flecken. Tims Mutter vermochte ihre Wut kaum in Zaum zu halten. Aus Geldmangel mußte sie mit einen Pflichtverteidiger für ihren Sohn vorliebnehmen. Dieser Verteidiger behauptete, Tim lüge, und wenn er die Tat nicht zugebe, müsse er fünf Jahre im Gefängnis bleiben. Mit einem Geständnis bekäme er nur zwei Jahre, und die in einer Pflegefamilie. Da wurde es der Mutter Tims zu bunt, sie feuerte den Pflichtverteidiger, borgte sich bei ihren

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Eltern 20.000 Dollar und engagierte einen neuen Anwalt. Der holte Tim nach drei Tagen gegen eine Kaution von 12.000 Dollar aus dem Gefängnis. Der Anwalt meinte, er könne in einem Prozeß Tims Unschuld leicht beweisen, verlangte dafür aber 150.000 Dollar. Da Tims Mutter diese Riesensumme nicht aufbringen konnte, mußte sie einem Vergleich zustimmen: Tim bekam vier Jahre auf Bewährung und wurde als Sexualstraftäter registriert. Als ich das gelesen hatte, drehte sich alles in meinem Kopf; was mag nun mit Raoul geschehen? Inzwischen waren bereits sechs Wochen seit der Inhaftierung des Jungen vergangen. Beverly war endlich zu uns in die Schweiz zurückgekehrt, worüber wir alle sehr erleichtert waren. Am 10. Oktober 1999, einem Sonntag, rief mich die Redaktion von BLICK abends an und informierte mich darüber, daß sie am nächsten Tag einen Bericht über Raoul bringen werde. Ich erschrak zutiefst, denn ich kannte den Reporter Georges Wüthrich nicht, der zwar den gleichen Familiennamen wie wir trägt, aber nicht mit uns verwandt ist. Als erstes wollte ich wissen, was ihm bekannt sei und wer seine Quellen seien. Ich staunte nicht schlecht, als sich herausstellte, daß der Reporter bereits alle Informationen hatte: Er wußte nicht nur den Namen unseres Jungen und sein Geburtsdatum, sondern hatte auch Kenntnis über alles, was zwischenzeitlich in Denver/Colorado und mit unserer Familie passiert war. Georges Wüthrich kannte ebenso den Namen Laura Mehmert und hatte Informationen zu den Anschuldigungen, die Raoul vorgeworfen wurden. Ich war sprachlos und sehr beunruhigt, weil ich nicht wußte,

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welche Folgen eine solche Publikation für den Prozeß unseres Sohnes in Amerika haben konnte. Zwar haben wir auch mit dem Gedanken gespielt, wenn möglich mit unserem Fall an die Öffentlichkeit zu gehen. Wegen den falsch gemachten Angaben der Denver-Justiz befürchteten wir aber, daß unsere Familie dadurch ins Zwielicht geraten könnte. Als jetzt dieser BLICK-Reporter am Telefon war, wußte ich nicht mehr ein noch aus. Ich wollte ihn stoppen, zuerst genau wissen, was er alles geschrieben habe. Er aber entgegnete nur, daß die Zeitung bereits im Druck sei. «Morgen werden Sie es erfahren.» Als ich Beverly davon erzählte, bekam sie einen Weinkrampf. Wir konnten die ganze Nacht nicht schlafen, und mit der ersten Post ging ich an den Kiosk und kaufte mir die Zeitung. Schon der Titel «Schweizer Bub (11) seit 6 Wochen in US-Gefängnis» verschlug mir fast die Sprache. Unter dieser Überschrift stand zu lesen: «Haben die Amerikaner allen gesunden Menschenverstand verloren? Ein elfjähriger Bub, Stiefsohn eines Schweizer Auswanderers, sitzt seit sechs Wochen im US-Staat Colorado im Gefängnis, weil er seinem fünfjährigen Schwesterchen im Garten beim Pipi machen geholfen hat.» Der Text enthielt nichts uns Unbekanntes, auch keine neuen Informationen zu dem, was uns beziehungsweise unserem kleinen Sohn vorgeworfen wurde. Der Bericht war in teilweise recht vulgären Worten abgefaßt. Im Verlauf des Artikels kam auch das Außenministerium in Bern zu Wort, ebenso Thomas Flüglister von der Direktion Schweizer im Ausland im Departement der EDA. Dem Bericht zufolge war Generalkonsul

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Alphons Miiggler in Houston sofort nach Denver geeilt, der Botschafter Alfred Defago in Washington intervenierte von Washington aus schriftlich beim Bill Owens, dem Gouverneur von Colorado. Beverly und ich konnten das alles nur schwer nachvollziehen, da diese Personen sich nie bei uns gemeldet hatten, um den Sachverhalt aus unserer Sicht zu erfahren. Es kann natürlich sein, daß diese ganzen Kontakte über den Honorarkonsul Walter Wyss liefen und die Kommunikation auf diese Weise zustande kam. Aber während der ganzen Monate des Geschehens hatten wir mit diesen beiden Herren keinen Kontakt, sie haben nie ein Wort an uns gerichtet. Vielleicht war es auch nur dem Einsatz der Presse für uns zu verdanken, daß jetzt die honorigen Namen auf den Tisch kamen? Weiterhin war dem Bericht zu entnehmen, daß Raoul ein schweizerisch-amerikanischer Doppelbürger sei und die Justiz in Colorado den Schweizer Bub als reinen US-Bürger behandele. Man wies auch darauf hin, wie gering der Einfluß aus Kreisen der Diplomaten und selbst von Bern aus sei. Des weiteren sei die Familie Hals über Kopf in die Schweiz geflüchtet, da sie befürchten mußte, daß man ihr alle Kinder wegnimmt. Hier endete der Artikel aus dem BLICK. Am gleichen Vormittag rief mich der Reporter erneut an und teilte mir mit, daß ihre Telefonapparate heißliefen, das Schweizer Volk sei über die amerikanische Vorgehensweise empört. Es gebe nun kein Zurück mehr, in jeder Ausgabe würde der BLICK weitere Einzelheiten über die US-Justiz bringen, und das so lange, bis der Bub wieder in der Schweiz sei.

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Der ganze Rummel bereitete uns große Sorgen, zumal wir keine Auskunft erhielten, von welcher Seite die Redaktion dies alles in Erfahrung gebracht hatte. Meine Eltern waren sehr beunruhigt, und auch meine Frau hatte keine Ahnung, ob das amerikanische Gericht in Jefferson County sich jemals vom Ausland unter Druck setzen lassen würde. Nein, was da jetzt von der Boulevard-Presse losgetreten wurde, machte uns allen Angst. Am nächsten Tag war als Überschrift auf der Titelseite zu lesen: «Andreas und Beverly: Gebt uns den Raoul zurück!» - als ob dieser Aufschrei in Amerika gehört würde! Der Artikel enthielt Details, die als Quelle nur die amerikanische Staatsanwaltschaft zuließen. Hinzu kamen weitere Informationen über die verschrobene Nachbarin Laura Mehmert sowie über die Richterin, die mitsamt der Staatsanwaltschaft den Vorwurf des «gewaltsamen Inzests» erhoben hatte. Das Ganze war mit einem übergroßen Farbfoto von Raoul aus glücklicheren Tagen unterlegt. Die Veröffentlichungen im BLICK hatten eine Lawine losgetreten, auf einmal rannten uns Reporter aus ganz Europa mit Fotoausrüstung und Fernsehkameras die Tür ein. Alle wollten wissen, was hinter diesem mysteriösen Skandal stecke. Fragen über Fragen prasselten auf uns herab, und um der amerikanischen Justiz nicht noch zusätzlichen Zündstoff zu liefern, mußten wir für die Beantwortung auch hier in der Schweiz einen entsprechenden Rechtsbeistand suchen. Die BLICK-Nummern landeten auch in Colorado und sorgten für weiteren Aufruhr. Das örtliche Fernsehen und NBC waren zur Stelle, die zuständigen Staatsanwälte mußten Rede und Antwort stehen.

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Allein die Tatsache, daß ein kleiner Junge von zehn Jahren mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen und ohne Haftbefehl oder dringende Notwendigkeit abtransportiert wurde, sorgte in bestimmten Kreisen für Unruhe. Hinzu kamen die Einzelheiten der Verhaftung: Wie in unglaublicher Wildwest-Manier Raoul in Handund Fußfesseln gekettet wurde und barfuß, nur mit einer Wolldecke über das Pyjama geworfen, ins Gefängnis mußte. Die europäischen Clubs machten sich bei den Behörden stark. Zu diesem Zeitpunkt tat die Staatsanwaltschaft immer noch, als berühre sie dies alles nicht. Schließlich ging sie zum Gegenangriff über und berichtete dem Ortsblatt «The Denver Post», daß die Staatsanwaltschaft gesicherte Beweise für die Klageerhebung hätte und viele Zeugen dafür benennen könnte. Die Bezahlung der weiteren Anwaltskosten bereitete uns große Sorgen. Wir hatten alles verloren, was wir besessen hatten, und mußten deshalb erneut unsere Eltern um Geld bitten. Sie nahmen daraufhin einen Kredit auf, um uns zu helfen. In der neuesten Ausgabe des BLICK - wir mußten nun jeden Tag darauf gefaßt sein, was für neue Schlagzeilen dieser BLICK uns vorsetzte - lautete die Überschrift «Unfaßbar». «Ich verstehe, daß dieser Fall für die Schweizer Bevölkerung unfaßbar ist!» wurde Bundesrat Deiss zitiert, der zu jener Zeit in Pretoria auf einer Südafrika-Reise weilte. Der Außenminister stehe fieberhaft in ständigem Kontakt zur Zentrale von Bern, um den inzwischen elfjährigen Buben aus dem Gefängnis zu bekommen. Er arbeite intensiv daran, daß Raoul

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so schnell wie möglich aus seiner schwierigen Situation befreit werden könne, äußerte er sich in einem Interview mit BLICK. Dann betonte der Außenminister etwas dezidiert und diplomatisch, die Schweiz könne sich zwar nicht in amerikanische Justizangelegenheiten einmischen, der Knabe habe jedoch so eindeutige Schweizer Beziehungen, daß er den vollen konsularischen Schutz genieße. Die Leute in Bern, Washington und Denver würden dem Fall die ganze Bedeutung beimessen, die er verdiene. Der Honorarkonsul in Denver besuche Raoul regelmäßig im Gefängnis, der Botschafter Alfred Defago in Washington setze alles daran, damit es zu einer raschen Lösung komme. Defago sei allerdings noch etwas vorsichtig mit öffentlichen Äußerungen, da er nach wie vor keine Akteneinsicht habe. Immerhin erklärte Defago klar und unmißverständlich, die Sache sehe besorgniserregend aus, und er habe deshalb sehr schnell und deutlich interveniert. Es müsse alles unternommen werden, damit Raoul keinen bleibenden Schaden nehme. Daß Raoul in Amerika kein Einzelfall ist, bewies sich einige Tage später, als in Evergreen ein Erstklässer wegen eines Küßchens auf die Wange seiner Mitschülerin vorgeladen wurde; dieser Kuß sei bereits sexuelle Belästigung. Auch hier handelte es sich nach Angaben des BLICK um eine schweizerisch-amerikanische Familie namens Courtney-Widmer. Seit drei Jahren lebte die mit einem Amerikaner verheiratete Schweizerin mit dem siebenjährigen Kevin und der fünfjährigen Sarah in einem gutsituierten Vorort von Denver.

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Monika Courtney wurde in die Schule zitiert. Die stellvertretende Direktorin machte ihr klar, durch den Kuß habe Kevin das Mädchen sexuell belästigt. Da nützte es auch nichts, wenn Monika Courtney ihr erklären wollte, daß ein Kuß auf die Wange in der europäischen Kultur ein völlig normaler Ausdruck von Zuneigung zwischen zwei Kindern sei und nichts Anstößiges. Gegen ihre Überzeugung mußte die Schweizerin ihren Kindern klarmachen, daß man andere Kinder nicht küssen dürfe. Sie beklagte sich über das kleinkarierte Denken vieler Amerikaner und fügte hinzu, man sei in Amerika richtiggehend ausgestellt. Wenn ein Kind ständig quengele und deshalb gemaßregelt werde, riskiere man, wegen Kindesmißhandlung angezeigt zu werden. Die etwa fünfzehn schweizerischen und österreichischen Familien in der näheren Umgebung machten sich Sorgen um den kleinen Raoul. Sie unternahmen alles Menschenmögliche, um ihm zu helfen. Gleichzeitig mußten sie auch sehr vorsichtig sein, denn sie hatten Angst, daß ihnen auch so etwas passieren könnte, wenn ein böser Nachbar es so will. Wie sagte doch schon Schiller in Wilhelm Teil: «Es kann der Frömmste nicht im Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.» Monika Courtney-Widmer aus Evergreen schickte uns folgende E-Mail: Wir sind Freunde von Andreas und Beverly und wohnen in Evergreen, Colorado. Die Story von Raoul hat uns Schweizer, die hier leben, alle zutiefst schockiert. Es ist (...) unglaublich, was hier vorgefallen ist, und dies wurde hier nie publiziert. Wir wußten bis vor zwei Tagen nichts davon, daß Raoul im Gefängnis ist, und vor

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allem, daß Andreas so überstützt abreiste. Die Methoden der Law Enforcement hier sind beängstigend, und wir versuchen alle, dem Buben zu helfen. Wir werden andere Nachbarn zusammenbringen und - falls es erlaubt ist - bei der Polizei aussagen. Ebenfalls (werden) wir den Lehrer kontaktieren. Wir verstehen nicht, daß eine einzige Meinung einer verklemmten Person genügt, um Andrea's Familie auseinanderzureißen. Wir sind alle (...) wütend und besorgt und werden uns bemühen, irgendwie zu helfen. Das System hier ist krank. (...) die Kinder dürfen keine spontanen Gefühle zeigen, sie werden von der Gesellschaft wie Roboter behandelt. Andreas, wir denken an Euch und versuchen alles, was in unserer Macht steht, um Raoul zu helfen. Monika Courtney-Widmer Wie einseitig das Gericht über einen Fall entscheidet, beweist, daß einerseits Raoul sich im Gefängnis sexuelle Belästigungen von Mitgefangenen oder Wärtern und demütigende Behandlungen gefallen lassen mußte, andererseits bereits der Kuß eines Kindes auf die Wange einer Gleichaltrigen eine sexuelle Belästigung ist. Dieser zweierlei Maßstab stößt jedem gesunden Menschenverstand auf. In der Schweiz wäre ein solcher Vorgang undenkbar, er ist für uns Europäer auch nur schwer nachzuvollziehen. Allan Guggenbühl, Psychotherapeut aus Zürich, stuft das Verfahren gegen den elfjährigen Raoul als mittelalterliche Hexenjagd ein. Guggenbühl ist selbst Vater von drei Kindern und kennt den kindlichen Drang, den Körper und die erwachende Sexualität zu erforschen. Die Reaktion der Behörde, so meint er, sei übertrieben, da

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würde mehr zerstört als geholfen. Ein normales kindliches Fehlverhalten werde als schwerwiegendes Vergehen eingestuft, das sei unprofessionell. Bei Unterscheidung zwischen angeblichem Fehlverhalten und Vergehen könne er sich durchaus vorstellen, daß das Experimentierbedürfnis des Jungen groß war. Sexuelle Spielereien und Experimente setzen bereits im Kindergartenalter ein und dauern bis zu Beginn der Pubertät; dann kommen die Antworten auf die vorgeblichen Doktorspiele. Tatsache ist aber, daß Raoul noch keinerlei Interesse an Sex oder Experimenten in dieser Richtung hatte. Sonst wäre er nach den Belästigungen im Gefängnis und den Berührungen durch die Wärter auch nicht dermaßen verstört gewesen. Er verstand das alles noch gar nicht und wollte damit auch nichts zu tun haben. Diese Masche wurde lediglich von der Denver-Justiz gigantisch aufgebauscht, um im Herbst die Wahlen wiederzugewinnen. Ihr war alles recht, um die Quoten der Verhaftungen und Verurteilungen in die Höhe zu treiben. Diese Verhaftungswelle sollte sich bei den Bürgern als Erfolg nach dem Anschlag in Littleton vom Februar 1999 manifestieren. Deshalb mußte auch Tim, der im Mai 1998 angeblich zwei kleine Kinder mit Messergewalt zu Sex gezwungen haben soll, fast ein Jahr nach der Anzeige noch herhalten - auch er wurde erst nach dem Massaker von Littleton inhaftiert. Die Notlage, in der unsere Familie steckte, bewog dann BLICK, am 15. Oktober 1999 eine Petition zu lancieren, die an die Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika, den Botschafter Mr. Randolph Bell, Chargé

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d'Affaires, Bern, gerichtet wurde. Innerhalb kürzester Zeit wurde diese Petition von über dreißigtausend Bürgerinnen und Bürgern unterstützt, um der hochnäsigen und menschenrechtsverletzenden Manie des größten Staates der Welt kundzutun, daß die kleine Schweiz mit deren Vorgehen an einem ihrer minderjährigen Bürger nicht einverstanden war. Die Petition war mit der Überschrift betitelt: «Laßt Raoul frei! Genug ist genug! Raoul Wüthrich muß aus seiner absurden Gefangenschaft in den USA freikommen.» Pamela Rüssel, die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, erklärte in einem Interview mit der BLICK-Reporterin Monica Fahmy, Raoul sei ja schließlich noch gar nicht angeklagt. Sie denke aber, daß die Beweise für den Inzest mit seiner Schwester erdrückend seien. Beweise, die nach sieben Wochen Inhaftierung noch nie erhärtet oder als stichhaltig vorgebracht wurden und daher eindeutig zu dem üblen Komplott dieser kriminellen und korrupten Behörde gehörten. Immer hieß es von der Staatsanwaltschaft, sie hätte haufenweise Beweise. Aber diese wurden nie bei einer Gerichtssitzung vorgebracht, nichts außer vagen Vermutungen. Auf den Einwurf der Reporterin Monica Fahmy, ein Elfjähriger denke doch noch nicht an Sex, entgegnete Rüssel, daß ihre Erfahrungen etwas anderes zeigen. Kinder seien neugierig, Mädchen wollten wissen, wie Jungen unten aussehen, und umgekehrt. Ob dies denn nicht eine Überreaktion der Justiz sei, wollte die Reporterin wissen. Pamela Russeis Antwort auf diese Frage lautete: «Nein, ich denke nicht, hier geht es in Richtung Inzest.»

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Die gleichen Diskriminierungen, Meinungskonstrukte und stereotypen Vokabeln tauchten immer wieder auf. Die Reporterin fragte weiter, ob die Staatsanwaltschaft auf der harten Linie bleibe. Die Pressesprecherin antwortete: «Bei der Verhandlung am Dienstag werden Beweise vorgelegt und Zeugen vorgeladen. Richterin Marylin Lennard entscheidet dann, ob die Beweise genügen. Wenn ja, wird ein Termin für die nächste Verhandlung angesetzt. Dort wird entschieden, ob auf schuldig oder unschuldig plädiert wird. Falls es zum Prozeß kommt, findet dieser frühestens Anfang 2000 statt.» Auf die Frage, was inzwischen mit Raoul passiere, gab Pamela Rüssel zur Antwort: «Seine Betreuer (Sozialdienst) suchen einen Platz, wo sie ihn unterbringen können. Bei seiner Familie ist es aber unmöglich wegen der Fluchtgefahr. Die Abreise der Eltern war unklug.» Unklug für wen? Für die Staatsanwaltschaft, damit sie unserer nicht mehr habhaft werden konnte? Damit wir uns von den USA aus nicht mehr wehren konnten? Nein, die Abreise aus Amerika war die einzig richtige und mutige Entscheidung gewesen. Dort zu bleiben hätte den Kindern nicht geholfen, und - nicht auszudenken - wären wir in Colorado geblieben, hätte die Justiz unsere Kinder in fremde Familien gesteckt und wir wären mit aller Wahrscheinlichkeit für Jahre hinter Schloß und Riegel gesperrt worden. Solche Fälle gibt es leider genug, wie die folgenden Beispiele zeigen werden. Im Grunde reicht aber schon der Kommentar von der Sozialarbeitern Pamela Rüssel auf die Frage der Reporterin, ob die Eltern befürchten müßten, daß sie ebenfalls ver-

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haftet werden oder daß man ihnen die Kinder wegnimmt: «Die betroffene Tochter sollte betreut werden. Doch wir wollen die Familie nicht auf Dauer auseinanderreißen.» (Also war die Flucht die einzig richtige Entscheidung!) Wenn man bedenkt, was Raoul im Mount View-Gefängnis alles erdulden mußte, hört sich ihr Nachsatz «Wir wollen helfen!» wie reiner Hohn an. «Helfen? Mit Raoul in Einzelhaft? Das ist absurd!» kontert die Reporterin. Pamela Rüssel betont: «Mount View ist kein richtiges Gefängnis. Raoul ist in einem Zimmer. Er geht zur Schule, kann spielen. Es hat andere Kinder dort.» Der Leser möge hierzu sein eigenes Urteil fällen! Monica Fahmy erwidert sarkastisch: «Ein vergittertes Zimmer und jugendliche Kriminelle als Spielkameraden (die alle fast doppelt so groß und zweimal so breit sind wie Raoul!) Mit welcher Strafe muß Raoul rechnen?» Antwort: «Falls er schuldig gesprochen wird, kann er zwei Jahre in Verwahrung kommen. Er könnte aber auch auf Bewährung freikommen - unter psychologischer Betreuung.» «Handfesseln für ein Kind - ist das die amerikanische Art von psychologischer Betreuung?» Antwort von Pamela Rüssel: «Hier werden alle in Handfesseln verhaftet. Auch Kinder. So ist das Gesetz.» In Amerika sind derzeit über 90.000 Kinder unter achtzehn Jahren in Haft. Das amerikanische Jugendstrafrecht verstößt gegen die Kinderschutz-Konvention der UNO, die deshalb von den USA nicht unterzeichnet wurde.

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Eine Studie von amnesty international vom November 1998 listet haarsträubende Beispiele aus dem Bundesstaat Georgia auf: Ein zwölfjähriger Schüler wurde festgenommen, weil er jemanden am Telefon belästigt hatte - ein Jungenstreich. Ein vierzehnjähriges Mädchen kam in Haft, weil sie ein Graffito an eine Mauer malte - eine Bagatelle. Ein dreizehnjähriges Mädchen saß hinter Gittern, weil es seiner Mutter 127 Dollar entwendet hatte - eine Sache, die in der Familie zu erledigen wäre. Amnesty international liegen zahlreiche Berichte über Mißhandlungen an Kindern und Jugendlichen vor: Von Faustschlägen bis zur Verwendung von chemischen Sprays und Elektroschock-Waffen. Unverständlich und skandalös ist die Unterbringung von 2.000 Kindern in Erwachsenen-Strafanstalten - aus Platzgründen! In dieses Bild paßt, daß in den USA noch immer Todesstrafen gegen Menschen ausgesprochen werden, selbst gegen Elfjährige; die Hinrichtungen werden aber bis zum Alter von siebzehn Jahren aufgeschoben. Im Juni 1998 warteten siebzig Häftlinge dieser Kategorie in den Todeszellen. Die Reaktionen auf die von der Boulevardzeitung BLICK lancierte Petition sind gewaltig. Politiker und renommierte Persönlichkeiten nehmen Stellung zum Fall Raoul. Adjektive, vom harmlosen «eigenartig» sich steigernd bis zu «entsetzlich», «krank», «unbegreiflich», «unvorstellbar» und «absurd» sind zu hören. Nationalrat Luzi Stamm ist sogar der Meinung, «daß nur

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noch öffentlicher Druck auf diesen unhaltbaren Zustand hilft». Briefe, Faxe, Internet-Mitteilungen und Kommentare aus Kanada, Australien, den USA und eine ganze Flut von Telefonanrufen bestürmen die Redaktion in Zürich. Im Ausland werden die Medien auf den Fall aufmerksam. Deutsche TV-Magazine bringen pausenlos Berichte über die selbstgerechten US-Sittenwächter. In Österreich macht der Rundfunk die Aktion von BLICK zum Thema, als Folge gehen nun auch aus den Nachbarländern Unterschriften ein. In Frankreich hat das TV5 den Fall in gleicher Weise aufgegriffen wie in Italien der RAI UNO. Berichte mit Sonderkorrespondenten der deutschen Sender ARD, ZDF, SPIEGEL TV, sternTV, RTL, PR07 erscheinen, alle größeren Medien in Europa haben sich auf dieses Thema gestürzt. Der Chef der Abteilung VI im Departement für Auswärtige Angelegenheiten (EDA), Minister Walter Thurnherr, muß sich beim Fall Raoul in Zaum halten, um die diplomatischen Formen wahren zu können. Walter Wyss, Honorarkonsul in Denver, unternahm alles als Diplomat und als Mensch -, um Raoul freizubekommen. Mit seiner Frau Yvonne besuchte er den Jungen regelmäßig im Mount View-Jugendgefängnis, das laut der Sprecherin der Staatsanwaltschaft von Denver kein Gefängnis sein soll. An Raouls Geburtstag, berichtet der Konsul, durften sie dem Jungen nicht einmal etwas mitbringen, keine Tafel Schokolade, kein Teddybär, nichts. Nur aus dem Automaten im Gefängnis konnten sie etwas Süßes ziehen. Dort kamen aber statt einem Schokoriegel gleich drei heraus, worauf der Kleine sagte: «Gott weiß, daß ich heute Geburtstag habe.» Dann lief er zu den Aufsehern hinüber, um ihnen vom Fehler

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der Maschine zu berichten. «Da wußte ich, der Junge ist anständig und ehrlich,» so der Diplomat. «Auf diplomatischem Weg tun Generalkonsul Alphons Müggler und ich einiges. Meine Frau und ich fragten die Behörden, ob wir Raoul aufnehmen dürfen, bis der Gerichtsentscheid fällt. Die Staatsanwaltschaft lehnte ab», schließt er betrübt. Ein Reporter wirft ein, die Staatsanwaltschaft habe publik gemacht, daß Raoul sofort aus dem Gefängnis heraus könne, sobald man einen entsprechenden Pflegeplatz gefunden habe. Walter Wyss korrigiert ihn: «Ihre Aussage ist falsch! Viele Schweizer haben sich gemeldet, um Raoul aufzunehmen. Die Staatsanwaltschaft läßt Raoul aber nicht einmal zu seiner Großmutter. Wir können nur abwarten. Der Druck der Öffentlichkeit tut gut, es ist aber auch Diplomatie gefragt. Das oberste Ziel ist, Raoul freizukriegen. Immer wieder fragt Raoul uns, was er denn Schlimmes getan habe. Warum er nicht nach Hause gehen könne zu seinen Eltern und Geschwistern. Beim letzten Besuch hat meine Frau Yvonne dem Knaben die Haare geschnitten, darüber konnte er endlich wieder einmal lachen. Wir lachen viel, wenn wir mit ihm zusammen sind. Aber wir reden nicht über seinen Fall, das ist Sache seines Anwalts. Wir sind sehr gerührt von dem Kleinen. Er zeigt, daß er trotz seiner eigenen überaus schwierigen Lage in erster Linie an seine Eltern denkt. Daß er das gemacht hat, was man ihm vorwirft, glauben wir niemals. Raoul vermißt seine Mutter und die Schweiz. Er erzählt viel davon, von Raclette. Kürzlich fragte er meine Frau, ob sie ihn nicht mitnehmen könne - am liebsten gleich in die Schweiz. Denn dort gebe es keine so bösen Leute wie hier. Der Junge begreift nicht,

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warum er nicht nach Hause kann. Er sagt immer, er habe nichts getan.» Schluchzend läßt Dianna Wood einen Brief ihres Enkels Raoul auf den Tisch sinken. Der Elfjährige schrieb in seinen dunkelsten Stunden tröstende Zeilen an seine Mutter Beverly. Er weiß, daß seine Mutter nicht bei ihm sein kann. Linda Campos, Raouls Großtante, hat keine Zweifel: «Die Polizei würde sie auf der Stelle verhaften und ihr auch noch die übrigen Kinder wegnehmen.» Und auch Beverly ist sich der Lage bewußt: «Mir zerreißt es fast das Herz, aber ich darf jetzt auf keinen Fall in die Staaten zurück. Das ist besser für meinen Sohn.» Es klingt ungeheuerlich. Aber im Bundesstaat Colorado ist dies traurige Wirklichkeit. Offizielle Stellen warnten Raouls Eltern, ja nicht nach Denver zurückzukehren. «Die Staatsanwaltschaft dort leidet an sexueller Paranoia», entrüsteten sich Rechtsgelehrte. Raouls Großmutter und ihre Schwester, die Großtante, dürfen Raoul nicht mehr besuchen. Das hat ihnen die Richterin Marylin Lennard verboten. «Beim letzten Mal gab Raoul mir diesen Brief mit einem Gebet für seine Mutter mit», berichtet Dianna Wood. Darin schreibt er: Liebe Mutter, lieber Vater! Ich vermisse euch wirklich, und eines Tages werden wir wieder zusammen sein. (...) Bitte schreibt mir, wie es euch geht, oder sagt mir, was ihr macht. Ich möchte euch ein Gebet schreiben: Himmlischer Vater, wir danken dir für diesen Tag und wir hoffen, daß ich freikomme und mit meiner Mutter leben kann. Wir hoffen, daß es meiner Mutter besser geht, damit sie wei-

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lerfahren kann mit ihrem Leben. Sie muß wissen, daß sie okay ist, auch wenn ich im Gefängnis bin. Wir vermissen einander. Aber sie soll wissen, daß wir in unseren Herzen immer zusammen sein werden, sogar wenn wir 9000 Meilen entfernt sind, werden wir immer zusammen sein. Raoul Bei der Übergabe der vielen tausend Petitionen, die BLICK zusammengetragen hat, erklärt der amerikanische Spitzendiplomat in Bern, Randolph Bell, salbungsvoll: «Es geht beim Fall Raoul nicht um Bestrafung, sondern um eine optimale Betreuung des Knaben.» Damit rechtfertigt Bell das Vorgehen der US-Justiz. «Mein State Departement ist zwar nicht zuständig für den Staat Colorado, aber ich kann mir vorstellen, daß Raoul bei einer Gastfamilie untergebracht werden könnte. Auf der andern Seite können im Staat Colorado Kinder ab zehn Jahren in Haft genommen werden.» Unter dem Druck der Empörung in ganz Europa und teils aus den USA hat sich die Justiz entschlossen, den Medien für zwei Stunden einen Einblick in das Jugendgefängnis Mount View zu gewähren. Ziel der Aktion ist natürlich, dem Medienpulk zu demonstrieren, daß Raoul sich bloß in einer Schule befinde. Spätestens beim Anblick seiner Zelle drängt sich aber nur noch ein Wort auf: Knast! Mit etwas gutem Willen, so berichtet die Reporterin Monica Fahmy, könnte man das Mount View Youth Service Center als großen Campus bezeichnen. Aber dann stechen die vier Meter hohe Umzäunung und die Sicherheitskontrollen am Eingang ins Auge.

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Den Jugendlichen stehen Arzte, Lehrer, ein Zahnarzt und ein Psychiater zur Verfügung. Im Areal befinden sich zur Zeit 75 Jugendliche, darunter zwanzig Mädchen. «In Colorado leben 470.000 Jugendliche», berichtet Dwight Eisnach, Pressesprecher des «Departement of Human Service», der die Medienvertreter durch Mount View führt. «Jedes Jahr werden 70.000 verhaftet, 800 davon als Delinquenten verurteilt. Zur Zeit sind 1.800 Jugendliche unter staatlicher Aufsicht.» In Pflegefamilien - oder in staatlichen Anstalten wie Mount View. Ein Campus, der mit etwas gutem Willen an ein Internat aus dem letzten Jahrhundert erinnert: Strenge Disziplin ist oberstes Gebot. Von 8.00 bis 11.00 Uhr und von 12.45 bis 15.00 Uhr gehen die Jugendlichen in die Schule. Mittags werden sie über den Hof in ihre Wohnblöcke oder in die Kantine geführt. Grün tragen diejenigen, die auf ihren Urteilsspruch warten, einen weißen Kragen die Verurteilten. Mit gesenkten Köpfen zieht eine Kolonne Jugendlicher vorbei, unter ihnen Raoul. Er bemerkt die Journalisten, die sich außerhalb der Kantine aufhalten. Ein Blick zurück, ein scheues, ängstliches Lächeln. Dann senkt er wieder den Kopf nach Vorschrift, läuft in seiner Kolonne weiter zu seinem Zellenblock. B 112 ist die Zelle von Raoul: knapp zwei Mal drei Meter ist sie groß. Durch zwei vergitterte kleine Fensterchen dringt etwas Tageslicht durch das Milchglas. Grelles Neonlicht erlaubt dem Jungen, zu lesen oder zu schreiben. In der Zelle ist ein Bett, es erinnert an Feldlazarett-Betten aus Filmen über den Zweiten Weltkrieg.

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Ein dünnes Leintuch und eine kratzige Wolldecke runden das Bild ab. Unter dem Bett ein Kistchen: Den Insassen werden zwei Bücher und zwei Fotos in der Zelle erlaubt. Die Wände sind kahl. Um 22 Uhr werden die Türen abgeschlossen. Dann beginnt Raouls lange Nacht. In Colorado lancieren auch die Amerikaner Petitionen für die Freilassung Raouls. Sie wollen den zuständigen Bezirksanwalt und den Gouverneur von Colorado mit Zuschriften bombardieren, bis sie einlenken. Der Sozialarbeiter Joe Ehman aus Denver ist Initiator dieser Aktion, die im Internet begann. Ehman bestätigt, daß «in Colorado die Kinder geradezu in Wildwest-Manier angeklagt und bestraft werden. Der hiesigen Polizei und Staatsanwaltschaft kommt es nur auf die Effizienz an, wie viele Verurteilungen sie pro Jahr haben, nach diesem Gradmesser werden die Wahlen gewonnen. Je mehr, desto besser! Wenn eine Familie plant, auszuwandern oder umzuziehen, dann am besten nicht nach Colorado, wo die Gesetze völlig willkürlich gehandhabt werden.» Auch von der Schweiz aus kann man via Internet den Justizbeamten und dem Gouverneur die Meinung sagen. Der Aufschrei über das Verfahren Raoul ist so groß, daß sich nun auch amnesty international in London für Raoul einsetzt. Sie seien durch Berichte in den Zeitungen und im Fernsehen auf den Fall aufmerksam geworden, meinte Robert Freer, nun wollten sie sich besser informieren. Dann würden sie dem Sheriff und dem Gouverneur schreiben. Die Behörden in Amerika berücksichtigten nicht, meinte Freer, daß es sich um ein

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Kind handele. Das könne bei Minderjährigen bleibende seelische Schäden verursachen. Reportern des TV-Senders SAT.l erlaubten die Justizbehörden von Colorado, am Telefon mit Raoul zu sprechen. Mit brüchiger Stimme berichtet der Junge, wie es zu den Vorwürfen gegen ihn kam. Aber sein erster Gedanke gilt den Eltern in der Schweiz. «Ich vermisse sie so sehr», erzählt er dem Reporter. «Sie können sich nicht vorstellen, wie sie mir fehlen. Ich denke nur an sie die ganze Zeit.» Raouls Großmutter Dianna Wood hörte das Gespräch mit, konnte selbst aber nicht mit ihrem Enkel sprechen. Sie war zu Tränen gerührt, als sie die Worte ihres scheuen Enkels vernahm. Dann will der TV-Mann wissen, wie es zu den Vorwürfen der Nachbarin kam. Raoul antwortet: «Wir wollten in den Garten gehen, und Mama sagte, das sei okay. Als wir rausgingen, mußte meine Schwester mal. Ich half ihr, die Unterhose runterzuziehen, damit sie nicht naß wird. Ich habe es gemacht, wie Dad es immer tat. Dann habe ich geschaut, ob sie fertig ist.» Raouls Stimme ist dünn, fast haucht er in den Hörer. «Wenn ich freikomme, möchte ich in die Schweiz fahren zu meinen Eltern», wispert er. Und wie erlebte Raoul seine Verhaftung? «Sie weckten mich mitten in der Nacht. Ich rief nach Mami. Aber sie fuhren mich zum Gericht. Dort mußte ich Fragen beantworten.» Dann fordern die Gefängniswärter ihn auf, das Interview abzubrechen. Raoul: «Sorry, sie wollen, daß ich aufhöre zu sprechen.»

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5. KAPITEL Die Anhörung Hundertschaften von Presseleuten strömen in das Hotel Sternen in Domat Ems im Kanton Graubünden, wo wir völlig erschöpft eine Pressekonferenz geben müssen. Kameras, Kabel, Scheinwerfer: Es sieht aus wie in einem Hollywood-Studio. Der Grund für diese Pressekonferenz ist die Entscheidung der Jugendrichterin in Golden Denver im US-Bundesstaat Colorado. Dienstag 19. Oktober 1999 13 Uhr Der Gerichtssaal in Denver ist überfüllt. Kameras und Mikrophone sind nicht erlaubt. Der Schweizer Generalkonsul von Houston, Alphons Müggler, und Manuel Sager, Jurist der Botschaft in Washington, sitzen neben Raouls Großtante Linda Campos. Noch ist sie ruhig und gefaßt; die beiden Botschafter geben ihr Halt. Es ist 13.00 Uhr. Auf der linken Seite hat die Verteidigung Platz genommen: Raouls Rechtsanwalt Arnold C. Wegher und seine Mitarbeiterin Darby Moses sowie Vincent Todd, der Anwalt von uns Eltern. Der Junge wird von zwei bewaffneten Sheriffs, die ihn je an einem Arm festhalten, in den Gerichtssaal hineingeführt. Seine Großmutter Dianna Wood ist nicht im

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Saal; ihre Nerven haben versagt, tränenüberströmt hat sie das Gerichtsgebäude verlassen. Raoul lächelt seiner Großtante gequält zu. Aufgrund der Medienpräsenz darf er Zivilkleider tragen, ein weißes Hemd, Jeans und Lackschuhe. Erstmals wurde auf die sonst obligatorischen Hand- und Fußfesseln verzichtet - alles soll auf die internationale Presse einen guten und seriösen Eindruck machen. Deshalb sind auch die Ankläger in Anzügen erschienen, das neue Outfit ist unübersehbar. Nancy Hooper hat ihre Haare, die sonst den Eindruck erweckten, sie sei gerade einem Heuhaufen entstiegen, zu einer Hochfrisur drapiert, auch trägt sie heute Schmuck. Ihr schwarzes Kostüm erinnert allerdings mehr an eine Beerdigung. Die Anklage nimmt auf der rechten Seite Platz: Nancy Hooper und Noel Blum, der Vertreter der Staatsanwaltschaft. Um 13.30 Uhr betritt Richterin Marylin Lennard die Bühne. Alle im Gerichtssaal erheben sich und nehmen erst wieder Platz, nachdem sich die Richterin gesetzt hat. Der Gerichtsdiener verkündet: «Der Fall Nummer 99JD1284 Raoul Emilio Wüthrich wegen sexueller Belästigung und schwerem Inzest wird im Jefferson County vor dem Gericht in Golden Denver verhandelt.» Noch vor der Anhörung legt die Verteidigung eine Eingabe vor. Die Anwältin Darby Moses durfte Raoul am Wochenende vor dem Gerichtstermin nicht besuchen, was gegen das Gesetz verstößt. Die Richterin wischt den Einwand beiseite und erklärt: «Ich wußte nichts von einem Besuchsverbot.» Sofort widerspricht sie sich aber selbst, indem sie beifügt: «Wer auf die Besuchsliste kommt, entscheidet allein die Richterin.»

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A Bei einem der vielen Interviews vor der internationalen Presse V Rechtsanwalt Vincent Todd, der uns immer wieder Mut machte


Mike Mehmert, der Ehemann der Zeugin Laura Mehmert


Joe Eh mann, Sozialarbeiter und Menschenrechtler in den USA. Er haue bereits 10.000 Unterschriften fĂźr die Freilassung von Raoul gesammelt.


Der harte Kern der Justiz: Gouverneur Bill Owens von Colorado


Die BLICK-Reporterin Monica Fahmy (Mitte) mit Tim und dessen Mutter. Tim war ebenfalls von einer Nachbarin zu Unrecht beschuldigt worden, er habe einen Jungen mit dem Messer zu Sex mit einem kleinen Mädchen gezwungen.


'Unterschriften und Fotos ehemaliger Kindergartenkameraden aus der Schweiz

V Unser Heber Freund und groĂ&#x;e Hilfe: Honorarkonsul Walter Wyss in Denver


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Gemeinsam sehen wir uns die Nachrichten über Raoul an: Beverly mit Sophia und Tatjan na, ich mit unserer jüngsten Tochter Sabrina. In der Mitte ist der Platz für Raoul reserviert. Raouls Rechtsanwalt Arnold C. Weg her bei einer Pressekonferenz

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Der wichtigste Mann im Fall Raoul: Richter James D. Zimmerman, der den ProzeĂ&#x; aufgrund schwerer Verfahrensfehler niederschlug und Raoul freilieĂ&#x;.


Abend für Abend verfolgen wir im Fernsehen die neuesten Entwicklungen im Fall unseres Sohnes.

Wir werden von den Vertretern der Medien mit Fragen bombardiert. Die von der Staatsanwaltschaft in Denver ausgestreute «Informationen» erweisen sich als pure Verleumdung.


Raouls Großmutter Dianna Wood mit dem Sozialarbeiter Joe Ehmann in unserer Wohnung in Evergreen

Linda Campos, Raouls Großtante, mit ihrer Schwester Dianna Wood (Raouls Großmutter) und der BLICK-Redakteurin Monica Fahmy


Wieder eine Hoffnung zerstรถrt! Das Gericht hat erneut entschieden, Raoul nicht freizulassen.


A Die Sozialarbeiterin Brandy Harwood fĂźhrt unseren Sohn in den Gerichtssaal. Raouls Anspannung ist nicht zu Ăźbersehen. V Honoralkonsul Walter Wyss vor dem Medienpulk


Die Anklage ruft nun die ersten Zeugen auf: Rhonda Miklic und Dan Jarbot, die beiden Sozialarbeiter, die gemeinsam Raouls Schwester Sophia befragt hatten. «Das Mädchen sagte, Raoul habe sie an den Genitalien berührt und geküßt», geben sie zu Protokoll. Der Verteidiger nimmt sie ins Kreuzverhör: «Hat Ihnen Sophia nicht auch erzählt, daß ihr Vater einen Tiger erlegte, als sie campen waren?» «Einspruch, Euer Ehren!» ruft die Anklage. «Einspruch stattgegeben», erwidert die Richterin. Als nächstes wird die Schlüsselfigur und Hauptzeugin Laura Mehmert aufgerufen. Sie ist sich ihrer Wichtigkeit bewußt und weiß, wie sie sich zu geben hat; daß sie unerschütterlich sein muß in ihrem Glauben und alles tun, um dem Gesetz Recht zu verschaffen. Wieder in dunklem Kleid, schwebt die Matrone vor das Richterpult, nimmt Platz, rückt sich zurecht, um der Presse die bestmögliche Position zu bieten. Der Gerichtsdiener bringt die Bibel, auf die sie im geheiligten Ernst so inbrünstig schwört, als stünde sie vor dem göttlichen Richter: «Ich schwöre die Wahrheit zu sagen, nichts als die Wahrheit, so wahr mir Gott helfe.» Nancy Hooper geht zu ihr hin und fragt sie: «Miss Mehmert, Sie waren an diesem Vormittag zu Hause, als der Angeklagte etwas im Garten tat. Was genau haben Sie gesehen? Erzählen Sie dem Gericht, was Sie beobachtet haben.» Laura Mehmert rückt sich erneut zurecht, da ihre Sitzlage aufgrund der körperlichen Fülle und ihrer kurzen Beine nicht angenehm war. Dann doziert sie im Ton einer Lehrerin, die ihren jugendlichen Schülern einen wichtigen Vortrag hält: «Ich sah, wie der Junge sein


Gesicht an Sophias Genitalien preßte.» Und mit theatralischem Pathos fügt sie hinzu: «Von meinem Wohnzimmer aus konnte ich alles ganz genau sehen.» Auch diese Zeugin wird von der Verteidigung ins Kreuzverhör genommen: «Sie sagen, daß Sie alles genau gesehen haben? Aber das sind über fünfzig Meter Distanz! Außerdem gibt es dort eine Menge Unterholz mit Büschen und hohem Gras. Wie können Sie da behaupten, all das, was Sie in den Protokollen angegeben haben, gesehen zu haben?» «Ich habe es eben gesehen. Ich habe gesunde und gute Augen», antwortet sie selbstsicher. «Was genau haben Sie denn gesehen?» «Ich sah, daß Raoul dem Mädchen die Hosen herunterzog, hinter sie gestanden ist und sie mißbraucht hat. Danach ist er wieder vor sie hingestanden und hat sie an der Vagina berührt und sie dort geküßt. Das habe ich gesehen.» «Kann es nicht sein, daß Sie das alles nur als Projektion Ihrer eigenen Erlebnisse aus der Vergangenheit erlebt haben, weil Sie als Kind vergewaltigt worden sind?» «Das ist unerhört!» schreit die Zeugin. Der Staatsanwalt wendet sich der Richterin zu: «Einspruch, Euer Ehren! Der Verteidiger verletzt hier jede Anstandsregel, und im übrigen hat dies nichts mit dem Fall zu tun.» «Stattgegeben. Ich muß die Verteidigung zur Ordnung aufrufen! » «Entschuldigen Sie, Euer Ehren», entgegnet der Verteidiger. Die Zeugin ist ziemlich aufgebracht und hat zum ersten Mal ihre zur Schau gestellte Selbstsicherheit

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und Beherrschung verloren. Der Verteidiger hat nämlich etwas erwähnt, was bis heute vor der Öffentlichkeit verborgen gehalten war. Der Verteidiger fährt fort: «Kann es nicht sein, daß Raoul seiner kleinen Schwester lediglich beim Wasserlösen geholfen hat?» Die Zeugin, nun wieder sehr von sich überzeugt, erwidert ohne jeglichen Selbstzweifel: «Ich kenne den Unterschied zwischen jemandem, der dem anderen die Hose runterzieht, Abstand nimmt und sagt <Okay Sophia, mache deine Toiletle>, und jemandem, der die Hose runterzieht, in die Knie geht und ein Kind zwischen die Beine küßt. Ich kenne den Unterschied, wissen Sie, ich bin alt genug, um zu sehen, wenn sich dann jemand hinter sie stellt und weitermacht, sich gegen sie drückt. Das war eine sexuelle Handlung.» «Wie wollen Sie gesehen haben, daß das eine sexuelle Handlung war?» bohrt der Verteidiger weiter. «Als der Junge von dem Mädchen abließ, hatte er noch den Hosenstall offen. Das ist Beweis genug!» «Könnten es nicht auch einfach nur Doktorspiele gewesen sein?» «Doktorspiele!» krächzt die Zeugin verächtlich, «ich kenne den Unterschied zwischen Doktorspielen, Pipimachen und sexuellen Handlungen. Das war nichts von beidem! Wenn etwas passiert und man hat Ihre Tochter sexuell belästigt, würden Sie wollen, daß der Nachbar sagt: <Oh, mein Gott, das und das ist passiert!>, oder würden Sie wollen, daß ich die Klappe halte und damit weiter zusehe, wenn so was nochmals vorkommt - und schädige damit die Kinder fürs ganze Leben?»

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Der Verteidiger erwidert: «Mit Lügen oder Falschaussagen können Sie aber einem Menschen, besonders wenn es sich noch um ein Kind handelt, noch mehr schaden.» Die Staatsanwaltschaft fährt dazwischen: «Einspruch, Euer Ehren! Der Verteidiger diskriminiert die Zeugin.» «Einspruch stattgegeben. Herr Verteidiger, ich möchte mich nicht immer wiederholen, halten Sie sich an die Fakten!» antwortet die Richterin. «Ich ziehe die Frage zurück und habe keine weiteren Fragen an die Zeugin», beendet der Verteidiger die Zeugenbefragung. Es war offensichtlich, daß Raoul überhaupt keine Chance hatte. Daß der Junge mitten aus der Nacht aus dem Bett gerissen und stundenlang verhört wurde, störte die Richterin nicht. Ebensowenig, daß dabei Raouls Rechte verletzt wurden, da ihm niemand über sein Recht zu schweigen und sein Recht auf einen Beistand belehrte. Er wurde ohne Haftbefehl festgenommen drei Monate nach der Anzeige! «Ginge es nach dem Gesetz, wäre es Kidnapping», erklärt Vincent Todd, unser Verteidiger, vor den Vertretern der Presse. «Seit dem Massaker in der Colombine School in Littleton reagiert das Gericht in Jefferson County hysterisch, wenn es um Jugendfälle geht», kommentiert kopfschüttelnd ein US-Kameramann. Im Gerichtssaal halten Anklage und Verteidigung ihre Plädoyers. Die Richterin fällt das Urteil: «Es gibt genügend Beweise für eine Anklage!»

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Die Sheriffs führen den bleichen Raoul aus dem Saal. Am Schluß der Anhörung hatte der Junge die Hand gehoben. «Was wollte er sagen?» fragt ein Reporter. «Raoul wollte sagen, daß er unschuldig ist», antwortet der Verteidiger leise. Die Richterin hatte das Handzeichen des Angeklagten geflissentlich übersehen. So wenig Bedeutung maß man den Rechten eines Kindes bei; das gleiche Gericht aber nahm sich heraus, Anklage zu erheben und ein Urteil zu fällen über einen Vorfall, bei dem nichts Unanständiges und noch weniger Verwerfliches geschehen war. In den Bündner Bergen war es still, sehr still geworden. Es war in der Schweiz bereits zwei Uhr morgens, als bei uns das Telefon klingelte. Beverly wurde kreidebleich und schaute mich mit großen Augen an. Mit einem Satz war ich am Apparat. «Es ist Wegher», informiere ich sie und hörte gespannt auf die Worte vom anderen Ende der Leitung. Beverly kann über die Lautsprecheranlage alles mithören und sitzt wie versteinert da. Mit ruhiger Stimme berichtet uns der renommierte Anwalt Arnold C. Wegher: «Raoul hat seine Sache sehr gut gemacht. Der Junge macht laufend Notizen. Hin und wieder hat er sich ein Glas Wasser eingeschenkt und mich gefragt, ob ich auch etwas davon haben will.» Ob Raoul aber überhaupt mitbekomme, was sich abspiele, bezweifle er. Der Anwalt aus Denver wirkt keineswegs entmutigt: «Wir haben gewisse Fortschritte gemacht.»

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Die schlechten Nachrichten überbringt der Verteidiger wie ein väterlicher Freund: «Todd und ich gaben eine Pressekonferenz.» Vincent Todd, der jüngere der Verteidiger, achtete auf die Einhaltung unserer Rechte. Leise Untertöne waren aus dem Gespräch herauszuhören: Raoul sei ohne Hand- und Fußfesseln in den Gerichtssaal geführt worden, was nur der Presse und den Medien zu verdanken sei. Sie berichteten nämlich haarklein über die menschenunwürdigen Behandlungen, schlachteten sie aus und würden die Amerikaner damit international an den Pranger stellen. Es war eine erste Auswirkung des großen Echos, das der Fall in Europa ausgelöst hatte. Und dafür danken Beverly und ich besonders der Redaktion des BLICK. Sie hatte mit einem kleinen Schneeball von der Spitze der Bündner Berge eine Lawine ausgelöst. Und wer weiß, vielleicht hat Raoul durch seine liebenswerte, scheue Art so viele Herzen erreicht, daß auch in dem ungeheuerlichen «Unrechtsstaat» Amerika dadurch menschlichere Züge in Gefängnissen und bei der Justiz Einkehr halten. Dann hätte dieser kleine Junge etwas erreicht, was auf der ganzen Welt wohl einmalig ist. Denn diese Bilder, die monatelang international über die Bildschirme flimmerten und das grauenhafte Schicksal unseres Sohnes dokumentierten, wird Amerika nie mehr loslassen. Und ich hoffe sehr, daß auch dieses Buch eine entsprechende Wirkung zeigt. Ein anderer glücklicher Umstand war, daß sich Raoul von nun an nicht mehr im Gefängnis Mount View aufhalten mußte. Angeblich sollte nun eine christliche

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Nacherziehung bei ihm vollzogen werden - dabei könnten all diese Typen vom Jefferson County mehr von diesem tapferen, gottgläubigen Raoul lernen! Ein anderes Kind wäre unter solchen Umständen wahrscheinlich längst zerbrochen. «Es beginnt der lange Marsch durch die Institutionen der christlichen Nacherziehung», schrieb Monica Fahmy im BLICK. Noch am gleichen Tag, nach der Gerichtsverhandlung, wird Raoul für drei Tage zu einer Pflegefamilie gebracht. So eine Pflegefamilie ist in der Regel eine fromme Familie, deren Scheinheiligkeit vom Sozialamt vorher geprüft wurde. Gastfamilie und Wohnort bleiben zum Schutz des Kindes generell geheim. Ein paar Tage später sollte Raoul dann in das Colorado Christian Home verlegt werden, ein Heim für Schwererziehbare in einem Vorort von Denver. Erst dann war dort ein Platz für ihn frei. Montag, 8. November 1999 Am 8. November 1999 kommt es um 13 Uhr vor Richter James Zimmerman am Bezirksgericht von Jefferson County zu einer sogenannten Sühneverhandlung. Würde Raoul sich dabei schuldig bekennen, könnte der Richter ihn in eine Therapie schicken, bei einer Pflegefamilie unterbringen oder erneut in ein Heim stecken. Dies maximal für zwei Jahre. Zwei Jahre wofür? Was würde in den zwei Jahren alles mit diesem jungen Menschen geschehen, wenn er bereits im Mount View massiv von Seiten der größeren Gefangenen, vor allem aber auch von den Wärtern belästigt und sexuell bedrängt

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worden ist? Ist das nicht gerade der Teufelskreis in Amerika, daß - ob schuldig oder unschuldig - ein junges menschliches Opfer frustrierten Menschen buchstäblich als lebendes Frischfleisch angeboten wird, an dem man sich befriedigen kann? Und die perfide Justiz dabei noch vorgibt, «nur das Beste für den Angeklagten» tun zu wollen! Die Verteidiger wollen aber einen GeschworenenProzeß und einen völligen Freispruch für Raoul erreichen. Sollte sich Richter Zimmerman für einen solchen Prozeß entscheiden, würde dieser frühestens Anfang des Jahres 2000 stattfinden. Mit einer Serie von Eingaben versucht die Verteidigung, das Verfahren zu beschleunigen. Infolge unserer prekären Finanzlage hatte BLICK ein Spendenkonto eröffnet, da wir durch die Ausreise aus den USA und die Geldmittel, die wir für die Flucht und die Anwaltskosten leisten mußten, buchstäblich alles verloren hatten. Die Solidarität für den Jungen und uns riß nicht ab. Über 32.000 Unterschriften für die Petition waren inzwischen eingereicht. Ich kann all den Menschen, aber auch dem BLICK und allen Medien, die für uns und in erster Linie für Raoul kämpften, nur danken. Diese tausende von Briefen, Telefonaten und Geschenken, vor allem für unseren Sohn, haben uns tief bewegt. Kleine und Große machten mit, waren gütig und hatten das Herz am rechten Fleck. Aber um Raoul freizubekommen, brauchte es Geld: Geld, um die Anwälte zu bezahlen; Geld, damit wir später möglicherweise zu unserem Sohn reisen konnten, wenn dies noch möglich war. Und Geld, um Raoul

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nach seiner Freilassung mit ärztlicher Unterstützung über die psychischen Auswirkungen der Haft hinwegzuhelfen. Sowohl der BLICK als auch der SonntagsBLICK hatten beschlossen, einen Verein «Hilfe für Raoul» zu gründen und ein Spendenkonto einzurichten. Es durfte nicht sein, daß Raoul sein ganzes Leben lang leiden mußte. Auf einmal taten sich Türen auf. In der ganzen Welt, nicht nur in Europa, sorgte der Fall Raoul für Schlagzeilen. Dutzende von Zeitungen und Fernsehstationen berichteten über das Schicksal unseres Jungen. So lautete die Schlagzeile der «Bild»-Zeitung, Deutschland: «Mr. Clinton, was tut Ihr Land diesem Kind an?» Die «Neue Kronen-Zeitung», Österreich, druckte als Headline: «Elfjähriger im Gefängnis. Weltprotest gegen US-Justiz». Der US-Femsehsender CNN wurde wie folgt zitiert: «Wütende Schlagzeilen erscheinen in der Schweiz, und die Zeitung BLICK fordert sofortige Freilassung des Jungen.» Als Titelstory des «Daily Telegraph», Großbritannien, war zu lesen: «Aufruhr um einen Schweizer Jungen, der in den USA wegen Inzest angeklagt ist.» Die österreichische «Kurier»-Zeitung meldete: «Raoul wird der Prozeß gemacht».

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Das Magazin «DER SPIEGEL», Deutschland, schrieb: «Drakonische Strafverfolgung: Wegen <schweren lnzests> sitzt ein Elfjähriger seit über sechs Wochen in Colorado hinter Gittern.» Die französische Tageszeitung «France Soir» betitelte ihr Blatt wie folgt: «Mit 11 wegen Inzest angeklagt. Sein Verbrechen? Er hat die Unterhose seiner kleinen Schwester geküßt». Die renommierte deutsche Zeitung «Die Welt» informierte ihre Leser: «US-Richterin läßt Prozeß gegen Elfjährigen zu». Der englische «Mirror» verkündete lakonisch: «11jähriger Junge in Fußfesseln». Die Schlagzeile der «Süddeutschen Zeitung» lautete: «Ein elfjähriger Junge ist im US-Bundesstaat Colorado des schweren Inzests angeklagt, und Amerikas Medien finden, das sei kein Thema.» Alleine schon diese kaltblütige Feststellung der Amerikaner legt ihr ganzes geistiges Weltbild dar. Einerseits sind sie angeblich fanatisch gläubig, dann wieder rassistisch, und nicht zuletzt wird den jugendlichen von klein auf beigebracht, wie kaltschnäuzig und auch unbarmherzig sie gegenüber jedem Ausländer und schließlich gegenüber jedem Schwächeren sein sollen. Die so geimpften Jugendlichen werden später Politiker, Kriminelle oder einfache Menschen, die der Nährboden für Korruption sind. Wurde nicht schon so mancher Ma-

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fia-Nachfolger Jurist und schließlich in hohe politische Ämter gewählt? In Amerika ist alles möglich, wenn man nur genug Geld hat. Auf welche Art und Weise das Geld verdient wird, ist nebensächlich, solange man sich nicht erwischen läßt. Und falls das doch einmal vorkommt, muß man nur über genügend Geld und Beziehungen verfügen, um einen Freispruch zu erreichen. Denn als Geschäftsmann ist man in «ehrenwerter Gesellschaft». Auffallend an all diesen Zeitungen und Magazinen war die Tatsache, daß sie ausnahmslos die gleichen Lügen wiederholten, die die Denver Staatsanwaltschaft verbreitete. Damit hatte die Justiz die Presse vor ihren Karren gespannt und bereits ein Ziel erreicht: Das unschuldige Kind war der Öffentlichkeit bereits als Täter dargestellt worden. Keinem der Journalisten wäre es in den Sinn gekommen, die Geschichte zu hinterfragen. Zum einen konnte man sich wohl nicht vorstellen, daß eine Staatsanwaltschaft gezielt Falschinformationen veröffentlichte. Zum anderen ist es aber auch ein generelles Problem; denn in der Gesellschaft ist mit dem Herunterziehen einer Hose bereits schon der Verdacht geweckt, etwas Unsauberes, etwas Unkorrektes, Beschämendes getan zu haben. Dabei tun wir dies doch tagtäglich mehrmals! Gerade diese Selbstverständlichkeit erschwerte es, Raoul zu rechtfertigen. Mit jeder weiteren Erklärung machte man sich nur verdächtig, doch etwas Unrechtes getan zu haben. Wie heißt es doch so treffend: Auch wenn es sich nur um Gerüchte handelt, bleibt doch immer etwas hängen!

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Aber auch innerhalb Europas weisen die moralischen Haltungen von Land zu Land große Unterschiede auf. Was der eine für eine verwerfliche Sache hält, ist dem anderen etwas Alltägliches, solange gewisse Grenzen nicht überschritten werden oder es um ein Kind geht. Aber sowohl in Europa als auch bei jenen Menschen in Amerika, die Raoul beistehen wollten, war nach der Anhörung der allgemeine Tenor, der Denver-Justiz gehe es nur noch um eine Machtdemonstration. Auf einmal mußten die Amtsinhaber in Colorado befürchten, daß die Rechnung zum Wählerstimmenfang nicht mehr aufgehen könnte - zu groß war die internationale Presseschelte nach Raouls willkürlicher Verhaftung. Anstatt nach dem Massaker von Littleton wieder Sicherheit und Ruhe einkehren zu lassen, zog die Inszenierung der Justiz erneut negative Schlagzeilen nach sich. Die Bürger kamen nicht zur Ruhe, die allgemeine Stimmung änderte sich, der Schuß drohte nach hinten loszugehen. Großmutter Diana Wood fuhr nach der Anhörung mit ihrer Schwester Linda Campos nach Tucson/Arizona zurück. Beide waren wie alle Sympathisanten von Raoul empört über das Vorgehen der Staatsanwaltschaft. Der Auslandsschweizer Ernst Eugster war einer von jenen, die vor dem Gerichtsgebäude (das von den Einheimischen wegen seines Prunks nur das «Tadsch Mahal» genannt wird) mit Plakaten für Raouls Freilassung demonstrierten: «Ich weiß nicht, ob der Junge etwas getan hat. Aber wenigstens kam er aus dem Jugendgefängnis heraus. Alles andere wird die Zukunft zeigen.»

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Die Petition des Sozialarbeiters Joe Ehman lief auf Hochtouren. Viele Amerikaner - man bedenke, daß allein die Eltern von den 2,5 Millionen Jugendlichen, die in den USA jährlich verhaftet werden, das gleiche Interesse wie wir hatten - meldeten sich. Alle stellten sie die gleiche Frage: «Was kann ich tun, um Raoul zu helfen?» Ehman machte weiter, er wollte Raoul nicht im Stich lassen. Er erklärte: «Das Kind gehört zu seinen Eltern. Das dürfen wir nie vergessen!» Aufmunternde Worte kamen auch von den ehemaligen Kindergarten-Kameraden aus Malans, diesen Kindergarten hatte Raoul besucht, als er vor vier Jahren noch in der Schweiz lebte. Schulklassen, Kinderparlament, Politiker: Alle wollten dem Jungen helfen. Hallo Raoul!, schrieb eine frühere Kameradin, die mittlerweile die Primarschule besuchte: Ich finde es eine Gemeinheit, daß du nichts getan hast und trotzdem ins Gefängnis mußt. Cornelia Kiienzi. Diese netten Worte stehen in einem ellenlangen Brief, den die fünfte Klasse aus Malans an Raoul schickte. «Die Idee mit dem Brief kam uns ganz spontan», gab Raouls frühere Spielgefährtin Stefanie Donatsch gerne Auskunft. Das Luzerner Kinderparlament wollte sich mit einem Brief an Hillary Clinton ebenfalls für Raoul einsetzen. Die First Lady hatte 1998 die einzigartige demokratische Institution besucht und sich davon hellauf begeistert gezeigt. Jetzt sollte sie beweisen, daß sie das von ihr gelobte Parlament wirklich ernst nimmt. Auch erwachsene Politiker sprangen für Raoul in die Bresche. Das Berner Stadtparlament übergab dem US-

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Botschafter eine Petition mit der Aufforderung, der Knabe solle unverzüglich zu seinen Eltern zurückkehren dürfen. Nun hatte die Staatsanwaltschaft in Denver genug von den ständigen Attacken aus dem Schokolade- und Käseland Schweiz sowie aus ganz Europa und holte zum Gegenangriff aus. Sie lud den Redakteur Kieran Nicholson von «The Denver Post» zum Stelldichein und eröffnete ihm, es lägen hieb- und stichfeste Beweise vor, wonach die Familie Wüthrich ein Sexgeschäft betrieben hätte und es daher auch nicht ausgeschlossen sei, daß der Angeklagte Raoul mit angesehen und mitbekommen habe, was ihm zur Last gelegt werde. Dieses Beweismaterial beende alle Spekulationen, erhärte die Klage der Staatsanwaltschaft gegenüber Raoul Wüthrich und werfe nicht zuletzt ein schiefes Licht auf seine Eltern. Wären die Eltern jetzt in Colorado, so würden sie auf der Stelle verhaftet werden, stellte die Staatsanwaltschaft in dem Interview befriedigt fest. Der Hintergrund zu dieser neuen ungeheuerlichen Lüge war folgender: Wir hatten im Juni 1999 eine Firma unter «Ultimate Fantasies Inc.», 2850 Pine, Evergreen, Colorado, also an unserer Wohnadresse, eintragen lassen. Daß es zu jenem Zeitpunkt unter gleichem Namen bereits eine Website von einem Unternehmen in Las Vegas/Nevada gab, das Pornowebsites im Internet zur Verfügung stellte, wußten wir nicht. Wir hatten diese Website zur Kommunikation von Eltern aufbauen wollen, die auf diese Weise ihre Probleme mit anderen Eltern austauschen konnten. Daß möglicherweise im Rahmen dieses Austausches auch das Zusammenleben von Er-

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wachsenen und Jugendlichen oder Probleme mit pubertären Jugendlichen zur Sprache gekommen wären, wäre nicht auszuschließen gewesen - schließlich hatte meine Frau Psychologie studiert und wollte ihr Wissen nicht brachliegen lassen. Zudem hätte uns diese Beratung und Kommunikation mit den Interessenten, die von Beverly betreut worden wären, auch zusätzliche Einkünfte verschafft. Diese Website existierte jedoch gar nicht; das wußte die Staatsanwaltschaft ganz genau! Als Rechtfertigung für ihr kriminelles Vorgehen war ihr jedoch jede Lüge und Entstellung recht, und so verbreitete sie diese Pressemeldung. Die Rufmordkampagne war perfekt inszeniert; Kritik und Zweifel an unserer Glaubwürdigkeit kamen auf. Die Veröffentlichung der Staatsanwaltschaft schlug so große Wellen, daß die Bevölkerung Raouls und unsere Unschuld plötzlich in Frage stellte. Die Menschen standen unseren Dementis, die ich noch am gleichen Tag mit meiner Frau zusammen NBC live im Fernsehen gab und die von allen europäischen Medien wiedergegeben wurden, kritischer gegenüber. In zusätzlichen Interviews im europäischen Raum erläuterten wir die These unserer Website, die ja nie aktiviert worden war. Für Beverly und mich war die Unterstellung schockierend: Wir sollten Sexfilme produziert und sogar Kinderpornos angeboten haben! Zwar war uns klar, daß diese Aktion der Staatsanwaltschaft von Denver nur deren Hilflosigkeit dokumentierte, sicheres Belastungsmaterial vorzulegen; sie versuchte mit allen erdenklichen Tricks, uns zu diskreditieren und ihr Lügengespinst um uns glaubhafter zu machen. Denn wer würde noch jemandem Glauben schenken, von dem man weiß, daß er

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Sex- und Pornofilme produziert und eine Website mit pornographischem Inhalt anbietet? Das Wissen um den Griff der Staatsanwaltschaft nach einem Rettungsanker war aber nur ein schwacher Trost, denn nun hatte sie fast wieder Oberhand gewonnen. Auch der BLICK wollte und mußte über die neuen Vorwürfe Kenntnis haben - vor allem, weil er sich für unsere Familie und für Raoul stark machte und sogar das Spendenkonto eingerichtet hatte, auf dem bereits erhebliche Geldmittel eingegangen waren. In einem Interview war die Rede von einem «erotischen Angebot im Internet». Man muß sich einmal bewußtmachen, welchem Druck seitens der amerikanischen Behörden wir seit Monaten ausgesetzt waren: Die Verhaftung unseres Sohnes, die unsinnigen Anschuldigungen durch die Nachbarin und die Justiz, die Verhinderung der Freilassung unseres Sohnes gegen Kaution, die Terrorisierung mit Hausdurchsuchung und ähnlichem, die Flucht und der Verlust des gesamten Hab und Guts! Da können, bedingt durch völlige Erschöpfung, auch Irritationen entstehen, die mißverstanden werden und auch mißverstanden worden sind. Niemand kann sich vorstellen, was wir in den letzten drei Monaten bereits alles durchmachen mußten; wir hatten praktisch keine ruhige Stunde mehr gehabt, waren in der Nacht bei jedem Geräusch aufgeschreckt, weil wir von der Justiz gejagt worden waren wie der Hase vom Jäger. Nach all dem mit einer solchen Situation, mit so ungeheuerlichen Vorwürfen aufs Neue konfrontiert zu werden, glich einem bösen Traum. Beverly und ich hatten Verständnis dafür, daß aufgrund der neuen Situation die Redaktion des BLICK

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keine Auszahlungen an unsere Anwälte vornehmen wollte. Was für BLICK allerdings nicht hieß, uns nun völlig ins Leere laufen zu lassen. Schlußendlich hatte sich ja alles, was die Justiz in Denver behauptet hatte, als Lüge erwiesen. Aber wie schon erwähnt, leider bleibt bei solchen Gerüchten immer etwas hängen, ist der Ruf nie mehr so fleckenlos wie vorher. Manch ein Fernsehzuschauer oder Zeitungsleser konnte nach dieser Meldung nicht so leicht wieder umgestimmt werden, auch wenn die gezeigte Website von einem anderen Unternehmen aus Las Vegas stammte und ganz andere Besitzverhältnisse hatte als die unsrige - das ist eben das Teuflische an Falschinformationen! Auf der Pressekonferenz in Domat/Ems, wo Hundertschaften von Reportern, Kameraleuten und sonstigen Medienvertretern anwesend waren, wurde ich mit teils akribisch formulierten Fragen bestürmt. Beverly mußte ich zu Hause lassen, sie sah bleich und verstört aus, war völlig apathisch und hatte kaum noch Kraft, auf die ungeheuerlichen Vorwürfe zu reagieren. Sie war mit den Nerven völlig am Ende und mußte sich zusammenreißen, um nicht laut herauszuschreien. Es paßte sehr gut ins Bild der Tageszeitung «The Denver Post», wenn sie behauptete, ihre Informationen von «einer mit der Untersuchung vertrauten Quelle» zu haben. Warum konnte man nicht einfach zugeben, daß es sich um die Justizbehörde selbst handelte, zumal diese Quelle als «anonym» bezeichnet wurde? Der Leser möge selbst urteilen, was von anonymen Quellen zu halten ist. Und war nicht die Hauptzeugin in diesem ganzen Verfahren, Laura Mehmert, zunächst anonym?

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Erst später fand die Polizei über ISDN die anonyme Anruferin heraus, nachdem von höchster Stelle Denvers Justiz auf den entstandenen Imageschaden durch das Massaker von Littleton aufmerksam gemacht worden war. Nun sollte allem - damit meinte die Justiz auch die kleinsten Bagatellen und jeden Hinweis, der juristisch behandelt werden konnte jeder einzelnen Klage nachgegangen werden, um die Bevölkerung glauben zu machen, daß die Justiz alles im Griff habe. Zu meinem großen Erstaunen übernahmen gerade die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, wie das ARD oder auch das Schweizer Fernsehen SF DRS die von der Justiz bewußt verbreiteten neuen Anschuldigungen, ohne sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Ich konnte nicht verstehen, daß diese Fernsehsender die neuen Publikationen aus Denver als Fakten übernahmen und uns bereits im Vorfeld verurteilten. Die Entschuldigung, die falschen Nachrichten hätten schließlich von einer amtlichen Untersuchungsbehörde gestammt und seien deshalb als Tatsache verbreitet worden, konnte ich nicht gelten lassen. Schließlich ist es auch - oder gerade - Journalisten hinlänglich bekannt, daß Lügen, Erfindungen oder Halbwahrheiten an der Tagesordnung sind, wenn eine Behörde oder sonst jemand Untersuchungen in eine falsche Richtung lenken will. Gewisse Medien haben ihre Sorgfaltspflicht, Meldungen vor Verbreitung auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, sträflich vernachlässigt, und ich hatte große Lust, rechtlich gegen diese Sender vorzugehen, die zusätzlich Rufmord an uns betrieben. Die uns ohnehin kaum verbliebene Kraft und Zeit flössen in Raouls Freilassung und ließen leider keinen Spielraum

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frei für irgendwelche Manifestationen. Der Schaden durch die falschen Medienberichte, die uns plakativ als Pornoproduzenten und -vertreiber hinstellten, war bereits angerichtet, und ich kann nur hoffen, daß nach Veröffentlichung dieses Buches die enthaltenen Fakten auch jene Menschen umstimmen können, die bis heute noch immer etwas Unkorrektes oder Unsauberes hinter dem Lügengespinst der US-Justiz vermuten. Nicht erst seit Watergate ist bekannt, daß Amerika vor keinen Mitteln zurückschreckt, um von ihm begangenes Unrecht ins rechte Licht zu rücken und dabei Unschuldige zum Sündenbock stempelt. Man denke dabei nur an Vietnam, an Kuba, Hiroshima, Nagasaki, Iran, Irak und an andere unzählige Kriegsschauplätze. Amerika gibt stets vor, für Recht und Frieden einzustehen. Es gibt kein anderes Land, das mit der gleichen Arroganz die Menschenrechte verletzt wie die USA. Hier werden immer noch Hunderte von Menschen zum Tode verurteilt, in die Gaskammern oder auf den elektrischen Stuhl geschickt oder mit der Todesspritze getötet. Solange dieses Land nur nach dem alttestamentarischen Spruch «Auge um Auge, Zahn und Zahn» urteilt, wird es nie vom Frieden begleitet sein. Sie werden ihre Kinder zu neuem unendlichen Haß, zu Lüge und Betrug und schließlich zu Mördern heranziehen, auf die sie sogar noch stolz sind, und sie mit Ehren auszeichnen, wenn sie bei einem Angriff auf ein anderes Land möglichst viele Gegner getötet oder verkrüppelt haben.

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Auf jeden Fall hat die Justiz in Colorado mit ihrem perfiden Angriff auf uns Eltern erneut bewiesen, wie man strategisch zuerst den Gegner verunglimpfen und so unglaubwürdig machen muß, um zum eigenen Sieg zu gelangen. Einer Untersuchungsbehörde in Europa darf man mit gutem Gewissen mehr Glauben schenken als dem Angeklagten; hier wird in aller Regel weniger mit unsauberen Methoden oder Lügen gearbeitet, wenn auch hin und wieder Rechtsbeugungen vorkommen. Das gleiche von einer amerikanischen Behörde erwarten zu dürfen, ist völlig utopisch, da dort noch immer jeder als Kommunist oder Landesfeind hingestellt wird, dessen Meinung nicht mit der vorgegebenen Linie übereinstimmt. Wir Schweizer müßten dies eigentlich wissen, wurden wir doch in den letzten Jahren von der amerikanischen Regierung regelrecht zum Prügelknaben gemacht, nur weil gewisse Kreise vermuteten, daß Milliarden von Gold und Geld aus der Nazizeit in den Schweizer Banktresoren versteckt seien. Haben wir noch immer nicht gelernt, kritischer einem Land gegenüberzustehen, das in den letzten fünfzig bis sechzig Jahren weltweit so viel Krieg und Unheil angezettelt hat? Amerika ist längst nicht mehr der Musterknabe, wie man früher so gerne angenommen hat; er hat seine Unschuld längst verloren. In den USA dreht sich alles um die Stärkeren, Reicheren und Mächtigeren. Nur diese haben eine Chance, im täglichen Leben zu bestehen; alle anderen sind für sie Abschaum, Parasiten, die hinter Schloß und Riegel gehören. Der Denver-Justiz paßte es überhaupt nicht in ihr Konzept, daß unsere Familie ihren Jungen so hart-

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näckig verteidigte und ihnen die Hölle heiß machte. Sie hatte nicht mit dem internationalen Druck gerechnet und war höchst erstaunt, wie das kleine Käseland in Europa eine Lawine losgetreten hatte, die das «große, reiche und freie Amerika» in die Enge trieb. Die Ammenmärchen von unserer angeblichen erotischen Website und sogar Sexvideos wurden schnell als Lügen enttarnt, aber Vorwürfe dieser Art trafen Beverly besonders hart, da sie als Kind mißbraucht worden war. Der Justiz ging es darum, unsere Familie auf jede erdenkliche Art und Weise in Mißkredit zu bringen, um ihr Vorgehen irgendwie vor der Welt zu rechtfertigen und das Gesicht zu wahren. Der fiese Schachzug mit der Schmuddelgeschichte brachte der US-Behörde in Denver jedoch keinen Segen. Aber ich muß leider einräumen, daß die ganzen Spekulationen kein günstiges Licht auf uns geworfen hatten. Wir danken deshalb ganz besonders der Redaktion des BLICK, die den neuerlichen Anschuldigungen keine weitere Beachtung schenkte und ihr Ziel - Raouls Freilassung und Unterstützung unserer Familie - nicht aus den Augen verlor. Dieses Vertrauen in uns ist um so höher anzurechnen, da eine Beurteilung von der Schweiz aus und ohne Akteneinsicht oder Einblick in das wahre Geschehen äußerst schwierig war. Der Fernsehjournalist und USA-Kenner ersten Ranges Erich Gysling schrieb im «SonntagsBLICK» unter dem Titel «Bewunderte Macht, gefürchtete Ohnmacht» einen vielbeachteten Artikel, den ich hier auszugsweise wiedergeben möchte:

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«Der Skandal um den elfjährigen Raoul ist mehr als nur irritierend. Und dies, weil amerikanische Justiz-Instanzen jegliches Augenmaß für Verhältnismäßigkeit vermissen lassen. Ein Bub, der mit seinem Schwesterchen wahrscheinlich Doktorspiele getrieben haben soll (auch er geht immer noch von der Klage der US-Justiz in Denver aus, sie!), wird als Gemeinverbrecher abgeführt, stundenlang ohne Rechtsvertretung und ohne rechtliches Gehör, noch viel weniger mit Haftbefehl eingesperrt, mit Gesetzesbrechern öffentlich vorgeführt und soll wegen <schweren Inzests> vor die Gerichtsschranken kommen. Eine Familie wird in eine Krise gestürzt, ein Kind so verletzt, daß es fürs ganze Leben psychisch lädiert sein kann. All das unter dem Deckmantel von Moral und Gerechtigkeit, all das in jenem Land, dessen Präsident die Würde des Oval Office im Lewinsky-Skandal zur Farce des <Oral-Office> degradiert hat. Allerdings: Das geschah auch in jenem Land, das, neben China und dem Iran, weltweit die meisten Todesurteile vollstreckt und das selbst geistig Unzurechnungsfähige und Minderjährige auf den elektrischen Stuhl bringt oder auf die Giftspritzen-Bahre bindet, in Einzelfällen noch in die Gaskammer zum Erstickungstod schicken läßt. Die Justiz-Maschinerie der USA wirkt für Europa befremdend. Merkwürdig ist das, weil wir Europäer die Gewaltentrennung und somit auch die Unabhängigkeit der Justiz der USA prinzipiell so sehr bewundern, daß man hier, in der <alten Welt>, ein ähnliches Modell in die Verfassungen aufgenommen hat. Theoretisch ist Amerika das große Vorbild, aber die Praxis wider-

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spricht dem auf krasse Weise. «Angeblich», so meint Gysling, «fühlen sich Schweizer und Schweizerinnen traditionell auf einer sehr eigenartige Weise mit Amerika verbunden. Nach Kenntnis dieses Buches dürfte sich mit Sicherheit vieles ändern.» Nach dem Zweiten Weltkrieg schwang sich Amerika ideologisch gefärbt zum Höhepunkt des Kalten Krieges. Dieses Amerika soll uns vor den Russen gerettet haben, lautete landesweit die Überzeugung. Wer diese These nicht teilte, wurde als Kommunist verdächtigt. Dann aber erkaltete diese Verbindung zwischen der Schweiz und den USA, nicht zuletzt wegen Vietnam. Später verlangte Amerika von der Schweiz eine flexiblere Haltung der Neutralität in Konfliktfällen. Bis zum Ausbruch der Krise um die nachrichtenlosen Konten. Sie wurde oberflächlich belegt, irritierend für die Schweiz blieb die Tatsache, daß in den USA Unmengen von nachrichtenlosen Konten existieren und dies weder bei den Behörden noch den Banken oder Versicherungen so viele Schuldgefühle auslöst, daß sie sich zum Handeln verpflichtet fühlten. Ähnlich war es bei der Frage der Aufnahme von Flüchtlingen, sowohl während des Zweiten Weltkriegs als auch bei späteren Konflikten: die USA öffneten die Tore bestenfalls um einige Zentimeter, die Schweiz öffnete unmeßbar viel weiter. Dann kam es zu Streitereien zwischen den USA und Europa, um Handelspräferenzen, um Bananenimport und so weiter, wobei die Schweiz indirekt betroffen war. Und jetzt der Fall dieses schweizerisch-amerikanischen Jungen. Letzten Endes spielt bei allen Problemen zwischen dem Kleinstaat Schweiz und den USA das Thema

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Macht und Ohnmacht eine Rolle. Man identifiziere sich jetzt hierzulande mit der Familie des Elfjährigen, der von den US-Richtern unverhältnismäßig angepackt wurde, im Sinne einer Ohnmachts-Gesellschaft. Die Macht wird bewundert, solange sie andere trifft (Iraks Saddam Hussein oder Milosevics' Serbien). Sie wird gehaßt, sobald man ihr selbst direkt ausgesetzt ist.» Ich stimme Erich Gysling zu, solange Amerika seine Macht nicht bei den Schwachen ausnutzt. Denn in der christlichen Welt hat der Schwächere noch immer einen weit höheren Anspruch auf Nachsicht. Bewundern kann man Amerika schon längst nicht mehr, es ist eine Großmacht, die sich durch Diktat wie ein Despot über andere Länder und Völker hinwegsetzt und dann noch erwartet, bewundert zu werden. Daß Willkür und Unsicherheit in den USA herrschen, wissen Hunderte von Schweizerinnen und Schweizer zu berichten. Oft sei die Bürokratie weit schlimmer als in der Schweiz. Obwohl in Los Angeles das Wetter meist schöner sei, so der Chefkoch Ueli Hügli, mache einem die Behörde mehr zu schaffen. «Die individuelle Freiheit wird heute als Gefährdung des sozialen Gemeinwesens wahrgenommen. So werden im Gegenzug die Geister der konservativen Wertvorstellungen wieder zum Leben erweckt», stellt der Züricher Soziologe Merz-Benz fest. Dazu passe auch die aktuelle Meldung über eine private Initiative im liberalen Kalifornien, die Drogenabhängigen 200 Dollar bezahlt, wenn sie sich sterilisieren lassen. Die Schweizer hielten lange Zeit am makellosen Bild des «großen Bruders» Amerika fest. Nun hat das schöne Bild mehr als nur ein paar kleinere Kratzer abbekommen.

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Unter dem Titel «Konservativ, fortschrittlich, arrogant, einnehmend - die vielen Gesichter der USA irritieren» erschien im SonntagsBLICK ein Bericht über das «Land der begrenzten Möglichkeiten», der meine Eindrücke und Erlebnisse während den Jahren in den USA bestätigte. Die Holocaust-Gelder-Affäre und der Clinton/Lewinsky-Skandal erregten die Gemüter. Nun löste der Fall Raoul hierzulande einen Sturm der Entrüstung aus. Die amerikanischen Vorstellungen von Recht und Moral, Sexualität und Frömmigkeit, Gut und Böse bleiben uns unverständlich. Die Bündnerin Karin Senn war als Austauschschülerin in einem kleinen Ort in Minnesota. Beim ersten Cheerleader-Training wurde sie zurechtgewiesen, weil sie in kurzen Hosen erschien. «Ich verstand die Welt nicht mehr», erzählte sie, «gehört doch zur Uniform der Cheerleaders generell dieses superkurze Röckchen!» Aber nach Logik fragen die Amerikaner nicht. PeterUlrich Merz-Benz bemerkt dazu: «In den USA herrscht ein enormer Gegensatz zwischen Freiheit und einem Verharren in konservativen Wertvorstellungen. Für Europäer ist es schwer, einen Zusammenhang zu sehen.» Der Glaube der Amerikaner an die Freiheit ist Teil ihres Selbstverständnisses und gründet in der Unabhängigkeit von 1776. Das Persönlichkeitsrecht wurde bereits damals in den USA verankert, noch bevor es durch die französische Revolution formuliert wurde. Die USA waren der erste Staat mit einer republikanischen Verfassung. Der US-Bürger lebt in dem Bewußtsein, sich

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nichts von außen aufzwingen zu lassen und sich in völliger Freiheit eigene Normen zu geben, selbst wenn diese sehr streng sind. Der Mythos der amerikanischen Freiheit liegt aber auch in der traditionellen Vorstellung vom freien, wirtschaftlich unabhängigen Farmer begründet - dies sitzt tief in den Köpfen der Menschen. Noch tiefer sitzt die Vorstellung vom auserwählten Volk: Amerika verstand sich im frühen 17. Jahrhundert als Gegenbild zu Europa. Die Anfänge der angelsächsischen Besiedlung gingen davon aus, das neue Zion in der Wildnis zu sein. Man wollte das geistig korrumpierte Europa mit seiner Königs-, Fürsten- und Vetternwirtschaft weit hinter sich lassen. Die USA verstanden sich als Modell für eine wahrhaft christliche Gesellschaft, die für sich in Anspruch nimmt zu wissen, was gut und was schlecht ist. Aber der Weg zur Scheinheiligkeit und Entartung ist kurz. Das zeigt sich auch im zum Teil pervertierten amerikanischen Rechtssystem, das wie in dem Fall Raoul tiefe Eingriffe in die persönliche Sphäre erlaubt - und das nur aufgrund der seltsamen und bizarren Anschuldigungen einer skurrilen Nachbarin. Die Doppelmoral der Amerikaner läßt sich insbesondere bei der Produktion von US-Endlosserien wie beispielsweise «Beverly Hills» oder «Baywatch» und dergleichen ablesen. Hier dürfen die Frauen im Fernsehen mehr als nur dürftig bekleidet ihre Reize zeigen, die Kamera zielt ostentativ auf genau jene Körperteile, vorzugsweise, wenn Männerhände Sonnenöl auf die Frauenkörper reiben. Von keinem anderen Land werden derartige Filme öffentlich produziert, nur um die Werbung anzukurbeln - außer in Hollywood. Neuerdings ziehen allerdings auch die europäischen öffentlich-rechtlichen

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und vor allem die Privatsender nach - unter der Absolution des Quotendrucks kann sich der Zuschauer bei «Big Brother» ungehemmt dem puren Voyeurismus hingeben. Man muß sich fragen, wieviel Toleranz dem Zuschauer bezüglich Unsittlichem noch zugemutet werden soll. Für Reinhard Fatke, der an der Uni Zürich Sozialpädagogik lehrt und zwei Jahre in den USA lebte, ist klar, daß die Amerikaner im Vergleich zu den Europäern ein verklemmtes Verhältnis zur Sexualität haben. Schon im Sprachgebrauch zeigt sich das sehr deutlich. Da wird nicht von Toilette gesprochen, sondern von restroom oder powderroom, in den sich die Damen offiziell zurückziehen, um die Nase zu pudern. Die Folgen sind erstaunlich: Die Unterdrückung von allem, was auch nur im Entferntesten nach Sexualität klingt, führt zu Überreaktionen. So hat kürzlich eine Serviceangestellte in New York einen Gast wegen sexueller Belästigung angezeigt, weil er im Restaurant den «Playboy» las. Gleichzeitig aber ist die Rate von Teenager-Schwangerschaften in den USA außergewöhnlich hoch. Selbst wenn nicht alle Staaten der USA die Gesetze in solch strenger und prüder Art auslegen, kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß in den Staaten die konservativen Kräfte generell wieder aufleben. Sollte der neue Präsident wieder Bush heißen, würde sich nicht nur die Blutspur der Todesstrafen verschärfen, sondern auch die unerträglichen Gesetze für Jugendliche beibehalten werden - was das Verhältnis zwischen Amerika und Europa erst recht verschlechtern würde.

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6. KAPITEL Der große Betrug Freitag, 22. Oktober 1999 21.40 Uhr Ende Oktober, nachdem Raoul bei einer Pflegefamilie untergebracht worden war, durfte er endlich wieder mit uns telefonieren. Die Genehmigung dazu war auf massiven diplomatischen Druck aus der Schweiz zustandegekommen. Man hatte ihm erlaubt, von der Kanzlei seiner Anwälte in Denver aus zu telefonieren. Selbstverständlich hatte man dem Jungen vorher eingeschärft, weder Personen noch Ort seiner Pflegefamilie zu nennen. Am 22. Oktober um 21.40 Uhr läutete seit Wochen das Telefon wieder einmal, mit dem Raoul uns anrief. Das Telefonat verlief wie folgt: «Hallo Mami!» Beverly schluchzt leise vor sich hin: «Darling, Raoul, ich würde dich so gerne bei mir haben, sofort!» «Oh, Mami, bitte weine nicht. Kannst du ein neues Bild von dir senden?» «Oh, ja!» Der Junge: «Ich habe vorher Geschenke gekriegt. Einen Taschenrechner, einen Notizblock, einige Bücher.» Raoul durfte im Gefängnis nichts besitzen, was persönlichen Charakter hatte. Erst seit er in der Pflegefamilie untergebracht ist, kann er solche Dinge in be-

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schränktem Umfang entgegennehmen. Er wirkt erstaunlich gefaßt. Aus dem Raumtelefon ertönt ein feines Buben-Stimmchen. Kein einziges Mal weint Raoul, auch nicht, als Sophia an den Apparat geht. Sie sagt: «Hallo, Raoul, wie geht es dir? Ich bin in der Schweiz. Ich vermisse dich.» Raouls Antwort: «Ich vermisse dich auch.» Nun werde ich ans Telefon gerufen. «Raoul?» «Hallo Papi!» «Wie geht es dir?» frage ich. Er antwortet: «Ich bin okay.» «Wir vermissen dich alle so sehr», spreche ich weiter. Raoul fragt: «Habt ihr meinen Brief gekriegt?» Meine Antwort: «Ja, er war wunderbar. Wir haben uns sehr darüber gefreut. Wir bewahren ihn auf.» Raoul erzählt, daß er jetzt bei einer Gastfamilie sei, in einem antiken Haus bei einem netten Ehepaar, dessen Kinder schon ausgeflogen sind. Am Montag komme er dann ins Heim. «Papi, ich vermisse dich.» Ich erwidere: «Ich dich auch. Jetzt kommt jemand, der auch noch mit dir sprechen möchte.» Raoul: «Tatjanna?» Die zwölfjährige Schwester übernimmt den Hörer. Tatjanna: «Hallo, Raoul, weißt du, wann du zu uns kommst?» Er stockt und überlegt, was er jetzt sagen soll. «Ich weiß nicht, vielleicht in ein oder zwei Monaten.» Raoul muß das Telefonat beenden, aber wenigstens konnten wir wieder mal seine Stimme hören.

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Aus Deutschland kam ein Anruf des deutschen Staranwalts Steffen Ufer, der durch Fälle prominenter Personen bekannt ist. Vor laufender Kamera erklärte Ufer: «Ich will mich für Raoul einsetzen. Der Fall Raoul hat mich aufgewühlt als Vater, als Rechtsanwalt, als Europäer, und ich fühle mich verpflichtet einzugreifen. Raoul ist ein zehnjähriges Kind, das nach den Gesetzen für Erwachsene behandelt wird, was völlig absurd ist. Die Amerikaner ticken nicht richtig, sie haben eine gestörte Beziehung zur Sexualität und keinen Bezug zu den Menschenrechten: Ich will verhindern, daß ein weiteres Kind zerstört wird. Der Aufschrei in der zivilisierten Welt ist einhellig. Wir in Europa haben ein anderes Rechtsverständnis, und die Amerikaner leben auf einem anderen Planeten.» Ufer möchte so schnell wie möglich mit mir nach Amerika fliegen. Der Staranwalt will allerdings vorher noch mit dem konsularischen Dienst der Schweiz abklären, ob gegen mich etwas vorliegt. Er traut den Amerikanern nicht und verlangt daher eine offizielle Bestätigung von Denver. Auf meine Frage, was er denn besser könne als die amerikanischen Anwälte, antwortet Ufer: «Die amerikanischen Anwälte haben sich daran gewöhnt, daß Kinder eingesperrt werden. Ich möchte dem Fall eine neue Dynamik geben, indem ich den Staatsanwälten auf den Kopf zusagen werde, wie krank es ist, so mit einem Kind umzugehen. Ich glaube, daß ich damit erreichen kann, daß Raoul nach den Verhandlungen am 8. November zu Ihnen zurückkehren darf.»

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Ich frage ihn weiter, wer denn die neuerlichen Kosten tragen soll? Der Rechtsanwalt erwidert: «Das ist für mich eine Sache des Herzens, ich verlange kein Honorar! Ich werde nur die Kosten des Flugs in Rechnung stellen.» Auch Therapeuten und der Deutsche Bundestag machten sich für die Freilassung von Raoul stark. Vor allem die Schweizer Therapeuten waren entsetzt über die Art, wie die Justizbehörde in Jefferson County Raoul behandelte. Ihr Hauptvorwurf war: Raouls Verhalten kann allenfalls als sexuelle Spielerei bezeichnet werden - Inzest sei eine tendenziöse Fehlbezeichnung. Die Gesellschaft der Schweizer Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche schrieb einen offenen Brief an die US-Botschaft in Bern. Darin stand: «Wir sind überzeugt, daß auch die amerikanischen Fachkolleginnen und -kollegen ein solches Vorgehen und eine solche Anklage zurückweisen würden.» Die gleiche Reaktion gab es auch von den deutschen Parlamentariern, sie wollten Raoul ebenfalls helfen. Außenminister Fischer nahm im Bundesrat Stellung zu dem unglücklichen Verfahren gegen den Schweizer Jungen in den USA. Ralf Stockei (SPD), Vorsitzender der Kinderkommission des Bundestages, erklärte: «Es ist barbarisch, wie Amerika mit einem zehnjährigen Kind umgeht. Dieses Land, das so stolz ist auf seine demokratischen Traditionen und weltweit große Ansprüche davon ableitet, verhält sich hier ausgesprochen

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Für die Verteidigung Raouls heißt es jetzt «alles oder nichts».


Nochmals vor den Schranken des Gerichts (v.l.): Gerichtsdiener, Konsul Walter Wyss, Arnold C. Wegher und Darby Moses V Geschafft! Raouls Verteidiger Arnold C. Wegher und seine Mitanwältin Darby Moses sowie Vincent Todd freuen sich nach der Urteilsverkßndigung durch Richter James D. Zimmerman.


Vor der letzten Entscheidung wird unser Sohn nochmals dem Richter vorgefßhrt. Raouls verbissenes Gesicht spricht Bände.


Der erste Anruf mit der guten Nachricht aus Amerika: Raoul ist frei!

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A Unsere ganze Familie ist überglücklich. In der Schweiz kann sich Beverly selbst jetzt, mitten in der Nacht% dem Ansturm der Glückwunschanrufe kaum erwehren.

Raouls Großmutter Dianna Wood strahlt vor Freude.


A Ein Foto, das Raoul in der «Admirals Lounge» auf dem Flughafen in Denver aufgenommen hat. V Raouls kleine Cousine, hinten Monica Fahmy, vorne Dianna Wood und der BLICK-Fotograf Dominik Baumann, fotografiert von Raoul.


A Unser Sohn und seine Großmutter Dianna Wood beim ersten guten Essen im Flugzeug.

V Raoul hatte die gesamte Crew in Beschlag genommen, und alle freuten sich über seine Fröhlichkeit - so auch das Bordpersonal.


Ein Foto, das Raoul unmittelbar nach dem Abflug in Denver aufgenommen hat. «Hierher werde ich nie wieder zurückkehren I»


Ankunft in ZĂźrich-Kloten, wo Ăźber hundert Fotografen und Journalisten auf den Ehrengast warteten.


Ein sichtlich gelรถster und frรถhlicher Raoul winkt den Pressefotografen zu.


Rßhrende Augenblicke. Raoul hält seinen Vater fest umklammert.


ÂŤJetzt wirst du mich nie wieder alleine lassen, Dad!Âť

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gegenteilig gegenüber Kindern, was nicht akzeptiert werden kann. Die Mitglieder aller fünf Parteifraktionen haben beschlossen, einen Protestbrief an die USA zu verfassen. Diesen Brief soll sowohl Präsident Clinton als auch Bill Owens, der Gouverneur von Colorado, erhalten.» In diesem Schreiben wurde nicht nur auf die unmenschliche Behandlung des elfjährigen Raoul Wüthrich eingegangen, sondern auch eine Vergiftung des Klimas und eine mögliche sichtbare Abspaltung der Europäer von den USA angedroht. Wenn ein Verbündeter wie Amerika sich mit solchen Gesetzen an Kindern vergreife, könnten nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die völkerrechtlichen Grundfeste ins Wanken geraten. Sollten die USA tatsächlich diesen Jungen für etwas verurteilen, was ganz offensichtlich kaum stattgefunden haben dürfte, würde das ganz Europa, vor allem aber das Verhältnis der EU zu den USA in eine tiefe Krise stürzen. Auch der Schweizer Bundesrat trat nun hinter den Kulissen massiver auf, und man drohte bereits mit diplomatischen Konsequenzen. Der Schweizer Diplomat Alfred Defago war bereits mehrfach im State Departement vorstellig geworden, und nun wurde ein Ultimatum gestellt - welches blieb allerdings ein Geheimnis zwischen Bern und Washington. Auf jeden Fall läutete das Telefon im Oval Office, und Bill Clinton hörte zu, was sein Stabschef zu sagen hatte. Die Order lag nun auf seinem Tisch. «Was sollen wir unternehmen, Herr Präsident?» fragt der Stabschef.

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Kurze Pause, ein Raunen, lautes Atmen, dann die Antwort des Stabschefs: «Vielleicht sollten wir den Leuten in Colorado mal auf die Finger klopfen?» «Wie ernst ist die Sache tatsächlich?» will der Präsident wissen. «Wenn Sie mich fragen, Herr Präsident: Die Sache läuft aus dem Ruder. Die Richterin hätte den Fall längst abgeben müssen. Wir stehen in absehbarer Zeit in diversen schwierigen Abschlußverhandlungen mit unseren Europa-Verbündeten, der deutschen Regierung und Wirtschaft wegen der Zwangsarbeiter-Entschädigung. Auch die Schweizer haben ihr Vorhaben mit der Solidaritätsstiftung noch nicht behandelt. Das Drama um den Jungen könnte uns und unseren Freunden schaden. Sollte es unter der Federführung Deutschlands zu einem Appell der EU kommen, könnten die Verfahren ins Stocken geraten. Auch die Außenministerien von Frankreich, Italien, Österreich, das Europaparlament und sogar der englische Premier haben sich dafür eingesetzt, bei einem so jungen Kind nachsichtiger zu sein. Sollten die bereits wochenlangen negativen Schlagzeilen über den Fall weiter anhalten, könnte sich die Stimmung sehr wohl gegen unser Land richten.» «Wie sehen die Aussichten von Colorado denn aus?» erkundigt sich Bill Clinton und fährt fort: «Setzen Sie sich mal mit Bill Owens in Verbindung. Ich will wissen, wie weit er geht!» «Das habe ich bereits gemacht, Herr Präsident. Der bleibt stur, weil in den nächsten Monaten die lokalen Neuwahlen sind. Er will so viele Verurteilte wie möglich sehen, damit das Littleton-Desaster von der Bevölkerung wieder einigermaßen vergessen wird.»

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«Das glauben Sie ihm? - Ich meine, kann der Gouverneur wirklich ein solcher Idiot sein, daß er glaubt, die Angehörigen der Opfer würden so was so schnell vergessen?» «Ich weiß nicht, Herr Präsident. Mir hat er nur gesagt, daß ihn Washington weiß ich wo könne. Es gebe gar nichts, bevor die Wahlen vorüber seien.» «Nehmen Sie den Frechdachs an die Kandare! Vor allem sorgen Sie dafür, daß es einen Richterwechsel gibt. Diese Lennard hat durch ihre Engstirnigkeit ihr Pulver verschossen. Würde sie jetzt dem nachgeben, was sie so hartnäckig verteidigt hat, würde ihr das niemand abnehmen. Ich kann jetzt absolut keinen Ärger aus dem Europarat brauchen, es steht zuviel auf dem Spiel. Der Fall muß sofort und unspektakulär gelöst werden. Wenn etwas mit dem Jungen nicht stimmt, sollen die Schweizer das Problem lösen.» «Gut, Herr Präsident, ich kann mich einmal direkt an die Staatsanwaltschaft wenden. Owens werde ich den guten Rat geben, sich zu benehmen, wenn er von uns weiterhin unterstützt werden will. Falls er sich weigert, hat er von uns nichts mehr zu erwarten!» «Tun Sie das, und halten Sie mich auf dem laufenden!» Die Leitung knackt, der Präsident hat aufgelegt. Hillary hatte das Gespräch über den Raumsprecher mitgehört und sagte nun: «Du weißt von meinem Besuch vor zwei Jahren in der Schweiz. Die Leute dort sind nett, und ich war von dem Schweizer Kinderparlament in Luzem sehr beeindruckt und hatte viel Freude dort. Die Kinder haben mir übrigens einen Brief geschrieben.

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Es geht ihnen um Raoul, sie wollen ihm helfen und haben mich gebeten, für ihn einzustehen. Stell dir vor, die Schweizer haben bei uns eine Petition mit fast vierzigtausend Unterschriften eingereicht!» «Davon habe ich gehört, Darling. Die sind immer noch in Bern deponiert. Aber was sollen wir damit anfangen? Die Wände im Weißen Haus tapezieren?» «Du bist zynisch!» «Kein Wunder, bei diesem Ärger! Als ob wir nichts Besseres zu tun hätten, als der Presse wegen eines Jungen Rede und Antwort zu stehen. Die Schweizer Botschafter in Amerika geben sich hier regelrecht die Türklinke in die Hand, und in Colorado haben wir einen sturen Esel sitzen, der nicht weiß, wann man einlenken muß, bevor es zu einem Schaden für unser Land kommt.» «Was ärgert dich so an ihm? Nur weil er einer der Erzkonservativen und ein Vertreter Mittelamerikas ist? Oder weil er eine andere Moralvorstellung von Sex hat als du?» Bill Clinton sah die First Lady an. Der Seitenhieb hatte gesessen. Hillary wollte bereits wieder in ihr Büro zurückgehen, als sie nochmals stehenblieb und den Faden wieder aufnahm: «Es war wirklich ein Erlebnis, wie die kleinen acht- bis vierzehnjährigen Kinder in Luzern dort schon das Zeug für ihre Zukunft lernen. So etwas sollten wir hier auch einführen.» «Darling, hier dürftest du mit deiner Idee auf Granit beißen. So etwas mag ja recht und gut sein in einem so kleinen Land, wie die Schweiz es ist. Aber du siehst ja, daß es in den anderen europäischen Ländern eine sol-

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che Institution auch nicht gibt. Ich halte das alles für reinen Kinderkram. Kinder, die Politiker spielen wollen, da muß ich doch lachen! Was verstehen die schon vom Leben und von Politik! Und ausgerechnet wir Amerikaner sollen dies einführen? - Abgesehen davon hättest du gar nicht mehr die Zeit dafür, meine Zeit ist ja auch bald abgelaufen.» Sie blickte etwas mißbilligend zu Bill und erwiderte: «Du sagst es Bill, du sagst es!» Clinton sah einen Moment zur First Lady auf, da er den schneidenden Ton an ihr sehr wohl kannte. Einen Augenblick hielt er kurz inne, so als ob er etwas sagen wollte. Dann aber schüttelte er nur kurz den Kopf, weil er wußte, daß er ihr sonst den ganzen Tag verdorben hätte, und vertiefte sich wieder in die Akten, die vor ihm lagen. Der Zufall wollte es, daß zum gleichen Zeitpunkt Colorado ein neuerliches Desaster vermelden mußte. Marylin Lennard, die Richterin, hatte angeblich die Protokollaufnahme der letzten Anhörung «verbockt» das Gerät sei nicht in Ordnung gewesen, und deshalb hätte es mit der Aufzeichnung nicht geklappt. Als Folge wurde eine Wiederholung der Anhörung angeordnet. Das Fehlen dieses Protokolls stieß der Verteidigung bitter auf. Die Anwälte waren bei der Anhörung selbstverständlich dabeigewesen und konnten sich gut vorstellen, weshalb sie nun wiederholt werden mußte. Es hatte nämlich bezüglich der Aussagen der Zeugin Mehmert ein «Mißverständnis» gegeben, wie die Anklage es nannte, und die Richterin hatte dem Einwand stattgegeben. Die Zeugin Mehmert soll sich im Verlauf dieser

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Anhörung zunächst ganz anders geäußert haben. Nach Rückfrage der Verteidigung war sie sich nicht mehr sicher gewesen, ob sie eine Frage des Verteidigers nicht richtig verstanden oder aber etwas Falsches gesagt hatte. Auf jeden Fall wurde die Sitzung daraufhin unterbrochen und die Zeugin Laura Mehmert ins Gerichtszimmer zitiert; die Staatsanwälte und die Verteidigung waren ebenfalls anwesend. Laura Mehmert wurde vorgehalten, daß sie nicht die gleichen Aussagen gemacht habe wie zuvor bei der Staatsanwaltschaft zu Protokoll gegeben. Jetzt, vor den Schranken des Gerichts, befürchtete sie, beim Jüngsten Gericht vielleicht bestraft zu werden, wenn sie den Jungen belasten würde, wo er doch beteuerte, nichts gemacht zu haben. Die Staatsanwälte drohten ihr damit, daß sie wegen Meineids vom Gericht zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt werden könne, wenn sie jetzt eine andere Aussage mache. Die Richterin ermahnte sie, dem Gericht Folge zu leisten und alles wieder ins richtige Licht zu rücken. Die Verteidigung war der Meinung gewesen, dieses Gespräch müsse unbedingt in das Protokoll aufgenommen werden. Generell werden solche Protokolle nach den Bandaufnahmen transkribiert und dann zu den Gerichtsakten gelegt, in die der Staatsanwalt und die Verteidigung Einsicht haben. Das Gespräch zwischen der Hauptzeugin Laura Mehmert, der Staatsanwaltschaft und der Richterin hätte natürlich die Glaubwürdigkeit der Kronzeugin untergraben und Raoul entlastet. Anstelle des Protokolls kam am nächsten Tag aber die Hiobsbotschaft, das Aufnahmegerät sei anscheinend von der Richterin nicht korrekt gehandhabt worden, und deshalb würden gar keine Aufzeichnungen für das

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Protokoll existieren. Als Folge sollte die ganze Anhörung wiederholt werden, diesmal allerdings ohne Raoul. Das i-Tüpfelchen bei der ganzen Aktion war die Tatsache, daß sogar die angeblich nichts enthaltenden Bänder vernichtet worden waren; wenn man eins und eins zusammenzählt, kann man sich vorstellen, was der Hintergrund dafür gewesen sein mag. Die Bänder hätte man als Beweismaterial beschlagnahmen können - aber leider, leider, sie waren ja entsorgt worden. Die Unbegabtheit der Richterin, das Gerät zu bedienen, schien um so unglaubwürdiger, als sie angeblich zu Hause über genau das gleiche Gerät verfügte, um Musik aufzunehmen. Wie auch immer, der erneute Eklat war perfekt, und es gab ein einhellig negatives Echo in der Weltpresse. Selbst die Bewohner von Golden Denver schüttelten die Köpfe. So etwas sei noch nie vorgekommen, gestand der Sheriff einem Reporter, aber einmal sei es eben immer das erste Mal. Wer sollte bei diesem ganzen Fiasko noch den Überblick behalten? Auf die verschwundenen Bänder angesprochen, erklärte die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, man habe diese vernichtet, damit ein solches Malheur nicht noch einmal passiere. Die Wiederholung der Anhörung vom 19. Oktober wurde für den 4. November anberaumt, es sollten jedoch nur die Anwälte anwesend sein, Raoul brauche nicht zu erscheinen. Am Gerichtstermin 8. November hielt man aber trotzdem fest. Zwischenzeitlich hatte Raoul noch einmal mit uns telefonieren dürfen. Er wirkte dabei ziemlich niedergeschlagen, da es einen unangenehmen Zwischenfall ge-

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geben hatte. Raoul war mit seiner Pflegemutter einkaufen gegangen. An einem Kiosk-Stand sah er eine Zeitung mit seinem Konterfei auf der Titelseite, nahm sie und ging damit zur Pflegemutter, die gerade mit zwei Freundinnen in ein Gespräch verwickelt war. «Schauen Sie, das bin ich! Man hat über mich geschrieben!» meinte Raoul treuherzig zu ihr. Die Frauen nahmen die «Denver Post» in die Hände, auf deren Titelseite das Bild von Raoul abgedruckt war. Unter dem Foto stand in großen Lettern zu lesen: «Elfjähriger Junge wegen Inzest angeklagt! Gerichtstermin auf den 8. November festgelegt!» Die beiden Freundinnen starrten Raouls Pflegemutter bestürzt an, worauf diese einen hochroten Kopf bekam und eiligst mit dem Jungen an der Hand verschwand. Dieser Ausrutscher von Raoul - man hatte ihm offensichtlich nicht gesagt, daß er in der Öffentlichkeit keine Bemerkung über seinen Fall machen durfte - hatte Folgen für ihn. Das Ehepaar wollte ihn nicht mehr haben, weil es der Meinung war, es sei durch Raouls Bloßstellung ins Gerede gekommen. Normalerweise nehmen begüterte Familien keine Pflegekinder auf, die meisten Anfragen nach Pflegekindern erhalten die Sozialämter von minderbemittelten Familien, die ihr monatliches Einkommen etwas aufbessern wollen. Deshalb waren die beiden Freundinnen der Pflegemutter auch so überrascht, daß dieses angeblich begüterte Ehepaar sich für die Aufnahme von Pflegekindern hatte einschreiben lassen. Und das für einen Jungen, der flächendeckend in Colorado, der ganzen USA und sogar in Europa für Schlagzeilen sorgte.

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Da der Heimplatz mittlerweile bereits wieder anderweitig besetzt war, wurde Raoul zu einer neuen Pflegefamilie gebracht. Die Staatsanwaltschaft und das Sozialamt gingen von einem kurzen Aufenthalt aus, weil die Gerichtsverhandlung bereits am 8. November stattfand. Sollte der Richter Raoul für schuldig befinden und sich für einen Geschworenenprozeß entscheiden, müßte der Junge vorübergehend in ein Jugendgefängnis. So brachte man ihn vorübergehend zu einem anderen Ehepaar. Beim nächsten Telefonat klang Raoul nicht mehr so erfreut. Als Beverly ihn fragte, ob alles in Ordnung sei, wich er aus; denn die Sozialarbeiterin saß neben ihm und achtete strikt darauf, was er sagen durfte und was nicht. Das verunsicherte den Jungen. Vom Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft John Thirkell war zu hören, daß es unserem Sohn gut gehe und er an einem ordentlichen Platz untergebracht sei. Seine Rechtsanwälte dürften ihn sehen, Raoul werde dafür jedoch jeweils an einen neutralen Ort gebracht. Wer aber konnte die Garantie dafür geben, daß es unserem Raoul tatsächlich gutging? Hunderte von Kindern in den USA wurden und werden in Pflegefamilien schlecht behandelt, zum Teil geschlagen und mißbraucht - es kam auch schon mehrfach zu Todesfällen. Zum Glück schien dies alles bei Raoul nicht der Fall zu sein. «Es geht ihm wunderbar», hieß es aus Weghers Anwaltskanzlei, wo Raoul soeben zu Besuch gewesen war. Solche schöne Worte vermögen eine Mutter aber nicht hinwegzutäuschen, wenn sie spürt, wie es ihrem Kind

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wirklich geht. Auch die Geschwister von Raoul waren bedrückt, ihnen fehlte ihr Brüderchen. Sie fühlten sich mit ihm verbunden, auch wenn sie neuntausend Meilen voneinander entfernt waren. Raouls Großmutter Dianna Wood hatte an den Kongreß, die Senatoren und den amerikanischen Präsidenten Bill Clinton geschrieben, aber keine Antwort erhalten. War dies, weil der Präsident bereits intern dafür gesorgt hatte, daß der Fall so rasch wie möglich ad acta gelegt werden sollte, oder weil die Herren Abgeordneten und der Kongreß sich für ein Einzelschicksal gar nicht interessierten? Dianna Wood hatte begonnen, unseren ganzen Hausrat mitsamt Möbeln und Kleidern in einen Container zu packen, der in die Schweiz gebracht werden sollte. Unser Haus in Evergreen am Pine Drive 28509 stand leer und zum Verkauf. Der österreichische Menschenrechtler Ingo Schmidt, der sich wie viele andere für Raoul einsetzte, nahm in Zürich von uns ein Paket entgegen. Es war bis obenhin voll mit Geschenken und Briefen für Raoul, zusammengetragen von vielen kleinen und großen Freunden aus der Schweiz. Aus der ganzen Schweiz und aus dem Ausland trafen solche Briefe und Geschenke ein. Sie taten uns gut, und wir alle waren gerührt von der großen Anteilnahme und den aufmunternden Worten. Natürlich enthielt das Paket auch Süßigkeiten, Schokolade und Biskuits. Ingo Schmidt hatte für den Fall, daß Raoul bei der nächsten Gerichtsverhandlung freigesprochen werden

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.sollte, eine Vollmacht in der Tasche, die ihn ermächtigte, den Jungen gleich mit in die Schweiz zu nehmen. Allerdings standen die Chancen für eine Freilassung damals noch schlecht, sehr schlecht. Es war kaum anzunehmen, daß die Richterin Marylin Lennard ihre Meinung ändern könnte. Auch der bereits neu benannte Richter James D. Zimmerman dürfte kaum mehr als Bekanntes zutage befördern. Donnerstag, 4. November 1999 13.00 Uhr Am 4. November um 13.00 Uhr fand im Gerichtsgebäude in Golden Denver die Wiederholung der Anhörung vom 19. Oktober statt, wiederum unter dem Vorsitz von Marylin Lennard. Unter dem politischen Druck, auch aus dem Weißen Haus, machte die Staatsanwaltschaft der Verteidigung das Angebot, daß ihr Mandant möglicherweise sofort auf freien Fuß gesetzt werde könnte, wenn er sich schuldig bekennen würde. Zusätzliche Bedingungen wären aber, daß Raoul sich einer sexualpsychologischen Betreuung unterziehe und weitere Auflagen erfülle, die die Staatsanwaltschaft mit dem Sozialamt noch zusammenstellen wolle. Diese Maßnahmen könnten auch in der Schweiz durchgeführt werden. Der Knackpunkt war also das geforderte Schuldbekenntnis. Diese Meldung bestätigte Mark Suprenand, Direktor des Jugendamtes von Jefferson County. Die Staatsanwaltschaft machte Raouls Verteidigung konkret den Vorschlag, der Angeklagte könnte eventuell entlassen

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werden, sofern er sich auf den Stuhl neben den Richter setzen und sich schuldig bekennen würde. Damit war auch die Richterin einverstanden. Die Entscheidung lag jedoch in erster Linie bei Raoul, einem Kind, das seit Monaten von der Justiz terrorisiert worden war, und nicht zuletzt bei uns Eltern. Manuel Sager, Sprecher und Anwalt des Schweizer Botschafters in Washington, bestätigte, daß solche Verhandlungen im Gange seien. Er erklärte: «Unter Umständen finden Anklage und Verteidigung sehr schnell eine gemeinsame Basis.» Aber was wurde aus Raoul? Noch wirkte er zuversichtlich, als er in Begleitung der Sozialarbeiterin zur Wiederholung seiner Anhörung im Gerichtsgebäude von Jefferson County erschien - denn mittlerweile hatte die Richterin wieder eine Kehrtwendung gemacht und verfügt, der Angeklagte müsse an der nochmaligen Verhandlung doch teilnehmen. Raoul durfte unmittelbar vor der Verhandlung mit uns vom Büro des Jugendsozialamtes aus telefonieren. Unser Sohn hatte sich über die vielen Briefe und Geschenke aus der Schweiz, die ihm der Menschenrechtler Ingo Schmidt mitgebracht hatte, riesig gefreut. Er wollte möglichst schnell die Schulklasse aus dem Tessin kennenlernen, die ihm so lieb geschrieben hatte. Und natürlich die Freunde und Kameraden aus dem Kindergarten wiedersehen. Kurz vor dem Hearing tauchten plötzlich wieder wilde Gerüchte auf, daß Raoul früher in Zürich das Haus der Eltern niedergebrannt hätte. Selbstverständlich handelte es sich wiederum um Lügen, die angeblich «un-

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dichte Stellen» der Staatsanwaltschaft bewußt ausgestreut hatten, um Raouls Ruf zu untergraben und ein schwarzes Bild von ihm zu zeichnen. Alles war frei erfunden, weder Raoul noch wir hatten jemals in Zürich gewohnt, es hatte nie auch nur den kleinsten Vorfall im Zusammenhang mit Feuer gegeben. Aber als Brandstifter hätte er eben in Denver gut in das Schema eines Jungen gepaßt, der seine kleine Schwester sexuell mißbraucht hat. Es war ein krankes und teuflisches Spiel, das von der Staatsanwaltschaft betrieben wurde, nur damit sie ihr Gesicht wahren konnte und ein unschuldiges Kind verurteilt werden sollte. Selbst wenn Raoul sich wie gewünscht schuldig bekannt hätte und deshalb eventuell nach dieser Verhandlung in die Schweiz hätte zurückkehren dürfen, wäre er für sein ganzes Leben gebrandmarkt gewesen. Er hätte sich unsinnigen Therapien unterziehen müssen, und sollte er später als Erwachsener nochmals nach Amerika zurückwollen, hätte in seinen Akten der Vermerk «verurteilt» gestanden. Raoul wäre erste Adresse gewesen, wenn sich zufälligerweise im Umfeld seines Aufenthaltsortes irgendein Sexualdelikt ereignet hätte; er wäre von der Polizei belästigt, verhört und in ihre Ermittlungen miteinbezogen worden - er wäre den Makel des verurteilten Sexualtäters nie mehr losgeworden! Die Schweizer Justizministerin Ruth Metzler erklärte auf Anfrage des BLICK: «Für mich ist nach wie vor unglaublich, was da passiert. Zuerst konnte ich einfach nicht verstehen, daß ein Kind in diesem Alter so etwas durchmachen muß. Obwohl sich die Lebensbedingungen des Buben inzwischen verbessert haben, habe ich

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das Gefühl, daß es nicht vorangeht. Ich habe mit meinem Kollegen Joseph Deiss schon über Lösungsansätze diskutiert, wie Raoul in die Schweiz überstellt werden könnte. Wenn hier meine Dienste als Justizministerin erforderlich wären, würde ich selbstverständlich helfen, so gut ich kann. Und das mit hoher Priorität.» Von unserer Seite kam ein solcher Deal, wie ihn die Denver Staatsanwaltschaft vorgeschlagen hatte, überhaupt nicht in Frage. Zudem stünde ja neben der Wahrheit und dem Recht, an dem die Staatsanwaltschaft doch eigentlich am meisten interessiert sein müßte, noch immer das Wörtchen «eventuell», was Raouls Freilassung anbelangte. Der Staatsanwaltschaft fehlte das Beweismaterial für ein rechtskräftiges Urteil, und deshalb versuchte sie, den Fall auf diese Weise zurechtzubiegen. Es war ein kümmerlicher Vorstoß von ihnen, uns Eltern und Raoul mürbe zu machen; die US-Justiz war zu weit gegangen und konnte nicht mehr zurück, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Ich telefonierte nochmals mit Vincent Todd, da ich auch seine Meinung zu dem Vorschlag der Staatsanwaltschaft hören wollte. Während unseres Gesprächs fragten die Rechtsanwälte Wegher, Moses und Todd den Kleinen, ob er sich auf einen solchen miesen Kuhhandel einlassen wollte. Ob Raoul unschuldig war, brauchte ich ihn nicht zu fragen, der Junge hat mich noch nie angelogen. Es freute mich, als Raoul dann trotz all der Nachteile, die sich für ihn ergeben könnten - erklärte, er sei unschuldig und wolle darum auch nicht ins Gefängnis, weil es dort sehr viele böse Menschen gebe.

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Damit war die Sache klar, auch für seine Verteidigung. Vincent Todd verkündete: «Bei der Anklageerhebung werden wir auf unschuldig plädieren.» Falls die Richterin Raoul für schuldig befinden sollte, was anzunehmen war, müßte innerhalb von sechzig Tagen der Prozeß vor einem Richter stattfinden. Sofern die Verteidigung ein Geschworenengericht verlangen würde, könnte es mehrere Monate dauern, bis der Prozeß zustande käme. So war die aktuelle Ausgangslage. Unser Rechtsanwalt Todd meinte allerdings, daß es nicht so weit kommen werde; denn Raouls Prozeß müßte spätestens am 7. November stattfinden, zu diesem Zeitpunkt seien sechzig Tage nach Ablehnung der provisorischen Freilassung gegen Kaution verstrichen. Diese sechzig Tage seien der maximale Zeitraum, der laut Gesetz in einem Jugendfall bis zum Prozeß verstreichen darf - andernfalls müsse die Anklage fallengelassen werden. Laut Todds Worten bestünde eine Chance, daß Raoul bereits nach der Vergleichs Verhandlung am 8. November freikommen könnte. Sollte das Gericht die Klage gegen Raoul nicht abweisen, würden die Anwälte beim Obergericht in Colorado eine Petition einreichen, und dann wäre Raouls Freilassung nur noch eine Frage der Zeit. Das Angebot der Anklage - Freiheit gegen Geständnis - war für die Verteidigung kein Thema mehr. Die völkerrechtliche Basis der Verhandlungen mit den zuständigen Stellen in Colorado bildete das Haager Minderjährigenschutz-Abkommen, das zwar von den USA nicht unterzeichnet ist, aber trotzdem in der internationalen Praxis angewendet wird. Nicht nur das EDA

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mit Joseph Deiss war in die Verhandlungen involviert, sondern auch Ruth Metzler vom Justiz- und Polizeidepartement; sie alle wollten Raoul so schnell wie möglich in die Schweiz überstellen lassen. Falls Raoul sich schuldig erklärt hätte, war vorgesehen gewesen, ihn der Bünder Vormundschaft zu überstellen, die sich nach schweizerischer Praxis des Jungen angenommen hätten. Die Schweizer Behörde hätte in diesem Fall den Amerikanern einen Maßnahmekatalog einschließlich umfassender Therapiemöglichkeiten vorgeschlagen. Eine weitere Variante wäre eine von der Schweiz ausgehende außergerichtliche Einigung gewesen. Sobald das Departement Metzler die Zuständigkeit der Bündner Vormundschaftsbehörde offiziell beglaubigt hätte, wäre Raoul dann in die Schweiz überstellt worden. Das klingt zwar einfach, der Vorgang wäre aber recht kompliziert gewesen. Ein großes Fragezeichen stand auch bei dem Punkt, wieviel der kleine Raoul hätte «zugeben» müssen, um die unter enormen Druck stehenden Justizbehörden so zufriedenzustellen, daß sie ihr ganzes Vorgehen rechtfertigen können. Die Colorado-Justiz mußte auch in ihr Kalkül ziehen, daß Raouls Anwälte hohe Schadenersatzklagen nachschieben könnten, da sich die Behörde dermaßen in den Fall verrannt hatte. Möglicherweise würden die Anwälte aber auch auf solche Schadenersatzklagen verzichten, um Raoul nicht zusätzlichen Gerichtsverhandlungen und Strapazen auszusetzen. Jedenfalls schienen sich die Fronten nun aufzuweichen, nachdem die Denver-Justiz zunächst mit aller Härte vorgegangen war - keine Intrige oder Lüge war ausgelassen worden. So soll Raoul dem Therapeuten

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angeblich gestanden haben, seine Schwester unzüchtig berührt und Geschlechtsverkehr mit ihr gehabt zu haben. Die Ausdrücke und Worte, die der Staatsanwalt Hai Sargent vor Gericht als angeblich Raoul seine wiederholte, möchte ich aus Anstand hier nicht wiedergeben; solche Worte kommen im Vokabular von Raoul auch niemals vor! Die Befragung, bei der Raoul das alles angeblich gestanden haben soll, fand vor seiner Verhaftung statt. Von diesem Gespräch gab es jedoch keine Aufzeichnung. Selbst wenn, wäre sie vor Gericht nicht verwendbar gewesen, da der Sozialarbeiter bestritt, so etwas jemals gesagt zu haben, und somit Aussage gegen Aussage stand. In dieselbe Kategorie von Lügen gehören Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft, Raoul habe im Monat vor seiner Verhaftung vier (!) Brände gelegt, außerdem wollen «Zeugen» gesehen haben, wie Raoul seinen Geschwistern Pornovideos gezeigt haben soll. Solche Videos waren aber noch gar nie in unserem Haus. Beweismaterial für all diese Anschuldigungen konnte die Staatsanwaltschaft natürlich nie vorlegen, da sie allesamt erfunden waren; ebenso wurden die angeblichen «Zeugen» nie vor Gericht zitiert, sondern lösten sich einfach in Luft auf. Das ganze Szenarium war dem Reich der Phantasie entsprungen und nur dazu bestimmt, unsere Familie und Raoul zu belasten.

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7. KAPITEL Das Vergleichsverfahren Montag, 8. November 1999 13.00 Uhr Der Richter James D. Zimmerman entschied vor der Anhörung, daß die Öffentlichkeit vollkommen ausgeschlossen bleibt. Weder die Schweizer Botschafter noch der Honorarkonsul Walter Wyss oder die Presse hatten Zugang zum Gerichtssaal, obwohl derselbe Richter noch am 20. Oktober in einer Gerichtsbefehl angeordnet hatte: «Wegen der Ereignisse der vergangenen Wochen befindet das Gericht, daß es angemessen ist, den Medien und sonstigen Interessierten Einblick in die Gerichtsakten zu geben.» Die Staatsanwaltschaft intervenierte jedoch daraufhin bei Gouverneur Bill Owens, der kurzerhand diese Anweisung widerrufen ließ. Er war ziemlich aufgebracht, dieser Gouverneur, weil ihm das Weiße Haus klare Order gegeben haben soll, dem Theater endlich ein Ende zu setzen, andernfalls gebe es Mittel und Wege, dem Staat Colorado einige Auflagen zu machen. Und einem solchen Befehl vom Präsidenten war schwerlich etwas entgegenzusetzen außer Unmut und viel Ärger. Mittlerweile hatten sich bereits einige FBI-Agenten mit den Akten Raouls befaßt. Sollte nämlich bei einer Untersuchung herauskommen, daß die verschwundenen Bandaufzeichnungen nicht «zufällig» entsorgt worden waren, könnte das nicht nur der Denver-Justiz schaden,

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sondern auch dem Gouverneur. Vielleicht, so ließen die FBI-Agenten ganz deutlich durchblicken, würden noch andere Fehler und Geheimnisse aufgedeckt, die bis heute unter den Tisch gekehrt worden waren. Irgend jemand würde dann sicherlich reden, nur um seine Haut zu retten. Die Justiz wählte aus Protest zum jetzigen Zeitpunkt dennoch die harte Gangart, die von der Staatsanwaltschaft eingeschlagen worden war. Der Richter hielt es nicht einmal mehr für angemessen, dem Schweizer Konsul einen Einblick in die Gerichtsakten zu gewähren. «Raoul ist in Amerika geboren, und Amerika akzeptiert keine Doppelbürger. Deshalb gibt es auch keinen Grund für den Schweizer Konsul, an diesem Fall ein Interesse zu haben», entschied James D. Zimmerman. Man fragte sich, woher dieser plötzliche Sinneswandel rührte und warum der Richter diesen Tenor anschlug. Der Richter gab dazu folgende Erklärung ab: «Der Jugendliche steht im Rampenlicht, und diese Tatsache dient nicht Raouls Interessen. Zudem wird das Kind von den Medien benutzt, um das Jugendrecht unseres Staates zu verdammen. Über Gegebenheiten aus dem Gerichtssaal wird in unangemessener und unvollständiger Art berichtet.» Ganz konkret wurde auch die Frage gestellt, ob nun hinter verschlossener Türe um Raouls Freilassung ein Geschäft ausgehandelt werden sollte. «Nein, der Richter will nur nicht, daß Zeugen zugegen sind, wenn wieder grobe Verfahrensfehler passieren», so Vincent Todds Kommentar dazu.

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Die Verteidigung unternahm alles, damit zumindest Manuel Sager, der Sprecher der Schweizer Botschaft in Washington, Honorarkonsul Walter Wyss und der Menschenrechtler Ingo Schmidt in den Gerichtssaal konnten. Von Todd war zu hören, es gebe Hinweise, daß der Richter mit seinem jetzigen Beschluß sogar gegen die Verfassung der Vereinigten Staaten verstoße. Der Richter hatte entschieden, daß eine neue Anhörung erfolgen müsse, da Raoul sich im Gerichtssaal klar und deutlich als nicht schuldig erklärt hatte. Die erneute Anhörung sollte zwei Tage später stattfinden. Richter Zimmerman mußte nun prüfen, ob er den Fall vor Gericht bringen sollte oder wegen gravierendem Verfahrensfehler einstellen mußte, weil die Frist von sechzig Tagen bereits überschritten war. Noch hatte die neue Anhörung für Raoul nichts gebracht, sein Leiden ging weiter, er durfte nicht zurück zu uns in die Schweiz. Als Raoul aus dem Gerichtssaal tritt, lächelt er - ein gequältes Lächeln, das ich bisher nicht an ihm kannte und das er hier bei den Verhandlungen gelernt haben mußte. Weder die Vertreter der Anklage noch die Verteidiger geben einen Kommentar ab. Manuel Sager, Sprecher der Schweizer Botschaft, und Konsul Walter Wyss halten sich ebenso bedeckt. Dafür steht Pamela Rüssel als Sprecherin der Bezirksanwaltschaft den Journalisten Rede und Antwort. Sie sagt, alle würden zusammenarbeiten, um nach einer Lösung zu suchen. Eine Lösung für die Staatsanwaltschaft oder eine für Raoul? Sicher nach keiner im besten Sin-

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ne des Kindes, was sie selbstverständlich anders darstellt. Um 13.00 Uhr hat Richter James D. Zimmerman Platz genommen. Neben ihm sitzt die Gerichtsschreiberin, links hinten Raoul. Wie ein kleiner Gentleman sieht er aus mit seinem weißen Hemd und den beigen Bundfaltenhosen. Als seine Anwältin Darby Moses unseren Sohn holt, lächelt er ihr zu. Zusammen treten sie zu Arnold C. Wegher. Raoul spielt mit einem Mikrophon, während auf der linken Seite die Verteidigung Platz nimmt, die rechte ist für die Anklage bestimmt. Die Anklageerhebung beginnt um 13.20 Uhr, Manuel Sager und Walter Wyss dürfen plötzlich doch in den Gerichtssaal hinein. 13.45 Uhr: Die Anklageerhebung ist vorüber. Arnold C. Wegher berichtet: «Raoul hat auf nicht schuldig plädiert. Am Mittwoch um 13 Uhr findet wieder ein Hearing statt.» Richter James D. Zimmerman will bei dieser erneuten Anhörung über die Eingabe der Verteidigung entscheiden, laut der die Anklage fallengelassen werden müßte, weil sechzig Tage verstrichen sind, seit Raouls Freilassung auf Kaution abgelehnt wurde. Innerhalb des Frist von sechzig Tagen hätte der Prozeß stattfinden müssen. In unserem kleinen Dorf in der Schweiz wußten wir, daß die Entscheidung in Denver noch verschiedene Möglichkeiten und Hoffnungen offenließ. Vier brennende Kerzen in unserer kleinen Wohnung, in der wir Zuflucht gefunden haben, sollten Raoul Mut machen.

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Es waren bange Momente, der eine kurze Erleichterung folgte, als wir von Konsul Wyss erfuhren, daß der Richter die diplomatischen Vertreter der Schweiz doch noch im Gericht zugelassen hatte. Dann aber die Hiobsbotschaft: Das Verfahren war nicht eingestellt worden, am Mittwoch wird eine weitere Anhörung stattfinden, das letzte Wort war noch nicht gesprochen worden. Ich versuchte, diesem Tiefschlag das Positive abzugewinnen: Die Eingabe von Vincent Todd, das Verfahren wegen der abgelaufenen Frist von sechzig Tagen einzustellen, war noch nicht vom Tisch. Den ganzen Abend haben Beverly und ich darüber diskutiert, ob es für Raoul nicht besser wäre, ein Teilgeständnis abzulegen. Aber ich habe ihn zur Ehrlichkeit erzogen; er hat nichts getan, also durfte er auch jetzt nicht lügen, sonst wäre der ganze Sinn des Glaubens an die Ehrlichkeit verloren. Wir hatten inzwischen lernen müssen, unsere Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben, gerade weil so viele Menschen mit uns hofften, bangten und glaubten. Sollten wir sie jetzt alle wegen eines bedrückenden Moments verraten? Um so besorgniserregender war ein Anruf von Anwalt Wegher. Er teilte uns mit, daß es Raoul schlechtgehe und er nicht wisse, wie lange das Kind noch durchhalte. Das war höchst alarmierend. Wir, in über 9000 Meilen Distanz, konnten uns in Sicherheit wiegen, aber wie stand es um unseren Jungen? Der arme Kerl mußte doch vollständig am Ende sein! Weghers Notruf war ernst zu nehmen, der Anwalt machte sich große Sorgen. Bis jetzt habe Raoul tapfer gekämpft, ließ er uns wissen, nun aber verlasse ihn die Kraft. Seine Situation verschärfe sich von Tag zu Tag: Keine Freunde, eine

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Umgebung, die ihm nicht behage, die ständigen Gerichtstermine, Fragen über Fragen. Dies alles sei dem kleinen Jungen nicht länger zuzumuten. Der besorgte Anwalt verlangte eine rasche Lösung und setzte alle ihm verfügbaren Hebel in Bewegung. Wir hatten es geahnt, daß es früher oder später soweit kommen mußte. Raoul wirkte schon beim letzten Telefonat gehetzt und unglücklich, er bekam immer stärkeres Heimweh. Diesen Eindruck hatte auch der Menschenrechtler Ingo Schmidt. Raoul durfte nicht mit anderen Kindern Zusammensein. Bücher und Briefe lenkten ihn zwar ab, ersetzten aber natürlich nicht den Kontakt zu seiner Familie und anderen Kindern. Darüber hinaus hatte er genug von den Leuten, die ihn immer wieder in den Gerichtssaal holten. Wann war das alles endlich vorbei? Nach der letzten Gerichtsverhandlung wollte Raoul einen Brief an uns schreiben. Über die Anrede und die Worte: «Ich vermisse Euch und ich will...» war er nicht hinausgekommen. Neben all den anderen Sorgen um ihn machten wir uns auch Gedanken über seine Bildung; wir wußten ja nicht, ob er zur Schule durfte oder in der Pflegefamilie etwas Unterricht erhielt. Das waren unglaubliche Zustände, wie im Mittelalter und nicht wie in einem fortschrittlichen Amerika, das vorgibt, uns Europäern und allen anderen Ländern der Welt Vorbild sein zu wollen. Sowohl in Amerika als auch Europa tauchte immer wieder die Frage auf, warum wir nicht bei Raoul in Denver seien. Der Leser, der mir in diesem Buch bis hierher gefolgt ist, weiß bereits, daß unsere Familie in

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Amerika buchstäblich in alle Winde zerstreut worden wäre und wir als Eltern - ob schuldig oder nicht - festgenommen worden wären wegen angeblicher Vernachlässigung der Kinder. Verschiedene Pflegefamilien wären das Los unserer Kinder geworden, und welches Schicksal sie dort erwartet hätte, kann sich jeder selbst ausmalen. Beverly und unsere Töchter wären als reine Amerikaner und nicht als Doppel Staatsbürger behandelt worden. Ich selbst hätte vermutlich auch mit einer Gefängnisstrafe rechnen müssen. Welches Vergehen man mir auch immer angelastet hätte, es wäre mir nicht anders ergangen als dem kleinen Raoul. Für eine erneute Einreise nach Amerika hätte ich Sophia als Kronzeugin mitbringen müssen, bei Weigerung hätten Ausreisesperre oder Verhaftung gedroht. Sophia wäre wie Raoul in eine Pflegefamilie gekommen. Bereits im Vorfeld der Anhörung hatte Staatsanwalt Noel Blum klar und unmißverständlich geäußert, daß wir eine Familie seien, der man keine Kinder anvertrauen könne und daß Raoul ebenfalls nie mehr mit anderen Kindern spielen oder zusammentreffen dürfe. So mußten wir Raoul zum Schutz unserer anderen Kinder und für unsere eigene Sicherheit alleine zurücklassen, selbst wenn uns das Herz dabei brach. Unser einziger Trost war, daß der Junge die Anwälte und Konsul Walter Wyss treffen konnte, alles Menschen, die sich seiner hilfreich und liebevoll annahmen. Wir Europäer können dieses Amerika nicht verstehen, und nach unseren Erfahrungen möchten wir jede Familie mit Kindern davor warnen, jemals in dieses Land einzureisen.

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Auch eine weitere, immer wieder gestellte Frage beantwortet sich von selbst, nämlich die, warum Pressevertreter oder eine neutrale Behörde, wie beispielsweise die Schweizer Botschaft, nie Einsicht in Raouls Akten nehmen durften - es hatte ganz einfach kein einziges Beweismittel vorgelegen, das die Verhaftung und Verschleppung des Jungen gerechtfertigt hätte! Roger Schlawinsky, der Eigentümer von Radio- und Tele24, hatte sich anläßlich einer seiner «Sonntalks», die er jeden Sonntag hält, enorm aufgebläht und verurteilt, wie man jetzt wegen der Geschichte von Raoul ungerechtfertigt über Amerika herziehe. Irgend etwas müsse sicher an diesem Fall Raoul sein, sonst hätte die US-Justiz sich für diese Angelegenheit wohl kaum so ins Zeug gelegt. Daß Schlawinsky Amerika-Fan ist, wußte ich zwar bereits, wie er nun aber alles, was unserem Sohn dort widerfahren war, so verharmloste, gab mir schwer zu denken. Ich hoffe für ihn, daß ihm und seiner Familie nie etwas ähnliches widerfährt - so etwas Schreckliches, wie wir monatelang durchmachen mußten und teils noch immer durchmachen, wünsche ich keinem Menschen auf dieser Welt! Mittwoch, 10. November 1999 13.00 Uhr Heute nun soll endlich eine Entscheidung vor Gericht fallen! Ich bin optimistisch, auch wenn Beverly sich nicht wieder falschen Hoffnungen hingeben will - zu oft ist sie schon enttäuscht worden, zu viel ist in ihr zerbrochen worden! Heute soll Raoul ein letztes Mal vor

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dem Richter erscheinen, so hoffen wir und auch unsere Verteidiger. Aus zuverlässiger Quelle haben wir kurz vor der Verhandlung erfahren, daß sich das State Departement in Washington in den Fall eingeschaltet hat. Ganz Europa blickt mit Spannung nach Colorado, nicht zuletzt Dank der Berichterstattung im BLICK. Man mag über die Qualität dieser größten Schweizer Zeitung geteilter Meinung sein, aber das Blatt hat sich unbestritten in höchstem Maße für Raoul und unsere Familie eingesetzt, allen voran mein Namensvetter Georges Wüthrich und die Korrespondentin aus den USA, Monica Fahmy. Rückblickend kann ich dem BLICK nicht einmal mehr böse sein, daß er dubiose Informationen aus den USA mit in seine Berichterstattung aufgenommen hatte, die sich allesamt als heiße Luft entpuppten. Journalisten sind nun mal so, sie müssen immer aktuell und brandheiß berichten und können in der kurzen Zeit, die ihnen zur Verfügung steht, nicht über alle erhaltenen Informationen gründlich recherchieren und sie auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen. Seinerzeit sind mir diese falschen Berichte bitter aufgestoßen, da sie den Ruf unserer Familie noch mehr schädigten; aber das Gute, was die Berichte im BLICK bewirkt hatten, überwog diese «Ausrutscher» bei weitem! Um 13.00 Uhr beginnt im Gerichtsgebäude im Jefferson County, Division 4 die letzte Anhörung - vielleicht die letzte Verhandlung überhaupt. Wieder sitzt Richter James D. Zimmerman hinter dem Richterpult. Der Fall Nummer 99JD1284 Raoul Emilio Wüthrich wird aufgerufen.

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Seit Raouls Freilassung gegen Kaution abgelehnt wurde, sind über sechzig Tage verstrichen, ohne daß ihm der Prozeß gemacht wurde. Aus diesem Grund fordert die Verteidigung, die Anklage fallenzulassen. Die Bezirksanwaltschaft sieht das anders: Für sie begann die sechzig-Tage-Frist erst mit der Anklageerhebung, also bei der Verhandlung vor zwei Tagen. Sollte James D. Zimmerman im Sinne der Verteidigung entscheiden, könnte Raoul noch heute packen und in die Schweiz zurückfliegen. «Ich bete zu Gott, daß das passiert», gibt Raouls Großmutter ihren Gefühlen Ausdruck. «Es würde an ein Wunder grenzen, wenn die Familie endlich wieder vereint wäre!» Ob Wunder oder nicht: Amerika hat sich durch sein Verhalten im Fall Raoul selbst großen Schaden zugefügt, denn viele Millionen Menschen waren Zeuge der skandalösen Behandlung eines Kindes und halten dieses Land bei weitem nicht mehr für das, was es so gerne nach außen darstellen möchte. Amerika braucht nie mehr einem Hussein oder China zurufen, welche Unmenschlichkeit in deren Ländern herrsche. Es muß zuerst vor der eigenen Türe kehren und seine Gesetze und seine Gesinnung ändern, bevor man es in Europa wieder ernst nehmen soll. Richter Zimmerman kann die Eingabe der Verteidigung aber auch ablehnen. Dann wird er heute den Termin für den Prozeß festlegen. Allerdings müßte vorher nochmals eine Anhörung stattfinden - unvorstellbar, was man dem Kind damit antun würde! Bei diesem Hearing kämen dann die groben Verfahrensfehler zur Sprache, die allesamt auf das Konto der Richterin

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Marylin Lennard gingen. Mittlerweile hat der Fall Raoul auch in Amerika hohe Wellen geschlagen, mehrere Rechtsgelehrte, Kinderärzte und Psychologen haben sich in den Medien über die unglaubliche Vorgehensweise der Justiz von Colorado ausgelassen, was seine Wirkung in der Öffentlichkeit nicht verfehlt hatte. Das dürfte neben den politischen und diplomatischen Vorstößen mit ein Grund gewesen sein für die Unterstützung des Präsidenten und des Weißen Hauses, welche Mittel dabei auch immer angewendet wurden. Jetzt schließt selbst die Staatsanwaltschaft nicht mehr völlig aus, daß Raoul in die Schweiz zurückfliegen darf. Aber nach allem, was bisher in Jefferson County geschah, könnte Raouls Odyssee genausogut noch andauern. In der Tageszeitung «Rocky Moutain News» war vor kurzem der Kommentar zu lesen: «Selbst wenn Raoul getan hat, was man ihm vorwirft - es gibt dennoch keinen Grund, ihn wie Al Capone zu behandeln.» Solche Töne waren neu. Bisher interessierte sich in den US-Medien niemand sonderlich für das Schicksal des jetzt Elfjährigen, das traurigerweise in den USA kein Einzelschicksal ist. Jetzt wurden immer mehr Stimmen laut, vor allem von Angehörigen und Eltern betroffener Kinder. Sie wollen dem Spuk ein Ende bereiten, damit diese Rechte dann auch für jene Familien und Kinder gelten, die keine Lobby wie das Kind aus der Schweiz haben. Raoul konnte als einziger mit der Rückendeckung einer internationalen Medienpräsenz, von Diplomaten und einem ganzen Stab von Menschenrechtlern und Anwälten gegen diese Allmacht in Amerika aufwarten.

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Uber den Fall Raoul wurde auch in der Tageszeitung «The Denver Post» berichtet. «Wie der Fall gehandhabt wird, ist zumindest fragwürdig», urteilten darin Kinderexperten und Soziologen. «Egal, ob der Junge ein Problem hat oder nicht.» Die öffentliche Meinung war umgeschlagen. Zuvor hatte es gegen Raoul und uns Eltern eine regelrechte Hexenjagd gegeben. Jetzt waren sich die Berichterstatter alle zumindest in einem Punkt einig: So wie es die Justiz im Jefferson County mit Raoul vormachte, behandelte man kein elfjähriges Kind! Noch vor drei Wochen hatte uns die gleiche «The Denver Post» vorgeworfen, wir hätten etwas mit Pornovideos zu schaffen gehabt. Jetzt ließ die Zeitung Experten zu Wort kommen, die mit der Handhabung des Falles alles andere als einverstanden waren: «Die anhaltende Kritik im Ausland und zu Hause richtet ihr Augemerk auf die Art, in der Jefferson County Kinder bestraft. Seit 1997 kamen 292 Fälle von Kindern vor Gericht, die angeblich anderen Kindern etwas angetan haben sollen. Daß dieser County eingriff, ist in Ordnung. Die Frage ist bloß, wie vorgegangen wurde und ob schließlich alle Verurteilungen richtig und gerechtfertigt waren.» Radio- und Fernsehsender strahlten rund um die Uhr Talkshows, Kommentare und News-Sendungen zum Fall Raoul aus. Verteidiger des Systems von Jefferson County argumentierten, daß die Flucht von uns Eltern fragwürdig sei. Aber sogar die schärfsten unter ihnen gaben zu, es sei unverhältnismäßig, einen Jungen in Hand- und Fußfesseln abzuführen.

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13.00 Uhr: Es ist ein schöner sonniger Spätherbsttag, als sich in Golden Denver Hundertschaften von Medienvertretern, Verfechter des Rechts und Freunde von nah und fern vor dem Gerichtsgebäude versammeln. Sie dürfen nicht in den Gerichtssaal hinein (und selbst wenn, sie hätten darin gar keinen Platz gefunden!); die Plädoyers finden unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt, lediglich der Botschafts Vertreter hat Zutritt. Jefferson County, Gerichtsgebäude, Gerichtssaal 4E. Die Vertreter der Anklage und der Verteidigung nehmen ihre Plätze ein. Die Anklage hat ihren gesamten Stab mitgebracht; es sind dies die Staatsanwälte Noel Blum, Nancy Hooper, Hai Sargent und Sergej Thomas. Für die Verteidigung sind neben Arnold C. Wegher die Anwältin Darby Moses und unser Rechtsvertreter Vincent Todd anwesend. Auch der Schweizer Honorarkonsul Walter Wyss darf hinein, dann schließen sich die Türen. Für rund einhundert Reporter, Fotografen und TV-Leute beginnt das Warten. Es dauert länger als erwartet. Viel länger, als es Raouls Großmutter Dianna Wood ertragen kann. Um 14.20 Uhr meldet sie sich beim BLICK und fragt, ob die Entscheidung schon gefallen sei, sie halte es nicht mehr aus. Ein kurzer Blick durch den Türspalt hat ihr genügt, der Ankläger Sergej Thomas spricht noch. Er soll der «schärfste Hund» der Staatsanwaltschaft sein, darüber sind sich die Leute von der Presse einig. Die Anhörung dauert ungewöhnlich lange. Eine Stunde war dafür angesetzt, inzwischen verhandeln Richter James D. Zimmerman und die Vertreter der beiden Parteien schon fast zwei Stunden den Fall. Es kommt zu

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einem regelrechten Wortkrieg, wie ihn die beiden Rechtsanwälte Wegher und Todd noch nie vorher erlebt haben. Die Schlacht geht um die Konsequenzen für die Staatsanwaltschaft und nicht mehr um den Angeklagten. Als der Richter sieht, was alles sich im Saal abspielt, sträuben sich ihm langsam die Haare: Gut, daß er die Presse nicht zugelassen hatte! Es wäre eines der imponierendsten Gerichtsschauspiele geworden, und Fernsehanstalten und Filmproduzenten hätten sich um den Stoff gerissen, um letztlich der Denver-Justiz einen Präzedenzfall in Gerichtskunde zu erteilen. Mit Sicherheit sehr zum Mißfallen der Staatsanwaltschaft und der Richter von Colorado. Um 14.45 Uhr kommt Konsul Walter Wyss aus dem Saal, kurz darauf folgt ihm auch der Verteidiger Arnold C. Wegher. Die Pressevertreter scharen sich sofort um ihn, er aber winkt nur ab: «Es ist noch nichts entschieden, wir machen nur eine kleine Pause.» Auch der Richter muß sich nach der zweistündigen Redeschlacht zunächst einmal einen Drink genehmigen. Er sitzt in seinem tiefen Sessel, den Kopf in beide Hände gestützt, und überlegt, was er tun soll. Er hatte Anweisungen bekommen, Anweisungen von ganz oben, die streng geheim und der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung nicht bekannt sind. Die Order stammt aus dem Weißen Haus. Immer wieder liest er das Papier, faltet es dann und steckt es wieder in seine Rocktasche. Ein kurzes Klopfen an der Tür, dann schaut der Gerichtsdiener kurz herein. Der Richter blickt auf, nickt, sagt «Ich komme» und steht auf.

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Es ist bereits 16.00 Uhr, seit zweieinhalb Stunden wird verhandelt, und noch immer ist keine Entscheidung gefallen. Die Staatsanwaltschaft will offensichtlich unter gar keinen Umständen nachgeben. James D. Zimmerman ist bekannt, daß es dabei um die nächsten Wahlen geht - jeder möchte seinen Job behalten. Aber die ganze Angelegenheit ist völlig verfahren. Der Richter denkt nach, wägt ab; sollte er nicht mehr in das Amt des Richters gewählt werden, würde er trotzdem in Washington noch gut dastehen. Bläst er die ganze Angelegenheit ab, wie vom Präsidenten gewünscht, wären aller Wahrscheinlichkeit nach die Bürger geneigt, ihn wiederzuwählen. Der Stimmungsumschwung in der Bevölkerung war unübersehbar, ein Reporter hatte erst neulich im Fernsehen verlauten lassen, der Fall Raoul Wüthrich sei nur die Spitze des Eisberges, und nun sei einiges aufgedeckt worden. Für Richter Zimmerman war der Fall Raoul konstruiert, aber das konnte und durfte er nicht zugeben. Es gab seiner Ansicht nach nur einen Weg, den er einschlagen konnte. Mit fester Stimme verkündet er: «Die Anklage gegen Raoul Emilio Wüthrich wird aufgrund gravierender Verfahrensfehler sofort eingestellt, da die Anklagefrist von 60 Tagen verstrichen ist. Alle Anklagepunkte werden abgewiesen.» Es ist totenstill im Saal. Während die Verteidiger erfreut und dezent lächelnd sich gegenseitig die Hände drücken, blicken sich die Staatsanwälte entgeistert an. Es scheint, als hätten sie die Worte des Richter gar nicht richtig verstanden.

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«Eingestellt, Euer Ehren?» ringt Staatsanwalt Sergej Thomas sichtlich um Luft. «Nach all den Strapazen, Bemühungen, Beleidigungen, die wir zu ertragen hatten - eingestellt?» «Eingestellt», wiederholt Zimmerman laut und deutlich. «Eingestellt aber nicht wegen erwiesener Unschuld, junger Mann», fügt er hinzu und deutet mit dem Hammer auf den kleinen Raoul. «Ein Verfahrensfehler liegt vor. Was das heißt, werden dir die Anwälte versuchen zu erklären.» Der Hammer fällt auf das Richterpult. «Die Sitzung ist geschlossen!» Während die Staatsanwälte aufgeregt miteinander diskutieren und wild herumgestikulieren, weiß unser Sohn gar nicht, was die Worte des Richters für ihn bedeuten. «Jetzt kannst du nach Hause», sagt Rechtsanwalt Wegher zu Raoul. Der Junge schaut sich um, ob die Sozialarbeiterin ihn wieder mitnehmen will; diese aber steht bei der Staatsanwaltschaft und scheint am Boden zerstört zu sein. «Jetzt darfst du mit mir kommen», freut sich Konsul Wyss. «Wirklich?» fragt Raoul ihn unsicher. «Jetzt kannst du nach Hause in die Schweiz zu deinen Eltern und deinen Geschwistern.» «Juhuu», jubelt der Kleine da los und beginnt, wie ein Wirbelwind im Gerichtssaal herumzutanzen, bis sein Anwalt Arnold C. Wegher ihn am Arm festhält und ermahnt: «Raoul, du bist immer noch im Gerichtssaal. Das gehört sich hier nicht.»

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Aber der Junge ist kaum mehr zu bremsen. Immer wieder fragt er, ob das jetzt wirklich alles vorbei sei und er wieder nach Hause fliegen könne in die Schweiz. «Ist das wirklich wahr?» muß sich Raoul immer wieder vergewissem. «Es ist wahr», bestätigen die Anwälte und schmunzeln über die ausgelassene Fröhlichkeit des Jungen. Sogar der Richter blinzelt ihm mit einem lachenden Auge zu, während er aufsteht und im Richterzimmer verschwindet. Die Begeisterung war grenzenlos, der Jubel der Menschenmenge, die vor dem Gerichtsgebäude wartete, steigerte sich immer mehr. Auch die Presseleute hatten den Freudenausbruch von Raoul im Gerichtssaal gehört und daraus geschlossen, daß es zu einer Lösung gekommen war, die weniger für die Staatsanwaltschaft, um so mehr aber für das Kind von Vorteil war. Raoul tanzte und sprang selbst noch auf dem Gerichtsvorplatz herum; vielen der dort Wartenden traten bei diesem Bild vor Rührung die Tränen in die Augen. Der Junge stieg in das bereitstehende Fahrzeug des Konsuls ein, der ihn mit zu sich nach Hause nahm. Auf die Frage eines Reportes, was er jetzt tun werde, machte Raoul nur mit der Hand die Deutung des Fliegens. Raoul hatte im Gerichtsgebäude stets Zeichnungen gemacht. Sie enthielten vor allem Berge und Alpen mit einem steilen Weg hinauf und eine Gondelbahn, dann noch ein Haus im Tal. Diese Zeichnungen, so ein Pädagoge, spiegelten seine inneren Stimmungen wider und den Wunsch, wieder in jenem Haus mit seinen Ge-

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schwistern und seinen Eltern zusammenzusein. Die Berge deuteten in die Bündner Landschaft. Raouls Gebete, die er jeden Tag und jeden Abend zum Himmel richtete, hatten sich nun erfüllt. Die Medien in der ganzen Welt und all die Menschen, die Anteil genommen hatten am Schicksal dieses Kindes, sind erlöst. Ihre Begeisterung über den glücklichen Ausgang der Verhandlung gilt auch den Menschen, die für Raoul gekämpft hatten, und den Medien, die mit großem Einfluß auf die ganze Welt das kranke System der amerikanischen Rechtssprechung aufgedeckt hatten. Sollte Raouls Leiden tatsächlich zu einer Wandlung zum Besseren in jenen Staaten oder gar weltweit führen, hätte seine Leidenszeit zumindest anderen Kindern einen großen Dienst erwiesen. Bleibt zu hoffen, daß die USA sich endlich entschließen, die UNO-Kinderschutzrechte zu ratifizieren. In Churwalden, wo wir Eltern von Raoul mittlerweile leben, brechen wir alle in Freudentränen aus, als die Meldung über Raouls Freilassung über den Bildschirm flimmert. Beverly ist nicht mehr zu halten: «Yeah, wonderful, very, very wonderful. Ich bin so glücklich!», macht sich die Anspannung der vergangenen Monate Luft. Die Telefonapparate läuten ununterbrochen, alle wollen wissen, ob wir es schon gehört haben. Wir können unser Glück noch gar nicht richtig fassen. Aber Beverly hatte schon den ganzen Abend über ein gutes Gefühl gehabt. Wir sind alle überglücklich. Raoul ist frei. Endlich frei! Mit einem Schlag war alles zu Ende, das Verfahren wegen Formfehlern bedingungslos

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eingestellt. Das war die geheimnisvolle Order aus Washington gewesen, um die internationalen Wogen gegen die USA zu glätten. In den Schweizer Bergen schneit es bereits. Wir sitzen wie auf glühenden Kohlen, um die Details aus Denver zu erfahren. «Raoul ist frei!» erreicht uns der erste Freudenschrei aus Colorado; er kommt von Ingo Schmidt, unmittelbar, nachdem der Richterspruch gefallen war. Um die frohe Botschaft zu feiern, entkorken wir sogar eine Flasche Champagner. Sie war nicht einmal kalt gestellt, weil wir über den Ausgang der Verhandlung keineswegs sicher waren. Das EDA hatte uns wiederholt darauf hingewiesen, nicht allzu große Hoffnungen auf den Ausgang der Verhandlung zu setzen. Um so größer waren jetzt die Überraschung und der Triumph. Honorarkonsul Walter Wyss, der den kleinen Raoul in all den Wochen wie ein lieber guter Großvater betreut hatte, wird unseren Sohn in die Schweiz zurückbringen. Bis zum Abflug wohnt Raoul bei ihm und seiner Frau. Diese liebevollen Menschen haben als Überraschung für Raoul ein Fondueessen vorbereitet - etwas, was Raoul sich immer wieder gewünscht hatte. Konsul Walter Wyss, ein bescheidener, gütiger Diplomat und Mensch, freut sich über das Geschenk von Raoul: das Bild, das der Junge während der Gerichtsverhandlung gezeichnet hatte. «Das Bild wird bei uns eingerahmt im Wohnzimmer hängen und meine Frau und mich immer an den kleinen lieben Raoul erinnern», bedankt er sich bei unserem Sohn. Der Konsul hatte den kleinen Blondschopf sehr liebgewonnen.

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Meine Schwester Dorothee stürzt überglücklich zur Tür herein. Die ganze Familie wird Raoul in Obhut nehmen, jetzt ist endlich Schluß mit den obskuren Vorwürfen. Es war für Raoul aber auch höchste Zeit, denn länger hätte er die Strapazen nicht mehr ausgehalten, das ist uns allen klar. Nicht nur den Rechtsanwälten und Sozialmitarbeitern, sondern auch unseren Schweizer Diplomaten in den USA. Die letztlich zum Erfolg führende Eingabe der Verteidiger - Niederschlagung wegen gravierender Formfehler - stammte von unserem Rechtsanwall Vincent Todd, der damit einen Volltreffer gelandet hatte. Aber über allem Glück über Raouls Freilassung vergessen wir auch nicht die vielen tausend anderen Kinder in den USA, die immer noch in den Gefängnissen inhaftiert und teils zusammen mit erwachsenen Straftätern untergebracht sind. Welche Dramen sich dort teils abspielen, haben wir durch Raouls Erzählungen erfahren. Selten nur wagt es ein Jugendlicher, darüber zu reden, aus Angst, erneut in die Mühlen der Justiz zu geraten. Der Bundesrat zeigte sich über das glückliche Ende des Falls Raoul ebenfalls erfreut. Obwohl Deiss bereits erwachsene Söhne hat, konnte er als Vater sehr gut mitfühlen, wie sehr die ganze Angelegenheit uns Eltern belastet hatte. Der Magistrat behielt sich vor, die Art und Weise der Medienberichterstattung über Raoul und uns zu prüfen. Einerseits hatten die Medien, allen voran der BLICK, mit ihrem unermüdlichen Einsatz die internationalen Medien überhaupt erst auf den Fall aufmerksam gemacht. Fünf Wochen lang hatten die Mitarbeiter der BLICK-Redaktion täglich über den Fall und seine

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Hintergründe berichtet und ihn als Hauptthema in die Schlagzeilen gebracht. Auf der anderen Seite waren aber auch viele negative Berichte darunter, die sich im nachhinein als Falschinformationen entpuppt hatten. Raoul war ohne irgendwelche Auflagen freigelassen worden, und somit waren alle vorsichtshalber von den Behörden geplanten Fürsorgemaßnahmen überflüssig geworden. Wir wollten innerhalb der Familie dafür sorgen, daß unser Sohn, der nach den elf Wochen Terror im Gefängnis und all den Gerichtsverhandlungen unbedingt therapeutische Hilfe benötigte, die richtige Behandlung erhielt. Die Rechtsanwälte Arnold C. Wegher und seine Kollegin Darby Moses sowie unser Verteidiger Vincent Todd waren natürlich hoch erfreut über den Ausgang der Verhandlung. Sie sind der Meinung, daß am Ende die Gerechtigkeit gesiegt hat. So sicher bin ich mir da allerdings nicht, ich bin fest davon überzeugt, Raouls Freilassung in erster Linie dem öffentlichen Druck und den Medien zu verdanken. Wer sich über das Urteil von Richter James D. Zimmerman selbstverständlich überhaupt nicht freuen konnte, waren die Staatsanwälte. Vor allem Staatsanwalt Sergej Thomas konnte seinen Ärger darüber, daß unser Sohn ohne Therapieauflage freigelassen wurde, nicht verhehlen. Laut seinen Worten würde Raoul früher oder später mit Sicherheit das Monster werden, für das die Staatsanwaltschaft ihn jetzt schon hielt. Er betonte nochmals, nur das Beste für den Jungen gewollt zu haben. Keine Entschuldigung seitens der Staatsan-

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waltschaft, keine Einsicht der eigenen Fehler, nur Rechtfertigungen und Enttäuschung über das Urteil. Ich hoffe, daß nach der nächsten Wahl Persönlichkeiten diese Ämter bekleiden, die menschlicher und feinfühliger mit den Jugendlichen umgehen und sich mehr auf das besinnen, worum es einem Staatsanwalt eigentlich gehen sollte: das Recht und die Wahrheit. Und Laura Mehmert, die Hauptanklägerin? Sie ließ sich nicht beirren und war enttäuscht vom Richter. «Der Junge wird früher oder später wieder rückfällig werden», prophezeite sie. «Aber das ist dann Sache der Schweizer. Mir tun nur die kleinen Mädchen leid, die er kaputtmachen wird.» Ihr Mann war da etwas anderer Meinung. Selbstverständlich sprach er das nicht vor ihr aus, da er genau wußte, daß sonst der Haussegen wieder schiefhängen und sie den ganzen Abend mit ihm streiten würde. «Der Junge tut mir leid, was der alles durchmachen mußte!» äußerte er sich und fuhr fort: «Ob das, was meine Frau ausgesagt hat, auch stimmt, weiß ich nicht. Ich habe so etwas nie beobachtet. Meine Frau hatte ihr tägliches Blickfeld immer auf die Nachbarn gerichtet. Wer weiß, was da alles geschehen sein kann oder auch nicht?» Er ließ die Frage offen. Immerhin räumte er ein, daß seine Frau anfänglich ganz andere Worte benutzt hatte, als sie dann vor Gericht unter Eid aussagte. Diese Veränderung habe erst stattgefunden, nachdem sie in das Gerichtsgebäude nach Denver zitiert worden war und man ihr dort eingetrichtert hatte, wie wichtig ihre Aussagen seien und daß sie damit der Gerechtigkeit und dem Recht des Staates Colorado einen Dienst leiste. Man müsse eine

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schändliche Verwahrlosung wie beispielsweise in Kalifornien, wo Sodom und Gomorrha herrschten, im Keim ersticken, sei ihr von der Staatsanwaltschaft eingeflößt worden. Ab diesem Zeitpunkt sei seine Frau wie verwandelt gewesen und hätte Gott für die Eingabe und Kraft ihrer Pflicht gedankt. Jeden Tag habe sie gebetet und gebetet und sei nun am Boden zerstört, weil das Böse doch Oberhand gewonnen hätte. So wurde Laura Mehmert nicht nur zum potentiellen Spitzel für die Staatsanwaltschaft, sondern auch noch zur Komplizin degradiert. Raoul hatte endlich ohne Aufsicht mit uns telefonieren dürfen und schrie voller Freude in den Hörer, er sei jetzt frei sei und werde nach Hause kommen. Seine Stimme überschlug sich immer wieder vor Glück. Mein Herz krampfte sich zusammen, als ich ihn so jubeln hörte - es war lange her, daß ich meinen Sohn so ausgelassen erlebt hatte. Im Fonds der BLICK-Redaktion waren zwischenzeitlich einhunderttausend Franken zusammengekommen, und die fälligen Zahlungen für die Rechnung der Anwälte wurden direkt von der Stiftung «Hilfe für Raoul» von BLICK angewiesen. Beverly und ich hatten bereits bei Einrichtung des Fonds beschlossen, kein Geld davon für uns anzunehmen; es war uns Lohn genug, daß so viele Menschen aus dem In- und Ausland uns nicht nur materiell, sondern vor allem auch moralisch beigestanden hatten. Damit sich der Leser ein Bild verschaffen kann, in welchen Dimensionen sich die Anwaltskosten für die Freilassung Raouls bewegten, seien folgende Zahlen genannt: Rechtsanwalt Wegher erhielt

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für die Tätigkeit seiner Anwaltskanzlei 35.959 Dollar, Vincent Todd die wesentlich bescheidenere Summe von 5.543 Dollar. Hinzu kommen noch Kosten für den Flug, die wir aus eigener Kraft aufbringen möchten, auch wenn unsere finanzielle Situation derzeit alles andere als rosig ist. Wir mußten Kredite aufnehmen und hohe Schulden machen, um die ersten Zahlungen an die Anwälte vornehmen zu können. Der Verkauf des Hauses hatte knapp die Bankkosten gedeckt, alle unsere Investitionen gingen verloren. Seit August hatte ich auch nicht mehr meiner Arbeit nachgehen können und alle Aufträge einem amerikanischen Kollegen überlassen müssen.

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8. KAPITEL Endlich nach Hause Samstag, 13. November 1999 Die Freude in allen Bevölkerungskreisen über die Rückkehr des kleinen Raoul war grenzenlos. All diese freundlichen Menschen und Gesichter, all die guten Worte und das Lächeln von Raoul als Dank - das war ein unvergeßliches Erlebnis. So wie der BLICK mit seinem Redaktionsstab vor fünf Wochen den Anfang gemacht hatte, soll er nun am Ende zitiert werden. Die Schlagzeile in der Ausgabe vom 12. November 1999 lautete: «BLICK sei Dank - Raoul ist endlich frei!» Wir Schweizer kennen die Bedeutung des Wortes «frei» seit siebenhundert Jahren, sie waren uns immer als Wahrzeichen auf die Fahne geschrieben. Meine Familie und ich möchten allen Menschen danken, die uns Kraft gegeben haben, den vielen tausend Menschen, klein und groß, die Briefe, Geschenke und Spenden an die Redaktion des BLICK geschickt haben. Sie haben uns nicht nur materiell unterstützt, sondern eine große menschliche Verbundenheit gezeigt. Die Rückreise von Raoul wird morgen, am 13. November, stattfinden. Daß Walter Wyss, der Konsul aus Denver, mit seiner Familie Raoul begleiten wird, freute uns besonders, er war uns nicht nur Verbündeter gewesen, sondern mehr noch ein Freund. Menschen seines Formats dienen unserem Land im Ausland in herausra-

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gender Weise - sie qualifizieren sich durch Güte, Gerechtigkeit und mit ihrer Integrität. Großmutter Dianna Wood mit ihrer Tochter Carrey, die Korrespondentin des BLICK, Monica Fahmy, ihr Kollege Fotograf Dominik Baumann, ebenfalls vom BLICK, SAT. 1- und Tele24-Reporter kamen mit dem gleichen Flugzeug wie Raoul in die Schweiz zurück. Raoul freute sich diebisch, ins Flugzeug zu steigen und die ganze Crew in Beschlag zu nehmen. Wie ein Wirbelwind tauchte er mal hier, mal dort am Fenster auf. Seine Fröhlichkeit entlockte allen Passagieren ein Lächeln, und keiner der Anwesenden konnte sich vorstellen, daß man diesem Sonnenschein monatelang so viel Leid zugefügt hatte. Ein amerikanischer Psychologe wertete Raouls Fröhlichkeit als «Hyperaktivität». Aber welcher Junge ist nicht hin und wieder mal ausgelassen - muß man die Lebensfreude dann gleich als «Störungen» oder «Überreaktionen» verurteilen und ihn als hyperaktiv abstempeln? Raoul ist nicht hyperaktiv, selbst wenn sein fröhliches Temperament das hin und wieder vermuten läßt. Er benötigt auch keine Medikamente zum Ruhigstellen, wie sie ihm der Psychologe in den USA verabreicht hatte. Wir haben nach Rücksprache mit unserem Hausarzt diese ganzen Medikamente abgesetzt. Im Flugzeug befragt Monica Fahmy Raoul in einem letzten Interview: «Das liegt nun hinter dir. Am Mittwoch warst du das letzte Mal in Jefferson County.» «Ja, Arnold (Wegher), Darby (Moses) und Vincent (Todd) vermisse ich ein bißchen. Sie waren immer sehr

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nett zu mir. Und sie brachten mir Briefe und Geschenke meiner Mami. Die anderen, die bcisen Jungs, die will ich nie mehr sehen. Weißt du, ich bin so froh, daß ich am Mittwoch zu Walter durfte. Bei meiner Pflegefamilie hat es ja Krach gegeben.» «Das war die zweite Pflegefamilie. Was ist passiert?» «Bei der ersten mußte ich gehen, weil ich Leuten sagte, daß ich der Junge aus den Zeitung bin. So hat es mir Darby erklärt. Die zweite Familie war komisch. Sie ließen mich am Tisch nicht so essen, wie es mir Vater beigebracht hat. Ich mußte immer eine Hand unter dem Tisch halten. Mein Dad hat mir aber beigebracht, daß mit der rechten Hand gegessen wird und die linke ruhend neben dem Teller liegt, wenn sie nicht gebraucht wird.» «Es gab Krach wegen deinen Tischmanieren?» «Ja, und wegen dem kleinen Hund. Ich wollte mit ihm spielen. Aber die Frau meinte, das geht nicht. Da gab es Krach, weil ich unbedingt den Grund wissen wollte. Und es hat keine Kinder gehabt, mit denen ich spielen konnte. Da wollte ich wenigstens mit dem Hund spielen. Der hatte Freude. Zum Glück konnte ich immer wieder Darby und Arnold sehen.» «Arnold Wegher und Darby Moses haben viel für dich getan.» «Ja, sie waren toll. Im Gericht wußte ich immer, daß sie mich beschützen und mir helfen wollen, wieder nach Hause zu kommen.» «Jetzt ist es soweit. Bist du aufgeregt?» «Ja, ich bin mit Oma und Carrey zusammen. Und wir fliegen alle zusammen in die Schweiz. Zu Mami und

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Papi und meinen Schwestern. Weißt du was, ich mach jetzt ein Foto von dir.» «Die Kamera des Fotografen Dominik gefällt dir. Willst du am Ende auch Fotograf werden?» «Für heute schon, klar. Zuerst werde ich Dominiks Assistent. Aber erst muß ich euren Chef fragen, wieviel ich für die Bilder bekomme.» «Also rufen wir ihn doch mal an.» «Ja, wir machen einen Deal!» «Und was machst du mit dem Geld?» «Das werde ich spenden. Weißt du, es gibt viele Leute, die es kalt haben oder hungrig sind. Da ist es doch schön, nett mit denen zu sein. Also werde ich jetzt viele Bilder machen.» «Im Gerichtssaal hast du ja auch ein Foto gemacht.» «Ja, das war lustig. Ich wollte mich selber fotografieren und ein Bild zu Mami und Papi in die Schweiz schicken. Sogar die Richter in mußte lachen.» «Und was fotografierst du jetzt?» «Sieh mal, da unten sind die Alpen. Dort ist die Schweiz, mein neues Zuhause. Und da ist meine Mami. Weißt du, ich habe sie extrem vermißt.» Der Flug der American Airlines 500 von Denver über Chicago nach Zürich dauerte zwölf Stunden. Es waren 73 Tage vergangen, bis Raoul wieder in die Arme unserer Familie zurückkehren durfte. In Zürich am Flughafen war man dem Ansturm der weit über hundert Medienvertreter aus aller Welt nicht gewachsen. Die Flughafenleitung wies sie an, sich um 12.00 Uhr in der Flughafenbar «Bye Bye» zu versammeln. Von dort sollte es in die Empfangshalle gehen, wo

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eine kurze Pressekonferenz abgehalten werden sollte. Als der Pressechef der Swissair und ein Botschaftsmitglied vom EDA die Menschenmassen sahen, zogen sie mich beiseite und fragten, ob es wirklich vernünftig sei, Raoul dieser «Meute» auszusetzen, die zwangsläufig den Jungen mit Unmengen von Fragen bombardieren und bedrängen würde. Das hatte ich nicht bedacht, und so beschlossen wir, die Medienvertreter auf den Dachgarten zu schicken, von wo aus sie die ankommenden Passagiere auf dem Rollfeld fotografieren und filmen konnten. Die Maschine der Swissair mit Flugnummer 1226 über Chicago landet auf dem Flughafen Zürich-Kloten. Das Szenario ist überwältigend, die Zuschauer rufen und johlen, die Freude, die sich überall auf den Gesichtern zeigt, die Presseleute, die Kameras, die surrend klicken und schnappen. Beverly, unsere Töchter und ich werden mit einem kleinen Bus auf das Rollfeld gefahren, wo wir den herausstürzenden Raoul und seine Großmutter in die Arme schließen. Tränen fließen vor Glück und Freude, zuerst bei Beverly, die auf die Knie geht, um unseren Sohn zu herzen und zu umarmen. Dann fällt er mir um den Hals, wobei auch ich die Freudentränen nicht unterdrücken kann. Raoul drückt mich fest und lacht und lacht. Er will mich nicht wieder loslassen. Es scheint, als ob er mir mit all seiner Kinderkraft mitteilen will: «Nie wieder dürft ihr mich alleine lassen!» Nur langsam löst er seine Arme von meinem Hals, um schließlich auch seine Geschwister, meine Mutter und die Tanten zu begrüßen. Wir sind alle überglücklich, und der Junge strahlt über sein ganzes Kin-

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dergesicht. Auf die Rufe der Fotografen hin winkt er stoisch zur Terrasse hinauf, lächelt und wendet sich dann wieder uns zu. Eine traurige Odyssee ging zum Glück zu Ende - wir haben unseren kleinen Raoul wieder! Herr Loosli, der Pressechef der Swissair, hatte im Anschluß in einer der Empfangshallen eine Pressekonferenz anberaumt. Meine Frau fuhr unterdessen mit Raoul und unseren anderen Kindern und Angehörigen zu einem Bekannten, der in der Nähe von Kloten wohnt, damit sie vor der Verfolgung der Medienvertreter geschützt waren. Als ich den Empfangsraum betrat, der einseitig verschlossen war, schlug mir eine riesige Hitzewelle entgegen. Die Kameras, Scheinwerfer, die Fotografen und Medienleute verbreiteten eine ungeheure Wärme im Raum. Ich entschuldigte zunächst meine Frau und unseren Sohn, da die monatelangen Strapazen in den USA mit all den Gerichtsverhandlungen und schließlich der rund zwölfstündige Flug in die Schweiz für Raoul zuviel waren. Zudem wollten wir ihn vor Fragen schützen, Fragen, mit denen weder wir noch der Psychologe Raoul in nächster Zeit bedrängen wollten. Der Pressechef verabschiedete sich nach der Pressekonferenz bei mir mit den Worten, so ein Riesenaufgebot an Medienvertretern sei noch nie dagewesen - nicht einmal, als die Königin von England und Prinz Charles in Zürich ankamen! Nur der kleine Raoul, der über elf Wochen die Welt in Atem gehalten hatte, brachte einen

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solchen Aufmarsch zustande. Beverly und mir war klar, daß der Junge nach dem ganzen Rummel um ihn erst einmal absolute Ruhe benötigte, wir wollten alle endlich wieder unser normales Familienleben aufnehmen. So fuhren wir noch am gleichen Abend nach Churwalden, wo schon ziemlich viel Schnee lag, was Raoul besonders entzückte. Aber natürlich konnten es die Medienvertreter nicht lassen und stöberten uns dort auf. Auch wenn sie Raoul nicht zu Gesicht bekamen, so standen doch Behördenmitglieder, Lehrerinnen, Bürger und Kinder den Reportern gerne Rede und Antwort auf allerlei Fragen und Wünsche. Die Kinder waren stolz, daß Raoul bald in ihre Klasse kam. Der Junge sollte so rasch wie möglich wieder in das Schul- und Familienleben integriert werden. Zwar hatte unser Sohn inzwischen die deutsche Sprache fast verlernt, aber bei seinem Eifer dürfte das auch bald überwunden sein. Die BLICK-Redaktion, die den ganzen Stein ins Rollen gebracht hatte und der wir ewig dankbar sein werden, hatte Verständnis für unseren Wunsch, daß vorerst keine weiteren Berichte über Raoul mehr erscheinen sollten. Es wäre nicht gut für ihn und die kleine Gemeinde, weiterhin im Rampenlicht der Medien zu stehen. Anteilnahme ist etwas sehr Schönes und Gutes; sie kann aber auch zur Last werden, wenn nämlich für alle Beteiligten nach einem langen anstrengenden Kampf Ruhe einkehren muß. Meinem Namensvetter Georges Wüthrich, Redakteur des BLICK, habe ich es zu verdanken, daß er Wort hielt und seither keine neuen Berichte über Raoul mehr in der Zeitung erschienen sind dafür sei ihm besonders gedankt. Ich hoffe auch, dieses

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Buch konnte mit jenen Schatten aufräumen, die durch die perfiden Machenschaften der Staatsanwalt auf den Ruf unserer Familie gefallen waren. Jeder, der uns und den kleinen Raoul kennenlernt, wird feststellen, daĂ&#x; wir eine ganz normale, jetzt wieder glĂźcklich vereinte Familie sind.

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Epilog

Raouls Zufriedenheit und seine positive Ausstrahlung machen uns wieder Mut, auch wenn wir wissen, daß in seinem Innern viel von seiner Jugend ausgelöscht worden ist. Endlich haben wir unseren Sohn mit seinem lustigen, fröhlichen Gesicht wieder um uns. Doch eines hat sich an ihm verändert: Er ist nachdenklicher geworden. Hin und wieder lacht Raoul so ausgelassen wie früher; dann glänzen seine großen Augen, und um seine Mundwinkel zuckt der Schalk. Der Junge ist aber auch ernster geworden, es scheint mir, als ob seine Wahrnehmungen in einem ganz neuen Licht stehen. Selbst wenn er nur ruhig dasitzt und keinen Laut von sich gibt, habe ich den Eindruck, er weiß um die Zerbrechlichkeit jeder Sicherheit, daß das Leben sich jede Minute ändern kann und dann nichts mehr so ist, wie es früher einmal war. Raoul hat bis heute noch nie ein Wort über die Leidenszeit im Gefängnis verloren. Wir haben ihn auch nie darauf angesprochen. Wir warten. Vielleicht möchte er eines Tages mit uns darüber reden. Auf jeden Fall haben ihn die elf Wochen im Umgang mit der US-Justiz tief geprägt. Sein Gefühlsleben bringt er mit Farbstiften auf Zeichenpapier zum Ausdruck, er zeichnet und malt. Er baut auch Holzklötze zu einem Turm oder zu Bergen aufeinander, die dann wieder in sich zusammenfallen. Der Psychologe läßt ihn gewähren, Raoul braucht viel Zeit, um all das zu verarbeiten, was mit seinem jungen

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Leben geschehen ist. Fast wäre er daran zerbrochen. Er gibt sich stark, der kleine Kerl, und alle, die ihn kennen, lieben ihn, weil er ein so gewinnendes Wesen hat. Raoul hört gut zu, wenn man mit ihm spricht oder ihm etwas erklärt; nur wenn scharfe Töne in seiner Umgebung fallen, schaut er weg. Es ist, als würde er wieder an die Kommandos in Mount View erinnert, wo viele seiner Kameraden noch immer inhaftiert sind; Kinder, die nicht die gleiche Chance auf Freiheit hatten wie er. Unser Sohn ist sich darüber bewußt, daß er Glück gehabt hat; er ist aber auch fest davon überzeugt, daß eine viel höhere Macht ihm beigestanden hat. Der Junge hatte das Leid und die Tränen seiner Kameraden gesehen; Tränen, die im Gefängnis verboten waren und deshalb nur heimlich vergossen wurden. Härte und Disziplin sind in diesen Stätten wichtiger als Nächstenliebe und Güte. Hier in seiner Familie versuchen wir, ihm all das nachzureichen, was er in der kurzen und doch sehr langen Zeit vermissen mußte. Der Junge erzählte uns, daß er im Leben für all jene kämpfen möchte, denen es nicht so gut geht. Hat ihn diese kurze Zeit so geprägt, daß er zum Philanthrop geworden ist? Die Zeit wird zeigen, was aus ihm werden wird. Aber eines ist heute schon klar: Wir alle sind unendlich stolz auf ihn! Kürzlich holte ich Raoul nach einem Termin beim Psychiater ab, und wir fuhren gemeinsam nach Hause. Während der Fahrt lachte er, sein Gesicht strahlte wie früher, vor der schweren Zeit in Amerika. In solchen Momenten habe ich den Eindruck, daß er vielleicht alles vergessen kann, was ihm angetan worden ist. Minu-

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ten später versank er jedoch wieder in seine Gedanken und saß still und abwesend da. Beverly und ich haben zusammen mit dem Menschenrechtler Ingo Schmidt einen Fonds für die von uns neu gegründete Kinderschutzorganisation «Childrens Protection Foundation <Papillon>» eingerichtet, ein Teil des Erlöses aus dem Verkauf dieses Buches fließt dem Fonds zu. Wir wollen damit Kindern in Not helfen - so wie es die Redaktion des BLICK für uns getan hat. Tausende von Kindern sind noch in den Gefängnissen der USA inhaftiert, und da ihre Familien meist mittellos sind, haben sie keine Chance auf Anwälte und damit auf Freiheit. Wir hoffen, mit diesem Buch eine öffentliche Diskussion in Gang zu setzen, was die Rechtssprechung für Kinder in den USA anbelangt. «Die Würde des Menschen ist unantastbar», so ist es im Grundgesetz verankert. Nach unseren Erlebnissen in den Staaten fragen Beverly und ich uns oft, ob dort Kinder nach den Buchstaben des Gesetzes denn keine Menschen sind und deshalb jeglicher Willkür ausgesetzt sein dürfen. Diese Kinder verfügen über keine Lobby, keine Macht und kein Kapital - aber sie sind die Erwachsenen von morgen, die zukünftige Gesellschaft! Zum Glück habe ich dank meiner qualifizierten Ausbildung schon bald nach meiner Rückkehr in die Schweiz einen guten Arbeitsplatz bekommen. Auf diese Weise kann ich für meine Familie aufkommen. Wir verdanken vielen Menschen und auch den Medien das gute Ende in dem traurigen Kapitel Amerika. Für uns steht fest, daß unsere Familie nie wieder in dieses Land zurückkehren wird.

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Quellenverzeichnis

Printmedien

BLICK, SonntagsBLICK, Zürich; DER SPIEGEL, Hamburg; stern, Hamburg; Neue Züricher Zeitung, Zürich; BILD-Zeitung, Hamburg; Neue Kronen Zeitung, Wien; Kurier, Wien; Süddeutsche Zeitung, Stuttgart; DIE WELT, Hamburg; TagesAnzeiger, Zürich; The Daily Telegraph, London; The Mirror, London; The Denver Post, Colorado/USA, Rocky Mountain News, Colorado/USA; The Washington Post, Washington/USA; France Soir, Paris; Corriere della Sera, Rom. Elektronische Medien, Fernsehen

SF DRS, Schweizer Fernsehen, Zürich; TELE 24, Zürich; ARD und Zweites Deutsches Fernsehen, Köln und Mainz; SPIEGEL FERNSEHEN, Hamburg; sternTV, Hamburg; RTL, München; SAT.l, Köln; PRO 7, Köln; WDR, Stuttgart; TELE 5, Frankreich; RAI UNO, Rom; BBC, London; CNN, USA. Radio

DRS Schweizer Radio, Zürich; Radio24, Zürich; Deutsche Welle, Köln; WDR, Köln; Bayerischer Rundfunk, München; Radio Österreich, Salzburg, Wien, Linz; BBC, London, und viele weitere europäische und internationale Radio- und Fernsehsender, die diese Meldungen übernommen haben.

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