CINEMA FOREVER!
1/2017 FEBRUAR/MÄRZ EUR 5.00
celluloid filmmagazin
NATALIE PORTMAN
JACKIE
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CELLULOID FILMMAGAZIN
ce l l ul o i d fi l m m ag azi n
editorial liebe leserInnen,
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elluloid sieht jetzt anders aus. Neues Design, neues Papier, aber das altbekannte Bekenntnis zur Filmkunst, zum österreichischen Film und zu seinen Protagonisten. Dabei hat man es uns in den vergangenen Monaten nicht gerade leicht gemacht, dieses Filmmagazin weiterhin herauszugeben. Schon vor einem Jahr hat uns die damals neu ernannte Mödlinger Kulturstadträtin Karin Wessely (SPÖ) mitgeteilt, dass es an der Zeit ist, sich zu trennen. Die Stadtgemeinde Mödling, in der unser kleiner Kulturverein beheimatet ist, hatte damals über Nacht die über Jahre vergebene Subvention von 2000 Euro auf 300 Euro herabgesetzt, mit dem Hinweis, „celluloid“ habe keinerlei MödlingBezug. Wenn sich finanziell arg gebeutelte Gemeinden wie Mödling dem Diktat des Sparzwangs fügen müssen, dann ist das natürlich verständlich. Zu Ihrer Übersicht: „celluloid“ erhielt bisher im Jahr Fördergelder von insgesamt 9000 Euro: 2000 Euro von der Gemeinde Mödling, die der frühere Kulturstadtrat Paul Werdenich (SPÖ) für unser Filmmagazin aufstellte, 5000 Euro vom Land Niederösterreich (Abteilung Kultur) und weitere 2000 Euro von der Filmsektion in der Kulturabteilung des Bundeskanzleramts. Die Stadt Wien hat uns nie gefördert, die Kulturarbeit, die wir für Wiener Filmschaffende geleistet haben, passte irgendwie nicht in die Statuten, weil wir ja in Mödling daheim sind, und das liegt nicht in Wien - also kein Fördergrund. 9000,- Euro also. Geld, das zu einem Gutteil an die Österreichische Post floss, für unsere Versandkosten. Eine Filmproduktion könnte damit nicht einmal ihre Fahrer bezahlen. Vergleichbare Magazine wie das Schweizer „Filmbulletin“ trauen ihren Augen nicht, dass man mit so wenig Förderung ein so hochwertiges Magazin wie „celluloid“ produzieren kann. Man kann: Mit viiiieeel Selbstausbeutung. Und mit Liebe zum österreichischen Film. Das angesprochene Filmbulletin freut sich in seinem Impressum zurecht, dass es jährlich von insgesamt drei Schweizer Bundes- oder Kantons-Institutionen mit, Zitat: „je 20.000 Franken oder mehr“, unterstützt wird. Was für paradiesische Zustände herrschen bei den Eidgenossen! Aber wir schweifen ab. Im Dezember 2016 hat uns die Abteilung Film des Kulturministeriums im Bundeskanzleramt (es heißt alle paar Jahre anders, Sie wissen, was wir meinen) in einem kurzen Brief mitgeteilt, dass man uns für 2017 keine Förderung mehr gewährt, weil wir die Förderkriterien nicht „in ausrechendem Maße“ erfüllten. Was hatte sich im Vergleich zu den vorangegangenen identischen Fördereinreichungen zwischen 2001 und 2016 getan? Neu war, dass unter dem neuen Kulturminister Drozda eine Kommission über die Mittelvergabe entschied, und diese war nach unserer Rückfrage zur Ansicht gekommen, dass wir zu wenig über Avantgarde-Kino berichteten, und die Förderung ebendieses Kinos sei ja der Zweck der „kleinen Filmförderung“ aus dem BKA. Im
Beirat saßen unter anderem Mitglieder des Sixpack-Verleihs (der Avantgarde-Filme verleiht und selbst vom BKA gefördert wird). Wir haben diese Entscheidung akzeptiert, finden aber, dass wir öfter als jede andere Zeitschrift in Österreich (auch jene, die nach wie vor viel fettere Förderungen vom BKA erhalten) über die filmische Avantgarde und über entlegenere Filmemacher berichtet haben. Über die Tscherkasskys und die Dabernigs, die Palms, die Fruhaufs und die Widrichs. Wir wunderten uns umso mehr, als das Aus nach einer ununterbrochenen Förderung nach 15 Jahren in immer gleicher Höhe gekommen ist. Schon klar ist, dass es keine Automatismen im Förderwesen geben kann und auch keinen Anspruch darauf. Aber kontinuierliche Subventionspolitik sichert nun einmal auch den Kunstbetrieb dieses Landes. Das wird man nach Prölls Abgang aus Niederösterreich merken: Dieser Mann hat ungeheuer viel für die Kultur getan. Aber bundesweit ist der Trumpismus eingezogen, so scheint es. Mit dem Wegfall der zweiten 2000 Euro waren wir binnen eines Jahres um über 40 Prozent unserer Subventionssumme gebracht worden. Dabei handelte es sich, wie erläutert, stets um eher marginale Summen. Wir werteten den Betrag des Bundeskanzleramts, der genau so hoch war wie jener der Gemeinde Mödling (!), immer als Anerkennungsbeitrag für unsere Arbeit, niemals als wirkliche Hilfe im Wortsinne des Begriffs „Subvention“ (von lat. subvenire = „zu Hilfe kommen“). Aber es war schön, dass man uns wahrnahm, und wir waren stolz, dass unser Engagement diese Anerkennung fand. Wie kann es also weitergehen? Kulturarbeit in Österreich ist bedeutend schwieriger geworden, das bestätigen erst recht die aktuellen Schieflagen etlicher Institutionen, jüngstes Beispiel: Der Stadtkino-Filmverleih, der trotz aller politischen Bekenntnisse der Wiener nun ums nackte Überleben kämpft. Fest steht, dass man sich in der (politischen) Umgebung der Gegenwart, in der Populismen und Nationalismen möglich geworden sind, die plötzlich freie, unaufhaltsame Radikale entfalten können, nicht mehr auf gerade noch zuverlässig erscheinende Partner verlassen kann. Man muss sich neue Wege der Kunstfinanzierung ausdenken und auch die Leser selbst wieder mehr fordern: Meinungsvielfalt ist nicht mehr selbstverständlich, das hat man spätestens mit der Angelobung Donald Trumps gesehen. Es gibt immer einen Weg, Initiativen von Oben auszutrocknen. Deshalb gilt für 2017 und darüber hinaus unsere Bitte: Halten Sie uns die Treue und sorgen Sie dafür, dass „celluloid“ auch weiterhin erscheinen kann, indem Sie uns kaufen und lesen. Jede Wette, die Damen und Herren da oben werden uns so schnell nicht los.
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IHR MATTHIAS GREULING CHEFREDAKTUER UND HERAUSGEBER 3
celluloid
Hier bleibt das alte Logo als Erinnerung!
inhalt
Und der alte Spruch auch.
ARTIG, NICHT BRAV
celluloid filmmagazin Ausgabe 1/2017 18. Jahrgang Februar/März 2017
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JACKIE
Natalie Portman über ihre Oscar-nominierte Rolle als Jackie Kennedy
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FEATURES JOSEF HADER
celluloid sprach mit dem Neo-Regisseur über seine erste Regiearbeit "Wilde Maus", die bei der Berlinale im Wettbewerb läuft.
KRISTEN STEWART
im Interview-Porträt: "Ich bin gerne Feministin" - und über ihre Rolle in Assayas' "Personal Shopper".
KENNETH LONERGAN
Der US-Filmemacher gilt als Geheimtipp bei der Oscar-Verleihung. Sein Film "Manchester by the Sea" ist jedenfalls oscarreif. WIM WENDERS hat wieder einen 3D-Film gedreht. Über die Liebe. STEFAN RUZOWITZKY will das Action-Genre nach Österreich holen. Er hat dafür ein paar alte Mercedes verschrottet. Ein Gespräch. ISABELLE HUPPERT
Bekommt sie für "Elle" von Paul Verhoeven ihren ersten Oscar?
LANG LEBEN DIE TOTEN
Wie Hollywood verstorbene Schauspieler auferstehen lässt.
FILMKRITIK 40 Manchester by the Sea 41 Verborgene Schönheit 42 Personal Shopper 43 Das unbekannte Mädchen 44 Empörung 45 Die feine Gesellschaft 46 The Girl With All the Gifts 47 Suburra
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RUBRIKEN 4 Triviascope: Ihr persönlicher Oscar-Stimmzettel: Mitmachen, und celluloid gratis bekommen! 48 News & Events: "Before the Code" im Filmmuseum 50 DVD & Blu-ray 53 Der kleine Stampf 54 Impressum
CELLULOID ONLINE: WWW.CELLULOID-FILMMAGAZIN.COM 4
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Fotos: Katharina Sartena; Filmladen
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trivia
DER OSCAR-TIPPSCHEIN 2017
Selbst tippen und bei der 89. Oscar-Gala am 26. Februar vergleichen, ob sie richtig lagen.
DAS NÄCHSTE HEFT GRATIS?
Tuma
Senden Sie uns vor dem 24.2.2017 diesen ausgefüllten Stimmzettel per Post zu (celluloid, Spechtgasse 57/5, 2340 Mödling, Österreich). Wenn Sie 13 oder mehr richtige Tipps schaffen, dann schicken wir Ihnen die nächste celluloid-Ausgabe gratis zu!
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cover FILMSTART: 27.01.17
DAS LEID DER
Tobis
JACKIE K. 8
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In „Jackie“ von Pablo Larrain spielt Natalie Portman die Witwe von John F. Kennedy und versucht, in den ersten vier Tagen nach dem tödlichen Attentat die Fassung zu bewahren. Wir erleben ein famos gespieltes Porträt einer Frau zwischen totaler Trauer und emotionaler Wucht.
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Fotos: Tobis
Trauer: Jackie Kennedy (Natalie Portman) und ihre Kinder beim Begräbnis von JFK
Ein Journalist (Billy Crudup) besucht Jackie Kennedy nur wenige Tage nach dem Attentat
ZUR PERSON: NATALIE PORTMAN Bereits als 13-jährige eroberte Natalie Portman in „Léon – Der Profi“ die Herzen der Kinogänger und Kritiker, seither gehört sie zu den besten und erfolgreichsten Schauspielerinnen ihrer Generation. Immer wieder gelingt der in Israel geborenen Amerikanerin der Spagat zwischen Blockbustern wie „Star Wars“ oder „Thor“ und anspruchsvollem Kino von Meisterregisseuren wie Mike Nichols („Hautnah“), Wong Kar-Wai („My Blueberry Nights“), Wes Anderson („Darjeeling Limited“) oder Terrence Malick („Knight of Cups“). Für Darren Aronofskys Ballett-Drama „Black Swan“ wurde sie 2011 mit dem Oscar ausgezeichnet, zuletzt brachte sie mit der Amos Oz-Verfilung „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ auch ihr Regiedebüt in die Kinos. Nun spielt die 35-jährige die Präsidentenwitwe „Jackie“ Kennedy.
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„JACKIE HATTE NICHT DIE GERINGSTE LUST, DEN REST IHRES LEBENS AUSSCHLIESSLICH IHREM VERSTORBENEN MANN ZU WIDMEN“
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hre Tränen versteckt sie gut: Wenn Jackie Kennedy einem US-Journalisten nur wenige Tage nach der Ermordung ihres Mannes ein großes Interview gibt, dann mimt sie Gefasstheit, die sie aber nicht hat. Sie bemüht sich nach Kräften, nicht zynisch zu sein, auch, wenn ihr das nicht gelingt. „Sie wollen doch sicher wissen, wie das Geräusch war, als die Kugel in seinen Kopf einschlug“, fragt sie den Journalisten. Später im Film wird er diese Frage tatsächlich stellen. „Jackie“, das US-Debüt des Chilenen Pablo Larrain, ist ein Film über Trauer, noch mehr aber über Verlust und vielleicht am meisten über das Versteckspiel, das Kokettieren mit den Medien, das der Politik immanent ist; Wenn Jackie Kennedy sich ein Stück weit öffnet im Interview, wenn sie Details preisgibt, die ihre wahren Gefühle beschreiben, kehrt sie am Ende ganz rasch wieder in den Modus Teflon-Pfanne zurück: „Glauben Sie ja nicht, dass sie das schreiben dürfen“. Sie zieht nervös an ihrer Zigarette. „Und ich rauche natürlich nicht“. „Jackie“ ist eine sehr aufsichtige, geradezu frontale Untersuchung der vier Folgetage nach JFKs Ermordung in Dallas am 22. November 1963 - aber nicht um die Fakten geht es hier, sondern um die Befindlichkeit der First Lady, um das Leid für ihre Kinder, um den Ehemann, der nicht immer treu war, um ihre Wehmut beim Verlassen des Weißen Hauses und auch darum, wie rasch man sozusagen „aus dem Amt scheidet“, ein Amt, dass man auch mit Leidenschaft für das Land und für den Ehemann gestaltet hat. Jackie Kennedy hat sich der Etikette verweigert, hat das blutgetränkte Kleid, das sie im Wagen neben ihrem toten Ehemann getragen hatte, anbehalten, bis beide daheim in Washington gelandet sind, denn die Menschen da draußen sollten „sehen, was sie angerichtet haben“, sagt Jackie im Film.
Larrains Film ist kein Bio-Pic, sondern mehr als das: In seinem kurzen Darstellungsausschnitt von nur vier Tagen sagt er mehr über den Politbetrieb aus als viele andere, vergleichbare PolitFilme. Der Mythos Kennedy wird dadurch aber keineswegs abgeschwächt, denn Larrain arbeitet sehr klug daran, sein Publikum nur nicht zu viel über die komplexen Innenwelten des Politbetriebes wissen zu lassen. Es geht auch darum, die Trauer einer Frau zu zeigen, der von einer Sekunde zur anderen der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Insofern ist „Jackie“ ein Film über Privates, Persönliches. Und hier entsteht der Widerspruch: Politik in dieser Größenordnung kann niemals privat bleiben. Die Kennedys markierten den Anfang des Medienzeitalters im Politikbetrieb. Sie mussten auch mit all seinen Konsequenzen leben. celluloid: Miss Portman, waren Sie schon mal im Weißen Haus? Natalie Portman: Oh ja, das war ich, vor ein paar Jahren für eine Führung, dank Präsident Obamas Team. Und ich muss sagen, dass das eine sehr beeindruckende Erfahrung war. Unser Produktionsdesigner Jean Rabasse hat bemerkenswerte Arbeit geleistet. Seine Nachbildung der Räume im Weißen Haus waren enorm präzise und sorgfältig ausgearbeitet. Es war dabei eine echter Vorteil, dass wir „Jackie“ nicht in den USA, sondern in Paris. Denn viele Arbeiten, die einst am Weißen Haus in Washington vorgenommen wurden, beherrschen heute nur noch französische Handwerker. Wie wichtig sind die richtigen Kulissen für Sie, um als Schauspielerin Ihr Bestes zu geben? Je echter etwas aussieht und sich anfühlt, desto leichter macht es mir die Arbeit, keine Frage. Dann kann man sich ein bisschen mehr fallen lassen. In diesem Fall war das besondere, dass unser Regisseur Pablo Larraín und sein CINEMA FOREVER!
Kameramann Stéphane Fontaine eine ganz spezielle Art der Zusammenarbeit hatten. Stéphane trug die Kamera fast immer auf seiner Schulter und fast alles wurde improvisiert. Dadurch konnte ich mich bewegen wie und wohin ich wollte, ohne auf Markierungen am Boden achten zu müssen. Das, gepaart mit den beinahe echten Räumen, sorgte für einen besondern Realismus. Jackies Look war sicherlich auch nicht unerheblich, oder? Selbstverständlich, die wunderbaren, von unserer Kostümdesignerin entworfenen und nachempfundenen Outfits. Und nicht zuletzt Make-up und Frisur. Ich sehe Jackie ja ehrlich gesagt nicht wirklich ähnlich. Vielleicht mal abgesehen von der Haarfarbe. Aber wenn ich nach der Maske in den Spiegel sah, dann hatte sogar ich manchmal das Gefühl, dass sie mir da entgegenblickt. Jackie Kennedy war die erste First Lady der USA, die Mode und ihren Stil auch politisch einzusetzen wusste. Was war ihr Geheimnis? Es war natürlich sowohl für sie als auch für ihren Mann John F. Kennedy das Glück, dass sie die ersten einer neuen Politikergeneration waren, in der Debatten und andere Auftritte im Fernsehen übertragen wurden. Entsprechend bewusst war sie sich, welche Wirkung Bilder auf die Menschen haben konnten, selbst wenn es eigentlich um inhaltliche Dinge ging. Nicht umsonst hat sie in ihren Interviews darüber gesprochen, wie unfair letztlich die Fernsehdebatten waren, weil Jack so selbstbewusst, jung und gut aussehend war, dass Nixon neben ihm zwangsläufig wie ein schwitzender und ungehobelter Alter wirken musste. Aber auch mit Blick auf sich selbst wusste sie um ihre Außenwirkung. Nicht zuletzt das zeigt ja „Jackie“: wie sie sehr sorgfältig daran arbeitete, ein bestimmtes Bild von sich zu transportieren. 11
Tobis
Die Einsamkeit nach dem Tod ihres Mannes muss Jackie Kennedy erst ertragen lernen
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Vom Aussehen über ihre Manierismen bis hin sogar zu ihrem Dialekt kommen Sie der echten Jackie unglaublich nah. Wie haben Sie sich ihr angenähert? Ich hatte keinerlei Kontakt zur ihrer Familie, denn die meidet jeden Kontakt zur Öffentlichkeit. Aber natürlich findet man – eben weil damals bereits so vieles aufgezeichnet wurde – jede Menge Material online. YouTube ist in dieser Hinsicht wirklich für jeden Schauspieler heutzutage ein Glücksfall. Dank all der Videos, sie ich gefunden habe, bekam ich schon ein gutes Gespür für sie, zumal man richtig nachvollziehen kann, wie sie sich entwickelt hat. Nämlich? Am Anfang, als Jack für den Senat kandidierte, war sie noch deutlich rauer, um es mal so auszudrücken. Später feilte sie am eigenen Image, gab sich demütiger und senkte lieber den Blick als zu direkt in Kameras oder Augen zu blicken. Jenseits der Filmaufnahmen haben mir natürlich auch jede Menge Bücher weitergeholfen. So ziemlich jeder, der sie kannte, hat seine Erinnerungen veröffentlicht, vom Bodyguard bis zum Kindermädchen. All diese unterschiedlichen Perspektiven waren sehr aufschlussreich. Blieb trotzdem noch genug Freiraum um die Rolle nicht zur bloßen Imitation verkommen zu lassen? Selbstverständlich. Diese Jackie ist meine eigene Interpretation von ihr, das Produkt meiner Vorstellungskraft. Dafür war es gar nicht schlecht, dass sie sich damals immer ausbedungen hat, ihre Interviews zu redigieren. Wenn man die liest oder hört, dann merkt man stets, dass es Lücken gibt und Dinge fehlen. Einfach, weil sie gewisse Dinge ge-
sagt hatte, die sie dann doch nicht veröffentlicht haben wollte. Da merkt man dann immer, dass die Öffentlichkeit eben doch nicht alles von Jackie kannte und wusste. Diese Leerstellen konnte ich selbst füllen, was ein Geschenk war. Der Film hat sich auch sonst durchaus ein paar künstlerische Freiheiten herausgenommen, oder? Das ist ja immer so, wenn ein Kunstwerk sich der Realität annimmt. Jackies Schwester zum Beispiel war in ihrem Leben und gerade nach Jacks Tod eine unglaublich enge Bezugsperson. Aber für die Geschichte unseres Films war sie nicht zwingend nötig. Und die Tatsache, dass sie immer noch lebt, und die Familie nicht mit Projekten wie unserem Film zusammenarbeitet, hat sicher auch ihren Teil dazu beigetragen. Im Film sagt Jackie mal, sie wolle nicht ausschließlich Kennedys Witwe sein... Was ihr auch gelungen ist. Sie war Jackie Kennedy, später Jackie Onassis. Aber sie war nie über diese Nachnamen definiert, deswegen heißt unser Film auch nur „Jackie“ und trotzdem weiß jeder, wer gemeint ist. Sie hatte nicht die geringste Lust, den Rest ihres Lebens ausschließlich ihrem verstorbenen Mann zu widmen. Genau das ist es auch, worum es in unserer Geschichte geht: wie sie sich selbst findet und als öffentliche Person erschafft. Sie selbst scheinen sich längst gefunden zu haben, nicht nur als Schauspielerin, sondern inzwischen auch als Regisseurin. Erst vor einigen Monaten lief mit „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ Ihr Regiedebüt in den Kinos... Das würde ich unterschreiben. Und in gewisser Weise hat das viel damit CINEMA FOREVER!
zu tun, dass ich Mutter geworden bin. Durch die Geburt meines Sohnes wurde ich als Mensch ruhiger, was nicht zuletzt beim Regieführen hilft. Tatsächlich gibt es sogar einige Parallelen zwischen dem Muttersein und dem Filmemachen. In beiden Fällen versucht man, eine Umgebung zu schaffen, in dem andere – also das Kind oder eben das Team – ihr Potential voll ausschöpfen können. Wollen Sie in Zukunft weiterhin inszenieren? Auf jeden Fall, das steht außer Frage. Noch habe ich kein konkretes Projekt, an dem ich arbeite. Doch ich habe keinen Zweifel daran, dass ich wieder eines finden werde. Schon alleine weil sich dringend etwas tun muss und wir in unserer Branche viel mehr Frauen brauchen, die Regie führen. Sie selbst haben erstaunlicherweise in Ihrer über 20-jährigen Karriere überhaupt erst einmal vor der Kamera einer Frau gestanden. Der Film „Planetarium“ der Französin Rebecca Zlotowski lief 2016 beim Festival in Venedig... Sie haben Recht, aber es ist nicht so, dass ich ständig Regisseurinnen einen Korb gegeben habe. Es gibt nur einfach wirklich zu wenige Frauen, die die Möglichkeit bekommen, eigene Filme umzusetzen. Und es müssen auch mehr Frauen den Mut und die Leidenschaft haben, das wirklich zu wollen. Gerade in Hollywood. In Frankreich, wo ich zuletzt lange gelebt habe, ist das Problem nicht so groß. Da nähert sich die Frauenquote hinter der Kamera den 50 Prozent, vermute ich. INTERVIEW: PATRICK HEIDMANN EINLEITUNG: MATTHIAS GREULING 13
haders erste
schnitte Josef Hader über sein Regie-Debüt „Wilde Maus“.
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osef Hader hat schon immer gewusst, dass da noch mehr ist. Es hat eine Zeit gedauert, bis der Schauspieler und Kabarettist auch seine dritte Berufsbezeichnung zur Schau stellt: Als Regisseur und Drehbuchautor seines neuen Films „Wilde Maus“, in dem er auch die Hauptrolle spielt, versucht Hader, das kreative Ganze eines Films unter einen Hut zu bringen. „Wilde Maus“ ist das Ergebnis penibler Vorbereitung, wie Hader im celluloid-Gespräch erzählt. Die Geschichte, die Hader sich ausgedacht hat, dreht sich um den geschassten Musikkritiker Georg (Hader selbst), der bei einer Tageszeitung entlassen wird (gedreht in den heiligen Newsroom-Hallen von „Österreich“-Herausgeber Wolfgang Fellner) und fortan auf einen Rachefeldzug gegen seinen Ex-Boss geht. Nicht allerdings, ohne den launigen Umweg über den Prater zu nehmen, wo er einen Herumtreiber (Georg Friedrich) kennen lernt, und mit ihm eine stillgelegte Achterbahn, die „Wilde Maus“, reaktivieren will. Indes hat seine von Schwangerschaft und Mutterglück träumende Ehefrau (Pia Hierzegger) keine Ahnung, dass Georg seinen Job als Kritiker verloren hat. „Wilde Maus“ wurde in den Wettbewerb der kommenden Berlinale eingeladen, wir sprachen mit Josef Hader bereits vorab über seine ersten Schnitte als Regisseur. 14
celluloid: Herr Hader, wieso haben Sie sich das Regieführen zugetraut? Josef Hader: Ich hatte bei den letzten beiden Brenner-Filmen unter Wolfgang Murnberger schon ein bisschen mittun dürfen, vor allem bei den Vorbereitungen und in der Postproduktion. Aber wie es für einen Regisseur am Set ist, habe ich nicht gewusst. Ich konnte es mir vorher nicht vorstellen, wie das gehen soll, und ehrlich gesagt, kann ich es mir im Nachhinein auch nicht mehr vorstellen, wie ich das gemacht habe. Man macht es dann einfach. Ich glaube, es war wichtig, dass ich mir vor dem Dreh sehr viel Zeit genommen habe, und auch danach: Vorbereitung und Fertigstellung, das war das Um und Auf. Ich habe mir sehr genau überlegt, wen ich um seine oder ihre Mitwirkung bitte. Mein Filmteam war ein Dreamteam, das klingt vielleicht kitschig, aber es war so. Und dieses Team ist wie ein Sicherheitsnetz, das dich trägt und beschützt, wenn man nach drei Tagen da hängt und glaubt, es sind schon drei Wochen vergangen. Uns Journalisten kommt Ihre Figur des gefeuerten Musikkritikers Georg in Zeiten der Printkrise nur allzu bekannt vor. Ihnen auch? Ich bin kein Kenner der Journalistenszene, aber ich habe etliche Journalisten in meinem Bekanntenkreis, und wenn man ein Arbeitslosenschicksal in einer CELLULOID FILMMAGAZIN
Welt erzählen will, die ein bissl so ist wie die, in der ich selber lebe, dann kommt man relativ schnell auf den Printjournalismus, weil das halt momentan die Bergarbeiter des Mittelstandes sind, die in einem Bereich arbeiten, wo halt wahnsinnig abgebaut wird. Ich habe etliche Journalisten getroffen, die mir erzählt haben, entweder hinausgemobbt worden zu sein oder den berühmten Golden Handshake angenommen zu haben. Da muss man gar nicht großartig recherchieren. Wieso spielen Sie eigentlich einen Musikkritiker? Ist Musik für Sie lebensnotwendig? Ja, die klassische Musik ist mir sehr nahe, und ich wollte sehr gerne intensiv mit Tonebenen arbeiten. Ich dachte beim Drehbuchschreiben, ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt ein Regisseur bin. Ich bin halb farbenblind, kann grün und braun nicht auseinanderhalten, habe keine Lieblingsgemälde aus der Kunstgeschichte, dafür aber wahnsinnig viel Lieblingsmusik. Dann sollte man eigentlich nicht Regisseur werden, oder? Meine Rettung war die Tonebene, die ich mir sehr gefinkelt ausgedacht habe, denn in Musik und Rhythmus bin ich besser, da fühle ich mich wohl. Die Stadt Wien hat einen ganz eigenen Sound, der Prater hat einen Sound, eine bürgerliche Wohnung hat einen eigenen Sound. Mir war wichtig, dar-
Foto: Katharina Sartena
FILMSTART: 17.02.17
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der Bühne steht. Da würden mir jetzt Namen einfallen, und vielleicht ist es bei den Filmkritikern genauso.
Josef Hader als entlassener Musikkritiker Georg, am Ende seines Rachefeldzugs in "Wilde Maus".
an schon beim Schreiben zu denken, damit, falls das Bild nicht so toll wird, wenigstens der Ton passt. Gerade beim Ton setzen Sie auf Kontraste… Wichtig war mir hierbei zum Beispiel die Musik, die in den Szenen im Prater zu hören ist. Es gibt kaum einen Ort, an dem eine hässlichere Musik gespielt wird wie hier, die dir massives Schädelweh zufügt. Hier jemanden stranden zu lassen, der aus der Welt der klassischen Musik kommt, und ihn mit dieser tonalen Hässlichkeit zu konfrontieren, und dann festzustellen, dass es ihm letztlich im Prater sogar gefällt, das war für mich der größte denkbare Gegensatz von Tonebene, der möglich war. Nicht umsonst sagt man in Filmemacher-Kreisen, dass die Qualität eines Films zu 50 Prozent vom Ton abhängt. Absolut richtig! Ich bin sehr lange und von Anfang an auch beim TonSchnitt und der Mischung gesessen, es gab lange Gespräche über Tonebenen und Geräusche, die ich wollte. Manche Dinge sollten partout anders sein, als man sie erwarten würde: Eine Rauferei zum Beispiel, die im Ton nachträglich noch ordentlich dramatisch aufgemotzt wird, mit mehr Keuchen und so. Ich habe schon beim Dreh darauf geachtet, dass das eher eine Bubenrauferei wird. Da hilft der Ton sehr, weil er so ganz anders ist, als bei anderen Filmschlägereien. Bei mir herrscht eher eine 16
stumme Verbissenheit, die aber total realistisch ist. Aber jeder fühlt sich sofort an den Schulhof erinnert, wenn er den Männern beim Raufen zuschaut. Und sie sind in diesem Moment genau das: Blede Buam. Welche Rolle spielt der Wiener Prater für diese Geschichte? Der Prater ist der Fluchtpunkt in meiner Geschichte. Man muss ihn sich vorstellen wie eine griechische Insel, nur, dass man nur über den Praterstern gehen muss, um in eine andere Welt zu gelangen, in der andere Regeln und Gesetze gelten. Die Stücke, die Georg hört… Die Stücke, die meine Figur im Auto hört, das sind ausgewählte Lieblingsstücke von mir, die mich zu einem wilden Hund machen. Wenn ich Beethoven höre im Auto, fahre ich automatisch schneller. Ein Musikkritiker könnte auch einer sein, für den es zum Musiker nie gereicht hat. Und bei Ihnen? Bei mir hat es definitiv zum Musiker nie gereicht, aber ich wollte auch nie ausschließlich Musiker sein. Ich war von anderen Dingen genauso fasziniert, Film, Theater, Kabarett. Ich war nie unglücklich, kein Musiker geworden zu sein. Es gibt ja viele Musikkritiker, die wären am liebsten Rockmusiker, und schreiben dann jeden alten Rockmusiker herunter, weil sie eine solche Wut haben, dass der im selben Alter wie sie immer noch auf CELLULOID FILMMAGAZIN
Gibt es denn für Ihre Figur ein reales Vorbild? Nein. Aber es gab früher in den 70ern Kritiker, die hat man extrem hofiert, denen hat man sogar Geld gezahlt, dass sie wohin kommen, und die haben sich als Koryphäen gesehen und waren nicht selten wahnsinnige Arschlöcher. Aber, das war allen gemein: Sie haben die Musik unglaublich geliebt. So wie meine Figur Georg. Und er gehört zu jenem Schlag, der niemals einen Künstler vernichtet hätte, weil er ihn nicht mochte, sondern weil er wirklich empört war, dass dieser Künstler die Musik so augenscheinlich falsch gespielt hat. Es war quasi gekränkte Liebe. Welchen Bezug zu Kritikern haben Sie? Wie werden Sie auf die Filmkritiken zu „Wilde Maus“ reagieren? Ich persönlich mag es nicht so gern, wenn Filmkritiker einen Film behandeln, als wäre es ein Gedicht von Paul Celan. Ich glaube, nicht überall steckt zwingend etwas dahinter. Es gibt auch genügend Interviewer, die einen als Regisseur einladen, den eigenen Film gleich mit zu interpretieren. Da mache ich nicht mit. Wie kalt ist es eigentlich, nackert im Schnee zu sitzen? Das Schlimme war nicht, im Schnee zu sitzen, sondern dass man einen ganzen Hügel hinunterläuft, durch einen Schnee, der über die Knie reicht, und es ist einem schon sehr kalt, und dann muss man sich in ein kaltes Auto setzen, und der Popsch und der Rücken sind dann auf einem kalten, nassen Autositz. Das ist das Schlimmste. Was ist eigentlich die Fallhöhe für Sie, wenn die „Wilde Maus“ den Menschen nicht gefällt? Das ist schwer zu sagen. Ich versuche natürlich, möglichst viel zu erzählen, was die Leute ins Kino locken könnte, aber vielleicht hoffen manche Leute sogar, dass es den Hader jetzt so richtig auf die Gosch’n haut und er einmal so richtig scheitert, weil der hatte ja noch keinen richtig grandiosen Misserfolg oder sie liegen schon so weit zurück, dass sich keiner mehr erinnert.
INTERVIEW: MATTHIAS GREULING
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„ICH BIN GERNE
FEMI NISTIN FILMSTART: 27.01.17
Imagewandel: Kristen Stewart wurde mit „Twilight“ weltberühmt. Jetzt arbeitet sie unter Anleitung von Olivier Assayas als „Personal Shopper“. Aus dem TeenieStar ist eine ernstzunehmende Schauspielerin geworden, und eine der wichtigsten Stil-Ikonen der Film-Welt. celluloid erzählte sie, wie das geht. Filmkritik Seite 42.
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Alexander Tuma
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risten Stewart trägt die Haare blond. Sie sieht dabei aus, als wäre sie in einen Farbtopf gefallen, so intensiv schimmert das Gold aus ihren kinnlangen Haaren. Die Frisur ist Teil einer neuen Filmrolle, sagt sie, und überhaupt: Alles, was sie heute trägt, ist Teil eines Gesamtkonzepts. Designer kleiden Filmstars von Kopf bis Fuß ein, denn sie sind ihre lebenden Werbespots auf den Laufstegen und roten Teppichen der Welt. So wie hier in Cannes, wo wir Frau Stewart wieder einmal gegenüber sitzen. Seit „Twilight“-Tagen begleiten wir diese junge Frau, deren Image als Teenie-Star lange hinter ihr liegt. Jetzt erleben wir keine unsichere Zicke mehr, sondern eine selbstbewusste, an ihrer Schauspielkunst gereifte junge Frau, die lieber misslungene Filme
dreht, anstatt auf Nummer Sicher zu gehen. Das finden wir sehr sympathisch. celluloid: Frau Stewart, Sie haben eine Wandlung durchgemacht: Zunächst waren Sie der Teenie-Star, jetzt spielen Sie fast nur mehr ernsthafte Rollen in europäischen Kunstfilmen. Kristen Stewart: Ich kann verstehen, was Sie sehen: Diesen Imagewandel, das Rollenbild. Aber ich muss sagen: Ich habe jede meiner Rollen mit derselben Energie, dem selben Enthusiasmus gespielt und ohne Nachzudenken meinen kreativen Bedürfnissen nachgegeben. Als ich älter wurde, habe ich gemerkt, dass die Filme mit guten Regisseuren einfach gute Resultate bringen. Ich erlaube mir, mich der Magie einer kreativen Zusammenarbeit hinzugeben. Ich werde also in
Zukunft immer wieder Filme machen, die vielleicht misslungen sind, oder die zumindest nicht auf Nummer Sicher gehen. Was ist geblieben von Ihrer Erinnerung an den „Twilight“-Hype? Mit 17 wurde ich weltberühmt, und das ist nicht gesund. In dem Alter kannst du nicht einmal die Menschen, die dich unmittelbar umgeben, einordnen. Man macht sich extrem Gedanken, wie man bei anderen ankommt und auf sie wirkt. Und wenn man in dieser Phase den Massen ausgesetzt ist, und nicht nur dem engsten Umfeld, dann ist das alles andere als ein natürlicher Zustand. Damals wurde jedes Wort, das ich gesagt habe, zerpflückt. Das führt nicht unbedingt zu einem erfüllten Leben, wissen Sie?
Am Set von „Personal Shopper“ mit Regisseur Olivier Assayas: Kristen Stewart ist für ihre hochkonzentrierte Arbeit bekannt. 20
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ZUR PERSON: KRISTEN STEWART
Fotos: Filmladen
Insgesamt fünf Mal schlüpfte die 1990 in Los Angeles geborene Stewart in ihre Paraderolle als Bella Swan in der „Twilight“-Saga. Doch schon davor legte sie den Grundstein für ihre Hollywood-Karriere: Schon 2002 spielte sie Jodie Fosters Filmtochter in dem Thriller „Panic Room“. Nach „Twilight“ verlagerte sie ihr Interesse auf den europäischen Film: Für „Clouds of Sils Maria“ (F 2014) gewann sie als erste Amerikanerin den französischen Filmpreis „César“. Privat ist Stewart mit ihrer Langzeit-Freundin Alicia Cargile liiert, die Beziehung hatte sie aber erst vergangenen Juli öffentlich gemacht.
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„Personal Shopper“ hat auch eine übersinnliche Komponente: Ein Geisterfilm der etwas anderen Art.
Wir erinnern uns kurz an unser erstes Treffen mit Stewart. Damals, 2007, war sie nicht gerade das, was man einen eloquenten Star nennt. Sie war eher lustlos und hatte das Image einer „Bitch“. Doch diese Zeiten sind vorbei. Jetzt trinkt sie Ingwer-Tee und überlegt ihre Antworten sehr genau. Wie haben Sie den Turnaround geschafft? Ich habe mir Rezepte zurecht gelegt, wie man mit Medien umgeht. Und wie mit dem Publikum. Ich habe langsam die Balance gefunden, die Dinge, die mir wertlos sind, zu ignorieren, und alles wirklich auf mich einwirken zu lassen, was ich als menschlich empfinde. Es ist ein schmaler Grat, sich nicht vor der Welt zu verstecken und zugleich ehrlich zu bleiben. In Ihrem neuen Film „Personal Shopper“ sind Sie die Assistentin eines Hollywoodstars, für den sie shoppen gehen. Ich glaube, man muss schon ein ganz spezieller Mensch sein, um jemand an22
deren dienen zu wollen und selbst immer nur den Rücksitz zu nehmen, was die eigenen Bedürfnisse betrifft. Dabei kann man sich ziemlich klein vorkommen. Das ist ein schlimmes Gefühl. Stewart trägt beim Interview ein blaues Oberteil mit sehr geradem, nicht figurbetontem Schnitt. Es sieht chic aus und teuer. Dazu schwarze Jeans, betont lässig und „stonewashed“. Haben Sie eine Assistentin? Ich habe eine Stylistin, die mit mir schon seit Jahren arbeitet. Die Kleidung und die Schuhe und der Schmuck - all das, was wir am roten Teppich und bei Galas tragen, wird uns von Modeschöpfern und Designern geliehen. Das heißt aber nicht, dass diese Kleidung deshalb nicht authentisch ist. Ein guter Stylist betont deine Person nicht speziell, sondern strebt nach Natürlichkeit. Das ist sehr wichtig, denn als Schauspieler bist du immer bestrebt, so viel Natürlichkeit wie möglich in dein Spiel einfließen zu lassen, und CELLULOID FILMMAGAZIN
das drückt sich natürlich auch über die Kleidung aus, die dich extrem altern oder schlecht aussehen lassen kann, wenn du die falsche Wahl triffst. Eine PR-Dame gibt den Hinweis, dass das Gespräch gleich zu Ende sein muss. Weitere Journalisten warten schon. Aber eine Frage geht noch. In der Filmbranche wird immer öfter über Feminismus gesprochen. Was ist Ihre Meinung? Ich erlebe immer wieder Kolleginnen, die Angst haben, auf den Feminismus-Zug aufzuspringen. Sie sagen Dinge wie: „Ich will mich doch trotzdem als Mädchen fühlen dürfen.“ Dahinter steckt die altbekannte Angst, dass alle Feministinnen laut und polternd sind und genau so sein wollen wie Männer. Was für ein Unsinn! Wer bitte glaubt denn nicht an Gleichberechtigung von Männern und Frauen? Darum geht es, und deshalb bin ich gerne Feministin. INTERVIEW: PAUL HEGER
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INTERVIEW
KEINE KOMPROMISSE Regisseur Kenneth Lonergan über sein hochgelobtes Drama „Manchester by the Sea“. Filmkritik Seite 40. BEREITS GESTARTET
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enneth Lonergan kann auch lustig sein. Was man angesichts seines ernsten Dramas „Manchester by the Sea“ nicht denken würde. Doch der New Yorker Drehbuchautor und Regisseur hat zu Beginn seiner Karriere unter anderem die Scripts zu den De Niro-Schenkelklopfern „Reine Nervensache“ 1 und 2 verantwortet. Wobei: Ein bisschen distanziert er sich im Interview auch davon. In „Manchester by the Sea“ jedenfalls nimmt er das Schicksal des Handwer-
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kers Lee (Casey Affleck) unter die Lupe, der nach dem Tod seines Bruders in einem kalten Küstenstädtchen nördlich von Boston zum Vormund für dessen 16-jährigen Sohn erklärt wird. Anfänglich verweigert Lee diesen letzten Willen des Bruders, mit der Zeit aber bemerkt er, dass ihm die Verantwortung ein Stück Leben zurückgibt, dass er nach einem schrecklichen Schicksalsschlag längst verloren geglaubt hatte. Casey Affleck gilt dank seiner minimalistischen, aber präzisen Performance als Favorit auf einen Oscar.
CELLULOID FILMMAGAZIN
Universal
Casey Affleck in „Manchester by the Sea“ - er wird als Favorit auf den Oscar in der Kategorie „Bester Hauptdarsteller“ gehandelt
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Lee (Casey Affleck) trifft im Film auf seine Ex-Frau (Michelle Williams, links), mit der er eine gemeinsame Seelenqual zu tragen hat
celluloid: Mr. Lonergan, gibt es einen Unterschied zwischen Scripts, die Sie für jemand anderen schreiben und solchen, die Sie selbst inszenieren? Kenneth Lonergan: Ja, es ist etwas ganz anderes, wenn man für jemand anderen arbeitet. An „Gangs of New York“ hatten sich vor mir bereits drei Drehbuchautoren versucht, ich kam als vierter und letzter hinzu und versuchte, Martin Scorsese zu dienen und seine Visionen umzusetzen. Bei „Reine Nervensache“ schrieb ich die erste Fassung, um damit in Hollywood ein bisschen Geld zu verdienen, und nach mir schrieben daran weitere 14 Autoren! Das Gefühl, diesen Film erfunden zu haben, hält sich bei mir dadurch arg in Grenzen. Aber wenn ich etwas eigenes mache wie „Manchester by the Sea“, dann ist das nur mein Ding und ich gehe keinerlei Kompromisse ein. Dabei war anfangs gar nicht klar, dass Sie auch der Regisseur des Films sein würden. Das stimmt, denn ursprünglich wollte Matt Damon Regie führen. Er ist ein guter Freund von mir, und er konnte schließlich aus Termingründen nicht. Ich war also bereit, das Drehbuch in seine Hände zu legen, aber es kam anders und so wurde es zu einem Projekt, das zu 100 Prozent unter meine kreative Kontrolle geriet. Damon sollte die Hauptrolle auch selbst spielen. Sie besetzten Casey Affleck. Ein wahrer Glücksgriff für den Film. Casey ist ein unglaublich guter, fokussierter Schauspieler, der sehr viele 26
Fragen zu seiner Figur stellt. Manchmal streiten wir uns ein bisschen, aber auf sehr produktive Weise. Lee, Caseys Figur, hat einen schweren Schicksalsschlag erlitten und muss jeden Tag die Gedanken daran verdrängen, das äußert sich vor allem darin, dass Lee eher teilnahmslos wirkt. Diesen Zustand zu spielen, erfordert eine große innere Konzentration, damit es nicht beliebig wirkt, sondern authentisch. Der Film porträtiert ein rurales Amerika abseits der Metropolen. Wie amerikanisch ist der Film in seinen Wertehaltungen, seiner Schilderung der sozialen Gefüge? Ich weiß darauf keine Antwort, denn ich glaube, dass kann nur ein NichtAmerikaner mit Blick von Außen wirklich beurteilen. Man denkt ja nicht, dass man Amerikaner ist, solange man das Land nicht verlässt. Ich denke ja als Individuum, nicht als Volk. Ich hoffe aber, ich habe die meisten sentimentalen Klischees, die man von Amerika kennt, vermieden. Und ich hoffe, den richtigen Ton getroffen zu haben: Die Menschen im Nordosten, die an der Küste leben, haben es sehr oft kalt, und sie sind im Gespräch reserviert, zugleich aber herzensgut und ehrlich. Was hat sie an der Abgeschiedenheit fasziniert? Ich lebe in New York City, und mich faszinieren die Kontraste, sobald ich woanders bin. Diese Kontraste schwinden immer mehr, denn große Teile der USA sind zersiedelt; es gibt über weite Strecken also die immer gleich ausseCELLULOID FILMMAGAZIN
henden Gegenden und Städte, die keinen Charakter mehr haben. Städte mit eigenem Charakter werden immer seltener. In der Gegend, in der wir drehten, hat man sich diese Eigenständigkeit noch bewahrt. Es gibt dort mit Ausnahme von Dunkin’ Donuts keine Ladenketten, und es ist gerade in den USA ein Kunststück, diese Ketten fernzuhalten. Wie gehen Sie eigentlich vor, wenn Sie eine Figur wie diesen innerlich verwundeten Lee erschaffen? Gibt es dafür Vorbilder? Oft komme ich erst Jahre nach einem Film drauf, woher ich diese Ideen hatte. Das gibt dann einen schönen AhaEffekt für mich. Ich habe aber bei den Figuren keine spezifischen Referenzen, auf die ich mich beziehe. Ich klaube mir eher die Eigenschaften zusammen, aus verschiedenen Persönlichkeiten, die ich kenne. Grundsätzlich hat mich in diesem Fall interessiert, ob man fremde Schicksale von außen bemerken kann. Ich denke manchmal darüber nach, was Menschen, die ich eher beiläufig kenne, durch den Kopf geht. Wenn mein Installateur bei mir den Wasserhahn repariert, frage ich mich, ob er immer so ist, was ihm widerfahren ist, und welche Träume er hat. Sobald man erfährt, dass der Typ seine Familie bei einem Autounfall verloren hat, taucht ihn das in ein anderes Licht. Diese Dynamiken interessieren mich: Es gibt so viele Menschen, die wahnsinnigen Schmerz mit sich herumtragen, und wir merken es gar nicht. INTERVIEW: MATTHIAS GREULING
Tobis
Regisseur Kenneth Lonergan bei der Premiere von „Manchester by the Sea“ in Rom
Jennifer Connelly und Ewan McGregor können nicht fassen, dass ihre Tochter einen Bombenanschlag verübt haben soll.
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INTERVIEW
Foto: Polyfilm
FILMSTART: 27.01.17
EIN FILM ÜBER DIE LIEBE
IN 3D
Wim Wenders über „Die schönen Tage von Aranjuez“, seine Verfilmung des Stücks von Peter Handke
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im Wenders ist stolz auf seinen ebenso fordernden wie eleganten, spröden wie faszinierenden Film „Die schönen Tage von Aranjuez“, in dem zwei Schauspieler, die von einem fiktiven Autor erfunden werden, auf der Terrasse eines Sommeranwesens 90 Minuten über die Liebe sprechen, manchmal auch philosophieren. Und wo eine Jukebox ebenso eine Hauptrolle hat wie Nick Cave einen kurzen Auftritt, das Ganze verfasst von Wenders’ Freund und fünfmaligem Kollaborateur Peter Handke. Wenders hat mit celluloid über den Film gesprochen. celluloid: Herr Wenders, sie haben bereits etliche Filme mit dem Zutun von Peter Handke gemacht. Was macht diese Kollaboration so einzigartig? Wim Wenders: Die Zusammenarbeit mit Peter Handke war schon immer 28
einerseits sporadisch, andererseits sehr wichtig, manchmal bloß punktuell, manchmal entscheidend, vor allem zu Beginn. Peter habe ich meinen allerersten Auftrag zu verdanken, einen Film, für den er mich vorgeschlagen hatte, der hieß „Drei amerikanische LPs“, eine Art Musikvideo, lange bevor das Genre überhaupt erfunden war. Nach Abschluss meines Studiums war ich der erste einer Klasse von 20 Abgängern einer Filmhochschule, der einen Film gemacht hat. Das war Handkes „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“, den er mir als Geschenk überließ, um daraus einen Film zu machen. Ich war damals erst 25, und das Spielfilmdebüt wäre mir nicht gelungen ohne Peter Handke. Er hat mich auf die Schiene gesetzt. Später hat er mir bei „Der Himmel über Berlin“ sehr geholfen, auch, wenn das Drehbuch nicht von ihm stammte. Umgekehrt habe ich ihm auch bei seinen Filmarbeiten sehr geholfen, zum CELLULOID FILMMAGAZIN
Beispiel bei „Die linkshändige Frau“, eine meiner Lieblingsfilme überhaupt. „Die schönen Tage von Aranjuez“ ist in großen Teilen im Original in Französisch gedreht, wieso haben Sie sich dazu entschlossen? Ich wollte auf Französisch drehen, weil Peter den Text auf Französisch geschrieben hatte. Ich fand das sehr schön, und die deutsche Übersetzung zeigte mir schließlich, dass der französische Ur-Text leichter und eleganter war -und dass es nicht an der Übersetzung lag, die Peter selbst gemacht hatte, sondern an der Sprache. Das Deutsche klingt männlicher und zerebraler, was an der Grammatik liegt, während mir das Französische flüssiger schien, und weiblicher und intuitiver. Auf Deutsch ist es ein anderes Stück, weil die Denke anders funktioniert und mehr zum Mann hin tendiert. Ich war sehr froh darüber, es in Französisch zu drehen,
denn ich habe ja lange in Frankreich gelebt, aber bisher noch nie einen Film auf Französisch gemacht. Die deutsche Fassung wird natürlich im Kino zu sehen sein, wiewohl mein Herz sehr an der französischen Fassung hängt. Wie ist die Zusammenarbeit denn konkret? Peter ist ein großer Briefeschreiber. Das Manuskript bekam ich in Begleitung eines Briefes. Peter telefoniert ungerne und im Internet hat er auch nichts verloren. Wir haben uns also persönlich getroffen und uns ausgetauscht. Dann hat er sich aus dem Drehbuch ganz rausgelassen, und wenn du den Text kürzt, musst du das alles machen. Er hat den Film im Rohschnitt gesehen, sich aber komplett herausgehalten. Er weiß, dass es in diesem Stadium nicht mehr nur seine Arbeit ist. So richtig an einem Tisch gesessen und gemeinsam etwas geschrieben, das haben wir nie. Das habe ich aber auch mit anderen Autoren nicht gemacht. Das ist für Autoren generell schwierig, glaube ich.
Wieso musste es für dieses verfilmte Gespräch zweier Schauspieler eigentlich in 3D sein? Ich habe jetzt vier Filme in 3D gemacht, und dieser ist nun der gelungenste, finde ich. Er macht vergessen, dass man 3D sieht, weil er so natürlich ist. Ich glaube, mein Film beweist endgültig meine These, dass 3D auch ein zärtliches Medium sein kann. Ich verwende es aber nicht für jeden Film, denn es muss schon zum Thema passen. Ich finde es aber toll, dass man die Wahlmöglichkeit zwischen 2D und 3D hat. Obwohl sich ja immer mehr abzeichnet, dass 3D den Bach runtergeht, weil die Kinos es nicht mehr so richtig wollen, und auch keine modernen Umrüstungen mehr passieren. Das liegt daran, dass der Content in 3D leider viel zu schwachsinnig ist, sodass viele Leute das 3D-Filmschauen aufgegeben haben. Es ist zu einem Kids-Medium geworden und bringt auch nur mehr kindlichen Content hervor. TV-Anstalten sind längst ausgestiegen, sogar Arte, der anfangs dafür Feuer und Flamme war. Das hat vielen Produzenten die Laune verdorben, und 3D ist durch die Filmindustrie, die es falsch benutzt hat, ein Medium, was nun wieder verschwinden könnte - das ist, finde ich, eine der großen Katastrophen der Filmgeschichte. INTERVIEW: MATTHIAS GREULING
Foto: Katharina Sartena
Können Sie ein wenig über die Musikauswahl erzählen? Der Film beginnt mit Bildern des menschenleeren, sommerlichen Paris, dazu ist „It’s A Perfect Day“ von Lou Reed zu hören. Nick Cave kommt mit seinem Lied „Into Your Arms“ vor, das ist eines meiner Lieblingssongs überhaupt. Auch, dass Lou Reed, mit dem ich sehr befreundet war, nun nicht mehr unter uns ist, musste ich Tribut zollen, indem der Film mit seinem besten Song „It’s a Perfect Day“ anfängt. Der noch recht unbekannte Gus Black, der das Schlusslied singt, „There’s Nothing More to Say“, das war auch perfekt.
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Lunafilm
INTERVIEW
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CELLULOID FILMMAGAZIN
WIE IST ES IN DER
HÖLLE,
HERR RUZOWITZKY? BEREITS GESTARTET
Stefan Ruzowitzky über seinen (gelungenen) Versuch, das Actiongenre nach Österreich zu importieren.
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tefan Ruzowitzky ist ein Grenzgänger. Mit „Die Hölle“ will der Oscarpreisträger („Die Fälscher“) nun beweisen, dass auch in Österreich (und mit den bescheidenen heimischen Budgets) unterhaltsame Action für die große Leinwand möglich ist. Und das Vorhaben gelingt: Ruzowitzky stellt die türkischstämmige Wiener Taxlerin Özge (großartig besetzt mit Violetta Schurawlow) einem Frauenmörder gegenüber, auf dessen Spuren sie gerät, als sie ihn auf frischer Tat beobachtet. So richtig folgsam ist die nun in höchster Gefahr lebende Özge nicht, als ihr der doch rassistisch angehauchte Wiener Kriminalkommissar Steiner (Tobias Moretti) verordnet, daheim zu bleiben. Und gut ist’s: Denn daheim wäre sie sogleich ein Opfer des Killers geworden. So beginnt nun eine waghalsige, actionlastige Jagd durch Wien. Rasant und atemlos - Action aus Österreich. celluloid: Herr Ruzowitzky, was wollen Sie mit „Die Hölle“ beweisen? Dass wir auch das Actiongenre beherrschen? Stefan Ruzowitzky: Natürlich bestand für mich der Ehrgeiz schon darin, etwa zu machen, das noch keiner gemacht hat, und das der Erwartungshaltung an den österreichischen Film zuwiderläuft. Denn bisher dachten die meisten wohl, dass es das Actiongenre in Österreich auch deshalb nicht gibt, weil wir das gar nicht können. Wir können nur Beziehungsprobleme in kammerspielhaften Dimensionen abarbeiten. Ich wollte dem entgegenhalten: Nein, wir können auch Action!
Der Look des Films sieht teuer aus. Ist es aber nicht wirklich. Da muss ich ganz unbescheiden sagen: So ein Film ist sehr viel Handwerk. Ein ruhiges, leiseres Drama, das schafft man auch ohne viel Berufserfahrung, behaupte ich einmal. Aber so einen Film, der teuer aussieht, es aber nicht ist, dazu braucht es viel Erfahrung und Routine. Gerade von den teuren, aufwändigen Einstellungen, die wir gedreht haben, landen dann oft nur wenige Zehntelsekunden im Schnitt. Wenn man weiß, welche Zehntelsekunden das sind und wenn die gut waren, dann kann man sehr viel Zeit und Geld sparen. Rührt dieser Erfahrungsschatz auch daher, dass Sie seinerzeit mit „Anatomie“ sehr viel im Bereich des Genrekinos ausprobieren konnten? Ja, sicher, das waren mehr die dramaturgischen Fragen, wie man Spannung aufbaut und so weiter. Die Actionszenen gab es dort weniger, das ist Handwerk, das man sich über die Jahre aneignen muss. Wie liest sich eigentlich so ein Drehbuch zu einem Actionfilm. Was steht da genau? Drehbuchautor Martin Ambrosch wusste sehr genau, dass er bei sehr actionlastigen Szenen durchaus auch mal SymbolTexte hineinschreiben muss, denn da muss ja was stehen, damit man es kalkulieren kann, also die Eckdaten, wie lange das wahrscheinlich im Film dauert und wer wann wo von
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U-Bahn-Rauferei: Saaed el Hadary (Sammi Sheik) und Özge (Violetta Schurawlow) geben sich‘s voll.
der Brücke stürzt, wegen der Stuntmen. Ich hatte dazu allerdings den Ehrgeiz - und das nicht nur, weil ich Wiener bin - dass man die Action schon akkurat inszeniert. Das heißt, dass Özge nicht am Ring abbiegt und plötzlich über den Gürtel fährt. Die Anschlüsse sollten schon auch geografisch stimmen. Wir begannen am Ring, denn da ließ uns das Verkehrsamt eine Kreuzung sperren ab 22 Uhr. Dann drehten wir am Schwedenplatz, im Stadtpark und den umliegenden engen Gässchen. Ein Wien-Film der etwas anderen Art. Die klassischen WienMotive haben Sie ausgespart. Kein Steffl, kein Riesenrad. Wieso? Das Wien-Bild ergibt sich aus der Handlung. Unsere Taxifahrerin kommt aus Ottakring und der Gürtelgegend und landet schließlich in einem gutbürgerlichen Innenstadt-Haus. Wer dort herumläuft, sieht halt die eine oder andere Sehenswürdigkeit. Aber bewusst anpreisen wollte ich das nicht. Hat es einen Grund, weshalb die Hauptfigur Migrationshintergrund hat? Mir war wichtig, dass man die Migrantenwelt nicht geschönt zeigt, und auch nicht als eine Welt ohne Probleme, aber sie ist gleichzeitig auch kein Jammertal. Es gibt ein breites Spektrum, vom superassimilierten Bruder, der höllisch aufpasst, dass hier ja nichts nach Türkei riecht, dann gibt es den Ex-Freund, der sehr gut integriert ist mit seinem kleinen Geschäft, die Eltern, die noch mit einem Fuß in Anatolien sind. Ein Rundblick eben. Das macht es, glaube ich, auch authentisch. Was die Action angeht: Es ist erstaunlich, dass man „Die Hölle“ zumindest daran als österreichischen Film erkennt, 32
wenn man sieht, welche Autos kaputt gefahren werden. Nämlich eher alte Mercedes- und Volvo-Modelle, solche, die halt ins Budget gepasst haben. Das ist richtig (lacht). Was mich noch mehr zum Schmunzeln gebracht hat, wenn man früher von Actionszenen im österreichischen Film gesprochen hat, waren diese kleinen Höhepunkte, wo dann ein Auto in einen Fluß stürzt, und das wurde inszeniert wie ein unglaublicher Schauwert, mit Slow Motion, um diesen teuren Shot auch wirklich „auszukosten“. Dieses viele Geld also auf möglichst viele Sekunden verteilen. Genau das haben wir nicht gemacht. Wir haben manchmal bewusst solche Szenen, die eigentlich sehr teuer sind, relativ bescheiden eingesetzt. Aber das muss man auch, denn sonst wird man unglaubwürdig. Wenn du als Regisseur immer sagst: „Seht her, jetzt passiert es gleich“, dann ist man verloren. Besonders großartig ist Moretti als sympathischer Unsympathler. Finde ich auch. Einerseits ist er gegen den Typ besetzt. Er fand das Projekt super, aber die Figur ist nicht er. Mein Ziel war, ihn dorthin zu bringen, ein bisschen auf Lino Ventura, der ausgebuffte Kriminalkommissar. Das haut hin, finde ich. Er ist in der Rolle ein Arschloch, aber wer genauer hinschaut, findet ihn eh ok. Und er ist ein Kommissar, der einen Schäferhund besitzt. Im Publikum wartet man eigentlich nur darauf, dass er ihn beim Namen ruft. Das ist ein kleiner Insider-Gag für die österreichischen Zu-
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schauer, aber wir haben es nicht übertrieben… (lacht) Wie hat sich das Actiongenre eigentlich gewandelt? Ich habe mir im Vorfeld viele Autoverfolgungsjagden angeschaut. Filme aus den 80ern, das ginge heute gar nicht mehr. Da ist alles viel zu langsam. Selbst „Ronin“ mit De Niro geht nicht mehr. Für mich sind hingegen die „Bourne“-Filme die große Zeitenwende, was das Tempo im Actionkino angeht. Hier ist es erstmals nicht mehr um eine geografische Richtigkeit gegangen, sondern um Töne und Bilder, die Reize hervorrufen und alles beschleunigen. Das macht für mich auch Sinn, denn im Fall einer Verfolgungsjagd würde ich ja auch nicht denken, ‚Oh, ich biege jetzt in die Schönlaterngasse ein“, sondern da würden die Reifen quietschen. „Ronin“ ist ein bisschen fad für heutige Sehgewohnheiten. Ist das auch ein Grund, weshalb manche Filmklassiker vielen jungen Zuschauern langweilig vorkommen? Ja, denn unsere Sehgewohnheiten haben sich massiv geändert. Der große Einschnitt war wohl das Aufkommen der Musikvideos in den 80ern. Als ich begonnen habe, gab es noch einige unumstößliche Regeln, etwa, dass man nicht von einer Totale auf einen Close up schneiden soll, Das gibt es nicht mehr. Die Musikvideos waren die ersten, die bewusst diese Regeln gebrochen haben. Und wir haben uns angepasst: Früher gab es Filme, die waren schnell geschnitten und ich bekam davon Kopfweh. Das ist heute längst passé. So kann es passieren, dass sogar ein alter Hitchcock heute ziemlich öde aussieht. Das stimmt, obwohl es seine Idee war, auf Effizienz hin zu drehen, zu erzählen und zu schneiden. Das hat er ja in seinem Interviewbuch mit Truffaut immer wieder betont. Übrigens ein grandioses Buch, das so etwas wie meine Filmschule war. Es hat für mich ein Studium ersetzt und liegt bei mir völlig zerlesen im Regal. Ganz anders ist es bei Komödien, die brauchen weniger „Updates“. Lustigerweise funtkionieren bei Komödien die Standards noch immer sehr gut. „Manche mögens heiß“ von Billy Wilder ist zum Beispiel immer noch toll anzusehen. Auch vom Tempo her. Es gibt ja doch Regisseure, die standhalten. Es kommt vermutlich aber aufs Genre an. Bei Actionfilmen geht es auch stark um die Entwicklung der Technik. Da fand der große Sprung statt, seit man digital schneidet. Ganz am Anfang habe ich beim Fernsehen noch mit Film geschnitten. Dabei zerschneidest du den Film ja tatsächlich und pickst ihn dann mit einer Klebepresse zusammen. Wenn man das zweimal ändert, ist dann schon so viel Tixo drauf, dass man schon gar nichts mehr sieht. Wir sitzen heute tagelang und schneiden ein Kader vor und zwei zurück, und das verlustfrei. Das wäre damals technisch gar nicht möglich gewesen.
Roman Polanski am Red Carpet, 1971
INTERVIEW: MATTHIAS GREULING
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Foto: Katharina Sartena
INTERVIEW
Isabelle Huppert, Jahrgang 1953, bei der Weltpremiere von "Elle" in Cannes, Mai 2017 34
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WIE MUTIG SIND SIE, MADAME HUPPERT? FILMSTART: 24.02.2017
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Isabelle Huppert darf für ihre Rolle in „Elle“ auf einen Oscar hoffen. Mit uns sprach sie über die Wagnisse des Berufs und die Vorzüge von Könnern wie Paul Verhoeven oder Michael Haneke.
sabelle Huppert scheint am Ziel. Als die französische Diva Anfang Jänner in Los Angeles völlig überraschend mit dem Golden Globe als beste dramatische Schauspielerin ausgezeichnet wurde, da war ihr die übermäßige Freude ins Gesicht geschrieben. Huppert hat in ihrer Dankesrede innerhalb von 90 Sekunden wahrscheinlich mehr Emotionen gezeigt, als in all den Rollen ihrer langen Karriere zusammen. Der Preis für „Elle“ ist hochverdient, denn Huppert zeigt darin mit einer unglaublichen Intensität das Schicksal einer Frau, die nach einer Vergewaltigung ihren Peiniger zu suchen beginnt. Michèle (Huppert), Chefin einer erfolgreichen Firma für Videospiele, wirkt wie eine Frau, der nichts etwas anhaben kann. Unnahbar führt sie mit der gleichen Präzision und Kalkül ihre Firma wie ihr Liebesleben. Als Michèle eines
Tages in ihrem Haus von einem Unbekannten angegriffen und vergewaltigt wird, scheint sie das Vorgefallene zunächst kalt zu lassen. Doch ihr Leben ist über Nacht ein anderes geworden. Resolut spürt sie den Angreifer auf und verstrickt sich mit ihm in ein gefährliches Spiel aus Neugier, Anziehung und Rache. Es ist ein Spiel, das jederzeit außer Kontrolle geraten kann. „Elle“ ist packendes Überraschungskino eines Altmeisters, der schon immer auf der Tonleiter des Suspense zu spielen vermochte, und der hier zu seiner Perfektion findet. Verhoeven erhielt folgerichtig auch den Globe für den besten fremdsprachigen Film, beim Oscar ist er allerdings nicht nominiert. Und so könnte am 26. Februar in Hollywood für die Huppert eine kleine Sensation warten. Mitte Jänner traf celluloid Huppert zum Gespräch in Paris. CINEMA FOREVER!
celluloid: Bei der Verleihung der „Golden Globes“ hielt Meryl Streep eine sehr politische Rede. Würden Sie sich auch politisch äußern? Isabelle Huppert: Die meisten Filme sind bereits ein politisches Statement und sprechen für sich. Das reicht, um die Stimme zu erheben. Nach dem Globes-Gewinn: Empfinden Sie eine Verantwortung für den französischen Film? Das wäre übertrieben. Ich freue mich aber über das riesige Interesse in USA, das zeigt sich nicht nur bei den „Golden Globes“. Die Auszeichnung für „Elle“ halte ich für einen großen Schritt zur Anerkennung unseres Filmschaffens. Ich habe mich sehr wohl gefühlt in Amerika, die Kollegen sind sehr offen, empfangen jeden mit offenen Armen. Sind die zahlreichen Preise auch ein 35
„Mut ist die Voraussetzung für meinen Beruf “
Foto: Filmladen
ISABELLE HUPPERT
Isabelle Huppert leitet in "Elle" eine Videospielefirma. Ihre Vergewaltigung lässt sie nicht so kalt, wie es zunächst scheint.
Sieg über den Jugendwahn? Sie sind so erfolgreich wie nie. Über das Alter denke ich nicht nach. Amerikanische Schauspielerinnen sollen die Rolle der Michèle abgelehnt haben. Ich war nicht von Anfang an in das Projekt involviert, aber beim Lesen des Drehbuchs wusste ich sofort, das ist eine einmalige Chance und eine faszinierende Story, sehr komplex und herausfordernd, sehr verstörend und provozierend. Bei der Rollenwahl spielt auch die Intuition mit, das Bauchgefühl, die Lust am unbekannten filmischen Abenteuer. Der Film beginnt mit einer harten Vergewaltigungsszene. War die besonders schwierig zu drehen? Die Herangehensweise ist eine technische und es gibt viele Schnitte. Paul Verhoeven schafft es, die Gewalt intensiv aussehen zu lassen, ohne dass ich als Schauspielerin davon betroffen bin. Solche Szenen sind aber Arbeit, harte körperliche Arbeit. Was reizt sie an dieser an dieser Frau, die sich nicht als Opfer fühlt, sondern vielmehr als Rächerin handelt? Sie ist weder das eine noch das andere, sondern irgendwo dazwischen, eine Frau, die nicht zusammenbricht, nie aufgibt. Zu Pauls besonderen Qualitäten zählt die Unvorhersehbarkeit der 36
Handlung. Das Herz des Films ist die verführerische Ambivalenz. Es bleibt doch irgendwie offen, ob Michèle weiss, was sie wirklich will. Sie gelten als mutig bei der Auswahl ihrer Rollen. Erforderte dieser Part einen speziellen Mut? Mut ist die Voraussetzung für meinen Beruf. Ich schaue genau auf das Drehbuch, die Figur und den Regisseur. Ganz vorne steht das Vertrauen und Respekt des anderen, eine Art Komplizenschaft zwischen Schauspielerin und Regisseur. Ohne die geht bei einem Film wie „Elle“ gar nichts. Wenn diese Vorbedingungen erfüllt sind, kann nichts mehr passieren. Ich bin in total in die Figur eingetaucht. Was macht einen guten Regisseur aus? Er muss meine Vorstellungskraft akzeptieren, mir die Möglichkeit geben, mich ganz und gar einzubringen. Nur ein gutes Zusammenspiel ergibt einen guten Film. Regisseure wie Paul oder Michael Haneke intervenieren nicht, lassen am Set etwas Magisches geschehen zwischen „Action“ und „Cut“. Diese unkontrollierten Momente sind ausschlaggebend. Oft attestiert man Ihnen, sich nur für gefühlskalte Charaktere zu entscheiden. Wie sehen Sie das? Ich glaube nicht, dass ich kaltblütiCELLULOID FILMMAGAZIN
ge Charaktere präsentiere, die meisten meiner Figuren sind Überlebende, haben oft Schreckliches mitgemacht und verbergen nur ihre Fragilität und Mitgefühl. Michèle sanfter darzustellen, wäre ein Riesenfehler gewesen. Im Sommer drehten Sie „Happy End“ mit Michael Haneke. Ein Film von Haneke, der „Happy End“ heißt, das klingt per se schon wie ein Witz. Ja, und ich kann Ihnen verraten: Haneke hat einen ganz großartigen Sinn für Humor! Der Film wird eine Familiengeschichte erzählen, die im Norden Frankreichs, unweit von Calais angesiedelt ist. Dort, wo viele Flüchtlinge versuchen, nach Großbritannien überzusetzen. Der Film wird keineswegs ein Flüchtlingsdrama, sondern zirkelt um diese sehr wohlhabende Familie und ihre Probleme. Mehr zu sagen ist schwer, denn ich weiß leider selbst nicht wirklich, wie das werden wird. Wissen Sie, ob Haneke Sie schon beim Schreiben des Buches im Kopf hatte? Ich weiß es gar nicht, ich habe ihn nicht gefragt. Aber er hatte sicher Jean-Louis Trintignant im Kopf, als er schrieb. Er spielt wieder meinen Vater, wie schon in „Amour". Einige Ihrer Kollegen berichten gerne, wie sehr sie für ihre Rollen leiden müssen. Sie scheinen eine gesunde Distanz dazu zu haben, und zugleich sieht man als Zuschauer, wie sehr Sie sich in diese Figuren einleben. Was ist Ihr Ansatz einer Rolle gegenüber? Das ist vielleicht der Grund, weshalb ich so gut mit Haneke auskomme: Ich verstehe das Schauspielen als ein Objekt, dem ich eine Form gebe. Es ist eine Skulptur. Ich muss dafür nicht leiden, ich gebe einfach nur eine Form. Ich bin weder innerhalb der Form noch außerhalb. Es ist einfach nur eine Arbeit.
INTERVIEW: MATTHIAS GREULING
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TREND
LANG LEBEN DIE
TOTEN Hollywood lässt Tote auferstehen, und zwar digital. Das sieht toll aus, schwächt aber den Mythos der Traumfabrik.
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isher war es so: Wenn ein großer Star stirbt, am besten auch noch unter mysteriösen oder spektakulären Umständen, dann beginnt vor allem im Hollywood-Kino die seltsame Systematik der Mythisierung und Glorifizierung des oder der Toten. Das war bei James Dean so, dem Prototypen des „Gone-Too-Soon“-Marketing-Konzepts, und hat sich bis heute professionalisiert: Paul Walker, der sich um einen Baum wickelte, wurde ebenso zur Legende wie Heath Ledger, der in Depressionen versank, als er den Joker spielte. Wie faszinierend: Der junge Mann spielt einen Wahnsinnigen und wird selbst wahnsinnig. Solche letzten Rollen der Toten verkauften sich meist besser als jene zu Lebzeiten. Beispiele für große Stars und ihre unendlich größeren Mythen gibt es viele: Robin Williams, Whitney Houston, Brittany Murphy oder Philip Seymour Hoffman starben alle weit vor ihrer Zeit, aber auch die Tode von Legenden wie John Wayne, Clark Gable, Audrey Hepburn oder Liz Taylor würde vielleicht so mancher Fan rückgängig machen wollen, wenn er könnte. Denn die Filme mit diesen Darstellern waren unvergleichlich schön und machten ebenso glücklich. Nun ist Linderung für diesen Schmerz in Sicht. In Hollywood arbeitet man mit Hochdruck daran, alte, tote Legenden wieder zum Leben zu erwecken, und zwar digital. Denn was die Tricktechniker heute mit den gefilmten Daten verstorbener Stars alles anstellen können, lässt Münder offen stehen. Zum Beispiel im Blockbuster „Rogue One: A Star Wars Story“: Darin wird nicht nur die 60-jährige Carrie Fis38
her dank Digital-Liftings für einen Augenblick wieder zur blutjungen Prinzessin Leia, sondern auch der bereits 1994 verstorbene Peter Cushing spielt wieder mit. Seine Rolle als Grand Moff Tarkin, ein ranghoher Vertreter des Imperiums, wurde notwendig, weil dieses „Star Wars“-Spin-off zeitlich vor der 1977 erschienenen Episode IV der Reihe spielt. Und da Cushing damals die Rolle spielte, nahm man die Herausforderung an und rekreierte ihn dank der Performance eines Schauspielers, der seine Rolle übernahm, dessen Gesicht aber nachträglich entfernt und durch jenes von Cushing ersetzt wurde. Das gelingt so verblüffend, dass man diesen Trick gar nicht merkt, wenn man nichts von ihm weiß. Die Technik ist inzwischen so weit, dass man vermutlich auch Clark Gable wieder auferstehen lassen könnte, und einem Sequel von „Vom Winde verweht“ stünde nichts im Wege. Die „Star Wars“-Macher bei Disney haben übrigens bereits angekündigt, dass die verstorbene Carrie Fisher nicht digital zum Leben erweckt wird, wenn nach Episode VIII kein neues Filmmaterial mehr von ihr vorhanden ist. Man zeigt also doch ein wenig Respekt. WER WILL DAS?
Wollen die Zuschauer wirklich wiederauferstandene Tote sehen? Bedroht diese Technik nicht eigentlich viel mehr das, was Hollywood ausmacht? Seine überlebensgroße Unnachahmlichkeit, seinen Mythos? Die digitale Wiedergeburt ist kein neues Phänomen, aber bisher geschah sie aus purer Verzweiflung: Als Brandon Lee am Set von „The Crow“ 1993 irrtümlich erschossen wurde, musste man den beinahe fertigen Film ohne ihn abschließen und setzte erstmals
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Lucasfilm; ZvG
1977 spielte Peter Cushing in „Star Wars - Episode IV“ an der Seite von Darth Vader. Jetzt ist er zurück, dank digitaler Technik.
digitale Tricks ein, um die fehlenden Szenen nachzudrehen. Dasselbe passierte 2000, als Oliver Reed während des Drehs von „Gladiator“ verstarb und Ridley Scott ihn digital ersetzen ließ. Aber ganze Rollen und Figuren neu zu beleben, das hat vor „Rogue One“ noch kaum jemand versucht. Zumal es hier keine dramaturgische Notwendigkeit gab: Es wäre niemandem aufgefallen, dass Grand Moff Tarkin gar nicht da ist. Doch der Ehrgeiz, das perfekt hinzukriegen, war stärker. Und so sind die Programmierer bei Disney der Versuchung erlegen, den Weg dafür zu ebnen, dass Hollywood sich künftig radikal verändern könnte. Inzwischen soll es in Hollywood eine ganze Armada berühmter Schauspieler geben, die sich und ihren Körper bis ins kleinste Details digital erfassen lassen, damit mit diesen Daten auch nach ihrem Ableben noch Geld gemacht werden kann. REALITÄT DES DIGITALEN STARS
Robin Williams soll kurz vor seinem Freitod verfügt haben, dass die Rechte an seinem Namen, seinem Aussehen, seiner Unterschrift und seinen Fotos bis 2039 geschützt vor derlei Spleens bleibt. Er wusste schon, wohin Hollywood steuert. Der digitale Schauspieler, der auf einer realen Vorlage basiert, wird also Realität, bringt aber auch ungeklärte Fragen mit sich: Wer hat die Rechte an den neu kreierten Bildern? Das Studio oder die Nachkommen? Bezahlt man dem digitalen Schauspieler eine fette Gage oder lässt er sich mit dem Kollektivvertrag abspeisen? Und: Inwieweit lässt sich ein Mensch, oder zumindest sein Aussehen, als Marke schützen?
Die neue Technik ist eine Entwicklung wider das Starprinzip, auf dem Hollywood fußt. Denn die Traumfabrik hat sich zwar immer wieder und ganz ungeniert selbst reproduziert, indem man Remakes, Sequels und Neuverfilmungen der immer gleichen Stoffe produziert hat. Doch bei den Stars war Schluss, und wer welche Figur spielte, wurde imagetechnisch stark abgewogen. Getreu dem Spruch „Willst du was gelten, mache dich selten“ war es auch nicht so ohne weiteres möglich, einen Top-Star in einem B- oder C-Movie zu casten. Es sei denn, er war am absteigenden Ast. Das Prinzip lautete: Es ist gut, was nur begrenzt und verknappt verfügbar ist. Das macht Hollywood und den Mythos aus und erhöht das Verlangen danach. Die plötzliche Beliebigkeit der Besetzung wäre zunächst ein Schauwert - und bald schon eine fade Farce. Andererseits: Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis dann die wirklich interessanten Remakes auf den Markt kämen. Nämlich die Rollen, die zu Ikonen der (US-) Filmgeschichte wurden, für die aber seinerzeit auch andere Schauspieler in Betracht kamen: Paul Newman sollte gleich in zwei der drei berühmten Filme von James Dean dessen Hauptrolle spielen, das hätte die Filmgeschichte umgeschrieben. Genau wie Jack Nicholson, der statt Marlon Brando der „Pate“ sein sollte. Man könnte Pamela Anderson endlich wie ursprünglich geplant die Dana Scully in „Akte X“ spielen lassen, digital verjüngt und auf Gillian Anderson aufprojiziert. Außerdem könnte bald auch ein neuer Film mit Liz Taylor und Richard Burton anlaufen, vielleicht eine harmonische Geschichte zweier Liebender, in der nicht die Fetzen fliegen. MATTHIAS GREULING
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filmkritik MANCHESTER BY THE SEA
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„Manchester by the Sea“ ist ein famos gespieltes Drama um Schuld und Vergebung.
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r ist vielleicht der unsichtbarste Held der Filmgeschichte, wie er da den Schnee wegschaufelt, wie er defekte Klospülungen und Glühbirnenfassungen tauscht und repariert, und sich auch bei Gegenwind, wenn ihm die Schuld für etwas gegeben wird, nicht wirklich erregen lässt. Es ist so, als ob Lee (Casey Affleck) am liebsten unsichtbar wäre, für seine Umwelt, aber auch für sich, so schwer wiegt der Schicksalsschlag, der ihm widerfahren ist; es ist schon lange her, aber es hat Spuren hinterlassen, die ihn und seine damalige Frau Randi (Michelle Williams) nicht nur auseinandergebracht, sondern zu zwei füreinander Fremde gemacht haben. Irgendwann muss der ganze Schmerz aus ihnen herausbrechen, das ist sicher, und es wird kalt sein. Kälte ist in diesem Film allgegenwärtig. Dort, im Nordosten der USA, am Meer, liegt das Fischerstädtchen Manchester-by-the-Sea. Es gibt zerklüftete Küsten, Fischkutter, Seemöwen. Die Menschen tragen diese karierten Holzfällerhemden unter ihren Steppjacken. Man spricht nicht viel, nur was nötig ist, vor allem unter Männern. Ein Umfeld, in dem Lee aufgewachsen ist. Und in dem man sich mit Alkohol und Drogen auch mal über den Alltag hinweghilft. Das kann dramatische Folgen haben. Lee, die Hauptfigur in diesem in Rhythmus und Stil famos reduziert erzählten Drama „Manchester by the Sea“ von Kenneth Lonergan, ist ein Mensch in der Krise, der Unausstehliches, Fürchterliches erlebt hat, sich aber seiner Familie gegenüber so stark ver40
pflichtet fühlt, dass es ihm nicht gelingt, vor dem Leben davonzulaufen. Das, was Lee einst widerfahren ist, muss sich der Zuschauer in Lonergans Film selbst erarbeiten. Erst nach und nach und in bedächtiger Manier legt der Regisseur frei, welches einschneidende Erlebnis Lee ein für alle Mal vom Leben hat Abstand nehmen lassen, denn seither nimmt er daran nur peripher teil; er lässt es mehr an sich vorbeiziehen, in der Hoffnung, es bemerke nicht, dass er noch da ist.
beginnt die Erzählung mit dem Tod des Bruders (Kyle Chandler) seines Protagonisten, der Lee von seinem Fluchtpunkt Boston zurück nach Manchester führt, weil er sich fortan um dessen halbwüchsigen Sohn (Lucas Hedges) kümmern soll. Für Lee ein Kraftakt gegen seine selbstgewählte Anonymität, die ihn in Boston so gut hat untertauchen lassen im eigenen Seelendreck. Obwohl Lonergan schon in seinem selbst verfassten Script all seinen Figuren viel Detailreichtum und Präsenz gewährt, bleibt ausgerechnet der „unsichtbare“ Lee in seiner stoischen Trauerbewältigung am eindringlichsten in Erinnerung. Kaum jemand hat zuvor auf der Kinoleinwand ein Trauma besser sichtbar gemacht als Casey Affleck. Die Oscar-Jury wird wohl nicht an ihm vorbeikommen. Darüber hinaus ist es Lonergan zu verdanken, dass es in „Manchester by the Sea“ immer authentisch zugeht und sich nichts an gängiger Tränendramaturgie orientiert. Stattdessen entscheidet sich Lonergan für die Ruhe, die die Aufgewühltheit in Lees Leben bedeckt. Es ist ein bisschen wie eine Schneedecke, die sich über einen Landstrich legt und vorübergehend alles ganz still werden lässt, bis das Tauwetter einsetzt.
Ein Schicksal, erzählt mit langsamem Duktus, aber niemals auch nur annähernd in der Nähe von Kitsch oder aufgesetzter Rührseligkeit: Lonergan CELLULOID FILMMAGAZIN
MATTHIAS GREULING
MANCHESTER BY THE SEA USA 2016. Regie: Kenneth Lonergan. Mit Casey Affleck, Michelle Williams. FILMSTART: bereits gestartet
VERBORGENE SCHÖNHEIT
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Warner
Regisseur David Frankel und Drehbuchautor Allan Loeb eine moralisch fragwürdige Erbauungsmär, der auch die Starbesetzung nicht mehr helfen kann.
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ine beachtliche Darstellerriege ist kein Garant für einen sehenswerten Film! Das beweist etwa der komödiantische Rohrkrepierer „The Big Wedding“, in dem sich mit Robert De Niro, Diane Keaton, Susan Sarandon und Robin Williams gleich vier Oscar-Preisträger die Ehre geben. Fähige Schauspieler, aber nur wenig Qualität bietet auch das esoterische Rührstück „Verborgene Schönheit“, das ergreifende Themen – den Schmerz nach dem Verlust eines Kindes und die damit einhergehende Trauerbewältigung – für eine haarsträubende Geschichte missbraucht. Will Smith spielt hier den Werbeunternehmer Howard, der in der ersten Szene noch als enthusiastischer Macher in Erscheinung tritt. Ein Mann, dem seine Belegschaft an den Lippen hängt. Mit einem Schnitt springen wir drei Jahre weiter und stehen plötzlich einem angegrauten, in sich zusammen gesunkenen Howard gegenüber, den – so erfahren wir etwas später – der Tod seiner Tochter aus der Bahn geworfen hat. Die Firma sucht er noch immer auf, widmet sich dort aber bloß der Konstruktion ausgeklügelter Dominosteingebilde, die er regelmäßig in sich zusammenstür-
zen lässt. Seine Geschäftspartner Whit (Edward Norton), Claire (Kate Winslet) und Simon (Michael Peña) sorgen sich um seinen Zustand und die Zukunft des angeschlagenen Unternehmens, dessen Verkauf der depressive Howard als größter Anteilseigner blockiert. Als sie durch eine Privatdetektivin erfahren, dass ihr Kollege in seiner Trauer Briefe an die Liebe, die Zeit und den Tod schreibt, schmieden sie einen Plan, um seine Unzurechnungsfähigkeit beweisen und ihm seine Entscheidungsgewalt entziehen zu können: Die Schauspieler Aimee (Keira Knightley), Raffi (Jacob Latimore) und Brigitte (Helen Mirren) sollen als Verkörperungen der drei abstrakten Konzepte mit Howard ins Gespräch kommen, während die Detektivin die Begegnungen filmt, um die Darsteller anschließend digital aus dem Material zu entfernen. KEIN MITGEFÜHL Ausgehend von dieser abenteuerlichen, um nicht zu sagen dämlichen Prämisse stricken Regisseur David Frankel und Drehbuchautor Allan Loeb eine moralisch fragwürdige Erbauungsmär, die kein bisschen Mitgefühl erzeugt. Will Smith macht CINEMA FOREVER!
die meiste Zeit ein grimmiges Gesicht, bleibt als trauernder Vater allerdings ein Abziehbild. Nebenfiguren bekommen fadenscheinige Hintergründe angeheftet. Und ständig hebt der Film zu großen alltagsphilosophischen Diskursen ab, landet jedoch bloß bei banalen Kalendersprüchen. Erträglich ist das Ganze nur dann, wenn Helen Mirren mit ihrem ruppigen Charme die Bühne entert, wobei sich in diesen Momenten die Frage stellt, warum die britische Charaktermimin einen solchen Kitschausflug unternimmt. Am Ende wartet das Möchtegern-Drama noch mit zwei lächerlichen Überraschungen auf, die den Zuschauer berühren sollen, tatsächlich aber eine andere Reaktion hervorrufen: ungläubiges Kopfschütteln. Wo genau die angekündigte „verborgene Schönheit“ liegt, bleibt wohl für immer das Geheimnis der Verantwortlichen. CHRISTOPHER DIEKHAUS
VERBORGENE SCHÖNHEIT USA 2016. Regie: David Frankel. Mit Will Smith, Keira Knightley, Kate Winslet. FILMSTART: bereits gestartet 41
PERSONAL SHOPPER
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Filmladen
Kristin Stewart brilliert als ruheloses Medium in einer unausgereiften Poltergeist-Variante für die Smartphone-Generation.
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s gibt Filmemacher, bei denen liest man den Namen und weiß genau, was man bekommt. Und dann gibt es solche wie Olivier Assayas. Der unberechenbare Franzose überrascht mit jedem Werk aufs Neue, inszeniert irgendwo zwischen Genreverspieltheit und Autorenkino seine mal abenteuerlichen, mal persönlich kleinen Visionen, deren freigeistige Erzählansätze sich gegen jede Einordnung wehren. Auch sein neuestes, übernatürliches Leinwandwerk weiß zu überraschen; leider im negativen Sinne. Bereits 2016 wurde „Personal Shopper“ im Wettbewerb von Cannes mit dem Regiepreis bedacht – eine von mehreren fragwürdigen Juryentscheidungen der letztjährigen Festivalsaison. Denn gerade Assayas’ sprunghafte Inszenierung zeigt die Schattenseite dieses seltsam unausgewogenen Geisterdramas, über dessen Gesamtdauer sich nie so recht eine Atmosphäre einstellen will. Der einzige Lichtblick in der finsteren Spukgeschichte heißt Kristin Stewart, die sich mit nacktem Leib und entblößter Seele endgültig vom „Twilight“-Image frei spielt und nach „Clouds of Sils Maria“ erneut beweist, 42
zu welch uneitlem, natürlichem Spiel sie fähig ist. In Assayas’ Vorgängerfilm durfte sie noch mit Juliette Binoche im Duett brillieren, in „Personal Shopper“ agiert sie lange Zeit allein auf weiter Flur – und muss dabei eine Erzählung tragen, deren diffuse Thesenhaftigkeit kaum fassbar scheint: Die ziellose Maureen (Kristin Stewart), die als Shoppingaushilfe für ein ultrareiches Albtraumstarlet jobbt, besucht in Paris das leere Haus ihres kürzlich verstorbenen Bruders Lewis, voll Hoffnung, ihn dort anzutreffen. Denn Maureen glaubt fest daran, ein Medium zu sein, das Verbindung zum Jenseits herstellen kann. Sie wartet auf ein Zeichen, eine letzte Aussage; und das Publikum wartet mit ihr. GESPENSTISCH LEER Regisseur Assayas macht es dem gewillten Betrachter leider unnötig schwer, sich in die unheimliche Gefühlswelt seiner übersinnlichen Protagonistin einzufühlen, die preisgekrönte Mis en scène erscheint immer wieder gespenstisch leer, die Bildlösungen wirken allzu oft beliebig. Wenn überhaupt etwas erschreckend ausfällt an diesem modernistischen PoltergeistPotpourri, dann ist es die Banalität, mit CELLULOID FILMMAGAZIN
der Assayas das Seelenleben Maureens bebildert – stockfinstere, knarrende Korridore, ein rinnender Wasserhahn, fliegende Gläser und nicht enden wollende Textkaskaden am dauerpräsenten Smartphone-Display, das sind die visuellen Tiefpunkte einer missglückten Geisterjagd. Hinzu kommen unmotivierte, trashige Nebelprojektionen aus der Nachwelt, die aussehen, als hätte sich ein desorientierter Asienhorror in dem Film verlaufen. Die wenigen, wirklich interessanten Ansätze in „Personal Shopper“ – eine Huldigung der vergessenen Kunstpionierin Hilma af Klint (natürlich am Smartphone) oder Maureens ausgeprägtes Zeichentalent – sie wirken wie zufällig eingestreut und werden niemals weiter vertieft. Was bleibt, ist viel narrative Willkür, eine aufgesetzte Schlusspointe und die begeisternde Kristin Stewart, die einen besseren Film verdient hätte. CONSTANTIN SCHWAB PERSONAL SHOPPER F 2016. Regie: Olivier Assayas Mit Kristen Stewart, Lars Eidinger, Sigrid Bouaziz FILMSTART: 27.01.2017
DAS UNBEKANNTE MÄDCHEN
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polyfilm
Eine junge Ärztin begibt sich auf Spurensuche eines tot aufgefundenen Mädchens. Was dabei herauskommt, ist ein unrunder Mix aus Kriminalgeschichte und Gesellschaftskritik.
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enny Davin ist praktische Ärztin aus Leidenschaft. Rund um die Uhr steht sie ihren zahlreichen Patienten zur Verfügung, hat stets ein offenes Ohr für das eine oder andere private Problemchen, vor allem aber ist sie eine tolle Diagnostikerin. Hausbesuche stehen bei ihr an der Tagesordnung, was ihr von den Patienten mit selbstgemachten Keksen oder auch schon mal mit einem für sie komponierten Liedchen gedankt wird. Sogar einen besser bezahlten und prestige-trächtigeren Job lehnt sie ab, weil sie all die Menschen, die ihr vertrauen, nicht im Stich lassen möchte. Als es eines Abends eine Stunde nach Dienstschluss an ihrer Praxistür läutet, öffnet Jenny gegen ihre Gewohnheiten nicht – vor allem deshalb, um vor ihrem Praktikanten Julien als strengere Lehrerin dazustehen, als sie eigentlich ist. Der Junge soll lernen, was sie selbst nicht befolgt: Feierabend ist nun mal Feierabend! Am nächsten Tag wird sie von der örtlichen Polizei kontaktiert: Eine junge Frau wurde unweit ihrer Praxis tot aufgefunden. Die Aufnahmen der Überwachungskamera zeigen: Es ist genau jene, die am Abend zuvor bei Jenny geklingelt hat. Von Schuldgefühlen
geplagt, beginnt die Ärztin, auf eigene Faust Ermittlungen anzustellen ... So ganz können sich die Regisseure und zweifachen Goldene Palme-Gewinner Jean-Pierre und Luc Dardenne nicht entscheiden, wohin sie mit „Das unbekannte Mädchen“ wollen: Kriminalgeschichte oder doch ein stilles, sensibles Porträt einer jungen Frau, die voll und ganz in ihrem Job aufgeht? Am Ende ist der Streifen ein bisschen was von beidem geworden, was prinzipiell nichts Verwerfliches ist, aber doch ein etwas unrundes Bild ergibt. PATIENTEN VOLLER GEHEIMNISSE Fast wirkt der Mordfall rund um die junge Afroamerikanerin wie ein McGuffin, der vor allem dafür da zu sein scheint, um größere und kleinere Geheimnisse von Jennys Patienten aufzudecken – denn genau auf diese stößt die Ärztin bei ihren Ermittlungen. Ein bisschen zu schnell ist Jenny emotional in den Fall involviert, ihre Motivation ist nicht immer nachvollziehbar (Schuldgefühle hin oder her). Trotz des für die Dardennes so typischen Realismus (der nüchterne Arztalltag im Film ist meilenwert vom sexy und actionreichen Medizin-Drama CINEMA FOREVER!
a la „Grey’s Anatomy“ entfernt) tappt „Das unbekannte Mädchen“ ebenso in die ärgerliche Klischeefalle wie so viele andere Filme auch: Innerhalb kürzester Zeit gelingt es Ärztin Jenny, mehr Infos rund um den Mordfall an Land zu ziehen wie die Polizei selbst. Weil Detektivarbeit, das kann schließlich jeder! Und auch, dass sie bei ihren Ermittlungen auf ihr medizinisches Wissen zurückgreift (schneller Puls als Lügendetektor, Rückenschmerz als Symptom eines schlechten Gewissens) ist zwar eine nette Idee, aber etwas zu dick aufgetragen. Nach zwei Stunden Hausbesuchen, „Tatort“-artigen Zeugenbefragungen und bemüht unterschiedlichster sozialer Hintergründe der Patienten kommt die Auflösung zu konstruiert und beliebig daher. Dafür gibt es am Ende einen der jetzt schon schönsten Sätze des jungen Filmjahres: „Wäre sie tot, würden wir nicht ständig an sie denken.“ Mehr Tiefe dieser Art hätte dem Film gutgetan. MANUEL SIMBÜRGER DAS UNBEKANNTE MÄDCHEN F/B 2016. Regie: Jean-Pierre & Luc Dardenne. Mit Adèle Haenel, Olivier Bonnaud, Jérémie Renner FILMSTART: 10.02.2017 43
EMPÖRUNG
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Polyfilm
„Empörung“ ist ein Film zwischen Schlachtbank und Schlachtfeld.
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lut zieht sich als Leitmotiv durch Philip Roths Roman „Empörung“ aus dem Jahr 2008, in dem es um einen jüdischen Metzgerssohn in den 50er Jahren auf seinem Weg zum Erwachsenwerden geht. Es ist nicht Roths bekanntester Roman, doch es finden sich Ähnlichkeiten zwischen dem Leben des Hauptprotagonisten und des Autors; beide wuchsen in Newark auf, gingen auf ein geisteswissenschaftliches College und erlebten eine ungewisse Zeit, in der junge, unerfahrene Männer als Kanonenfutter in den Korea-Krieg geschickt wurden. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war eine ungewisse und die sexuelle Revolution noch weit entfernt. Während der letzten Jahre hat der preisgekrönte Produzent („Brokeback Mountain“) und Drehbuchautor („Tiger & Dragon“) James Schamus bereits am Drehbuch gearbeitet und entschied sich dafür, erstmals die Regie zu übernehmen. Marcus Messner (Logan Lerman), Spross des koscheren Metzgers in Newark, flüchtet 1951 vor der Schlachtbank und dem Einzug in den KoreaKrieg. Er besucht das Winesburg 44
College in Ohio in der Hoffnung, einem grausamen Tod in Korea zu entgehen. Der stille, ehrgeizige Student verbringt seine Zeit lernend oder arbeitend. Soziale Kontakte meidet er, interessiert sich jedoch für die hübsche Kommilitonin Olivia Hutton (Sarah Gadon), die ihm zu seinen ersten sexuellen Erfahrungen verhilft. Die Liebe zur jungen Frau, die schon versucht hat sich das Leben zu nehmen und dem Alkohol zugeneigt war, scheint Marcus aus dem Gleichgewicht zu bringen. REGELN UND VERBOTE Und doch kämpft er verbissen um seinen Freiraum. Grandios anzusehen ist der lange Dialog zwischen dem erzkonservativen Dean Caudwell (Tracy Letts) und Marcus, als dieser wegen seines Umzugs in ein anderes Zimmer ins Rektorat gerufen wird. Verbaler Angriff und Verteidigung, ein Schlagabtausch zwischen dem versierten, traditionsbewussten Dekan und dem ruhigen aber angriffslustigen und stolzen Studierenden. Wie Marcus von mehreren Seiten gesagt wird, hätte er ein leichtes Spiel am College, würde er nur die Regeln und Verbote einhalten. Doch dem bekennenden Atheisten CELLULOID FILMMAGAZIN
sind die christlichen Messen mit Anwesenheitspflicht ein Gräuel, und auch kann er dem sozialen Leben auf dem Campus nichts abgewinnen. Wunderbar anzusehen ist die schauspielerische Leistung Lermans, bekannt aus Hollywood-Streifen (Percy Jackson), aber auch Independentfilmen wie „Vielleicht lieber morgen“. Glaubhaft verkörpert er den jungen, zielstrebigen Metzgerssohn, der Tolpatschigkeit, Verwirrung und Unsicherheiten authentisch auf die Leinwand bringt. Seinen Gegenpart, Tracy Letts (PulitzerpreisTräger und Tony Award Gewinner), ist perfekt besetzt. 111 Minuten kann das Publikum Messners Weg ins Verderben beobachten. Und obwohl der intelligente Trotzkopf seine Handlungen und Taten genau abwägen kann, führt jede Entscheidung, die Marcus trifft, ihn in immer größere Bedrängnis. Und so endet es, wie es angefangen hat, blutig.
TERESA LOSONC
EMPÖRUNG USA 2016. Regie: James Schamus. Mit Logan Lerman, Sarah Gadon, Tracy Letts. FILMSTART: 17.02.2017
DIE FEINE GESELLSCHAFT
uvlmn
Thimfilm
Pittoreske Landschaftsbilder und viele lästige Gestalten tummeln sich in einem Sittenklamauk ohne Pointen.
Oh, wie schön ist doch die Normandie im Sommer! Wie einladend und pittoresk die schlammigen Küstenzungen und existenzbedrohten Muschelsammler. So authentisch! So denkt die französische „feine Gesellschaft“ anno 1910 und pilgert alljährlich in das erhöhte Landhaus, um genussvoll schwelgend auf die armen Arbeiterfamilien hinabzublicken. Von der hochmodernen Villa (deren Fassade nur zufällig einem Betonbunker ähnelt) ergibt sich ja doch die schönste Aussicht auf den kargen Muschelstrand und das malerische Schiffswrack, deren Besatzung fehlt. Aber meine Güte, sagt die sorglose Oberschicht, Menschen verschwinden eben, haben sie doch immer getan. DICK UND DOOF Wenn allerdings ein paar feine Damen und Herren aus Calais verschwinden, sollte schon ermittelt werden. Da sollte schon ein inkompetentes „Dick und Doof “-Duo in die Normandie geschickt werden, um der seltsamen Sache nachzugehen. Oder, bei der aufgeblähten Konstitution des Kommissars, eher nachzurollen, nachzuliegen oder nachzufahren. Und tatsächlich führt die einzige, malerische
Küstenstraße auch direkt zur Familie Muschelsammler, die am sommertouristischen Menschenschwund wohl nicht ganz unschuldig sein wird. Mögliche Beweise dafür werden allerdings brav aufgegessen, auch vom ältesten Muschelsammlersohn (Brandon Lavieville), der den drolligen Originaltitel einlöst und im Familienkreis nur „Ma Loute“ gerufen wird. Der Lümmel. Und weil der Lümmel gerade im gefühlsverwirrten Alter steckt, verliebt er sich nebenbei noch in Billie (eine Entdeckung: Raph), die kesse Tochter der feinen Gesellschaft, die sich aus Trotz schon mal als Junge verkleidet. Und obwohl die beiden unerfahrenen Jungschauspieler hierbei debütieren, sorgen sie Hand in Hand dafür, dass Bruno Dumonts Komödienklamauk nicht sofort in der Belanglosigkeit versinkt. Denn so komisch das Geschehen auch klingen mag, lustig ist es nicht. Allzu schnell bleibt die albern-morbide Farce im faden Küstensand stecken, allzu erfolglos hält der Blick am Horizont nach einer ersehnten Pointe Ausschau. Natürlich, schön und malerisch sind all diese satten Sittenbilder schon, makellos eingefangen von Kamera-Ästhet CINEMA FOREVER!
Guillaume Deffontaines, keine Frage, nur fehlt es Dumonts cineastischer Opéra comique an jeglichem Schwung und komödiantischen Feingefühl. Für Dynamik sorgt in der Normandie nur die nächste Windböe, die schlecht getimten Dialoge dagegen brüllen statisch und ziellos vor sich hin, die Schauspielführung verwundert und selbst eine Juliette Binoche wird im ungebremsten, aber angestrengten Schrei-, Schluchzund Lamentiermodus bald zur lästigen Qual, der man eins mit dem Paddel wünscht. Apropos Gewalt, da gibt es auch reichlich an der Küste, so wirklich zu interessieren scheint das aber niemanden. Da hat die Polizei nur mit sich selbst zu kämpfen, die Oberschichtler mit dem Schein der Idylle und das Drehbuch mit halbgaren Ideen. Weder Fisch, noch Fleisch, erkennt der korpulente Polizeikoloss an einer Stelle im Film. Und hat die Lage damit ausnahmsweise einmal richtig erkannt. CONSTANTIN SCHWAB DIE FEINE GESELLSCHAFT F/D 2016. Regie: Bruno Dumont. Mit Fabrice Luchini, Juliette Binoche, Valeria Bruni Tedeschi . FILMSTART: 03.02.2017 45
THE GIRL WITH ALL THE GIFTS
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Constantin
Der Zombiefilm bietet bedrückend-einprägsame Bilder, die recht überzeugend den Zusammenbruch der Zivilisation illustrieren.
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ombies, wohin man schaut. Spätestens seit dem Erfolg der Fernsehserie „The Walking Dead“ stapfen seelenlose Menschen und hungrige Untote so häufig wie selten zuvor durch Bücher, Filme und TV-Produktionen. Sein Publikum verstören will nun auch die Romanadaption „The Girl with All the Gifts“, die durchaus diverse Genre-Konventionen bedient, aus der Masse an Zombie-Werken aber heraussticht. Beleg dafür ist schon der beklemmend-nervenzehrende Einstieg, der den Betrachter, begleitet von einer treibend-unheimlichen Tonspur, in ein mysteriöses Bedrohungsszenario hineinschleudert: Im Inneren einer kargen Bunkeranlage werden Kinder allmorgendlich von schwer bewaffneten Soldaten an Rollstühlen fixiert, in Hannibal-Lecter-artige Gesichtsmasken gezwängt und zum Unterricht gekarrt. Die Uniformierten halten Abstand und haben Respekt vor den unschuldig dreinschauenden Jungen und Mädchen. Warum, erfahren wir erst mit etwas Verzögerung. Ein Pilzvirus hat die Welt in ein postapokalyptisches Schlachtfeld verwandelt, beraubt die Menschen ihres freien Willens und
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macht sie zu animalischen Killern, sogenannten Hungries. Auf den atmosphärisch dichten Auftakt, der sich ausschließlich in der Enge der Militärbasis abspielt, folgt ein Angriff durch eine Horde Infizierter, den Regisseur Colm McCarthy als echten Schockmoment inszeniert. Taumelnde Bilder machen die losbrechende Panik greifbar. Und wie so oft im ZombieGenre wird im Angesicht der Katastrophe eine Schicksalsgemeinschaft geboren. Im Mittelpunkt steht hier allerdings das titelgebende Mädchen. Die intelligente Melanie (Sennia Nanua) gehört zu einer Gruppe von Kindern, die den Virus in sich tragen, ihre Denkfähigkeit aber nicht verloren haben, weshalb die Wissenschaftlerin Dr. Caldwell (charismatisch: Glenn Close) Experimente an ihnen durchführt. Die Hoffnung auf ein Heilmittel hat sie noch nicht begraben. Komplettiert wird der Fluchttrupp durch Melanies einfühlsame Lehrerin Helen Justineau (Gemma Arterton), Sergeant Eddie Parks (Paddy Considine) und zwei weitere Soldaten. Nach der klaustrophobischen Exposition bewegen wir uns gemeinsam mit den Überlebenden durch eine verheerte CELLULOID FILMMAGAZIN
Landschaft mit menschenleeren Straßen, verfallenen Gebäuden und wild wuchernden Pflanzen. Bedrückendeinprägsame Bilder, die recht überzeugend den Zusammenbruch der Zivilisation illustrieren. Erzählerisch tritt der Film im Folgenden manchmal ein wenig auf der Stelle. Das Interesse am Geschehen verliert man jedoch nicht, da Newcomerin Sennia Nanua die ambivalente Zeichnung ihrer Figur mit erstaunlicher Intensität vermittelt und die Macher – vor allem in den Gesprächen zwischen Melanie und Dr. Caldwell – einige spannende moralische Fragen aufwerfen. Das Drehbuch, das aus der Feder von Vorlagenautor Mike Carey stammt, bereitet damit den Boden für eine fulminante Schlusspointe, die Schrecken und Hoffnung auf erinnerungswürdige Weise verbindet. Viel mehr kann man von einem ZombieThriller eigentlich nicht erwarten.
CHRISTOPHER DIEKHAUS
THE GIRL WITH ALL THE GIFTS USA/GB 2016. Regie: Colm McCarthy. Mit Gemma Arterton, Glenn Close, Paddy Considine. FILMSTART: 10.02.2017
SUBURRA
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Thimfilm
In „Suburra“ ist Rom kein strahlender Touristenmagnet, sondern das Zentrum einer verruchten Gesellschaft.
U
nnachgiebig prasselt der Regen auf die Ewige Stadt am Tiber nieder, die sich in Stefano Sollimas Romanadaption „Suburra“ als gefährlicher Sündenpfuhl präsentiert. Rom ist hier kein strahlender Touristenmagnet, sondern das Zentrum einer verruchten Gesellschaft, die geradewegs auf eine Katastrophe zusteuert. Sieben Tage ist die Apokalypse noch entfernt, klärt uns eine Texttafel am Anfang auf und läutet damit einen Countdown ein, in dessen Verlauf unterschiedliche Ereignisse auf unheilvolle Weise zusammenfließen: Der Rücktritt des Ministerpräsidenten, die Abdankung des amtierenden Papstes und das Ringen um ein lukratives Bauprojekt, das von einflussreichen Mafia-Familien forciert wird. Auf den Weg bringen soll den Deal der Abgeordnete Filippo Malgradi (Pierfrancesco Favino), der nach einer drogengeschwängerten Nacht vor einer weiteren Herausforderung steht. Als bei seinem ausschweifenden Treiben eine Minderjährige an einer Überdosis stirbt, lässt der Politiker ihre Leiche kurzerhand von einer Prostituierten seines Vertrauens und ihrem Bekannten entsorgen, der einem gefürchteten Roma-
Clan angehört und nicht davor zurückschreckt, Malgradi zu erpressen. In die Enge getrieben, trägt der Parlamentarier dem temperamentvollen Gangster Aureliano (Alessandro Borghi) auf, den Mitwisser einzuschüchtern. Doch wenig später ist der Erpresser tot und Familienoberhaupt Manfredi Anacleti (Adamo Dionisi) fest entschlossen, mit Hilfe des gut vernetzten Party-Organisators Sebastiano (Elio Germano) den Schuldigen zu finden. Da eine Gewalteskalation die Durchsetzung des Bauvorhabens gefährdet, will ein mächtiger Mafioso, den alle nur „Samurai“ (Claudio Amendola) nennen, die Wogen fürs Erste glätten. UMFANGREICHES ENSEMBLE Bis man sich in der Welt von „Suburra“ zurechtgefunden hat, kann es ein wenig dauern. Schließlich bringt Sollima ein umfangreiches Figurenensemble in Stellung und entrollt diverse Handlungsfäden, deren Berührungspunkte erst nach und nach offensichtlich werden. PolitikBetrieb, Kirche und organisierte Verbrecher-Banden sind verbunden durch ein Geflecht an Interessen, wobei sich spannende Abstufungen auftun. WähCINEMA FOREVER!
rend „Samurai“ Kontakte in höchste Kreise hat und Menschen wie Malgradi ohne Schwierigkeiten für seine Pläne einspannen kann, sind die als Zigeuner beschimpften Anacletis bislang noch abgeschnitten vom großen Kuchen. Paolo Carneras Kamera dringt tief in den Mikrokosmos der italienischen Hauptstadt ein, was zur Folge hat, dass ihre Wahrzeichen nur selten in den Blick geraten. Charakteristisch für das düster-brodelnde, zunehmend sogartige Geschehen sind Nachtclubs, die von Neonlichtern durchzuckt werden, unscheinbare Lokale und weniger glanzvolle Ecken wie der am Meer gelegene Stadtteil Ostia. Orte, auf die schon der Titel anspielt. Stand der Name Suburra in der Antike doch für ein berüchtigtes römisches Vergnügungsviertel, in dem Arme und Reiche aufeinandertrafen. Nicht zuletzt, um dunkle Geschäfte und Komplotte einzufädeln. CHRISTOPHER DIEKHAUS SUBURRA I/F 2016. Regie: Stefano Sollima. Mit Pierfrancesco Favino, Elio Germano, Claudio Amendola. FILMSTART: 03.02.2017 47
Österreichisches Filmmuseum
NEWS & EVENTS "Platinum Blonde" (1931) von Frank Capra
Die Filmmuseum-Schau „Lubitsch, Sternberg & Co.“ (10.2. bis 9.3. 2017) befasst sich mit der fruchtbaren Zeit der Jahre 1930 bis 1934 – bevor in Hollywood die Zensur das Sagen hatte.
SIE WAREN EINST DIE
JUNGEN WILDEN E
s war die Zeit der unabhängigen Filmemacher, der Rebellen und Helden Hollywoods – ehe in den großen Studios rigide Zensurmethoden eingeführt wurden: Die „turbulent thirties“ der amerikanischen Filmindustrie. Jener künstlerisch schonungslosen, frechen und turbulenten Phase der Jahre 1930 bis 1934 widmet das Österreichische Filmmuseum seine erste große Retrospektive des neuen Jahres. „Lubitsch, Sternberg & Co. – Filmautoren in Hollywood, 1930-34“ findet von 10. Februar bis 9. März, mit Unterstützung der Wiener U.S. Embassy, statt. In der so genannten Pre-Code-Ära feierten die alten Stars der Stummfilmära, und neue aufstrebende Talente die große cineastische Freiheit mit Wer48
ken, die bis heute Bestand haben und sich nicht nur durch unkonventionelle Inhalte sondern auch durch schnoddrige Sprache und ungewöhnliche Dramaturgie auszeichneten. Themen wie Sexualität und Kriminalität wurden in dieser Phase besonders offen und schonungslos behandelt, verlangten die enttäuschten und frustrierten Kinogänger der Weltwirtschaftskrise doch nach unterhaltenden und anregenden Stoffen, in denen zugleich auch die großen wirtschaftlichen und sozialen Nöte und Sorgen der Bevölkerung widergespiegelt wurden. Berühmte Schauspielerinnen wie Marlene Dietrich, Jean Harlow und Mae West glänzten vor allem in erotisch-frechen Filmen, während ihre männlichen CELLULOID FILMMAGAZIN
Kollegen wie Clark Gable und James Cagney als tragische und gebrochene Helden in Krimis und Gangsterdramen Erfolge feierten. Hinzu kam die Erfindung des Tons, der den Film in eine neue Zeitrechnung führte, für manche Stars der Stummfilm-Ära das Ende und für neue Künstler Ruhm versprach. Bis dann im Jahr 1934 schließlich der Hays Codes eingeführt wurde: Die gesetzliche Regelung verlangte einen besonders strikten Umgang mit Gewalt und Erotik und schränkte viele Drehbuchautoren, Regisseure und Künstler in ihrer Freiheit ein – indem jeder Film von der gestrengen und erzkonservativen Production Code Administration geprüft wurde, ehe er ins Kino kommen durfte. Unter anderem in der Filmmuse-
um-Schau zu sehen: Bis heute wenig bekannte Filmer wie Dorothy Arzner, eine Pionierin des Kinos, und Rowland Brown, der mit nur drei Regiearbeiten Werke von großer Bedeutung schuf, aber auch Arbeiten von Größen wie Josef von Sternberg, der legendären Marlene Dietrich oder Ernst Lubitsch. Das große künstlerische Vorbild von Billy Wilder tobte sich in seinen Arbeiten der frühen Dreißigerjahre mit großer Lust aus: So ist Lubitschs Beziehungskomödie „Trouble in Paradise“ (1932) sein wohl sexuell freizügigster Film. Mit Herbert Marshall, Miriam Hopkins und Kay Francis in den Hauptrollen erzählt der deutschstämmige Filmemacher die Geschichte zweier Diebe, die sich bei einem Coup ineinander verlieben und fortan gemeinsam ihrem kriminellen Gewerbe nachgehen. Es folgen aberwitzige Verwicklungen voller frivoler Anspielungen, die ganz den klassischen Lubitsch-Touch, das gezielte Weglassen in Kombination mit Andeutungen auf Unerhörtes, in sich tragen – so wie auch Lubitschs weitere Werke jener Zeit wie „One Hour With You“ (1932) und „Design for Living“ (1933). Ähnlich freizügig, zugleich aber auch phantastisch-absurd, gestaltet sich Josef
von Sternbergs „The Scarlet Empress“ (1934), der lose auf den Tagebüchern von Katharina der Großen basiert. Marlene Dietrich verkörpert in dem Drama die legendäre Frauenfigur, die als junge, unersättliche Adelige an den russischen Hof kommt und im Zuge zahlreicher Liebes- und Machtspiele zur mächtigen Zarin des Riesenreiches aufsteigt. Vier Jahre zuvor hatte das Erfolgsduo Dietrich/von Sternberg bereits von sich reden gemacht: In „Morocco“ brillierte die Dietrich an der Seite von Gary Cooper als junge Nachtclub-Sängerin Amy Jolly, die bei einem Engagement in Marokko, vom Publikum gefeiert, zum Star wird und zwischen zwei Männern hin und her gerissen ist. GEBURT DER STUDIOS Die Filme der PreCode-Ära Hollywoods sind nicht nur Zeugnisse eine Phase der künstlerischen Freiheit, sie sind auch der Beginn der großen Studios. So ebnete zum Beispiel Frank Capra mit seinen künstlerisch wertvollen und unkonventionellen Werken seinem Stammstudio Columbia den Weg hin zum mächtigen Player in Hollywood, während Marlene Dietrich mit ihrem Lieblingsregisseur von Sternberg Image und Erfolg von Para-
CINEMA FOREVER!
mount, dem „Studio of the Stars“, entscheidend prägte. Zugleich markiert die Pre-Code-Ära auch den Beginn der weiblichen Filmemacher. Dorothy Arzner zum Beispiel, die erste Regisseurin der Traumfabrik, fand in jenen Jahren zu ihrem eindringlichen Stil und hatte zwischen 1930 und 1934 ihre produktivste Phase. Eindeutig von Arzners feministischem Stil geprägt sind etwa „Working Girls“ (1931) und „Merrily We Go To Hell“ (1932). Einer, dem es gelang, zu einem der großen Studios zu wechseln, und dabei dennoch seine künstlerische Unabhängigkeit zu bewahren, ist Frank Borzage. Das romantische Ideal des Regisseurs, der seine Karriere in Hollywood im Jahr 1912 als Schauspieler startete, trat in Wechselwirkung mit Pre-Code-Milieubildern der Weltwirtschaftskrise. Borzage war dabei in New York, mit „Bad Girl“ (1931), ebenso tätig wie in Deutschland mit der Hans Fallada-Verfilmung „Little Man, What Now?“ (1934). Der kurz darauf eingeführte HaysCode behielt übrigens bis in die 1960erJahre hinein seine Macht – erst dann konnten sich die Filmer wieder ihren Freiheiten voll und ganz widmen.
SANDRA WOBRAZEK
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Fotos: DVD-Labels/Verleiher
DVD & BLU-RAY
Kristina Söderbaum, Harlans Gattin, in „Opfergang“ (1944)
Die deutschen Klassiker „Immensee“ und „Opfergang“ sind neu restauriert auf DVD & Blu-ray erschienen.
DIE NEUENTDECKUNG DES
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er Herrscher“ (1937), „Kolberg“ (1945) und natürlich und vor allem „Jud Süß“ (1940) lauten die drei Filmtitel, mit denen sich Veit Harlan einen Namen gemacht hat, der bis heute als Synonym für willfährige Propagandafilme im Zeichen des Nationalsozialismus steht. Und wie ein riesiger Schatten liegt – ähnlich wie bei Leni Riefenstahl – seine Bereitschaft, sich dem Verbrecherregime anzubiedern und sein künstlerischer Handlanger zu sein, über seiner Karriere. Das ist die eine Seite. Auf der anderen zeigt sich Harlan als kompromissloser Künstler, stets auf der Suche nach dem Exaltierten. Seine Filme sind wahrlich „bigger than life“, was nun anhand dieser beiden Veröffentlichungen nachgeprüft werden kann. „Immensee“ (1943) und „Opfergang“ (1944) drehte Harlan parallel zueinander, in strahlendem Agfacolor und mit seiner Ehefrau Kristina Söderbaum und Carl Raddatz in den Hauptrollen. In ihrem melodramatischen Charakter erzählen beide Filme von großen, scheiternden Lieben, ein auf den ersten Blick ganz und gar unpropagandistisches Sujet. In „Immensee“, nach der Novelle von Theodor Storm, sind es Elisabeth und Reinhardt, die gemeinsam in ei50
VEIT HARLAN nem beschaulichen Dorf aufwachsen und verlieben. Reinhardt zieht es nach Hamburg, wo er als Musiker Karriere machen will. Als Elisabeth ihn dort besucht, findet sie nicht nur keinen Zugang zum Leben in der Großstadt, sondern auch eine fremde Frau in seinem Bett. Zurück im heimatlichen Dorf heiratet sie den Gutsbesitzer Erich. Alles scheint sich zu fügen – bis Reinhardt eines Tages zurückkehrt …
SCHWARZE WOLKEN Ebenso in „Opfergang“ wird der Verzicht geradezu zelebriert, die große Liebe nicht ausgelebt. Der reiche und weitgereiste Albrecht heiratet seine etwas zugeknöpfte Cousine Octavia, deren Familie am Wochenende zu Hause lieber Klaviersonaten lauscht, als die Sonne und Natur zu genießen. Eines Tages zieht die lebenslustige Aels ins Nachbarhaus ein – und erweckt Albrechts Neugierde. Octavia akzeptiert die Freundschaft der beiden, doch „in jenem heißen August, da die Cholera in Hamburg herrschte“ brauen sich gar schwarze Wolken über dem Himmel zusammen... „Opfergang“ rangiert auf einer Liste der 100 Besten Filme aller Zeiten, die der „Spiegel“ veröffentlicht hat, auf Platz 6, Christoph Schlingensief drehte CELLULOID FILMMAGAZIN
mit „Mutters Maske“ in den ausklingenden 80er Jahren eine sehr freie Adaption des Films und noch heute ist die Faszination, die Harlans magnum opus auf Filmemacher ausübt gewissermaßen ungebrochen. Dominik Graf, der auch einen Booklet-Text beisteuerte, attestierte dem Film einst eine Kunsthöhe, die seitdem im deutschen Film nie mehr übertroffen wurde: „Ein Melodram hoch zehn, Farbenspiele und so noch nie gesehene Lichtreflexe“. Dass Goebbels auf den Film, der todessehnsüchtig ist wie kaum ein anderer, gar nicht gut zu sprechen war, ihn gar als „unrettbar“ bezeichnete – geschenkt. Klar, in Zeiten des herbeidonnernden Untergangs hätte dieser sich wohl einen anderen Film gewünscht (mit „Kolberg“ hat er ihn ein Jahr später bekommen). Harlan drehte, marginalisiert vom Rest der Filmbranche aber stets publikumswirksam, noch in den 50er Jahren einige herausragende Melos und Abenteuerfilme wie „Hanna Amon“ und „Sterne über Colombo“. Man kann nur hoffen, dass diese Werke bald in ebenso schön restaurierter Form erhältlich sein werden. „Immensee“ und (vor allem) „Opfergang“ sind Pflicht in jeder gut sortierten Filmsammlung!
FLORIAN WIDEGGER
DER MANN, DER KÖNIG SEIN WOLLTE
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erkehre mit einem Fürsten wie mit einem Bruder und mit einem Bettler als Kamerad, vorausgesetzt, dass er es verdient.“ Mit diesem Sinnspruch beginnt die titelstiftende Kurzgeschichte des britischen Autors Rudyard Kipling, der vor allem für sein „Dschungelbuch“ bekannt und beliebt ist. John Huston hat aus „Der Mann, der König sein wollte“ einen kurzweiligen, witzigen und mit atemberaubenden Bildern versehenen Abenteuerfilm alter Schule gemacht. Erzählt wird die Geschichte der beiden furchtlosen Abenteurer Danny Dravot (Sean Connery) und Peachy Carnehan (Michael Caine). Mit kleinen Schmuggelaktivitäten versuchen sie sich in Indien in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts ein sorgenfreies Leben zu machen. Bis sie vom Königreich Karfiristan irgendwo im Norden hören, wo sie sich als Könige einsetzen lassen. Ihr Plan ist es, die dort untereinander verfeindeten Stämme gegeneinander auszuspielen und deren Anführer zu stürzen. Schon auf ihrer Reise über den Himalaya müssen sie zahlreichen Gefahren ins Auge blicken, schließlich kommen sie gerade rechtzeitig in einem Dorf an, wo sie die Bevölkerung nicht nur vor einem feindlichen Überfall retten, sondern in weiterer Folge auch militärisch ausbilden. Bei einem Kampf wird Danny mit einem Pfeil verwundet, dank seiner Rüstung aber nicht verletzt. Als man eine Freimau-
rermedaille an ihm findet, deren Symbol für die Bewohner die Wiederkehr ihres ehemaligen Herrschers Alexanders des Großen bedeutet, ernennen sie Danny kurzerhand zu Gott und König. Er heiratet eine Einheimische (Shakira Caine, Michael Caines Ehefrau) und verlangt von Peachy mit dem gebührenden Respekt behandelt zu werden. Der denkt jedoch nur daran, das Land mit einigen reichen Schätzen so bald wie möglich wieder zu verlassen. Die Männerfreundschaft wird auf eine harte Probe gestellt – und das in einer Gegend, in der man mit den Köpfen besiegter Feinde Polo spielt ... Bereits 1956 plante John Huston die Verfilmung von Kiplings Kurzgeschichte, damals noch in Mexiko und mit Humphrey Bogart und Clark Gable in den Hauptrollen. Es sollte aber knapp 20 Jahre dauern, bis das Projekt mit Connery und Caine Realität wurde – für 1976 wirkt dieser klassische Hollywoodfilm wie aus der Zeit gefallen. Die Außenaufnahmen wurden in Marokko gedreht, für den Himalaya mussten die französischen Alpen herhalten. Dieser kleinen Trickserei zum Trotze macht „Der Mann, der König sein wollte“ selbst heute noch jede Menge her und ist ein Abenteuerfilm
„alter Schule“ - im besten Sinne. Das liegt zum einen am Spiel der beiden Hauptdarsteller, in denen sich sowohl schelmisches Benehmen als auch die Grandezza des Empires perfekt vereinen. Ein beträchtlicher Teil dieser Zusammenarbeit basiert auf Improvisation und der Freude am Experimentieren, wie Caine später in einem Interview erzählte, und diese Freude überträgt sich auf die Zuseher. Es liegt zum anderen an Hustons Inszenierung, in der sich der Pathos der weiten Landschaften und die Fragilität der Kameradschaft die Wage halten. Der Schöpfer amerikanischer Klassiker wie „Die Spur des Falken“, „African Queen“ oder „Moby Dick“ ist nicht nur ein Spezialist für schnörkellos inszenierte große Abenteuer, sondern auch für Männerfiguren, die schweren Prüfungen unterzogen werden und dabei ihre Würde nicht verlieren. Nicht unerwähnt bleiben sollte der fantastische Score von Maurice Jarre, der hin und wieder Anklänge an dessen berühmteste Arbeit „Lawrence von Arabien“ findet. „Der Mann der König sein wollte“ ist perfekte SonntagnachmittagUnterhaltung für Junge und Junggebliebene – und strahlt auf Blu-ray gleich noch mal so herrlich. Nur schade, dass man auf gehaltvolles Bonusmaterial verzichtet hat. FLORIAN WIDEGGER
CHERRY FALLS - SEX ODER STIRB!
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igentlich mutet die Kleinstadt Cherry Falls wie eine Oase an: etwas abgeschieden und verträumt plätschert der Alltag vor sich her, die Kids gehen zur Schule, der Sheriff sorgt für Recht und Ordnung (was vermutlich bedeutet, dass hin und wieder mal eine entlaufene Katze einzufangen ist) – kurzum: das perfekte amerikanische Idyll. Bis eines Nachts ein Mord an zwei Teenagern verübt wird und tags darauf ein weiteres Opfer zu beklagen ist. Was die beiden Morde miteinander verbindet, ist – neben ihrer blutigen Ausführung – eine Signatur, die der Täter den Leichen in die Haut ritzt: „Virgin“ – Jungfrau. Auf ebendiese hat es der Killer abgesehen. Blöd für unsere Heldin Jody (Brittany Murphy), zugleich auch die Tochter des Sheriffs (Michael Biehn), denn sie bezweifelt, dass Langzeitfreund Kenny der Richtige fürs erste Mal ist ... Ein zugegebenermaßen origineller Ansatz, mit dem der australische Regisseur Geoffrey Wright („Romper Stomper“) da versucht, den ausgelutschten Pfaden des Slasher-Kinos Anfang des neuen Jahrtausends frische Impulse einzuhauchen. Teenager sollen erstmals also nicht dafür bestraft werden, dass
sie einem unzüchtigen Lebenswandel frönen und den puritanischen Moralvorstellungen der Erwachsenenwelt nicht entsprechen, sondern genau das Gegenteil ist der Fall: Alle Jungfrauen müssen sterben. Da kann es auch kein Zufall sein, dass das fiktive Städtchen ausgerechnet im Bundesstaat Virginia angesiedelt ist. Aber nicht nur die Grundprämisse des Films macht „Cherry Falls“ zu einem vielleicht nicht herausragenden, aber doch sehenswerten Genrevertreter. Gelungen sind insbesondere die nächtlichen Szenen in den leeren Korridoren auf der High School sowie die Tatsache, dass Schockmomente recht kurz und prägnant, aber nicht penetrant eingesetzt werden. Gegen Schluss kommt dann auch der Humor nicht zu kurz – sobald der Täter enttarnt ist geht es auf einer riesigen Orgie („cherry popping party“), bei der eine überraschend große Zahl vermeintlicher Jungfrauen ihr erstes Mal zelebriert, um dem Beuteschema des Killers, dessen Figur stark an Brian De Palmas „Dressed to Kill“ angelehnt ist, zu entgehen, gar sehr „over the top“ zu. Dem Filmvergnügen schadet dieser Wechsel allerdings nicht, zumal gerade die Hauptdarsteller sehr glaubwürdig und resoCINEMA FOREVER!
lut rüberkommen und nicht zwingend Stereotypen entsprechen. Eher stereotypisch ist der Hintergrund, vor dem sich all das abspielt: Wie so häufig gibt es ein geheimnisvolles Verbrechen in der Vergangenheit, das als im wahrsten Wortsinne haarsträubende Motivation für unseren Serienkiller herhalten muss. Und nicht minder haarsträubend ist die Tatsache, dass der Film nach Fertigstellung leider nach zahlreichen Kürzungen in den USA nie ins Kino sondern direkt ans Fernsehen verkauft wurde – und somit als teuerster TV-Film in die Geschichte einging. Leider ist der ursprüngliche „Director’s Cut“ nie freigegeben worden und somit befindet sich auf der Blu-ray nur die offizielle, aber halt um manch freizügige Szene erleichterte Version. Dennoch sollten Horrorfans sich diese vorbildliche Veröffentlichung eines der wohl unterschätztesten Teenie-Slashers des letzten Jahrzehnts unbedingt ins Regal stellen. FLORIAN WIDEGGER 51
BRANCHE & TRENDS
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n Cineasten-Kreisen haben die Hofbauer-Kongresse längst Kultstatus und locken inzwischen knapp hundert unerschrockene Fans jeglichen Alters und Geschlechts für ein paar Tage in die fränkische Hauptstadt. Neben dem gemeinsamen Erleben im Kino geht es um noch viel mehr: Am Programm stehen abseitige, von der Filmgeschichte verfemte, vergessene Werke, die oft in ramponierten 35mm Vorführungen zum Besten gegeben werden – dann vielleicht für immer verschwinden, oder aber ein neues Leben geschenkt bekommen (wie im Fall der großen Wiederentdeckung „Der Perser und die Schwedin“, inzwischen in einer tollen DVD/Blu-ray Ausgabe erhältlich - siehe unsere Vorstellung in der letzten Ausgabe). Es geht somit auch um nicht weniger als eine Neubewertung der Filmgeschichtsschreibung, und da ein Großteil der Gäste in der ein oder anderen Form mit Kino und Film zu tun hat, bleiben diese Einschätzungen nicht folgenlos. So ist es dem Hofbauer-Kommando zu verdanken, dass der italienische Filmgott Joe D'Amato fast 20 Jahre nach seinem Tod endlich die ihm längst gebührenden Weihen erhält: Zum zweiten Mal widmete man ihm ein Spezialprogramm mit drei Filmen – von der Frauenarzt-Komödie „Hospital der sexy Schwestern“ über das somnambule Liebesdenkmal an Laura Gemser „Nackte Eva“ bis hin zu „Dirty Love“, der sich was Sex betrifft zwar zurückhält, aber recht schonungslos in die Abgründe der yuppiesierten Gesellschaft der ausklingenden 80er Jahre hineinblickt. Terry will als Tänzerin ihr Glück in der Großstadt machen, gerät dabei fast nur an Arschlöcher, beißt sich trotzdem durch 52
Zum bereits 16. Mal luden die Filmaficionados des Hofbauer-Kommandos nach Nürnberg. Und aus dem gesamten deutschsprachigen Raum folgte man diesem Ruf: Ein Wochenende vor der Leinwand.
KONGRESS MIT FOLGEN und behält vor allem ihren Kopf oben. Dem Zynismus der Welt steht in diesem Film gar bewundernswerte Unbekümmertheit gegenüber – und gewinnt. Es bleibt zu hoffen, dass die D'Amato Renaissance weiter Schule macht. A propos „Schule machen“ - eine der größten Entdeckungen war zweifellos die Mini-Serie „Der Liebe auf der Spur“ aus den 80er Jahren. In acht Teilen wird hier den kleinen wie großen Problemen des Erwachsenwerdens nachgespürt. Wir begegnen zum Beispiel Sven, der gerade am Anfang seiner Pubertät steht und noch nicht genau weiß, wie er mit den Gefühlen für seine Mitschülerin Nicole umgehen soll. Diese hingegen ist etwas weiter und dem coolen Zebu zugetan, der in einer Band spielt und schon Motorrad fährt … NUR EIN KLEINER SCHRITT Wie heißt es im Programmtext so schön: „Dass es von den unschuldigen Spielereien der Heranwachsenden mitunter nur ein kleiner Schritt zur verruchten Verderbtheit ist, vermag Regisseur Mietek Lewandowski in beglückenden Montage-Einfällen auszudrücken, etwa wenn die sinnlich-zarten Teenagerträume an suggestionsreiche Close-Ups stolzer Lehrer-Schnauzbärte geschnitten werden.“ Die Reihe wurde für den Schulunterricht produziert, wird (angeblich) mancherorts immer noch gezeigt – und hat zumindest der Laufbahn des als Schlagzeuger auftretenden Sebastian Koch in keinster Weise geschadet. Der Hofbauer-Kongress ist immer dann in seinem Element, wenn er die moralinsauren Keulen auspackt: Die Ehre wurde heuer etwa dem griechischen Beitrag „Syrtaki – Erotik ohne Maske“ zu Teil. Das Schicksal einer CELLULOID FILMMAGAZIN
jungen Frau, die bar jeder Schuld stets an die falschen Männer gerät, wird hier zur Tragödie sophokles'schen Ausmaßes. In eine ähnliche Kerbe schlägt der 1943 (!) entstandene „Das Bad auf der Tenne“ von Volker von Collande. Hier ist es ein Wiener Kaufmann, der auf seinen Reisen erst einer Bürgermeisterfrau schöne Augen macht und ihr zum Abschied eine Badewanne schenkt. Der waschfaulen Bevölkerung ist das ein Dorn im Auge, doch strömen die Männer herbei um durch Löcher und Ritzen zu gaffen, wenn Frau sich in der Scheune den nassen Freuden hingibt. Propagandaminister Joseph Goebbels war angeblich wenig amüsiert, dennoch war der Film einer der größten Kassenerfolge im Dritten Reich. Ein Bad schadet wohl auch nicht nach Jürgen Enz' „Verbotene Spiele auf der Schulbank“ (1982), am Kongress leider in seiner Hardcore-Fassung präsentiert. Was Enz (der Jean-Marie Straub des deutschen Sexfilms) in seinem Werk geritten hat, wird wohl als eines der großen Geheimnisse in die Filmgeschichte eingehen, mit Erotik oder Sinnlichkeit hat der Sex hier nichts mehr zu tun. „Der Film hinterließ beim Publikum Spuren wie die Luftwaffe der Alliierten 1945 in Dresden“, schreibt Kongressbesucher Oliver Nöding auf seinem Filmblog „Remember it for later“ treffend. Aber trotz oder gerade wegen solcher gemeinschaftlicher Kinoerfahrungen sind Hofbauerkongresse inzwischen regelrechte Publikumsmagneten. Ob die 100 Sitzplätze im kommenden Jahr ausreichen werden ist ungewiss, dass die meisten, die einmal von diesem besonderen Virus angesteckt wurden, wiederkommen ist umso sicherer. FLORIAN WIDEGGER
DER KLEINE
STAMPF ...IST CRONENBERGS TRAUMBESETZUNG
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ls Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde, erlebte der kleine Stampf einen furchterregenden Johnny Smith – Moment, der ihn auf einen Schlag um gefühlte 13 Jahre altern ließ. Mir nichts, dir nichts mitten drin in der Pubertät. Tagelang kämpfte der kleine Stampf gegen albtraumhafte Visionen an, die sich nicht aus seinen Gedanken vertreiben ließen. Erinnern Sie sich, liebe Leserinnen und Leser, an den Film „Dead Zone“ (1983) von David Cronenberg? Nein? Ja? Statt einer Antwort ist wieder einmal nur Rauschen zu vernehmen. An alle genialen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler da draußen: Könnt ihr vielleicht mal was Gescheites erfinden, wie etwa die Telepathie? In „Star Wars“ funktioniert’s doch auch. Ein weiterer positiver Effekt telepathischer Fähigkeiten wäre auf lange Sicht die Abschaffung des Fetischs unserer Zeit, des Handys. Keine Personen mehr, die den kleinen Kasten mit verklärtem Rudolph-Valentino-Blick liebkosen, wie ein intimes Körperteil beim Geschlechtsakt. Und schließlich wären auch die sogenannten sozialen Medien obsolet. Keine Twitter- Meldungen mehr von Donald Trump. Die Kehrseite einer solchen Entwicklung lässt allerdings „The Day after“ (1983) wie reinstes Kinderkino aussehen. Man mag sich gar nicht vorstellen, was ein Trump mit telepathischen Fähigkeiten anrichten könnte. Dagegen ist Blofeld ein Waisenknabe mit ganz vernünftigen Ideen. Doch das alles nur nebenbei. Damit Sie Ihr Google nicht unnötig malträtieren müssen, hier nun eine very kurze Zusammenfassung von David Cronenbergs „Dead Zone“, einer Verfilmung des gleichnamigen Romans von Stephen King: Christopher Walken porträtiert, in einer der melancholischsten Darstellungen der Kinogeschichte, den Lehrer Johnny Smith, der nach einem schweren Autounfall hellseherische Fähigkeiten entwickelt. Bei Berührung anderer Menschen kann er deren Zukunft sehen. Als er eines Tages die Hand des Präsidentschaftskandidaten Greg Stillson (Martin Sheen) schüttelt,
wird Smith eine furchtbare Vision gewährt. Stillson führt als US-Präsident einen nuklearen Erstschlag gegen Russland aus. Smith beschließt die Zukunft zu ändern… Nach Trumps Wahl unter Schock stehend – der passendste Vergleich für Österreich wäre die Wahl Richard Lugners zum Bundeskanzler – bekam der kleine Stampf „Dead Zone“ nicht mehr aus dem Kopf. Donald Trump weist beunruhigende Parallelen zu Greg Stillson auf, die in Kings Buchvorlage noch deutlicher zum Tragen kommen. Beide zeigen Anzeichen einer narzisstischen Störung, betreiben hauptsächlich populistische Angstmacherei, ein politisches Programm ist nicht erkennbar, stattdessen gibt es wirrste Versprechungen und von mangelnder Themenkenntnis wird durch großmäulige Rede abgelenkt. Nicht umsonst wurde Stephen King gefragt, ob er in seinem Roman die Präsidentschaft Trumps prophezeit habe. Vorbei dürften vorläufig die Zeiten sein, in denen der amerikanische Präsident zur Heldenfigur des Kinos taugte. Angeregt durch Bill Clintons kennedyeskes Charisma, trieben in den späten neunziger Jahren einige fiktive amerikanische Staatsoberhäupter ihr Unwesen auf der Leinwand. Bill Pullman rettete in „Independence Day“ (1996) die Welt vor Außerirdischen mit kolonialistischen Bestrebungen, Harrison Ford hingegen musste sich in „Air Force One“ (1998) damit begnügen, einen chargierenden Gary Oldman aus seinem Flugzeug zu bugsieren. Im Moment würden sich wahrscheinlich nur die die Macher der „Nackten Kanone“ trauen, den Präsidenten zur Figur eines Films zu machen. Leider ist Lloyd Bridges schon verstorben, aber Trump würde sicher liebend gern die Hauptrolle selbst spielen. Wie auch immer, wir werden sehen, was die nächsten vier Jahre unter Trumps Ägide bringen. Eines ist jedenfalls sicher, sollten Sie The Donald zufällig auf der Straße treffen, schütteln Sie ihm auf keinen Fall die Hand. Um allerdings nicht unhöflich zu wirken zitieren Sie Bart Simpson: „Heeello Mr.President!“
DERKLEINESTAMPF@STAMPF.AT CINEMA FOREVER!
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IMPRESSUM CELLULOID FILMMAGAZIN Nummer 1/2017 Februar/März 2017 erscheint zweimonatlich Herausgeber, Eigentümer und Verleger: Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films Chefredakteur: Matthias Greuling Freie AutorInnen: Gunther Baumann, Jürgen Belko, Paul Heger, Doris Niesser, Sandra Nigischer, Carolin Rosmann, Katharina Sartena, Constantin Schwab, Manuel Simbürger, Clemens Stampf, Florian Widegger, Sandra Wobrazek Coverfoto: Tobis Anzeigen: Dieter Greuling Layout/Repro: Matthias Greuling Werbeagentur Printed in Austria. Die Beiträge geben in jedem Fall die Meinung der AutorInnen und nicht unbedingt jene der Redaktion wieder. Grundsätzliche Richtung der Zeitschrift gemäß §25 MedienG: celluloid begreift Film als Kunstform und will dem österreichischen und dem europäischen Film ein publizistisches Forum bieten. celluloid ist unabhängig und überparteilich.
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OLIVIER ASSAYAS
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