celluloid Viennale Special 2022

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VIENNALE CELLULOID NR. 5A/2022 SONDERAUSGABE ZUR VIENNALE 2022 NEHMEN SIE PLATZ BEI DER VIENNALE 2022! (FOTO: „MUTZENBACHER“) FILMMAGAZIN

Liebe LeserInnen,

wir legen Ihnen heuer wieder ein Viennale-Sonderheft vor, das die Highlights sehr kompakt und noch fokussierter für Sie zusammenfasst. Es handelt sich dabei um einige unserer filmischen Favoriten dieser Viennale der Anspruch auf Vollständigkeit ist bei dieser reichen Filmauswahl allerdings keinesfalls gegeben. Wir wünschen eine gute Zeit in Ihren Wiener Viennale-Kinos!

impressum: celluloid

FILMMAGAZIN Nr. 5a/2022. Oktober 2022. Sonderausgabe zur Viennale 2022. Herausgeber, Eigentümer und Verleger: Werbeagentur Matthias Greuling für den Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films. Chef redakteur: Matthias Greuling. Mitarbeiter dieser Ausgabe: Paul Heger, Katharina Sartena. Layout / Repro: Werbeagentur Matthias Greuling. Printed in Austria. Fotos, sofern nicht anders angegeben: Viennale. Die Beiträge geben in jedem Fall die Meinung der AutorInnen und nicht unbedingt jene der Redaktion wieder. Anschrift: celluloid Filmmagazin, Carl ZwillingGasse 32/19, A-2340 Mödling, Tel: +43/664/462 54 44, Fax: +43/2236/23 240, e-mail: celluloid@gmx.at, Internet: www.celluloid-filmmagazin.com Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion und Quellenangabe. © 2022 by Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films.

celluloid Chefredakteur Matthias Greuling celluloid@gmx.at celluloid FILMMAGAZIN AUSGABE 5A/2022 23. JAHRGANG OKTOBER 2022 VIENNALE INFOS UND TICKETS: WWW.VIENNALE.AT 01/526 594 769 VORVERKAUF AB 15.10.2022 20.10. BIS 1.11.2022

ERÖFFNUNGSFILM.

Gemma war ein schöner Mann. Und nicht nur deshalb ein italienischer Filmstar. Er drehte Western, stieg in seiner Heimat zur Ikone auf. Seine Tochter Vera verwaltet ein schweres Erbe. In ihrer Familie war es im mer en vogue, hübsch auszusehen, adrett dazustehen und - einfach Filmstartochter zu sein. Tizza Covi und Rainer Frimmel („La Pivellina“) haben über Vera einen Film gemacht, mit ihr in der - man muss es so sagen - „Hauptrolle“. Ein semidoku mentarisches Porträt einer Frau, das auch inszeniert ist, mit genauem Drehbuch, weil Vera in Italien auch ein Showstar ist, und man nie genau weiß, was sie spielt und was ist. Doch der Film ist mehr als ein Porträt: Es verhandelt auch den Schönheits-Begriff, der Italien in seiner ganzen Pracht immer wieder in Beschlag nimmt - von der Miss wahl im TV bis zur Bellezza in den Frau enmagazinen. „Wir haben Vera als Person sehr schnell in eine Ecke gestellt“, sagt Tizza Covi. „Denn wie Vorurteile eben

Giuliano

sind, man entkommt ihnen zu einem ge wissen Grad nicht“. Doch das Filmer-Paar ist reflektiert genug, nicht in die Falle zu tappen, aus „Vera“ eine Ansammlung von Klischees zu einem Film zu montieren, sondern: Man hat hier den Eindruck, dass die Persönlichkeit dieser Figur in allen Facetten abgebildet wird. „Vera lebt im Schatten ihres Vaters, und sie lebt ein Leben, das typisch ist für die Gegend um die Via Condotti in Rom“, sagt Rainer Frimmel. „Das ist ein gewisser Anspruch, den sie hat, zugleich ist sie sehr demütig. Letztlich ist sie ein Kind der High Society Roms“. Dennoch ist Vera Gemma auch eine Überlebende des Systems, die sich mit harten Bandagen und Schönheits-OPs den eigenen Status erarbeitet hat. Der feinfühlig inszenierte Film besticht vor allem durch seine intensive Nähe zur Protagonistin Vera, die sich den Filmemachern gänzlich zur Verfügung stellt. Das hat - wenn man Vera Gemmas Background einbezieht - etwas Nahbares und Künstliches zugleich.

„VERA“ VON TIZZA COVI & RAINER FRIMMEL
Foto:
Katharina Sartena Rainer Frimmel und Tizza Covi

MUTZENBACHER

VON RUTH BECKERMANNAbtrei

bung ist entbrannt, weil in vielen Ländern die Gesetze wieder ver schärft werden. Gerade deshalb ist „L’evenement“ ein ziemlich schmerzhafter Film, der dem Leiden einer Studentin zusehen muss, die wie eigentlich alle jungen Frauen im Frankreich der 60er wissen: Wer schwanger wird, für den gibt es keine ande ren Lebensmodelle mehr außer Hausfrau und Mutter. Audrey Diwan fängt dies - auch dank ihrer großartigen Hauptdarstel lerin Anamaria Vartolomei - in schockierend-beklemmenden Bildern ein. Der Film wurde in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet.

Beckermanns Dokumentarfilm „Mutzenbacher“ gewann bei der Berlinale im Februar in der Sparte „Encounters“ den Hauptpreis. Die 70-jährige Regisseurin setzt sich darin mit dem Roman „Josefine Mutzenbacher“ auseinander, in dem eine junge Wiener Prostituierte aus ih rem Alltag spricht, und lässt 75 Männer vor ihrer Kamera dazu Stellung beziehen. Ein hochinteressantes und überaus kurzweiliges Experiment mit überraschenden Einblicken in die Sexual-Moral einer weiblich betrachte ten Männlichkeit, was wiederum zum Span nungsabbau zwischen den Geschlechtern beitragen könnte. Der Film ist launig, entlar vend und überraschend - und einer der MustSees der 60. Viennale. Wir sprachen mit Ruth Beckermann über den Film.

Ruth

celluloid: Sie werfen in „Mutzenba cher“ neue Perspektiven auf den 1906 erschienenen Roman, indem Sie Män nerbilder erfrischend anders zeichnen und das Buch ausschließlich von Män nern lesen und kommentieren lassen. Was war die Idee dahinter?

Ruth Beckermann: Nach vielen Re cherchen und langem Überlegen kam ich zu dem Schluss, dass dieses Buch ziemlich sicher von einem Mann geschrieben wurde und eine Männerfantasie ist. Da scheint mir logisch, heutige Männer mit einem Text, der älter als hundert Jahre ist, zu konfrontieren. Diesen Text Männern ganz unterschiedli chen Alters zu zeigen und ihn vorlesen zu lassen, war für mich der Untersuchungsge genstand: Wie wirkt dieser Text heute noch,

mit dieser Sprache und mit diesem Inhalt?

Es gibt viele Männer in Ihrem Film, denen es angesichts des Textes die Schamesröte ins Gesicht treibt. Dann gibt es aber wieder welche, die nehmen das völlig abgebrüht wahr. Was hat Sie überrascht?

Es ist immer spannend, wenn ein Mensch einem gegenüber sitzt und man sofort, auch wenn man sich das nicht einge steht, bestimmte Gedanken und Bilder über diesen Menschen hat, und dann kommt etwas ganz Anderes und überrascht einen. Jede Geschichte, jede Assoziation, die dieser Text ausgelöst hat, war überraschend, und der Text war ja gedacht als Trigger, um die Erinnerungen oder Gedanken der verschie denen Männer herauszukitzeln.

Ist der Roman heute sehr zeitgemäß oder ist er sogar unverschämter als vor 100 Jahren. Was denken Sie?

Ich denke, er war immer unverschämt. Er ist erst 1969 legal erschienen, bis dahin war er verboten, weil er gegen alle Tabus ver stoßen hat. Er wurde nur in Raubdrucken verbreitet. Heute wirkt „Mutzenbacher“ auf eine ganz andere Art unverschämt, weil er heute auf eine viel bewusstere Gesellschaft trifft. Selbst in meiner Generation wurde ja über Missbrauch nicht gesprochen, das war kein Thema. Heute trifft er vielleicht auch auf eine neue Sprach-Polizei, die sich mit solchen Inhalten und dieser Sprache auch nicht auseinandersetzen will. Aber in der heute sehr wachen Gesellschaft trifft der Film vielleicht auch ein gewisses Bedürfnis.

Hätte den Film ein Mann gemacht und würde sich diesen Unverschämtheiten aussetzen, wäre die Rezeption ver mutlich eine völlig andere, oder?

Es kommt sicherlich auf den Mann an, der das gemacht hätte. Aber es wäre jeden falls ein ganz anderer Film geworden, das ist sicher. Dadurch, dass ich als Frau in dem Film die Fragen stelle, aber nie zu sehen bin, ist das natürlich auch nochmals ein Twist, den man bedenken muss. Man versucht, sich diese Fragenstellerin vorzustellen. Und im Film entstehen natürlich ganz andere Be ziehungen zwischen den Männern auf der Couch und der Frau, die sie befragt.

Es ist erstaunlich, wie offen sich manche Männer auf dieser Couch präsentie ren, auch durch ihr Nachfragen. Sie ha ben in einem Interview gesagt, es wäre an der Zeit, dass sich die Frauen intensiver

mit den Männern beschäftigen und ge nauer hinsehen sollten, weil sie das bisher verabsäumt hätten. Wie meinen Sie das?

Es war sicher wichtig für die Generation der Alice Schwarzer und auch für meine Generation, sich einmal mit sich selbst und mit anderen Frauen auseinanderzusetzen, aber ich denke, dass es genauso wichtig ist, die Männer anzuschauen. Außerdem finde ich persönlich sowieso immer interessant, mir den fremden Blick anzusehen. Männer haben fantastische Porträts von Frauen ge schaffen, über Jahrhunderte, von der Mona Lisa bis zu Anna Karenina, in allen mögli chen Medien. Dagegen gibt es wenige Män ner-Gestalten, die von Frauen geschaffen wurden. Über Männer zu schreiben, sie zu fotografieren oder sie zu filmen - da gibt es doch einen großen Aufholbedarf für Frauen.

Ruth Beckermann Foto: Katharina Sartena

EL AGUA

(E/CH/F 2022) REGIE: ELENA LOPEZ RIERA

In einem spanischen Dorf kämpfen die Jugendlichen mit Tanzen, Trinken und Rauchen gegen die sommerliche Langeweile. Doch ein bevorstehender Sturm droht den örtlichen Fluss zum Überlaufen zu bringen. Unter den Dorfbewohnern kursiert ein alter Volks glaube, demzufolge einige Frauen dazu bestimmt sind, mit einsetzender Flut spurlos zu verschwinden. Mitten in der elektrisierenden Stimmung vor dem Unwetter leben die 17-jährige Ana und der 20-jährige José ihre noch junge Liebesbeziehung aus – bis der Sturm losbricht. Für ihr Spielfilmdebüt kehrt Regisseurin Elena López Riera an ihren Heimatort zurück.

LES AMANDIERS

(F 2022) REGIE: VALERIA BRUNI-TEDESCHI

Ein Film über eine Truppe junger Schau spieler, die Ende der 1980er Jahre die Auf nahmeprüfung für die berühmte Schule bestehen, die von Patrice Chéreau und Pierre Romans im Theater Amandiers in Nanterre gegründet wurde. Es ist ein fein austarierter Film über die inneren und äußeren Zustände von jungen Schauspie lern, den Bruni-Tedeschi – nicht ohne den Einfluss autobiografischer Erfahrungen – hier auftischt.

CHIARA

(I 2022) REGIE: SUSANNA NICCHIARELLI

Susanna Nicchiarellis Historiendrama „Chiara“ folgt dem Leben der Heiligen Klara von Assisi und bildet den soliden Abschluss von Nicchiarellis Filmtrilogie über Frauenbiografien. Uraufgeführt wurde der Film beim Filmfestival von Venedig.

CLOSE

(B 2022) REGIE: LUKAS DHONT

Seit sie sich erinnern können, sind Léo und Rémi unzer trennliche Freunde. Den ganzen Sommer über streifen die beiden 13-Jährigen durch Felder und Wiesen, doch mit Beginn des neuen Schuljahrs gerät ihre Freundschaft unter Druck. Denn die natürliche körperliche Nähe zwischen den beiden Buben bleibt den Klassenkameraden nicht ver borgen. Ein fatales Ereignis bringt hier alles ins Wanken.

Mit großer Zärtlichkeit erzählt Lukas Dhont eine herzzerreißende Geschichte.

ALL THE BEAUTY AND THE BLOODSHED

(USA 2022) REGIE: LAURA POITRAS

„All the Beauty and the Bloodshed“ der US-amerikanischen Regisseurin Laura Poitras über die Fotografin Nan Goldin gewann heuer den Goldenen Löwen in Venedig. Der Film erzählt von Goldins Leben, ihrem künstlerischen Schaffen und ihrem Kampf gegen die Familie Sackler, die für die Vermarktung des abhängig machenden Medika ments Oxycontin und Kultursponsoring bekannt ist. Goldin war selbst abhängig davon und organisierte Proteste gegen das Medikament und seine Vermarktung, die der Film aufgreift. Goldin wurde mit intim wirkenden Fotografien berühmt, die Themen wie Sexualität, Krankheit, Begierde oder Gewalt behandeln.

THE BANSHEES OF INISHERIN

(IRL/GB/USA 2022)

Der Film erzählt launig das abrupte Ende einer lebenslangen Freundschaft zwischen Colin Farrell und Brendan Gleeson vor der Kulisse der Westküste Irlands. Großartig: Wie das Ensemble den irischen Dialekt ganz meisterhaft auf die Leinwand bringt. Oscar-Chan cen für Farrell: Hoch!

COUPEZ!

(F 2022) REGIE: MICHEL HAZANAVICIUS

Ein Regisseur (Romain Duris) über schreitet die Grenzen seiner „Kunst“, um ein Remake eines japanischen TV-Spektakels zu inszenieren: Live und ohne Schnitt soll in 30 Minuten eine Zombie-Orgie entstehen, das alles kriegt man vorweg zu sehen, ehe Re gisseur Hazanavicius die Vorgeschichte zu diesem schrillen und überaus blutigen Filmdreh enthüllt. Es ist in der Tat ein Remake des japanischen Kultfilms „One Cut of the Dead“ von Shinichirô Ueda aus dem Jahr 2017, das wiederum auf einem Remake basiert. Dazu gesellt sich eine Metaebene und in Hazanavicius’ Version zudem eine europäische Reflexion auf japanische Befindlichkeiten.

CRIMES OF THE FUTURE

(CAN/GR/GB 2022) REGIE: DAVID CRONENBERG

Menschen kreieren in der nicht allzu fernen Zukunft ganz neue Organe in sich selbst, jedoch könnten das auch Tumore sein, jedenfalls aber sind diese Organe tätowiert, und zwar schon im Körper. Dafür sorgt die Unfallchirurgin Caprise (Léa Seydoux), die das an Saul Tenser (Viggo Mortensen) erprobt. Es ist eine Art High-Speed-Evolution, die Cro nenberg hier entwirft: Die Menschen haben keine Schmerzen mehr, Viren und Bazillen können ihnen nichts mehr anhaben. In diesem Setting spielen herkömmliche Sinnesver gnügen wie Sex keine Rolle mehr: „Surgery is the new sex“, heißt es hier. Das kann man als Kritik am Beauty-Wahn der Gegenwart lesen, aber auch als Ekel-Horror. Cronenbergs Film ist schwarze Komödie wie Film Noir gleichermaßen, es gibt Suspense und Wortwitz, und das Konzept von der „inneren Schönheit“ bekommt eine ganz neue Dimension.

BONES AND ALL (USA 2022) REGIE: LUCA GUADAGNINO

Horror-Romanze über die kannibalische Liebe zwischen Maren (Taylor Russell) und Lee (Timothée Chalamet) - beide entdecken einander über den Geruchssinn, ihre gemeinsa me Leidenschaft, Menschen zu essen, ist für sie mehr Zwang als Genuss. Am Ende bleibt natürlich die Frage, wer wen verspeist. Luca Guadagnino inszeniert die kannibalischen Akte exzessiv, wie eine Metapher erzählt der Film über das Einander-riechen-können in Zeiten pandemischer Vereinsamung.

LES ENFANTS DES AUTRES

(F 2022) REGIE: REBECCA ZLOTOWSKI

Die Französin Rebecca Zlotowski erzählt autobiografisch von Rachel (Virginie Efira) erzählt, die jenseits der 40 keine Chance mehr sieht, leibliche Kinder zu bekommen, sich in ihrer Beziehung zu ihrem Freund Ali (Roschdy Zem) aber immerhin als Stiefmutter versuchen kann. Das schlägt allerdings in Frust um, denn die vierjährige Tochter von Ali umsorgt sie zwar, als wäre es ihr eigenes Kind, aber zu viel Emotion in diese Rolle zu legen, birgt große Risiken, wie Rachel schmerzhaft erfahren muss. Der Film fängt Klischees über (späte) Mutterschaft ebenso ab wie er zugleich die Sehnsucht danach befeuert; ein Film, der sein Premierenpublikum zu Tränen rührte.

THE WHALE (USA 2022) REGIE: DARREN ARONOFSKY

Hier geht es um einen Mann, der einst Frau und Tochter verließ, um mit einem anderen Mann zusammenzuleben. Charlie, gespielt von Brendan Fraser, will sich seiner 17-jährigen Tochter wieder annähern, aber das beinhaltet einige Tücken. Eine davon ist auch sein Körpergewicht: Als sein Lover starb, entwickelte Charlie eine trauerbe dingte Essstörung und legte auf 270 Kilo zu. Fraser bringt eine famose Leistung in Aronofskys Drama, das auch eine voyeuristische Note in sich birgt: Das Leben mit 270 Kilogramm ist nicht nur auf dem Blutdruckmessgerät (238 zu 134) ein Horrortrip - und das kostet Aronofsky in vielen Einfällen aus, von gestapelten Pizzastücken bis zum Schokoriegel-Massaker. Der Film macht plakativ sichtbar, wie Lebensfrust und Beziehungsunglück auf den Körper wirken können.

R.M.N.

(RO/F/S 2022) REGIE: CRISTIAN MUNGIU

Cristian Mungiu („4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage“) und Ruben Östlund („The Square“) zeigen, wie aktuell das Filmschaffen sein kann. Mungiu zeigt in „R.M.N.“, die rumäni sche Abkürzung für Magnetresonanztomografie, das Leben in einem kleinen rumäni schen Dorf, in dem eine EU-subventionierte Bäckerei Arbeitskräfte von weiter Ferne anlockt, die dort allerdings mit rassistischen Ressentiments zu kämpfen haben. Mungiu zeigt hier, wie wirtschaftliche Interessen auch die gesellschaftlichen Gefüge ins Wanken bringen können.

SAINT OMER

(F 2022) REGIE: ALICE DIOPA Erster Spielfilm der Dokumen tarfilmerin Alice Diop, die mit dem naturalistischen Stil ihrer sonstigen Arbeiten schnör kellos, aber hochemotional erzählt: In Frankreich steht eine Afrikanerin vor Gericht, weil sie ihr Kleinkind am Meer sich selbst überlassen hat und das Kind bei Ankunft der Flut ertrunken ist. Der Prozess nimmt einen großen Teil dieses Dramas ein, Alice Diop hat ihn einem realen Fall nachemp funden, der Frankreich 2013 erschüttert hatte und dem die Regisseurin damals beiwohnte. Durch ihre Augen, respek tive durch die Augen einer schwarzen Zuschauerin im Ge richtssaal, rollt Diop nüchtern die Fakten auf und generiert damit große Spannung. „Saint Omer“ vertritt Frankreich 2023 bei den Oscars.

UN COUPLEA

(F/USA 2022) REGIE: FREDERICK WISEMAN

Der nur etwas mehr als einstündige Film ist ein Geduldspiel, und doch ist Wiseman, dieser seit Jahrzehnten unermüdliche Dokumentarist amerikanischer Lebensrealitäten und sozialer Umstände, in seiner neuen, narrativen Arbeit ganz und gar kurzweilig und hautnah an der Realität einer Liebesbeziehung dran: Jener von Leo Tolstoi und seiner Ehefrau Sophia, gespielt von Nathalie Boutefeu. Die rezitiert hier vor einer Küsten kulisse Briefe der Ehefrau an ihren Mann, in der das Versagen Tolstois als Ehemann und Familienvater offenkundig wird; und auch das Wehklagen einer im Grunde stets übersehenen Frau, die für ihre Familie gelebt hat, dem Ego des Künstlers, ihres Mannes, aber nicht gewachsen war. Ein berührendes Stück Kino.

THE NATURAL HISTORY OF DESTRUCTION

(D/LIT/NL 2022) REGIE: SERGEJ LOZNITSA

Der Dokumentarfilm des ukrainischen Regisseurs bezieht sich zwar nicht auf den aktuellen Kriegskonflikt, handelt aber dennoch vom Krieg und schlägt Parallelen zur Ukraine. Der Film zeigt alte, teilweise noch nie gezeigte Archivaufnahmen der Bombardements der Alli ierten zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Bomben fielen auf Deutschland, und dabei starben auch unzählige Zivilisten. Loznitsa stellt daher die Frage, ob es moralisch vertretbar ist, die Zivilbevölkerung als Kriegsmittel einzusetzen – eine aktuelle Frage, die angesichts der Lage in der Ukraine wieder aufgeflammt ist.

KHRES NIST

(IRAN 2022) REGIE: JAFAR PANAHI

In Jafar Panahis neuem Film werden zwei parallele Lie besgeschichten erzählt. In beiden werden die Liebenden von versteckten, unausweichlichen Hindernissen, der Kraft des Aberglaubens und den Mechanismen der Macht bedrängt - der Film wurde in Venedig viel beach tet, zumal Panahi im Iran inzwischen in Haft sitzt.

THE LISTENER

(USA 2022) REGIE: STEVE BUSCEMI

Beth ist eine ehrenamtliche Telefo nistin, die die ganze Nacht hindurch Anrufe von Menschen mit Problemen entgegennimmt. Dieser Film, der nur an einem Ort gedreht ist, wurde von KultSchauspieler Steve Buscemi inszeniert, der mit „Fargo“ von den Coen-Brüdern zu Weltruhm gelangte.

UN BEAU MATIN

(F/D 2022) REGIE: MIA HANSEN-LØVE

Einfühlsames Drama von Mia Hansen-Løve: Sandra (Léa Seydoux), eine junge Mutter, die ihre Tochter alleine großzieht, besucht oft ihren schwer kranken Vater Georg. Während sie dem Verfall ihres Vaters hilflos zusehen muss, beginnt sie eine leidenschaftliche Affäre mit einem Mann, den sie aus Jugendtagen kennt.

ABOAKTION celluloid für 1 Jahr (6 Ausgaben) um nur 19,90 (statt 30,00) Bestellen unter www.celluloid-filmmagazin.com oder 0664-462 54 44 Preis gültig innerhalb Österreichs

TORI ET LOKITA

(B/F 2022) REGIE: JEAN-PIERRE UND LUC DARDENNE

Tori (Pablo Schils) und Lokita (Joely Mbundu) sind allein aus Afrika gekommen und kämpfen heute in Belgien mit ihrer unbesiegbaren Freundschaft gegen die grausamen Bedingungen ihres Exils. Ein wie immer schlichter, aber umso wirkungsvollerer Film der belgischen Regie-Brüder.

STARS AT NOON

(F 2022) REGIE: CLAIRE DENIS

Die amerikanische Journalistin Trish (Margaret Qualley) sitzt ohne Pass in Nicaragua fest und trifft in einer Hotelbar auf den Briten Daniel (Joe Alwyn). Er scheint ihr der perfekte Mann zu sein, um ihr bei der Flucht aus dem Land zu helfen. Zu spät erkennt sie, dass sie mit ihm in eine noch viel gefährlichere Welt eintritt.

THE ETERNAL DAUGHTER

(GB 2022) REGIE: JOANNA HOGG

Eine Schriftstellerin und ihre Mutter (beide mit britischer Genauigkeit gespielt von Tilda Swinton) begeben sich auf die Suche nach alten, tief ver grabenen Familiengeheim nissen in einem dunklen, opulenten und verlassenen Landhotel, wo sie schnell von der Vergangenheit eingeholt werden. Es gruselt und spukt hier gewaltig, und Hogg basiert die Mutterfigur auf ihrer eigenen Mutter, die zu einer Generation gehörte, die ihre Geheimnisse lieber für sich behielt. Dass das für Wi derstände sorgt, zeigt dieser Film auf eine undurchsichtige, durchwegs rätselhafte Weise.

EISMAYER (Ö 2022) REGIE: DAVID WAGNER

Es ist eine wahre Geschichte, und eine, die wie gemacht scheint für einen Film: In „Eismayer“ berichtet Regisseur David Wagner nicht nur von einem gestren gen Ausbildner beim Bundesheer, sondern auch von dessen unterdrückter Ho mosexualität. Als sich Vizeleutnant Eismayer (großartig gespielt von Gerhard Liebmann) in den Rekruten Mario (Luca Dimic) verliebt, gerät sein geordnetes und von Disziplin durchdrungenes Leben völlig durcheinander. Seine Vorstel lung vom Militärdienst ist mit einer schwulen Liebesbeziehung nicht vereinbar; Eismayer muss erst lernen, dem Ruf seines Herzens zu folgen und sich selbst zu lieben, was vor dem Hintergrund einer traditionellen, auf Vorschriften und Härte getrimmten Bundesheer-Kulisse alles andere als einfach ist.

SPARTA

(Ö 2022) REGIE: ULRICH SEIDL

Vieles ist im Vorfeld über diesen Film geschrieben worden - zumeist ging es dabei um den Vorwurf, Ulrich Seidl hätte beim Dreh in Rumänien Kinder schlecht behandelt und Standards im Umgang mit Mitarbeitern am Set nicht eingehalten. Die Empörung war groß, und ViennaleChefin Eva Sangiorgi hat beschlossen, den Film ins Programm aufzunehmen. „Sparta“, der zweite Teil von „Rimini“, den Seidl „Bruderfilm“ genannt hat, auch, weil er vom Bruder dieses Schlagerstars Richie Bravo aus „Rimini“ handelt. Georg Friedrich spielt diesen Mann, der seine Zeit in Rumänien damit verbringt, mit Kindern eine alte Schule in eine Festung umzubauen, wo gespielt, getobt, gelacht werden kann. Glückliche Kinder eben. Aber Friedrich spielt eine Figur, die mit ihrer unterdrückten Pädophilie hadert.

Weshalb Seidl in Rumänien 2018 lokale Laiendarsteller suchte, „athletische Jungen zwischen acht und 17 Jahren“. Bei der Su che soll die Produktionsfirma verschwie gen haben, dass es sich um die Geschichte eines Pädophilen handelt - die Vorwürfe, die der „Spiegel“ Anfang September erhob, stehen im Raum, wurden von Seidl aber in etlichen Stellungnahmen zurückgewiesen. „Meine Filme entstehen nicht, indem ich – wie der Artikel im ‚Spiegel‘ nahelegt –Darsteller manipuliere, falsch informiere oder gar missbrauche. Im Gegenteil: Ohne das Vertrauensverhältnis, das wir über Wochen und Monate aufbauen, wären die langen Drehzeiträume meiner Filme gar nicht denkbar. Ich habe größten Respekt vor allen Darstellern und niemals würde ich Entscheidungen treffen, die ihr kör perliches und seelisches Wohlbefinden in irgendeiner Art und Weise gefährden“. Es dürfte einer viel diskutierte ViennalePremiere werden.

YOSHIDA KIJU 21. 10. BIS 23. 11. 2022

Yoshida Kijū wurde 1933 in Fukui geboren; nach Kriegsende übersiedelt die Familie nach Tokyo, wo Yoshida Romanistik studiert, er soll Diplomat werden. Doch er interessiert sich mehr fürs Kino; 1955 wird er beim Studio Shochiku aufgenommen und lernt dort Ōshima Nagisa kennen, mit

dem zusammen er eine Filmzeitschrift gründet. Dadurch wird Kinoshita Keisuke auf den jungen Mann auf merksam und macht ihn zu seinem Regieassistenten. 1960 gibt Yoshida mit ROKUDENASHI, einem aufrühreri schen Film über orientie- rungslose Jugend, sein Regiedebüt. 1963 arbeitet er bei dem wuchtigen Melodram AKITSU ONSEN erstmals mit Okada Mariko zusammen, die seine Ehefrau wird und Protagonistin seiner die japanischen Geschlechterverhältnisse kritisch beleuchtenden Filme. Mit ihr zusammen gründet er 1966 auch die unabhängige Produktionsfirma Gendai Eigasha und legt 1970 mit EROSU PURASU GYAKUSATSU – der gemeinsam mit RENGOKU EROI

CA und KAIGENREI die „Trilogy of Japanese Radicalism“ bildet – eines der zentralen Werke der „Japanese New Wave“ vor. Auch wenn Yoshida selbst den Begriff nie sonderlich schätzte, so gilt er neben Oshima und Shinoda Masahiro doch als deren wichtigster Vertreter. Stilistisch wagemutig und inhaltlich immer wieder an Tabus rührend beleuchtet Yoshida in seinen Arbeiten kritisch die Umbrüche der japanischen Gesellschaft vor allem der sechziger Jahre.

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