celluloid Film Magazin ROMY SCHNEIDER

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celluloid filmmagazin

celluloid Nr. 3/2012 Mai/Juni EUR 4.00

gegr端ndet 2000

filmmagazin

ARTIG. NICHT BRAV.

romyschneider 30 jahre ohne romy I Mads mikkelsen I jean reno I Pierre Richard I Gustav deutsch


AB 25. MAI 2012 IM KINO!

Vo� Regisseur vo� Darjeelin� Limite� & Di� Roya� Tenenbaum�

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a r t ig , n i c h t b r a v

celluloid

filmmagazin Ausgabe 3 / 2012 - 13. jahrgang Mai / JUNI 2012

COVER

EDITORIAL

Liebe Leser,

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30 Jahre ohne Romy Zum Todestag einer Legende: Warum ist Romy Schneider auch drei Jahrzehnte nach ihrem Ableben ungebrochen populär? Worin besteht ihr Mythos? Plus: Die letzte Woche ihres Lebens, und: Neue Bücher, DVDs, TV-Termine

Einen „Feiertag“ für den österreichischen Film nannte Martin Schweighofer von der Austrian Film Commission den Tag der Bekanntgabe des offiziellen CannesWettbewerbs 2012. Gleich zwei heimische Produktionen treten um die Goldene Palme an: Michael Hanekes „Amour“ (siehe Seite 45) und Ulrich Seidls erster Teil seiner „Paradies“-Trilogie „Liebe“ (siehe celluloid Heft 1/2012). Dass beide Filme denselben Titel haben, ist aber wohl schon die einzige Gemeinsamkeit. Für den österreichischen Film ist es tatsächlich ein Grund zum Feiern: Nicht nur, weil die Erfolgsserie damit ungebremst weitergeht, sondern auch, weil damit erstmals zwei österreichische Filme im Cannes-Hauptbewerb antreten (Seidls Wunsch, alle drei Teile seiner Trilogie gemeinsam aufzuführen, wurde allerdings nicht entsprochen). Wir gratulieren herzlich und wünschen Ihnen viel informatives Vergnügen beim Lesen!

FEATURES 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44

Der König bin ich Mads Mikkelsen im Interview zu seinem Kostümdrama „Die Königin und der Leibarzt“ Erwachsen werden? Wozu? Die Darsteller von „American Pie: Das Klassentreffen“ machten Filmwerbung in Wien Jean Reno, Michaël Youn im Interview über die Komödie „Kochen ist Chefsache“ Valérie Donzelli, Jérémie Elkaïm sprechen über ihren „Kriegsfilm“ „Das Leben gehört uns“ David & Stéphane Foenkinos drehten mit Audrey Tautou „Nathalie küsst“. Ein Gespräch Céline Sciamma über „Tomboy“ 17 schwangere Mädchen zeigen Muriel & Delphine Coulin Pierre Richard pfeift aufs Altersheim, wie er im Interview verriet Exotische Vögel Filmproduzentinnen sind in Österreich sehr selten Christopher Lee Kurz vor seinem 90. Geburtstag besuchte Lee Wien Am Set bei Gustav Deutschs SpielfilmDebüt „Visions of Reality“ Renaissance der Wanderkinos Wanderkinos erfreuen sich steigender Beliebtheit in Österreich Evolution der Gewalt heißt Fritz Ofners Doku über Guatemala. Ein Gespräch Susanne Brandstätter über ihre Doku „The Future‘s Past“

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Matthias greuling

Chefredakteur & Herausgeber celluloid@gmx.at

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FILMKRITIK

Stillleben/Outing (mit Interview Sebastian Meise) / Kuma / Nathalie küsst Lachsfischen im Jemen / Life Size Memories / Wie zwischen Himmel und Erde / Tabu / Moneyball

RUBRIKEN 4 45 58 60 64 66

TriviaScope: Batman, Anthony Hopkins Profile: Michael Haneke, Catalina Molina News & Events TV & Heimkino: Late-Night-Talkshows DVD & Blu-ray Der kleine Stampf

Filmladen; Tuma; zVg; Bundeskunsthalle Bonn

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Große Freude: Ulrich Seidl und Michael Haneke sind beide im Cannes-Wettbewerb 2012 vertreten

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TRI VIA SCO PE

Tuma; Paramount Pictures

Interessantes, neues und amüsantes aus der welt des films

Hannibal lecter spielt hitchcock Mitte April begannen in Los Angeles die Dreharbeiten zum Spielfilm „Hitchcock“. Die Hauptrollen spielen Anthony Hopkins als Alfred Hitchcock und Helen Mirren als seine Frau Alma. Sacha Gervasi, der mit seinem Leinwanddebüt „Anvil! Die Geschichte einer Freundschaft“ 2010 den Preis für den besten Dokumentarfilm bei den Independent Spirit Awards erhielt, führt Regie. Der Film basiert auf dem Drehbuch von John McLaughlin und auf dem Buch „Alfred Hitchcock and the Making of Psycho“ von Stephen Rebello. Erzählt werden soll eine Liebesgeschichte,

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nämlich die zwischen Hitchcock und seiner Frau Alma Reville. Die Handlung ist zur Zeit der Dreharbeiten zu Hitchcocks „Psycho“ angesiedelt. Mindestens ebenso interessant wie die Besetzung von Anthony Hopkins als Hitchcock dürften die weiteren Rollen sein: So ist etwa Scarlett Johansson als Janet Leigh zu sehen, James D‘Arcy als Anthony Perkins. Jessica Biel spielt Vera Miles, Toni Collette gibt Hitchcocks Sekretärin Peggy. Der Kinostart ist für 2013 anberaumt.


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TRI VIA SCO PE

Interessantes, neues und amüsantes aus der welt des films

Knightfall Es wird mit Sicherheit nicht leicht, mit „The Dark Knight Rises“ (ab 27. Juli) an den finanziellen Erfolg des Vorgängers „The Dark Knight“ anzuknüpfen, zumal Batmans charismatischster Gegner diesmal fehlt: Der Joker ist Geschichte, im dritten von Christopher Nolan inszenierten Batman-Film muss Christian Bale alias Batman/Bruce Wayne gegen den mit Drogen vollgepumpten Superbösewicht Bane (Tom Hardy) bestehen, der 1993 in der Reihe „Knightfall“ ins DC-Universum eingeführt

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wurde. Außerdem muss er sich mit Catwoman (Anne Hathaway) herumschlagen. Liam Neeson ist - wie schon in „Batman Begins“ als Ra‘s Al Ghul zu sehen. Als angenehm empfinden die Fans, dass die Batman-Franchise nicht auf der 3D-Welle mitschwimmt. Dafür hat Nolan große Teile des Films im IMAXFormat gedreht, weil die Kameras aber zu laut für die Dialogszenen waren, griff Nolan dafür auf einen Mix aus 35mm und 70mm-Kameras zurück. Großes Kino, jedenfalls.

Warner

Batman fliegt wieder


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DIESE

vor 30 jahren starb romy schneider

Was blieb von der unglaublichen Intensität ihrer Karriere? Und wieso gilt sie bis heute als vielleicht größte Schauspielerin ihrer Generation? 8

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Arthaus/StudioCanal

AUGEN

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Fotos: Filmladen

covercover ::: the artist

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Die vielen Seiten Romy Schneiders, auf Szenenbildern des unvollendeten Films „Die Hölle“ (1964) von Henri-Georges Clouzot (auf DVD erschienen)

s war ihr unnachahmlicher Blick, mit dem Romy Schneider erzählte. Ganze Geschichten, Gefühlszustände, Leid und Schmerz. Oft bedurfte es gar keiner Worte, die Dialoge waren nur Staffage. Beiwerk, um die eigentlich gemeinte Bedeutung zu unterstreichen. Romy Schneider war eine der wenigen Schauspielerinnen, die das konnte, allein mit den Blicken zu spielen. Sie hatte darin großes, wohl naturgegebenes Talent. Und dieses Blickkino, das ist vielleicht ihr Alleinstellungsmerkmal. Denn anders als die meisten anderen Schauspielerinnen hatte Romy Schneider diesen Tiefgang, der ihr selbst in leichtfüßigen Szenen eine gewisse Schwere verlieh und auch in fröhlichen Momenten in ihren Filmen stets die Möglichkeit offen ließ, es könnte schon bald etwas Furchtbares passieren. Schauspielerinnen, die ihre Karriere ihrer

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äußeren Erscheinung verdanken, gibt es zuhauf; Aber gutes Aussehen ist nicht alles, im Gegenteil: Es kann hinderlich sein, wenn es um dramatische Rollen geht, in der das Publikum eine Figur wahrnehmen soll, keine Schauspielerin, die diese Figur spielt. Nicht umsonst brechen viele der Optik wegen berühmte Schauspielerinnen später in ihrer Karriere aus ihrem Schönheitsideal aus, um Mut zur Hässlichkeit zu beweisen, die ihnen erst die ersehnte Anerkennung bringt. Nur ein Beispiel: Charlize Theron hat das etwa in „Monster“ gemacht, und die Rolle brachte ihr einen Oscar. ZERBRECHLICH  Bei Romy Schneider war die Zerbrechlichkeit der eigenen Schönheit Teil ihres Repertoires. In vielen ihrer Filme ging sie diesen unbeirrbaren Weg, die eigene Eitelkeit hintan zu stellen, weil die Rolle es erforderte. In „Gruppenbild mit Dame“ (1977) ließ sie sich auf 80 schminken, in ihrem letzten Film „Die Spaziergängerin von Sans-Souci“ (1982) spiegelte sich der ganze Schmerz, der ihr zuvor privat widerfahren war, in ihrem von Tränen und Trauer zerfurchten Gesicht:

Selbst unter viel Make-up war ihre innere Ruine zu sehen, weil sie es konnte, allein in ihrem Gesicht und in ihrem Ausdruck ihr Innerstes preiszugeben. DER MYTHOS  Viel ist über die Jahre über Romy Schneider geschrieben worden. Und doch war es immer das gleiche. An Sätzen wie „Ich kann nichts im Leben, aber alles auf der Leinwand“ arbeiteten sich die Presse und ganze Biografien jahrzehntelang ab, die meinten, dahinter den Schlüssel zur tragischen Figur Romy Schneider gefunden zu haben. Die kometenhafte Karriere als „Sissi“ (1955), die Liebe zu Delon, ihr Fortgang nach Frankreich, ihre gescheiterten Ehen, ihre Männergeschichten, das Drama um ihren Sohn David, ihr viel zu früher Tod zwischen Alkohol und Tabletten - all das schien diesen Satz zu bestätigen, und all das ist es auch, was einen Mythos ausmacht. Kinderleicht, daraus Kapital zu schlagen, auch noch 30 Jahre nach ihrem Tod. Denn Romy Schneider lässt sich noch immer gut verkaufen. Illustrierte lüften „ihr allerletztes Geheimnis“, ihre Filme erscheinen in neuen DVD-Editionen,


Fotos: StudioCanal, DVD „Die Hölle von Henri Georges Clouzot“

Privat war Romy dem Alkohol nicht abgeneigt, sie trank viel französischen Rotwein und war eine starke Raucherin

eine große Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle zeigt ihr Leben zwischen Filmset und Alltag. Romy Schneider ist einer dieser Mythen, die nie zur Ruhe kommen; das liegt aber nicht, wie angenommen, an ihrem bewegten (Privat-)Leben, sondern an ihrem Blick, der so viel Interpretationsspielraum bietet, in den man so viel hineinlesen kann. Die Fans ihrer Filme tun das mit ihren Rollen. Die Boulevard-Presse tat das immer mit ihr als Privatperson. Aber Romy selbst war an der ihr zuteil werdenden Aufmerksamkeit keineswegs unschuldig; sie suchte sogar die Nähe der Kameras, der Presse, der Fotografen. Das war Teil ihres Berufes, sich auch nach Drehschluss den Medien zu offenbaren, ihnen Zutritt zum Privatleben zu gewähren. Romy Schneider hat zu schnell vertraut, und wurde dabei zu oft enttäuscht. 1972 schrieb sie in ihr Tagebuch: „Ist es denn nicht möglich, abends auszugehen, ohne am nächsten Tag zu lesen, dass ich eine Ehebrecherin bin oder meinen Mann betrogen habe?“ Auch in künstlerischer Hinsicht machte Romy vor allem die deutsche Presse zu schaffen. Claude Sautet: „Sie hat sehr darunter gelitten.

All das hat sie wirklich krank gemacht. Diese absurden Sachen, dass die Deutschen in ihr eine Landesverräterin sahen. Dass sie sie auch nicht mehr gewürdigt haben“. Harald Juhnke glaubte, Romy hätte im Umgang mit der Presse Fehler gemacht: „Wenn sie verzweifelt, wütend, betrunken, krank oder unsicher war, dann hat sie Interviews gegeben. Und wenn ihre Äußerungen gedruckt wurden, mit gewissen respektvollen Korrekturen, hat sie geschrien: Das habe ich nie gesagt, alles erfunden. Sie hat geschimpft wie ein Rohrspatz“. Es war aber keine Naivität, mit der sie sich der Welt präsentierte, sondern kluges Kalkül. Die Medien zimmerten so das Bild einer Leinwandgöttin, die im Privatleben letztlich die selben Probleme hatte wie alle Menschen. Wenngleich manche davon ungleich exzessiver ausarteten. Die Privatperson Romy Schneider existierte gar nicht. Romy, der Star, stand immer in der Auslage, und ganz ungewollt war das von ihr selbst nicht. Aber was zählt in einem Schauspieler-Leben? Die unzähligen privaten Geschichten,

Enthüllungen, Exzesse? Oder ist es nicht vielleicht doch - und gerade im Fall von Romy Schneider - das Werk? WAS BLEIBT? Es ist an der Zeit, dieses filmische Werk Romy Schneiders neu zu bewerten: Jenseits der 50er-Jahre-Kostümfilme, die sie schnell in die Ecke des ewigen Sonnenscheins drängten, hat Romy Schneider in ihren französischen Filmen der 60er und 70er Jahre das bis heute in dieser Form existierende europäische, dramatische Kino grundlegend definiert. Mitentscheidend dabei waren die fünf Filme, die Romy mit ihrem Lieblingsregisseur Claude Sautet drehte. Sautet ist für manche ein um das 08/15-Drama mäandernder Filmemacher gewesen, für andere gilt er als der vielleicht französischste aller Regisseure. „Die Dinge des Lebens“, „Das Mädchen und der Kommissar“, „César und Rosalie“ oder „Eine einfache Geschichte“ waren Filme, die von simpel gestrickten Geschichten zehrten, aus der erst die Besetzung jene Tiefe herauskitzelte, für die sie berühmt geworden sind. Romy Schneider konnte das, was als Subtext, als unausgesprochene Wahrheit,

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„Schon von Anfang an wollte ich ganz nach oben. Ich erinnere mich genau, wie ich nach dem ersten Film zu meiner Mutter sagte: Ich will die Größte werden, ich werde nie halbe Sachen machen“, schrieb Romy Schneider 1974.

zwischen den Drehbuchzeilen stand, mit nur einem Blick ausdrücken. Deshalb sind diese Filme bis heute unvergessen und setzten einen erzählerischen Standard, der eben nur in Kombination von Geschichte und Besetzung hergestellt werden kann. Dieses Kino der Blicke ist zu einem Markenzeichen des französischen Films geworden, wenngleich es nach Romy Schneider nie mehr in dieser Brillanz leuchtete. Nicht umsonst hat man für Schauspielerinnen einen „Prix Romy Schneider“ ins Leben gerufen, den man für diese ganz spezielle Art des dramatischen Spielens bekommt. Juliette Binoche hat ihn bekommen, auch Isabelle Carré, Ludivine Sagnier, Laura Smet oder Mélanie Laurent. Alles Namen, die im französischen Film eine große Rolle spielen, eben weil sie die Kunst der reduzierten Dramatik beherrschen. EINFLUSSREICH  Der Einfluss von Romy Schneider auf das französische, vielleicht sogar das europäische Kino, ist immer noch spürbar. 2001 hat sich François Ozon für seine Komödie „8 Frauen“ eine besonde-

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re Hommage an Romy Schneider einfallen lassen: In seinem Film versammelte er die größten französischen Schauspielerinnen vor einer Kamera: Cathérine Deneuve, Isabelle Huppert, Fanny Ardant, Emmanuelle Béart und Danielle Darieux. Jede von ihnen hat die Filmgeschichte mitgeschrieben, und jede von ihnen wäre es wert, einen Film nur über sie zu drehen. Aber inmitten all dieser Heldinnen des Lichtspiels klafft eine tiefe Lücke, die Ozon raffiniert zu schließen weiß. In einer Szene unterhält sich die Hausherrin (Deneuve) mit dem Stubenmädchen (Béart). Das Mädchen zieht dabei aus ihrer Schürze ein kleines Schwarz-weiß-Foto heraus. „Meine frühere Arbeitgeberin“, sagt sie. Die Deneuve wirft einen Blick auf das Foto. Darauf zu sehen ist Romy Schneider. ERFOLG IN FRANKREICH  Das Schauspielerleben begann für Romy Schneider nicht mit „Sissi“, unter deren Thron sie ihr ganzes Leben lang litt. Auch nicht mit ihren Ausflügen nach Amerika in den 60er Jahren, wo sie mit Orson Welles („Der Prozess“, 1962) oder Woody Allen („Was gibt‘s Neues, Pus-

sy?“, 1965) drehte. Zwei Filme Ende der 60er Jahre bringen Romy, gerade 30 Jahre alt, auf den Weg zum französischen Weltstar: 1968 drehte sie mit Alain Delon, mit dem sie zuvor fünf Jahre das Leben teilte, den Film „Der Swimmingpool“. Damals schrieb sie in ihr Tagebuch: „Ein Beruf ist das, rein in den Swimmingpool, raus aus dem Pool... Alain, ich finde ihn nett, manchmal macht er nach den Liebesszenen auch Witze, und dann müssen wir wahnsinnig lachen...“ Und: „Wenn alle Schauspieler, die einmal zusammen gelebt haben, keine Filme mehr zusammen drehen würden, gäbe es bald keine Filme mehr. Ich empfinde nichts mehr, es ist, als ob ich eine Mauer umarme. Absolut“. „Der Swimmingpool“ wurde ein Triumph. Regisseur Jacques Deray: „Was den Erfolg des Films ausmacht, ist, dass da zwei Menschen sind, die sich mal sehr geliebt haben und sich nach Jahren wieder begegneten“. Der Film wurde sogar zweimal gedreht: Die Dialogszenen wurden zunächst auf Französisch, danach noch einmal auf Englisch gedreht, um den Film in beiden Märkten auswerten zu können. Auf der Blu-ray - bisher die einzi-


Fotos: StudioCanal, DVD „Die Hölle von Henri Georges Clouzot“

Im Geschenkpapier mit Schlaufe servierte sich Romy häufig der Presse, wenn sie bereitwillig Interviews über ihr Privatleben gab - durchaus Kalkül: Denn es war ihr wichtig, präsent zu sein: „Hoffentlich bekommt das Publikum nicht genug von mir“, schrieb sie 1974.

ge Blu-ray eines Romy-Schneider-Films - kann man diese beiden Versionen miteinander vergleichen. Erstaunlich, wie exakt Romy in beiden Versionen dieselben Gefühle spielen kann, trotz der unterschiedlichen Sprache. LEBENSREGISSEUR CLAUDE SAUTET  Romys endgültiger Durchbruch folgt schon ein Jahr später: Mit Claude Sautet dreht sie an der Seite von Michel Piccoli „Die Dinge des Lebens“ (1969), in dem sie die verlassene Geliebte gibt. Wie schon zuvor im „Swimmingpool“ thematisiert der Film das Spiel in der Beziehung, das Pendel zwischen Versuchung und Verlorenheit. Romys Frauentypen sind stark und schwach zugleich, sie können – und das zeigt eine Vielzahl ihrer Rollen – nicht mit und nicht ohne einen Partner. In ihren Filmen traf Romy fortan fast immer die richtige Entscheidung. Sie drehte noch vier weitere Filme mit Sautet, nämlich „Das Mädchen und der Kommissar“ (1970), „César und Rosalie“ (1972), „Mado“ (1976) und „Eine einfache Geschichte“ (1978). Sautet wurde jener Regisseur, zu dem sie das tiefste Vertrauen empfand. Nirgendwo spielt Romy

intensiver als in seinen Filmen. „Sautet ist ein Freund der Schauspieler. Er hat mir die Dinge des Lebens gelehrt – er hat mir etwas über mich selbst beigebracht.“ Nach den Arbeiten an „Eine einfache Geschichte“, für den Romy einen César erhielt, schrieb sie in ihr Tagebuch: „Wenn ich fünfzig bin, und Claude Sautet will mich, verlebt, wie ich dann bin, werde ich zu ihm gehen. Das ist eine Liebeserklärung“. Sautet hat nach Romys Tod verzweifelt nach einer neuen Muse gesucht, die sich ihm ähnlich kompromisslos darbot. Er fand sie in Emmanuelle Béart, mit der er „Ein Herz im Winter“ (1992) und „Nelly und Monsieur Arnaud“ (1995) drehte. ZUFLUCHT IM ALKOHOL  Romy Schneider hatte in Sautet ihren Meister gefunden. Jemanden, der verstand, wie sehr sie von Selbstzweifeln und Versagensangst geplagt war. Sie war eine Perfektionistin, die immer an ihre Grenzen gehen wollte. „Schon von Anfang an wollte ich ganz nach oben. Ich erinnere mich genau, wie ich nach dem ersten Film zu meiner Mutter sagte: Ich will die

Größte werden, ich werde nie halbe Sachen machen“, schrieb sie 1974. Sautet sagte über sie: „Das Wesentliche für sie war, dass rausgeholt wird, was tief in ihrem Inneren verborgen lag. Romy war von einem hohen Perfektionsanspruch, man kann sagen, sie war fast nie mit sich zufrieden“. Sie selbst zweifelte ein Leben lang an sich: „In diesem Beruf habe ich immer Angst, nicht alles aus mir herauszuholen. Jeder Film, in dem ich mitwirke, ist für mich wie eine Wette, die ich unbedingt gewinnen muss. Ich muss mich immer selbst übertreffen“, schrieb sie 1974. Und: „Hoffentlich bekommt das Publikum nicht genug von mir“. Romy suchte immer eine Schulter, an der sie sich anlehnen konnte, wenn es ihr schlecht ging. Mit Harald Juhnke konnte sie nächtelang über ihre Ängste als Schauspielerin reden. Dabei tranken beide flaschenweise Alkohol, zur Angstbekämpfung sozusagen. Juhnke: „Romy hätte einen Partner gebraucht, der sie aus der Misere wieder herausholt. Aber davon wollte sie nichts hören“. LEHRER VISCONTI  Luchino Visconti bezeichnete Romy einmal als ihren größten

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„Die Deutschen wollen mich nicht als Femme fatale, sie wollen mich nicht so sexy. Die Sissi-Generation, die einst die Kinos gefüllt hat, gibt es nicht mehr – es sei denn vor dem Fernsehschirm. Leute, die das heute noch mögen, gehören nicht zur intelligenten Schicht der Jugend“, schrieb Romy.

Lehrer. Er hatte ihr, als sie noch mit Alain Delon in Paris lebte, erstmals die Chance gegeben, auf der Theaterbühne zu stehen. In „Schade, dass sie eine Dirne ist“ spielte sie 1961 die Hauptrolle an der Seite von Delon – in französischer Sprache, die sie mühsam erlernte und hernach fast akzentfrei sprach. Die Premiere musste verschoben werden – Romy hatte eine akute Blinddarmentzündung. Schon vor der Premiere verrissen sie die deutschen Zeitungen. „Alle schrieben von einer ‚diplomatischen Blinddarmentzündung’, weil die Presse glaubte, ich würde auf der Bühne nicht bestehen“, schrieb sie in ihr Tagebuch. Die Inszenierung wurde eine triumphaler Erfolg. SEHNSUCHT NACH DER BÜHNE  Noch oft verspürte Romy Schneider den Drang, Theater zu spielen, vor allem in Deutschland. Ihre Freundin Gertraude Jesserer, mit der sie in dem Film „Die Halbzarte“ (1957) gespielt hatte, wurde in Hamburg zum umjubelten Theaterstar. „Romy wusste, was ich spielte, und hätte gerne mit mir getauscht. Sie war ganz wild auf die Bühne“, sagt Jesserer. Leider blieb ihr dieser Wunsch bis an ihr Lebensende verwehrt.

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ROMY UND DEUTSCHLAND  Denn Romy hatte nach ihrem Umzug nach Paris stets ein gespanntes Verhältnis zu Deutschland. Oder besser: Deutschland zu ihr. Für die Deutschen war sie die Verräterin, die ihr Land verlassen hat, um in Frankreich Filme zu drehen, die die Deutschen nicht verstanden, weil sie sie ewig im Sissi-Kostüm sehen wollten. Romy wurde zur Ausgestoßenen, die Presse fiel regelrecht über sie her. Sie schrieb: „Es gibt verschiedene Filme, die in Frankreich Erfolge waren, aber in Deutschland überhaupt nicht ankamen. Es gab Filme von Visconti und Orson Welles, die in England, Frankreich und Italien Geld machten, nicht aber in Deutschland. Warum, ist für mich ganz klar. Die französische, englische und italienische Presse unterscheidet sich von der deutschen ganz wesentlich. Diese Leute sind viel intelligenter als die deutschen Journalisten, weil dort meine schauspielerische Leistung gewürdigt wird“. Und weiter: „Die Deutschen wollen mich nicht als Femme fatale, sie wollen mich nicht so sexy, wie ich etwa in einer Episode des ‚Boccaccio‘Films gewesen bin. Die Sissi-Generation, die einst die Kinos gefüllt hat, gibt es nicht mehr – es sei denn vor dem Fernsehschirm. Leute, die das heute noch mögen, gehören

nicht zur intelligenten Schicht der Jugend“. „Mich interessieren künstlerische Filme. Der Geschmack im Ausland ist einfach viel besser als bei uns.“ Ihr Wunsch, wieder in Deutschland zu drehen, wird stärker. „Ich würde furchtbar gerne einen deutschen Film drehen, aber es müsste halt ein guter sein. Unter den letzten deutschen Angeboten war nichts Rechtes. Die Eva Braun im englischen Hitler-Film mochte ich auch nicht spielen. Weshalb auch?“ DIE GROSSE EINSAMKEIT  Erst viel später drehte sie wieder in Deutschland: 1977 spielte sie in der Heinrich-Böll-Adaption „Gruppenbild mit Dame“. Die Schauspielerin Evelyn Meyka, die damals an der Seite Romys spielte, erinnert sich: „Romy wurde total abgeschottet. Eigener Wohnwagen, eigene Maske, eigene Garderobe, alles ganz isoliert. Sie kam zu mir und bat um eine Zigarette – nur um Kontakt zu suchen. Ich hatte den Eindruck, einen ganz verletzbaren, wunderbaren Menschen vor mir zu haben. Sie war unheimlich allein. Je mehr Erfolg man hat, desto einsamer wird man“. Regisseur Bertrand Tavernier, mit dem Romy „Der gekaufte Tod“ (1979) drehte: „Romy


Fotos: StudioCanal, DVD „Die Hölle von Henri Georges Clouzot“

Romy Schneider und der erzählerische Subtext: Ihr Kino der Blicke ist zu einem Markenzeichen des französischen Films geworden, wenngleich es nach Romy nie mehr in dieser Brillanz leuchtete.

ist ein europäischer Mythos, zu dessen Verständnis Deutschland nicht in der Lage war und ist.“ Trotzdem, oder gerade weil sie das SissiImage niemals los wurde, spielte sie noch einmal die Kaiserin von Österreich – in Luchino Viscontis Epos „Ludwig II.“ (1972) mit Helmut Berger. Im Februar 1972 schreibt sie: „Nie wieder wollte ich nach den Sissi-Filmen in ein historisches Kostüm steigen. Und nun tat ich es doch. Zwischen der Sissi von einst und meiner heutigen Rolle gibt es nicht die geringste Gemeinsamkeit“. Noch 1981 schreibt sie: „Ich hasse dieses Sissi-Image. Was gebe ich den Menschen schon außer immer wieder Sissi. Sissi? Ich bin doch längst nicht mehr Sissi, ich war das auch nie. Ich bin eine unglückliche Frau von 42 Jahren und heiße Romy Schneider.“ DIE LETZTEN FILME  Nach dem Selbstmord ihres Ex-Ehemannes Harry Meyen im Jahr 1979 machte sich Romy Schneider Vorwürfe, sich nicht genug um ihn gekümmert zu haben. Anfang der 80er Jahre fällt sie in eine tiefe Krise. Das Altern macht ihr zu schaffen, sie trinkt und raucht zuviel, begibt sich auf Kur nach Quiberon. Dort bricht

sie sich bei Fotoaufnahmen einen Knöchel, kurz danach entdeckt man im Krankenhaus einen Tumor an ihrer rechten Niere, die entfernt werden muss. Unter starken Schmerzen dreht sie gleich danach den Film „Das Verhör“ mit Lino Ventura. Sie ist mit ihren Kräften schon am Ende, als ihr das Schlimmste widerfährt: Ihr Sohn David verunglückt beim Überklettern eines eisernen Gartenzaunes tödlich. Romy Schneider äußert sich verzweifelt: „Ich habe den Vater begraben, ich habe den Sohn begraben, ich habe sie beide nie verlassen! Und sie mich auch nicht. Ich will’s zumindest manchmal – ein wenig – noch glauben können“. Romy rafft sich auf und dreht im Herbst 1981 ihren letzten Film, „Die Spaziergängerin von Sans-Souci“. Regisseur Jacques Rouffio: „Zu der Zeit hat Laurent Petin (ihr damaliger Lebensgefährte, Anm.) mich jeden Tag angerufen und gesagt: ‚Bitte drehe mit ihr, sonst stirbt sie’“. Gestorben ist sie ein halbes Jahr später, am 29. Mai 1982. Romy Schneider wurde nur 43 Jahre alt. Was bleibt, sind ihre 58 Filme, in denen sie eine Schauspielerin sein durfte. Mehr wollte sie gar nicht sein.  Paul Heger, Doris Niesser

Am Set zu „Die Hölle“ mit Regisseur HenriGeorges Clouzot (m.) und Serge Reggiani

Romy Schneider, fotografiert von Robert Lebeck, 1981 in Quiberon. Unser Titelfoto ist Bestandteil einer großen Romy-Schneider-Ausstellung, die derzeit in der Bonner Bundeskunsthalle zu sehen ist. Infos: www.bundeskunsthalle.de

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das Ende

Der Mai 1982

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n den letzten Monaten ihres Lebens liest Romy Schneider ein Buch, die Autobiographie der Schauspiel-Diva Eleonora Duse. Darin unterstreicht sie einen Satz, den die Duse zitiert, es ist ein Satz des italienischen Dichters Gabriele D´Annunzio: „Ich weiß, was der Ruhm bedeutet und was das Nahen der Nacht.“ Und beides, das kennt auch Romy Schneider nur allzu gut, diesen unermesslichen Ruhm, und, ja, das Nahen der Nacht… Anfang Mai reist Romy mit ihrem Lebensgefährten Laurent Pétin in die Schweiz, nach Zürich, und sucht dort ihren Vermögensverwalter, Rechtsanwalt Dr. Jürg Henrik Kaestlin auf. Romy hat finanzielle Probleme, und sie will das alte Haus in Boissy-sans-Avoir doch kaufen. In der Nacht des 10. Mai 1982 setzt sie handschriftlich urplötzlich ihr Testament auf. Es ist, als nähme sie das bevorstehende Nahen der Nacht vorweg, als ahne sie ihr eigenes nahendes Ende. Von den noch lebenden Verwandten – Tochter Sarah Biasini, Ex-Ehemann Daniel Biasini, Bruder Wolf-Dieter Albach – tritt kurz darauf keiner das Erbe Romy Schneiders an, da vom Vermögen, an dem sich so manche aus ihrem Umfeld so ungehemmt bedienten, nichts mehr geblieben ist außer

Die Bilder unserer Fotostrecke stammen aus dem Film „Die Hölle von Henri-Georges Clouzot“, der die Geschichte von Romy Schneiders unvollendet gebliebenem Spielfilm „Die Hölle“ (1964) nachzeichnet und bei StudioCanal/Arthaus auf DVD erschienen ist.

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Schulden, französischen Steuerschulden vor allem, die Angaben variieren verschiedentlich zwischen drei Summen: sieben, neun und elf Millionen Francs. Am 28. Mai, es ist ein Freitag, da gehen Romy Schneider und Laurent Pétin zu Laurents Bruder Jérôme und dessen Frau Claude, sie essen alle gemeinsam in deren Wohnung, trinken, reden. Etwa über das im März neu gefundene Haus in dem Dorf Boissy-sansAvoir, knapp 50 Kilometer westlich von Paris, dort, wo sie sich noch richtig einrichten müssen, den Sommer verbringen wollen, nur sie beide und Töchterchen Sarah. An Pfingsten, am bevorstehenden Wochenende, da sind sie schon mit Jean-Claude Brialy verabredet, auch zum Abendessen. Romy und Jean-Claude, sie kennen sich seit den fünfziger Jahren, schon seit damals, als sie mit Alain zusammen in Christine spielten. Das ist fast 25 Jahre her. Eine Freundschaft über ein Vierteljahrhundert. Er kennt sie mit am besten. Und doch merkt auch er nicht, dass der Tod um seine Freundin Romy herum strich, wie er es später einmal formuliert. Zu dem Treffen mit diesem, einem ihrer ältesten Freunde überhaupt, soll es nicht mehr kommen. Und keiner scheint zu spüren, dass es das Nahen der Nacht ist… Am frühen Morgen des 29. Mai wacht Laurent Pétin allein im Bett in der im siebten Arrondissement unweit des Invalidendoms gelegenen Wohnung in der Rue Barbet de Jouy auf. Romy liegt nicht neben ihm. Es ist etwa sieben Uhr. Tochter Sarah schläft noch. Er geht durch die Wohnung und findet Romy im Salon, am Schreibtisch sitzend, kopfüber. Inmitten eines handschriftlichen Briefes an eine französische Zeitschrift bricht sie ab. Er spricht sie an, doch sie reagiert nicht. Romy Schneiders Herz, es hat gegen fünf Uhr in der Nacht einfach zu schlagen aufgehört. Herzversagen lautet die offizielle Todesursache. Sie konnte nicht mehr. Oder, wollte sie nicht mehr? Sie ist 43 Jahre alt. Romy Schneiders Begräbnis findet am Vormittag des 2. Juni 1982 in Boissy-

sans-Avoir statt. Dort, wo sie eigentlich leben wollte, dort wird sie nun beerdigt. Hubschrauber kreisen über dem kleinen Friedhof mit der mittelalterlichen Dorfkirche Sankt Sebastian, Fotografen sitzen in den Hubschraubern, die als erste das beste Foto schießen und meistbietend an die Weltpresse verkaufen wollen. Das Foto vom Sarg und der Bestattung eines Weltstars. Zeitweise ist die Grabrede von Regisseur Jacques Rouffio nicht zu hören, die Motorenund Propellergeräusche in der Luft sind zu laut. Eine geradezu pervertierte Situation. ALAIN DELON FEHLTE  Viele sind gekommen an diesem Tag. Neben Romy Schneiders Familie, Bruder Wolf-Dietrich mit Frau Alba und Tochter, Laurent Pétin sowie dem geschiedenen Ehemann Daniel Biasini, nehmen auch langjährige Wegbegleiter wie ihr Kollege Michel Piccoli oder Jean-Claude Brialy von ihr Abschied. Mutter Magda Schneider bleibt nach ihrem erlittenen Herzinfarkt in Deutschland. Nur einer fehlt sonst auf der Beerdigung. Er kommt später, an einem anderen Tag, als die gierige Meute weg ist und aller Rummel vorbei. Still und leise nimmt Alain Delon allein von seiner Romy, von seinem „Puppele“ Abschied. Und so ist denn auch jener umstrittene öffentliche Brief, der in Frankreich in Paris Match, in Deutschland zeitgleich auf Deutsch in der Quick erscheint, „Adieu ma Puppele“ überschrieben (Paris Match, 11. Juni 1982). Umstritten, da Delon ihn nicht allein aufsetzt, umstritten, da er bei aller von ihm stets betonten Diskretion seinen Abschied öffentlich macht. Ist das notwendig, fragen sich viele. Es war Romys Großmutter Rosa AlbachRetty, von der der viel zitierte und die Dinge so ambivalent antizipierende Satz stammt, den sie zu beider Lebzeiten äußerte: „Wer sich wie sie so hemmungslos von seinen Emotionen, Leidenschaften und Begierden treiben lässt, denkt sicher nicht daran, dass eine Kerze, die man an beiden Seiten anzündet, auch schneller abbrennt..." Auch am 29. Mai 2012, an Romy Schneiders 30. Todestag, wird dieses leicht zu übersehende unauffällige Grab wieder vollgestellt sein, werden es die Menschen, die es wirklich finden wollen, auch finden: Diesen Ort, der so ganz eigen ist in seiner Atmosphäre und Stimmung. Der so abgelegen ist von allem, so weit weg. Der wie der Welt abhanden gekommen scheint. Diesen Ort, an dem Romy Schneider begraben ist.  Thilo Wydra


zum 30. todestag

romy als Buch, auf DVD & im TV Romy überall: Neue (Hör-)Bücher erscheinen aus Anlass ihres 30. Todestages, und im Fernsehen widmet 3sat Romy Schneider eine große Filmreihe mit zehn Filmen und zwei Porträts (Details siehe Kasten unten). Außerdem erscheint bei StudioCanal eine umfangreiche (wenn auch unvollständige) neue DVD-Edition, mit insgesamt 13 Filmen, darunter die DVD-Premieren „Die Bankiersfrau“, „Die Geliebte des Anderen“ und „Le Train – Nur ein Hauch von Glück“

Das Leben von Romy Schneider als Hörbuch, erschienen in der Reihe „Berühmte Persönlichkeiten“ bei Monarda Publishing House (EUR 9,99)

ROMY IN BUCHFORM „Wir wollen, dass dieses Buch abbildet, wer Romy Schneider wirklich war und was sie bis heute verkörpert. Wir wollen, dass unsere Leser von ihrer Anmut und ihrer Schönheit überwältigt werden, von diesem Leben, dass sich um sie spann mit all seinen Dramen“, schreibt Sarah Biasini, Herausgeberin und Tochter Romy Schneiders über dieses Buch. Der großformatige, in qualitativ hochwertiger Ausstattung produzierte Bildband versammelt seltene Dokumente und 300 zum Teil unveröffentlichte Fotografien. Das Buch ist bei Edel.Books erschienen. (EUR 36,00)

Die Romy-Biografie von Günther Krenn (Filmarchiv Austria) wurde als E-Book neu aufgelegt, erhältlich im Amazon Kindle-Store (EUR 8,10)

Fotos: StudioCanal; ORF

ALLE TV-TERMINE auf einen Blick 19.05.2012, 11:20 Uhr: Christine, ORF 2 20.05.2012, 23:00 Uhr: Die letzten Tage einer Legende: Romy Schneider, ORF 2 20.05.2012, 23:45 Uhr: Die Spaziergängerin von Sans-Souci, ORF 2 21.05.2012, 01:55 Uhr: Die letzten Tage einer Legende: Romy Schneider, ORF 2 23.05.2012, 00:15 Uhr: Leih mir deinen Mann, ORF 2 27.05.2012, 17:20 Uhr: Monpti, 3sat 27.05.2012, 20:15 Uhr: Romy, 3sat 28.05.2012, 17:20 Uhr: Christine, 3sat 28.05.2012, 20:15 Uhr: Ludwig II, 3sat 28.05.2012, 02:25 Uhr: Ludwig II, 3sat 29.05.2012, 22:25 Uhr: Romy Schneider Eine Frau in drei Noten, 3sat 30.05.2012, 22:25 Uhr: Das wilde Schaf, 3sat 31.05.2012, 22:25 Uhr: Die Liebe einer Frau, 3sat 01.06.2012, 16:15 Uhr: Die Halbzarte, 3sat 01.06.2012, 22:25 Uhr: Die Spaziergängerin von Sans-Souci, 3sat

„Die Liebe einer Frau“ (31.05., 22.25 Uhr, 3sat)

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interview

Filmstart: 04.05.12

MADS MIKKELSEN

als Leibarzt des dänischen Königs und Schattenherrscher: Ein Gespräch zu „Die Königin und der Leibarzt“

Le roi, c'est moi W

ahre Begebenheiten als verfilmte Geschichte in „Die Königin und der Leibarzt“: Das Macht- und LiebesDreieck zwischen der dänischen Königin Caroline Mathilde (Alicia Vikander), ihrem schwachsinnigen Mann (Mikkel Boe Følsgaard), König Christian VII., und dem deutschen Arzt und Aufklärer Johann F. Struensee (Mads Mikkelsen). Weil Christian VII. nicht wirklich geistig auf der Höhe ist, beginnt Struensee mehr und mehr, die Staatsgeschäfte zu übernehmen. Dies tut er gemeinsam mit Königin Caroline Mathilde, mit der er auch eine Affäre beginnt. Den großen Ideen der europäischen Aufklärung verpflichtet, setzt er Presse- und Meinungsfreiheit durch, schafft Folter und Leibeigenschaft ab, reformiert das Schulwesen und beschneidet die Privilegien des Adels. Bald jedoch fürchtet der Adel um seine Macht, und Struensee landet vor Gericht. Das Drehbuch verfassten Nikolaj Arcel (auch Regie), Rasmus Heisterberg und Lars von Trier. celluloid traf Mads Mikkelsen zum Gespräch in Berlin. celluloid: Wie vertraut waren Sie mit diesem Teil der dänischen Geschichte? MAD MIKKELSEN: Ziemlich, es ist dies ein richtiges Kronjuwel in der dänischen Geschichte. Wir haben keine derart bewegte Geschichte wie die Briten oder die Franzosen, aber wir haben unsere kleinen Schätze, und

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dies ist ein solcher. Aber natürlich habe ich erst im Laufe der Arbeit am Material die Dualität der beteiligten Figuren verstanden. Wir hatten nicht wirklich in der Schule darüber gelernt, es ist eine eher mündlich überlieferte Geschichte. Ich wusste vorher nie wirklich mehr, als dass es da einmal diesen deutschen Typen gegeben hatte, der rüberkam, Sex mit unserer Königin hatte und das Land übernahm. Er wurde als Held gesehen, aber auch als Verräter. Wie beschreiben Sie ihn? Er ist ein ziemlicher Idealist, dabei aber sehr entspannt. Er hat absolut keine Ambitionen, die Welt zu ändern. Er ist Arzt, schreibt seine Gedanken auf, aber er ist kein Revolutionär. Als er die Stelle am Hof bekommt, bedeutet das einen sozialen Aufstieg. Dann verliebt er sich zuallererst in den König; er findet ihn einen fantastischen, begabten, jungen Mann. Auch für den König ist er eine Art Mentor, ein Weg, in die Welt hinaus zu kommen. Aber später wird er zum Diktator. Er wird zu dem, was er hasst. Wie erklären Sie den aktuellen Boom an royalen Dramen im Kino, besonders auch aus Dänemark? Das sind einfach Phasen. Dänemark trat filmisch zum ersten Mal wirklich während der Dogmafilm-Periode in Erscheinung, und nun sind eben Period-Pieces dran. Dieser Trend hält sich nun schon eine Weile, aber solche Filme sind auch sehr teuer, und Dänemark ist ein kleines Land, kann solche Filme also nur in

Koproduktion mit anderen Ländern machen. Dramen, egal ob historischer oder anderer Art, sind immer populär, denn das Leben ist eben keine Komödie. Historische Dramen mit politischem Hintergrund sind oft auf das Heute umlegbar, weil sich Korruption und politische Machenschaften im Grunde nie ändern. Man sagt immer „Menschen ändern sich nicht“, aber stimmt das denn? Emotionen und Ängste ändern sich vielleicht nicht, aber doch der Umgang damit? Das denke ich auch. Dieser Film soll auch keine Geschichts- oder Morallektion sein. Er soll Emotionen wecken und wiedererkennbar machen. Zu jener Zeit hätte sich ein Mann niemals derart um ein Baby gesorgt oder um eine Frau, aber das hätte für ein heutiges Publikum eine Distanz kreiert, die man nicht verstehen würde und die dem Zugang zum Film im Weg gestanden wären. Wir behandelten das Material mit großem Respekt, weil es auf wahren Ereignissen und echten Menschen basiert, aber gleichzeitig mussten wir es so aufbereiten, dass es zugänglich ist. Aus rein logistischen Gegebenheiten haben wir etwa auch das Gewicht der beiden Hauptfiguren „geändert“. Der Leibarzt war in Wirklichkeit klein und untersetzt, auch die Königin war massiv übergewichtig. Ihre Verbindung war eine politische Allianz, aber in den Briefen der Königin erkennt man ihre tiefe Liebe. Liebe hat es also auch damals gegeben. Bei Historien-Dramen spielt außer-


dem immer auch der Glamour-Faktor mit. Die Society-Geschichten über diverse so genannte Royals heutzutage haben eine große Fangemeinde. Völlig richtig, jeder möchte diesen Glamour auch irgendwie spüren. Es hat Märchen-Charakter, bietet einen großen Eskapismus und eine große Faszination. Aber viele Filme haben uns ja auch schon gezeigt, dass es auf königlichem Hofe oft gar nicht so glamourös zuging, und viele unter der Last, ein Land zu regieren, zerbrachen oder verrückt geworden sind. Die dänische Königin hat Sie zum Ritter geschlagen, richtig? Ja, das war irgendwie witzig. Mein Manager wurde dadurch automatisch zu meinem Junker, keine Ahnung ob ihm das gefiel (lacht). In Dänemark mögen wir unsere Royals, weil sie nicht abgehoben wirken. Sogar die extremsten Linken haben Respekt für das Königshaus. Wir sind alle keine Royalisten oder religiös. Aber wir mögen das Solide, denke ich, das finden wir niedlich. Und sie arbeiten ja auch wirklich hart, dieses ganze Hände-Schütteln den ganzen Tag, die vielen Wurstfabriks-Eröffnungen, ich meine, das ist doch anstrengend (lacht). Mögen Sie an Ihrem Job denn das viele Hände-Schütteln? Doch, das mag ich. Ausgenommen, wenn ich nicht gerade stolz auf einen Film bin, was ja auch schon ein paar Mal vorgekommen ist. Vermissen Sie die Dogma-Zeit?

Ich habe in einem Dogma-Film mitgespielt, war aber auch schon vorher in Filmen, die ich als Dogma bezeichnen würde: ohne Geld und gemacht, wie wir wollten. Ich liebe diese Rock’n’Roll-Energie, diese freie Art, zu arbeiten. Ich glaube, die Zeit hat der ganzen dänischen Filmindustrie, auch den Schauspielern, sehr viel gebracht. Aber ich begrüße es sehr, dass es auch andere Genres gibt. Sie selbst haben schon in diversen Genres gespielt. Absolut, und die meisten Period-Pieces, die ich bisher gemacht habe, waren eher im Action-Genre angesiedelt, wie zum Beispiel „King Arthur“. So genannte Schwert-Schwinger-Filme, die ich gerne gemacht habe, bevor ich dafür zu alt bin. Und ich habe das genossen. Sehen Sie, ich habe mir nicht als Achtjähriger schon französische Dramen oder italienische Meisterwerke angesehen. Nein, ich bin mit Action-Filmen aufgewachsen. Ich habe auch nie davon geträumt, Schauspieler zu werden. Aber ich wollte dieser Pirat sein, den ich als Kind im Film gesehen hatte. Oder dieser Schwertkämpfer, was auch immer. Ein Historien-Drama ist neu für mich; es hat mir sehr geholfen, im Kostüm an historischen Orten zu spielen. Aber gerade dieser Film schafft es meiner Meinung auch, die Emotions-Ebene ins Heute zu holen, während die Charaktere in einem Geschichts-Setting agieren. Kennen Sie als Schauspieler das Peter-Pan-Syndrom?

Bestimmt, aber es ist für meine weiblichen Kollegen viel härter. Ihre Karriere ist im Prinzip vorbei, wenn sie 22 sind und geht erst wieder weiter ab 50, weil die Rollen für Frauen einfach dementsprechend sind. Männer sind nicht derart unter Alters-Druck in diesem Geschäft, aber unsere Sorge gilt unserer Fitness. Eine Action-Rolle zu spielen, heißt also immer auch: Ja, ich bin noch fit genug, ja, ich kann noch über diesen Bach springen oder ein Schwert halten. Mussten Sie jemals gegen Ihr „Casino Royale“-Image kämpfen? Nein, nie wirklich, ich habe so viele unterschiedliche Rollen gespielt, dass das ich nie darauf festgelegt wurde. In diesem Film bin ich für die königliche Gesellschaft auch der Bösewicht, obwohl ich eigentlich der Gute bin. Damals spürte man, dass die Zeit der Aufklärung unmittelbar bevorstand, die Menschen wussten, dass es bald gravierende Veränderungen geben würde, eine gesellschaftliche Revolution. Als bekanntester dänischer Schauspieler, wollten Sie nie mit dem bekanntesten dänischen Regisseur, Lars von Trier, arbeiten? Mit wem? (lacht) Sicher, wir könnten einen neuen Nazi-Film machen! Nein, im Ernst, er ist ein witziger, intelligenter, interessanter Mann und Regisseur, aber ich habe ihn noch nie persönlich getroffen.  Interview: Alexandra Zawia

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wien-besuch

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Foto: Tuma

Filmstart: 27.04.12


AMERICAN REUNION

Jason Biggs und die „American Pie“-Crew in Wien auf PR-Tour für die Neuauflage der pubertären Filmblödelei

Erwachsen werden?

WOZU? J

a, den Wiener Apfelstrudel hat er schon probiert, eh klar. Und nein, diesmal hat er nicht sein bestes Stück reingesteckt, so wie er das anno 1999 bei der amerikanischen Strudelvariante tat. Damals war „American Pie“ die ulkige Spaßschleuder für pubertierende, daueronanierende Buben, und ihr Star war Jason Biggs, der keine Gelegenheit ausließ, seinem Hormonstau Auslauf zu gewähren. Biggs wird bald 34, aber reifer ist er nicht geworden. In seinem Fall ist die Pubertät berufsbedingt, denn zusammen mit seinen Kollegen von einst, darunter Chris Klein, Mena Suvari und Seann William Scott, muss er nun in „American Pie: Das Klassentreffen“ erneut derbe Späße machen. Die Karrieren der „American Pie“-Darsteller verliefen allesamt nicht rosig, manche sogar im Sand. TV-Movies, Werbespots, das war’s dann. Grund genug also für eine Neuauflage mit bewährtem Rezept. Und um dafür die Werbetrommel zu rühren, kommt man sogar eigens nach Wien. Gar nicht so üblich, denn wenn US-Produktionen auf PR-Feldzug nach Europa geschickt werden, dann ist zumeist Berlin der Ort für Premieren und Interviews, um den deutschsprachigen Markt zu „covern“. Doch im heiß umkämpften Kinomarkt mit bis zu zehn neuen Filmstarts pro Woche gehen jetzt auch die Hollywood-Studios zunehmend auf Nummer sicher: nicht nur thematisch (Remakes, Sequels), sondern auch beim Abdecken kleinerer Märkte wie Österreich. Es lohnt sich offenbar, für Publicity hierher ins Hotel Imperial zu kommen, das hat nichts mit dem guten Apfelstrudel des Hauses zu tun. Damals wie heute sind die Slapstick-Teeniekomödien gespickt mit Schlägen unter die Gürtellinie, und obwohl das Ensemble von einst vollzählig zur „Reunion“ antritt und

alle längst seriös, weil über 30 sind, geht es in „American Pie: Das Klassentreffen“ doch nur wieder um das eine: (spät-)pubertäre Späßchen rund um Penis, Vagina, Brüste und Sex. Ob solcher Untiefen machen gehaltvolle Fragen kaum Sinn, also werfen wir Herrn Biggs und seiner Entourage lieber Begriffe hin, zu denen sie dann frei assoziieren können. „Sex“ zum Beispiel. „Sex?“, fragt Jason Biggs. "Ich habe keinen Sex. Ich halte davon gar nichts.“„Natürlich hältst du was davon“, fällt ihm Schauspieler-Kollege Chris Klein ins Wort, der im Film erneut die Rolle von Oz spielt. „Glauben Sie mir, Jason ist der totale Sex-Freak.“ „Jetzt haben Sie mich aber geil gemacht“, legt Biggs nach. DOPPEL-D  Nun ja. Aber worüber soll man sonst sprechen mit Darstellern aus einem Film, in dem sich alles nur um Sex dreht? Viele der Filmfiguren sind mittlerweile in fixen Partnerschaften, einige verheiratet, manche haben Kinder. Aber sind sie deshalb glücklich? Jim (Biggs) onaniert im Film zu Web-Pornos, während seine Ehefrau Michelle (Alyson Hannigan) zeitgleich im Badezimmer dafür den Duschkopf benutzt. Praktisch auch, dass das Klassentreffen der „American Pie“-Combo zufällig mit dem 18. Geburtstag von Kara zusammenfällt, für die Jim einst den Babysitter gespielt hat. Jetzt ist Kara aber groß geworden und füllt ihre Doppel-D-Körbchen endlich aus. Der einstige Babysitter brummt wie eine Trafo-Hütte. Alles beim Alten also. Die Schmähs von damals ziehen heute noch genauso, und daher kommt es vor, dass Jim im Film seinen Penis hinter einem gläsernen Topfdeckel zu verbergen sucht, oder auch mit der volltrunkenen, nackten 18-Jährigen beinahe in die Arme seiner Ehefrau stolpert. Alles ein reines Versehen, natürlich.

„Auch für uns war das Wiedersehen beim neuen Film wie ein Klassentreffen“, sagt Biggs. „Nach 30 Minuten war klar: Es hat sich nichts verändert seit dem letzten ‚American Pie‘-Film von 2003. Wir waren sofort wieder auf derselben Wellenlänge.“ Erwachsen werden? Wozu? Stellt sich also die Frage nach der Zielgruppe: Buben, die über dreckige Teeniewitze lachen? Männer, die über dreckige Teeniewitze lachen? „Alle, am liebsten alle“, sagt Chris Klein, auch, wenn das aufgrund des R-Ratings in den US-Kinos (Unter-17-Jährige dürfen nur in Begleitung eines Erwachsenen in den Film) eine Illusion bleiben dürfte. „Die Amerikaner sind sehr streng, was die Jugendfreigaben betrifft“, klärt Jims Film-Dad Eugene Levy auf. „Für Euch hier in Europa ist das wahrscheinlich lächerlich.“ Levy zeigt, im Unterschied zum Rest des Teams, tatsächlich Interesse an Wien und seinen Sehenswürdigkeiten. „Man hat mir eine Fiakerfahrt um die Ringstraße empfohlen. Meinen Sie, das lohnt sich?“, fragt er. Aber ja, Wien lebt doch von seinen Klischees. Und geben Sie bitte schön Trinkgeld! „Das werde ich tun! Eine tolle Stadt“, sagt Levy. Auch Jason Biggs ist begeistert, kulinarisch: Er soll, dem Vernehmen nach, nun auf Sachertorten umgestiegen sein. Die haben eine festere Konsistenz.  Matthias Greuling

Unser video-interview unter http://tinyurl.com/bmt49xf

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connection Filmstart: 07.06.12

Der Französische Film

hat in den österreichischen Kinos Hochsaison. Auf den folgenden Seiten stellen wir Ihnen die wichtigsten Filme vor, die nun bei uns anlaufen. Den Auftakt machen JEAN RENO und Michaël Youn mit der Komödie „Kochen ist Chefsache“

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lexandre Lagarde (Jean Reno) ist Frankreichs berühmtester Sternekoch, von allen Seiten bewundert. Doch als ihn der FinanzBoss Stanislas (Joulien Boisselier), zu dessen Gruppe sein Edelrestaurant gehört, durch einen jüngeren Koch und durch HighTech-Molekularküche ersetzen will, bekommt es der der französischen Traditionsküche verpflichtete Lagarde mit der Angst zu tun. Da läuft ihm Jacky Bonnot (Michaël Youn) über den Weg: Im Leben eher ein Versager, der keinen Job länger als zwei Tage behält, entpuppt er sich als wahrer Kochkünstler. Fortan tritt das Duo an, um die Ehre der französischen Küche wieder herzustellen. celluloid sprach mit Jean Reno und Michaël Youn über ihre turbulente Küchen-Komödie „Kochen ist Chefsache“.

Wenn du aber versuchst, lustig zu sein, und bist es aber nicht, dann ist es offensichtlich, dass du das Publikum nicht zum Lachen gebracht hast. Dann bist du echt im Arsch. Das ist alles eine Frage von Rhythmus, das ist fast schon mathematisch. J.R: Manchmal gibt es diese magischen Momente, in denen man sich auf eine komische Szene vorbereitet und dann ist sie beim ersten Mal im Kasten. Das ist wunderbar!

spielen aber in keiner Sportart mehr an der Spitze mit. M.Y: Man kann in Frankreich noch immer überall sehr gut essen. Der Grund, weshalb das französische Essen so gut war: Wir haben die Tradition immer sehr respektiert. Wenn man aber international mit den neuen Küchen mithalten will, muss man seine Art zu Kochen verändern. Das ist etwas paradox für uns Franzosen, da wir die Tradition so sehr lieben.

Sie haben de Funès und Coluche erwähnt. Beide haben in den 70ern mit „Brust oder Keule“ einen Film über die französische Haute Cuisine gedreht. J.R: Ja, der Film ist in Frankreich sehr berühmt. Es ging um den Unterschied zwischen der gehobenen Küche und der industriellen Verpflegung.

celluloid: Meine Herren, können Sie eigentlich kochen? JEAN RENO: Ja, ich kann kochen. Auf welchem Level? J.R: Man kann es essen. Michaël Youn: Ich koche ausschließlich für Frauen. J.R: Du bist also nicht schwul? M.Y: Nein, Jean, es tut mir leid, dass deine Phantasie nicht wahr wird.

Und nun machen Sie beide einen Film über die Haute Cuisine. In welchem Zustand befindet sie sich heute, 40 Jahre später? J.R: Es gibt heute viele einstige Spitzenköche, viele „Chefs“, die aus sich eine Firma gemacht haben und mit der Industrie zusammenarbeiten. Viele der Spitzenköche arbeiten schon lange nicht mehr in Frankreich, sondern in New York oder Tokio. Heute gibt es andere Spitzenköche in Europa, die nicht mehr aus Frankreich kommen. In Oslo steht das beste Restaurant der Welt. Die Köche in Frankreich stammen aus Spanien, aus England oder Italien. Das große Geld hat die französischen Köche zum Weggehen animiert, und nachgekommen sind neue Talente aus dem Ausland.

Als Schauspieler haben sie oft die Möglichkeit, in Sterne-Restaurants zu essen. Sind Sie ein Fan der Haute Cuisine, oder was braucht es, um sie satt und zufrieden zu machen? J.R: Ich brauche immer jemanden, der mich motiviert, in teure Restaurants zu gehen. Von selbst würde ich das nicht tun. Ich bin niemand, der aus seiner Prominenz solche Vorteile ziehen will. Ich will eher ein ruhiger Gast sein. Es ist wichtig, in Ruhe zu essen. Es gibt außerdem ein Problem beim Ausgehen, wenn man ein Prominenter ist: Man kann mit seiner Anwesenheit den Abend anderer Leute zerstören. Eine Brasserie, ein großes Buffet, ein Mann und eine Frau sitzen sich gegenüber. Er ist ganz verliebt in sie und flirtet heftig. Er möchte am Ende des Abends mit ihr nach Hause gehen. Und sie ist für seine Anmache ganz empfänglich. So. Und dann komme ich, Jean Reno, ins Lokal. Sie sieht mich, sie dreht sich zu mir, und strahlt mich an. Er bekommt das natürlich mit, und sein Plan droht ins Wasser zu fallen. Ab diesem Moment hasst er mich abgrundtief.

Wie haben Sie in diesem Film die Balance gefunden, dass keine ihrer Figuren die andere übertrumpft? M.Y: Es geht bei diesem Film aussschließlich um das Team, niemand von uns beiden sollte witziger als der andere sein. Jean ist ein phantastischer Schauspieler, weil er in gewisser Weise noch immer ein Amateur ist. Er betrachtet sich und seine Arbeit noch immer mit denselben Augen wie am Beginn seiner Karriere, mit einer gewissen Unschuld. J.R: Danke. Kann ich jetzt gehen? Im Ernst: Ich sehe mich nicht als Komiker. Für mich wäre das zuviel gesagt. Das ist ein viel zu schwieriger Beruf für mich. Ist das schwieriger als Drama? J.R: Haben Sie denn viele Komiker hier in Österreich? Nun ja, viele, die sich zumindest dafür halten. J.R: Ich meine Leute wie Louis de Funès oder Coluche oder Steve Martin. In Italien hatten sie sogar Komiker in der Politik, zum Beispiel Berlusconi. M.Y: Das Problem mit dem Lustigsein ist, nicht lustig zu sein. Wenn man eine dramatische Rolle spielt, und man ist nicht gut darin, dann kümmert das das Publikum wenig.

Hat sich die französische Küche seither geändert? M.Y: In Frankreich denken wir ja noch immer, wir hätten die beste Küche der Welt und sind auch entsprechend stolz darauf. Wenn man Leute außerhalb Frankreichs fragt, dann finden die aber die spanische oder skandinavische Küche mittlerweile viel besser. Also kommen die französischen Chefs langsam drauf, dass sie viel härter arbeiten müssen als früher. Die Zeiten des Erfolges sind vorbei, jetzt sind die Zeiten des Wettbewerbs. Wenn wir heute weiterhin führend in der Küche sein wollen, müssen wir uns überlegen, wie wir mit dem kulturellen Erbe der Kochkunst umgehen. J.R: Aber es gibt auch Köche aus Frankreich, die nach Asien gingen und die dortige Küche veränderten. Diese Vermischung ist in Zeiten der Globalisierung ganz normal. Nehmen sie die Briten: Die sagen, sie hätten alle möglichen Sportarten der Welt erfunden,

So verlieren Sie also Ihre Fans? J.R: Exakt! Deshalb sitze ich lieber in einem stillen, dunklen Eck an einem Tisch, wo mich niemand erkennt. M.Y: Wenn man so weltberühmt wie Jean ist…. J.R: Oh danke, Sir! M.Y: Keine Ursache. Also, wenn man weltberühmt ist, dann muss man in spezielle Lokale gehen, von denen man weiß, dass das Essen gut ist und die Stimmung ruhig und diskret. Wenn man beim Essen andauernd fotografiert wird, macht es keine Freude. Man muss mit sich und dem Essen alleine sein können. Was ist Ihr Lieblingsgericht? M.Y: Linguine alle vongole. J.R: Bei mir gibt es mehrere: Ich liebe zum Beispiel diese vietnamesischen Frühlingsrollen, die man Nem nennt. An der ChampsÉlyssées gibt es einen Laden, da bestelle ich regelmäßig einen großen Berg davon. Und dazu einen hervorragenden Wein. Herrlich!  Interview: Paul Heger

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special

KRIEG ist die Chance, eine Niederlage abzuwenden

VALÉRIE DONZELLI hat mit „Das Leben gehört uns“

den eigenen Kampf gegen die Krankheit ihres Sohnes zu einem lebensbejahenden Spielfilm gemacht. celluloid traf sie und ihren Ex-Partner Jérémie Elkaim

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oméo und Juliette treffen sich in einer Pariser Diskothek. Ein Blick, und die Liebe bricht aus. Die Krönung ist ihr Sohn, bei dem mit 18 Monaten ein Gehirntumor festgestellt wird. Unterstützt von Freunden und Familie kämpft das Paar gegen das Schicksal, für ihr Kind und für sich selbst. Ihre Liebe hält das Auf und Ab der Hoffnung nicht durch, aber wenn sie fünf Jahre später mit dem geheilten Kind am Strand spazieren, wissen sie, dass sie sich immer nah sein werden. Extrem lebensbejahend inszeniert die französische Schauspielerin und Regisseurin Valérie Donzelli mit ihrem ehemaligen Lebensgefährten Jérémie Elkaïm in der zweiten Hauptrolle diese ebenso authentische wie romantische autobiografische Geschichte über ein modernes Liebespaar. Vor eine harte Bewährungsprobe gestellt, erklären die beiden Liebenden dem Feind ihres Glücks kurzerhand den Krieg und kämpfen ebenso kraft- wie humorvoll für ihr Happy End. celluloid: Trotz des traurigen Themas tröstet und ermutigt der Film – etwas,

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das Sie unter anderem auch durch den wilden Genremix herbeiführen... Valérie Donzelli: Wir wollten weder eine Tragödie noch eine Komödie machen. Man ist versucht, diesen Film einfach als lebendigen Film zu bezeichnen. Ich finde es selbst schwer, ihn zu beschreiben. Ich glaube, dass er kein Drama ist, und auch keine Tragödie, ebensowenig ein Melodram. Wenn wir jetzt zurückblicken, tendieren wir dazu, ihn als einen sehr physischen Film zu sehen, intensiv und lebendig. Zuerst wollte ich einen Actionfilm drehen, einen Western, einen Kriegsfilm, darauf bezieht sich der französische Titel „La guerre est déclarée“. Mir gefiel die Idee, eine Tür zu öffnen und zu schauen, was dahinter liegt: Die Begegnung mit einem jungen Paar, das ein echtes, kein scherenschnittartiges Abenteuer erlebt. Jérémie Elkaïm: Es ist, als ob sich Romeo und Julia begegnet wären, um diese Prüfung zu bestehen. Durch den Film zieht sich das Motiv des Schicksals; aber es ist ein Schicksal, das eher gemeistert wird, als dass die Hauptfiguren sich ihm fügen. Für mich

setzt sich das Leben aus einer Folge von Prüfungen zusammen, die man bestehen muss, schwere und leichte, glückliche und unglückliche. Man erklimmt den Berg, Schritt für Schritt. Was einen nicht umbringt, macht einen stärker. Adam ist das Resultat der Verbindung von Roméo und Juliette. Warum er mit dieser Krankheit geschlagen ist? Wenn Roméo Juliette diese Frage stellt, erwidert sie: „Weil wir das schaffen können.“ Die Prüfung nimmt eine fast mystische Wendung; die Frage, ob das Pech ist oder Ungerechtigkeit, stellt sich gar nicht mehr. Wie haben Sie den intimen, instinktiven Schmerz, der durch diese Ereignisse bei Ihnen ausgelöst wurde, in einen Film übertragen, mit dem sich jeder identifizieren kann? Valérie Donzelli: Für mich ist das genau das, was Kino ausmacht: Man beginnt damit, Nabelschau zu betreiben, um dann wegzuzoomen, um eine universelle Geschichte zu erzählen: Da geht es um Kindererziehung und den Umstand, als Eltern mit dem Schlimms-


Fotos: Polyfilm

Filmstart: 27.04.12

Mit dem Schicksal auf Kriegsfuß: Valérie Donzelli und ihr Ex-Partner Jérémie Elkaïm spielen in „Das Leben gehört uns“ ihre eigene Geschichte nach

ten konfrontiert zu werden, das man sich vorstellen kann – nämlich dass dein Kind zwischen Leben und Tod schwebt. Das Verhältnis zum Leben selbst! Jérémie hat wunderschön beschrieben, wie es uns gelungen ist, einen Film über unsere persönliche Geschichte zu machen: „Wir haben das Böse hinter uns gelassen, um nur das Gute zu bewahren.“ Die Krebsdiagnose fällt auf den Beginn des Irakkriegs – und fortan werden OP-Kittel und Mundschutz zu Uniformen, Chirurgen zu Generälen, die besorgte Verwandtschaft zum HeeresFußvolk... Jérémie Elkaïm: Die meisten Menschen sind wohl der Meinung, dass eine Krankheit wie Krebs immer auf sehr traurige Weise thematisiert werden muss. Aber wir haben durch unsere eigene Erfahrung gelernt, dass man damit auch ganz anders umgehen kann. Man muss ja immer noch leben, man muss immer noch schlafen, essen und auch Sex haben, und es gibt immer noch lustige Momente, trotz der ernsten Umstände, in

denen man sich da befindet. Wir selbst haben natürlich nicht alles bis ins Detail genau so erlebt, aber es war doch inspiriert von dem, was wir gelernt haben in dieser Zeit. Die Tatsache, dass wir über die Krankheit aus eigener Erfahrung sprechen, hat uns erlaubt, die übliche ernste, respektvolle und dadurch oft auch sehr distanzierte Haltung hinter uns zu lassen, die wir sonst gegenüber solchen Krankheiten und kranken Kindern haben. Valérie Donzelli: Es ist wahr, dass Krankheit und Tod Tabus sind, über die niemand sprechen will, aber wir hatten nicht vor, einen Film zu machen, der Tabus bricht. Wir wollten einen Abenteuerfilm drehen, und wir dachten uns, unsere eigenen Erfahrungen wären ein spannendes Rohmaterial für eine ungewöhnliche, spannende Liebesgeschichte. Für mich ist das ein Actionfilm, ein Kriegsfilm. Denn wenn wir von Krieg sprechen, besteht da immer die Möglichkeit eines Sieges, die Chance, dass die Niederlage abgewendet werden kann.  Interview: Alexandra Zawia

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Filmstart: 11.05.12

Fotos: Filmladen

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Der

unser video-interview auf youtube

KUSS

http://www.youtube.com/celluloidVideo

DAVID UND STÉPHANE FOENKINOS

In „Nathalie küsst“ ist es ein unüberlegter, plötzlicher Kuss, der das Leben der Protagonisten umkrempelt. celluloid traf die Regie-Brüder zum Gespräch in Paris. Kritik auf Seite 51

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ls sich Nathalie (Audrey Tautou) und François (Pio Marmaï) kennenlernen, schießt der Blitz ein. Liebe auf den ersten Blick. Und Hochzeit, glückliche Zeit. Doch dann: Der Unfall, bei dem François stirbt. Für Nathalie das Ende der Welt. Sie stürzt sich in die Arbeit, um den schrecklichen Verlust zu überwinden, doch dann fällt sie eines Tages aus heiterem Himmel ausgerechnet dem unscheinbarsten Mitarbeiter ihres Teams um den Hals und küsst ihn leidenschaftlich. Markus (François Damiens), der nicht weiß, wie ihm geschieht, verliebt sich Hals über Kopf in seine Chefin. Zunächst will Nathalie nicht zulassen, dass sie Gefühle für Markus hegt, doch bald schon muss sie sich eingestehen, dass er ihr Herz erobert. Die Komödie „Nathalie küsst“ basiert auf dem gleichnamigen Roman von David Foenkinos, der nun zusammen mit seinem Bruder Stéphane auch Regie bei der Verfilmung geführt hat. celluloid traf die Regiebrüder in Paris. celluloid: Wie geht man eigentlich daran, seinen eigenen Roman zu verfilmen. Noch dazu, wo Sie beide Brüder sind? David Foenkinos: Zunächst hatte ich gar nicht daran gedacht, mein Buch zu verfilmen, denn es ist bereits mein achter Roman. Mein Bruder, mit dem ich über die Jahre schon einige Kurzfilme realisiert hatte, meinte aber, wir sollten diesen Stoff nicht jemand anderem überlassen, sondern ihn unbedingt als Duo selbst verfilmen. Stéphane Foenkinos: Ich hätte es mir nicht vorstellen können, den Film ohne meinen Bruder zu machen. Am Set hat sich die Stimmung dann gänzlich weg von der Romanvorlage entwickelt, hin zu einem kollektiven Wunsch, daraus einen Film zu machen. Wer macht denn was am Set? Wie teilen Sie sich die Aufgaben?

Stéphane Foenkinos: David steht hinter der Kamera, ich bin mehr mit den Schauspielern zugange. Ich habe auch Erfahrung als Casting Director. Aber im Grunde geht das fließend ineinander über. Natürlich beraten wir uns, das ist unser erster gemeinsamer Film, da gibt es einen großen Druck, vor allem, weil ein Star wie Audrey Tautou mitwirkt. Wichtig für uns ist es, immer mit einer Stimme zu sprechen. Wie haben Sie den Ton für diesen Film gefunden, der zugleich Drama und Komödie sein will? David Foenkinos: Ich habe mir unter dem Film eine Komödie vorgestellt, und mein Bruder eher ein Drama. Ich würde sagen, wir haben uns das 50:50 aufgeteilt. Es gibt ja dieses Wort Dramödie, das im Französischen nicht existiert, sondern aus dem britischen Kino kommt. Dort kann innerhalb von nur einer einzigen Einstellung das Drama in die Komödie umschlagen, und umgekehrt. Warum haben Sie sich für Audrey Tautou als Hauptdarstellerin entschieden? Stéphane Foenkinos: Warum hat sie uns gewählt, müsste man die Frage umdrehen. Sie ist eine exzellente Schauspielerin. Im Film hat sie die Rolle einer Frau, die sich über zehn Jahre entwickelt. Vom jungen Mädchen zu einer zerstörten Frau, die sich erst langsam wieder erfängt, und die dazu noch zwischen Drama und Komödie wechseln muss. Sie müssen bedenken, dass man einen Film ja niemals chronologisch dreht, sondern wild herumspringt bei den Dreharbeiten, um die gleichen Sets jeweils abzudrehen. Dazu muss man als Schauspieler ein enormes Können haben, eine große Anpassungsfähigkeit, um das zu schaffen. Audrey Tautou kann das. Wie ist Tautous Figur psychologisch angelegt? Stéphane Foenkinos: Das Vergessen von ihr selbst steckt dahinter. Sie stürzt sich voll

und ganz in die Arbeit, sie entscheidet nicht bewusst, einen Fremden zu küssen, es ist ihr Körper, der das beschließt. Den schmerzlichen Verlust, den Tautous Figur erfährt, inszenieren Sie dennoch mit einer gewissen Leichtigkeit. Welche Idee steckt da dahinter? David Foenkinos: Wir versuchen immer, mit einer geradezu oberflächlichen Einfachheit die dahinterliegende Komplexität darzustellen. Es scheint, dass manche Dinge an der Oberfläche simpel sind, aber in Wahrheit sehr kompliziert. Was uns auch wichtig ist: Die Rückkehr ins Leben, die Tautou selbst überrascht, und sie nimmt den Zuschauer an die Hand, um ihn auch zu überraschen. Wenn Sie einen neuen Roman beginnen, wissen Sie da schon genau, wohin Ihre Geschichte steuert? David Foenkinos: Es gibt für mich kein Rezept. Als ich dieses Buch begann, wusste ich nicht, wohin es führt. Auch ich war erstaunt, dass sie diesem inneren Drang folgt. Oftmals nimmt einen die Person, die man für einen Roman erschafft, mit auf die Reise. Von Nathalie wusste ich nur, dass sie eine sehr empfindsame Person ist. Dass sie Angst haben wird vor dem Glück. Das ist heute ein weit verbreitetes Phänomen.  Interview: Matthias Greuling

David (l.) und Stéphane Foenkinos

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special Filmstart: 04.05.12

geschlechter

tausch CELINE SCIAMMA

über ihren Film „Tomboy“, in dem sich ein Mädchen als Bub ausgibt, über kindliche Unschuld und warum ihr Film mehr mit „Avatar“ gemein hat, als man annehmen könnte 28

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aure (Zoé Héran) trägt ihre Hosen am liebsten weit und die Haare kurz. Sie ist zwar ein Mädchen, fühlt sich aber eher wie ein Bub – sie ist ein so genannter Tomboy. Als sie und ihre Eltern umziehen, ergreift Laure die Chance, und stellt sich bei ihren neuen Freunden und Mitschülern als Michael vor. Niemand bemerkt den Schwindel, solange sich Laure mit den anderen Buben beim Fußballspielen matcht. Erst als sie sich in die hübsche Lisa (Jeanne Disson) verliebt, beginnen die Probleme mit dem Geschlechter-Versteckspiel. celluloid traf Regisseurin Celine Sciamma in Paris zum Interview.

celluloid: Frau Sciamma, was fasziniert Sie an der Geschlechterfrage? CÉLINE SCIAMMA: Mich interessiert die Frage nach der Identität. Wenn Sie sich James Camerons „Avatar“ genau ansehen, stellen Sie fest, dass es dabei vor allem um Identität geht. In meinem Fall interessierte mich auch der etwas subversive, politische Aspekt des Themas. Für mich ist das die Essenz des Themas. „Avatar“ und Ihren Film zu vergleichen, das ist schon ein Unterschied. Aber wie wichtig war das Politische? Es gibt zwei verschiedene Ebenen, weshalb ich „Tomboy“ als politisch bezeichnen würde. Ich habe diesen Film sehr schnell gemacht, mit bescheidenen Mitteln. Das Drehbuch war nach nur drei Wochen fertig, und innerhalb von 20 Tagen wurde gedreht. Wir stecken ja mitten in einer Krise, und da muss man neue Formate, neue Arten finden, wie man arbeitet. Das ist der erste politische Aspekt des Films. Der zweite ist: Es wird von der Gesellschaft ständig Druck auf die Menschen und ihre Entwicklung ausgeübt, insbesondere auf das Männliche. Die Kindheit als solche ist bei weitem nicht so unschuldig, wie allgemein gesagt wird. Der einzige Unterschied zum Erwachsenen-Dasein ist, dass Kinder zwar nicht unschuldig sind, aber sich nicht schuldig fühlen. Wie meinen Sie das? Wo beginnt die Kindheit schuldig zu werden? Ich denke, dass es Unschuld überhaupt nicht gibt. Die Kindheit ist eine Zeit, in der es große Sinnlichkeit und eine große Empfindsamkeit gibt. Die Emotionen sind sehr groß bei Heranwachsenden, aber Unschuld gibt es keine. Das ist eine Mär. Das verlorene Paradies ist ein Begriff, der bedeutet, dass man sich seine Freiheit erfinden muss, aber die Emotionen gibt es.

Inwieweit ist das Streben danach, ein männliches Kind sein zu wollen, gesellschaftlich konnotiert. Anders gefragt: Ist der Wunsch deshalb da, weil man weiß, der Mann hat in der Gesellschaft noch immer mehr Macht, als das Mädchen? War das die Idee dahinter? Das war nicht der Grund für den Film, aber ich wollte schon zeigen, dass es eine gewisse Freude daran gibt, in diesem Falle männlich zu sein, weil man mehr Freiheit hat. Man kann zum Beispiel mit nacktem Oberkörper Fußball spielen, was Mädchen nicht können, selbst wenn sie in diesem Alter noch keine Brüste haben. Das Männliche steht in „Tomboy“ schon für die Freiheit. Doch meine Hauptfigur macht das nicht aus Reaktion, sondern aus Intuition. Kennen Sie diese Art der Männlichkeit aus Ihrer Kindheit? Ja, ich kenne das aus meiner Kindheit. Man hätte mich für einen Jungen halten können, denn ich hatte kurze Haare. Allerdings war das damals in Mode. Aber ich erinnere mich an solche Situationen, und manchmal mochte ich es, für einen Bub gehalten zu werden, manchmal tat es weh. Dieses Gefühl ist weit verbreitet, ich bekomme viele Briefe von Familienmüttern, die mir schildern, dass sie diese Geschichte so oder so ähnlich mit ihren Kindern auch erlebt haben. Erzählt „Tomboy“ also in erster Linie Ihre eigene Geschichte? Ja, schon. Es geht um meine Kindheit. Am Intimsten sieht man das im Verhältnis zu meiner kleinen Schwester. Alles, was mit der Familie zu tun hat – in diesem Momenten ist der Film sehr autobiografisch. Inwiefern ist es interssant, Filme über

Heranwachsende zu machen? Gibt es da eine gewissen Unmittelbarkeit, eine Formbarkeit oder auch eine Prägung von etwas, was später im Leben wichtig wird? Das trifft zu. Dahinter steht der Gedanke, dass man in der Kindheit die Dinge stärker und intensiver erleben kann. Als junge Regisseurin habe ich große Lust, mit jungen Schauspielern zu arbeiten, weil man da die Regie und die Schauspielerführung besser lernen kann. Ist es schwierig, mit Kindern zu drehen? Oder ist es eigentlich viel unbefangener als mit Profis? Es ist schwierig, mit Kindern zu drehen. Wenn es funktioniert, wird es zu einem magischen Augenblick. Ab und zu kommt es zu Blockaden, die unvorhersehbar sind. In einer Szene war es einem Kind unmöglich, beim Laufen ein anderes einzuholen, egal, wie oft wir das gedreht hatten. So etwas passiert natürlich mit Catherine Deneuve nicht. Zwingt Sie das dazu, fast ein bisschen dokumentarisch zu arbeiten? Nein, im Gegenteil, das Drehbuch muss ganz genau ausgearbeitet sein. Aus diesem Grund habe ich nie mit Handkamera gedreht, sondern alles vom Stativ aus. Man muss den Kindern wirklich einen genau abgesteckten Rahmen setzen, und je mehr Kinder es sind, umso mehr. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man mit Kindern beim Film sehr autoritär sein muss. Das ist ja schlimmer, als in die Schule zu gehen… Es ist schon richtig, dass das Arbeit ist.

 Interview: Doris Niesser

„Tomboy“ von Céline Sciamma

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Fotos: Thimfilm

special

Bauchgefühl 17 MÄDCHEN

wollen gleichzeitig schwanger werden. celluloid sprach mit den Regisseurinnen Delphine und Muriel Coulin über diese außergewöhnliche Filmidee

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http://www.youtube.com/celluloidVideo Filmstart: 15.06.12

celluloid traf die beiden Regisseurinnen von „17 Mädchen“, die Schwestern Delphine und Muriel Coulin, zum Gespräch in Paris. celluloid: Bei „17 Mädchen“ handelt es sich um eine wahre Geschichte, ist das richtig? DELPHINE COULIN: Ja, das stimmt. Das geht zurück auf das Jahr 2008, als wir in der „Libération“ eine Notiz fanden, in der von 18 Schülerinnen aus Massachusetts die Rede war, die beschlossen hatten, gleichzeitig schwanger zu werden. Dass 17 Frauen gleichzeitig schwanger werden, ist nicht die leichteste Übung. Man hätte das gar nicht besser erfinden können, wenn es nicht wahr wäre. MURIEL COULIN: Aber wenn wir das erfunden hätten, hätte man gesagt, was sind das für zwei verrückte Schwestern, die sich so eine Geschichte einfallen lassen?

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7 Mädchen im Teenageralter beschließen eine ungewöhnliche Aktion, die ihr Leben verändern wird: Sie wollen alle schwanger werden, am besten gleichzeitig. Das kleine Nest, in dem sie zur Schule gehen, wird dieses Vorhaben komplett auf den Kopf stellen, aber ihre Lebensumgebung ist mit ein Grund für diese Entscheidung: Dort, in der Provinz, wo es wenig Aussichten auf Jobs oder Karrieremöglichkeiten gibt, wollen die Mädchen ihrem Leben einen besonderen Sinn geben, wollen mit ihren gemeinsamen Kindern ausbrechen aus dem Alltag und der Misere, die sie im späteren Berufsleben erwartet. Eine durchaus schwärmerische Vorstellung, die sich im Verlauf des Films nicht wirklich erfüllt.

Was ist der Antrieb für diese jungen Mädchen? Langeweile? Perspektivenlosigkeit? D.C: Ich möchte nicht von Langeweile sprechen, denn die Jugend ist ein Alter, in dem man sehr viel träumt. Vielleicht kann man eher von Zukunftsphantasien reden, von Gedankenspinnen. Ein wichtiger Faktor ist auch Freundschaft, denn gerade in diesem Alter gibt es starke Freundschaften. M.C: Ihre Aktion ist keine Rebellion, sondern es geht darum, dass diese Mädchen eine kollektive Utopie leben wollen. Abgesehen von diesem verrückten Gedanken wollten wir das sehr wohl hinterfragen. Im Verlauf der Geschichte stellen die Mädchen fest, dass sie plötzlich die Möglichkeit haben, ihr Leben völlig zu ändern. Das greift untereinander schnell auf die Mädchen über, als sie sehen, wie sich der Körper bei der Schwangerschaft verändert. Dabei gehen ihre Gedanken über den Körper hinaus und schließlich wird daraus ein politischer Gedanke. Sind diese Handlungen der Mädchen ihrer Meinung nach naiv? D.C: Nein, das ist ein sehr ernstgemeinter Plan. Die Mädchen lehnen das einzige Rollenbild, dass man ihnen bietet, ab: Nämlich über Wohlstand und über Geldverdienen glücklich zu werden. Mit 17 sind sie alt genug, dieses Rollenbild abzulehnen. Vielleicht ist die Lösung, die sie wählen, nicht unbedingt die

beste, aber im ersten Augenblick ist es ihnen durchaus ernst. Naivität gibt es nicht, sie sind intelligent, witzig, stark, wollen einen neue Welt erschaffen. In der Realität ist der Fortgang aber nicht so wie erträumt. Im Film sagt der Bruder eines der schwangeren Mädchen einmal zu seiner Schwester: „Was glaubst du, was das wird? Entweder ein arbeitsloses Mädchen oder ein Soldat.“ M.C: In unserer Heimatstadt L‘Orion kennt man diese Enttäuschung von der Welt, die sie ansprechen. Es gibt dort wenig Zukunftsaussichten für junge Menschen, viele Burschen gehen zum Heer, Mädchen bekommen Kinder. Das Kinderkriegen ist für sie eine verzweifelte Notlösung, denn idealistische Utopien gibt es nicht. Man hat den mittelmäßigen Weg vor sich: Studieren, heiraten, Kinder kriegen, und zwar in dieser Reihenfolge. Das erscheint zu flach und wenig interessant, deshalb gibt es solche Träume. Viele junge Menschen sind heute enttäuscht. Aber es gibt immer mehr Leute, die sich gegen dieses Rollenbild stellen. Wieso spielen die Männer in diesem Film – außer als Erzeuger – überhaupt keine Rolle? M.C: Männer spielen schon eine Rolle, aber der Film heißt „17 Mädchen“, und wir konzentrieren uns auf 17 Persönlichkeiten, was für einen Film schon schwer genug ist. Wir sehen die Handlung mit den Augen der Mädchen, aber die Männer sind wichtig. „17 Mädchen“ ist ihr Langfilmdebüt, nachdem Sie gemeinsam einige Kurzfilme realisiert haben. Ist es schwieriger geworden, in Frankreich Filme zu machen? D.C: Ja, definitiv. Meine Schwester und ich haben viele Jahre lang Kurzfilme gemacht, außerdem schreibe ich Romane. Meine Schwester arbeitet als Dokumentarfilmerin. In den letzten zehn Jahren wurde es auch in Frankreich schwieriger, Spielfilme zu machen. Das Kino ist weltweit eine Industrie und wird auch so gemanagt. Begriffe wie Ertrag und wirtschaftliche Effizienz stehen an erster Stelle, auch in Frankreich. Insofern ist es für ein Filmdebüt besonders schwierig, denn ein erster Film ist per se schon ein Außenseiter, weil er keinen fixen Ertrag garantiert.

 Interview: Matthias Greuling

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special

Filmladen

Filmstart: 22.06.12

Pierre Richard mit Filmehefrau Jane Fonda in „Und wenn wir alle zusammenziehen?“

Zusammen ist man weniger allein PIERRE RICHARD

verweigert das Altersheim. In „Und wenn wir alle zusammenziehen?“ teilt er sich das Haus mit fünf anderen betagten Filmstars. Ein Gespräch 32

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ierre Richard pfeift aufs Altersheim. Genauso wie Claude Rich, Géraldine Chaplin, Guy Bedos und Jane Fonda. Zwecks Vermeidung von Krankenhausnahrung und AufenthaltsraumFernsehen tun sich fünf Freunde zusammen und beschließen, ihre eigene Alters-WG zu gründen. „Und wenn wir alle zusammenziehen?“ lautet die Frage (und auch der Filmtitel), die Regisseur Stéphane Robelin seinen Protagonisten stellt - und dabei zusieht, wie die höchst unterschiedlichen betagten Leute sich zusammenraufen, um das Alter in vollen Zügen zu genießen. Eine Komödie mit viel ernsten Zwischentönen, denn natürlich thematisiert der Film auch die Gebrechlichkeiten des Alters und die Dinge, die man dann weniger gut machen kann. Auch Viagra spielt eine Rolle in diesem Film. Für Pierre Richard, den „Großen Blonden mit dem schwarzen Schuh“, ist „Und wenn wir alle zusammenziehen?“ eine willkommene Altersrolle. Der 77-jährige Komiker kann hier anstelle von Slapstick auch sein Talent zu subtilem Humor ausspielen. celluloid traf Richard in Paris zum Interview. Monsieur Richard, Ihr neuer Film ist eine Komödie, die aber ein ernstes Thema verhandelt: Alter und Gebrechlichkeit. Kann man darüber lachen? PIERRE RICHARD: Ich habe festgestellt: Je gravierender und dramatischer eine Geschichte ist, desto drolliger und witziger kann sie erzählt werden. Früher stand bei meinen Filmen die Komik im Vordergrund, aber bei diesem Film hat man zu Beginn eine ernste Ausgangssituation, die mit leichter Verfremdung ganz schnell urkomisch wird. Das Entscheidende dabei ist, dass man ernste Themen wie das Älterwerden mit einer gewissen Leichtigkeit einfängt. Ich habe mich in dieser Rolle sehr wohl gefühlt.

Wie geht man damit um, wenn das eigene Alter das Thema des Films ist? Ich glaube nicht, dass man als Schauspieler bewusst denkt: Jetzt spiele ich einen Alten. Man bleibt im Kopf ja jung und agil, es ist nur der Part des Alten, den man übernimmt. Ist es schwer, im Alter gute Rollen zu bekommen? Das ist sicher schwierig, denn in der Kategorie „Filme mit älteren Figuren“ gibt es nicht besonders viele Angebote. Denn 75 Prozent der Filme sind mit jungen Schauspielern besetzt. Andererseits genügt es mir, einmal im Jahr einen Film zu machen, mehr brauche ich nicht. Ich bin da überhaupt nicht gefräßig. Ich lehne auch Projekte ab, wenn sie mir nicht zusagen. Nur weil ich vielleicht drei Monate lang nichts zu tun habe, werde ich deshalb nicht als Beschäftigungstherapie einen Film drehen. Mit dem Alter werden Sie also wählerischer? Wenn ich eine Rolle auswähle, dann achte ich heute darauf, dass es kein Part ist, den ich schon x-mal gespielt habe. Das ist bei diesem Film der Fall: Eine solche Rolle habe ich in meiner ganzen Karriere noch nicht gespielt. Außerdem ist für mich wichtig, mit wem ich in diesem Film spiele. Man hat mir gar nicht gleich gesagt, dass Jane Fonda dabei ist, das war das Sahnehäubchen auf dem Kuchen. Jane Fonda ist nicht nur eine große Schauspielerin, sie ist ein Mythos für Männer meiner Generation. Ich muss zugeben, vor unserem ersten Treffen war ich richtig nervös. Aber als wir bei einem Essen alle zusammen saßen und ich neben meiner Filmehefrau Jane Platz nahm, sagte sie nach kurzer Zeit: „Ich mag meinen Ehemann sehr“. Inwieweit ist Ihr Erfolg als „Der große Blonde mit dem schwarzen Schuh“

auch eine Bürde für Ihre Karriere als Schauspieler gewesen? Früher hatte ich den Eindruck, ich wäre gar kein Schauspieler, sondern mehr eine Persönlichkeit, ein Original. Ich bewunderte die großen französischen Schauspieler, wie etwa Claude Rich, mit dem ich hier nun endlich zusammen spielen konnte. Ich hatte früher einen richtigen Minderwertigkeitskomplex, weil ich immer nur dieses Original, diese Witzfigur spielen musste. Es war für mich, als drehte ich mich irgendwann nur mehr im Kreis. Ich habe mich bemüht, aus diesem Kreis auszubrechen, habe Theater gespielt und auch einige Filme gemacht, die ganz anders waren, als meine früheren Erfolge. Diese Filme waren natürlich nicht so erfolgreich, weil mich das Publikum immer noch so sehen will, wie ich früher war, was aber mit zunehmendem Alter schwieriger wird. Mit diesem Film bin ich jetzt endlich zum komödiantischen Schauspieler geworden und habe Selbstvertrauen in mich gewonnen. Claude Rich hat mir nach manchen Szenen gesagt: Du, das hast du sehr gut gemacht. Das gab mir unglaublichen Auftrieb. Im Film geht es auch um Sex im Alter. Viagra spielt eine Rolle. Was denken Sie darüber? Wir gehen mit dem Thema sehr dezent um. Der Film beschreibt eine der letzten Herausforderungen der einstigen 68er: Das Altwerden. Für diese Generation ist es kein Tabu, über Sex zu sprechen, das ist ganz anders als noch vor 30 oder 40 Jahren. Ich denke, deshalb ist es gut, dass wir Sex thematisieren. Aber es ist nicht das einzige Thema: Denn es geht auch um die Einsamkeit, die einem im Alter droht, wenn man seinen Partner verloren hat. Zur Recherche waren wir alle vor den Dreharbeiten für einen Tag im Altersheim. Am Abend waren wir heilfroh, wieder draußen zu sein.  Interview: Matthias Greuling

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filmproduzentinnen

„ wir sind

exotische vögel

filmproduzentinnen sind in der österreichischen Filmbranche spärlich

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ie sieht eigentlich ein Filmproduzent aus? Das sind doch diese älteren, grau melierten Herren, die unter dem Sakko einen Bierbauch verstecken und mit der Zigarre im Mundwinkel von ihrem Ledersessel aus Schecks unterschreiben, oder? Soviel zum (Hollywood-)Klischee. Richtig daran ist jedenfalls: Es sind überwiegend Männer, die diesen Job machen, in dem es darum geht, ein Filmprojekt zu realisieren; Stoffe auszuwählen, Geld aufzustellen, Re-

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gisseure, Kreative, das ganze Team zusammenzubringen. In Österreich gibt es nur eine Handvoll Frauen in dieser Männerdomäne: Gabriele Kranzelbinder ist eine von ihnen, und wahrscheinlich die Einzige, die ausschließlich produziert und nicht zusätzlich noch Regie führt, wie ihre Kolleginnen Barbara Albert oder Jessica Hausner. Mit ihrer Firma KGp hat Kranzelbinder unter anderem „Die Vaterlosen“ und „Universalove“ hergestellt, ebenso wie

„What Is Love“, die neue Arbeit von Ruth Mader. Gerade im Entstehen ist die neue Arbeit von Hubert Sauper („Darwins Nightmare“). „Ich habe mich daran gewöhnt, so ziemlich die einzige Frau in diesem Bereich zu sein, die noch dazu in verschiedene Gremien berufen wird“, sagt Kranzelbinder, die etwa im Aufsichtsrat des Österreichischen Filminstituts oder im Beirat der Wirtschaftsfilmförderung Fisa sitzt. Als Kranzelbinder ihre eigene Firma gründete, kam es zuweilen vor, dass ihr (männliche) Unterstützung nahegelegt wurde: „Gerade bei größeren Budgets riet man mir, das doch lieber mit einem Partner zu realisieren. Das wurde natürlich nicht offiziell gesagt, aber durch die Blume. So etwas passiert mir heute, dank einer zunehmenden Etablierung, nicht mehr.“ Das Geld-Problem kennt auch Nina Kusturica („Little Alien“), die gemeinsam mit Eva Testor die Firma „Mobilefilm“ betreibt. „Frauen sind exotische Vögel in der Branche, denn es geht um Geld und Macht: Dort, wo die Budgets groß sind, kommen die Männer zum Zug, dort, wo sie klein und überschaubar sind, die Frauen“, sagt sie. „Es gibt keine gerechte Verteilung, Männer sitzen viel selbstverständlicher im Produzentensessel.“ Diese Probleme blieben unausgesprochen, seien aber „in der Praxis deutlich zu spüren.“ Es gehe auch darum, dass Frauen häufiger als bisher in der Branche arbeiten könnten. „Das ist eines der größten Probleme: Eine kontinuierliche Arbeit zu finden, ist gerade für Frauen in der Filmbranche schwierig.“ Gabriele Kranzel-

Fotos: Mobilefilm; Tuma; zVg

gesät. Noch immer ist der Beruf eine Männerdomäne. Aber es gibt Ausnahmen


binder hat nicht das Gefühl, jemals anders behandelt worden zu sein, nur weil sie eine Frau ist. Jedoch: „Nach elf Jahren in meinem Beruf merke ich, dass es zunehmend anstrengend wird, eben weil es nicht viele Frauen in dem Beruf gibt. Zum Glück kommen nun einige junge nach.“ Eine davon ist Constanze Schumann: Mit Anfang 30 gehört sie zum Nachwuchs in der Branche. Auch Schumann hatte „nie das Gefühl, diskriminiert zu werden, nur weil ich eine Frau bin. Ich wurde nur ein einziges Mal gefragt, als ich Produktionsleitung bei einem Projekt machte, ob ich mir eh zutraue, das zu schaffen. Aber das liegt lange zurück.“ Die Jung-Produzentin, die derzeit für die Wiener AllegroFilm tätig ist, hat mit der Doku „Inside America“ (Regie: Barbara Eder) 2010 ihre erste Produktion mit eigener Firma abgeschlossen, die etliche Festivalerfolge feierte. „Wir drehten in den USA und dort war es selbstverständlich, dass der Produzent des Films eine Frau war“, erinnert sich Schumann. „In Österreich musste ich dieses Selbstbewusstsein erst finden. Wobei: Es ist kein Problem, eine Frau zu sein, sondern eher, dass ich noch jung bin und nicht schon 40 Filme produziert habe.“ Schumann ist nicht aus „feministischen Gründen“ in diesen Beruf gegangen, „sondern, weil es eine Leidenschaft von mir ist, Geschichten zu erzählen, zu entwickeln und umzusetzen. Ich dachte nie: Ich bin eine Frau, und deshalb kann ich das nicht machen. Für mich zählte nur: Ich möchte das machen, und daher musste ich einen Weg finden, um dieses Ziel zu erreichen.“ Das Problem liegt für Schumann auch in der Wahrnehmung von erfolgreichen Frauen. „Solche Frauen müssen immer tough sein und sollen zugleich menschlich und sympathisch wirken. Negativ betrachtet wird ihnen das als Schwäche ausgelegt“, meint Schumann. „Aber in Wahrheit ist das eine Stärke, denn bei Männern vermisse ich oft diesen Mix. Falsch wäre, wenn wir Frauen uns wie Männer verhalten würden, denn das sind wir nicht.“ Noch sind Kranzelbinder, Kusturica und Schumann seltene Beispiele für ihre Zunft. „Männer networken anders als Frauen“, glaubt Schumann. „Sie decken sich gegenseitig viel mehr den Rücken“, sagt Kusturica. Weshalb sie mit www.fc-gloria.at eine Vernetzungs-Plattform für Frauen in der Filmbranche gegründet hat, die deren soziale, rechtliche, wirtschaftliche oder künstlerische Positionen verbessern soll. Der alljährliche Weltfrauentag zum Beispiel ist für die drei Produzentinnen das richtige Signal: „Solange es keine Gleichbehandlung von Männern und Frauen gibt“, sagt Kranzelbinder, „solange Frauen und Männer für die gleiche Arbeit unterschiedlich bezahlt werden, muss man darauf aufmerksam machen. Die ungleiche Entlohnung hat viele Gründe, und wenn mehr Männer Entscheidungsträger sind, warum sollten die dann das System von sich aus ändern?“ Jede Gelegenheit, „gegen die ungerechte Verteilung zu protestieren, ist willkommen“, findet auch Kusturica. Denn, das ist den Frauen klar: Das Klischee vom Herrn mit der fetten Zigarre dürfte sich noch länger halten.  Matthias Greuling

Österreichische Filmproduzentinnen: Nina Kusturica (links) von Mobilefilm, Gabriele Kranzelbinder (oben), KGp, und Constanze Schumann (rechts), die bei der Wiener Allegro-Film tätig ist

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„ich bin nicht hommage

DRACULA CHRISTOPHER LEE wird am 27. Mai 90 Jahre alt.

Erst kürzlich war der britische Schauspieler in Wien zu Gast

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or der Kamera steht er immer noch, wobei Stehen relativ ist. Auf der Berlinale im Frühjahr dieses Jahres kam er mit einem Gehstock, ebenso nach Wien zum 2. Wiener Filmball im März. Der 1,96 Meter große Brite, der inzwischen einen weißen Vollbart trägt, benötigt eine kleine Hilfe, um gut zu stehen. Anfang des Jahres war er in London, um an den beiden neuen Filmen von Tim Burton zu arbeiten, und in Neuseeland, wo er mit Peter Jackson die „Hobbit“-Reihe drehte. Bei der „Herr der Ringe"-Trilogie war er schon dabei, auch wenn sein Auftritt im dritten Film nur auf DVD zu sehen ist. Über 240 Filmauftritte

Christopher Lee im März beim Wiener Filmball mit seinem „Vienna Film Award“

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hat Christopher Lee gehabt, so genau weiß er das selbst nicht, aber für das GuinnessBuch reicht sein Arbeitseifer auf jeden Fall: Dort gilt er als der Akteur mit den meisten Filmparts der Welt. Dabei war es lange Zeit nicht klar, ob Lee überhaupt Schauspieler wird oder gar bleibt. SPION?  Lee stammt aus dem vornehmen Londoner Stadtteil Belgravia. Sein Vater war Offizier, seine Mutter eine italienische Gräfin. Die Ehe wurde früh geschieden, und zu Anfang seines Lebens musste sich der hochgewachsene Aristokrat tatsächlich mit Jobs als Laufbursche über Wasser halten. Im Zweiten Weltkrieg diente er als Pilot der Royal Air Force und kam sogar in Kontakt mit dem Geheimdienst, aber ein Spion war er nie: „Darüber darf ich nicht sprechen. Ich war während des Zweiten Weltkriegs als Beobachter eingesetzt, in einem Sondereinsatzkommando. Wir sollten diese Leute finden, die schreckliche Dinge getan haben. Wir fanden auch ein paar, aber nicht genug. Wie auch immer - während des Krieges war ich in einer Spezialeinheit. Das war nicht der Geheimdienst, ich war kein Spion. Können Sie sich mich, bei meiner Größe, als erfolgreichen Spion vorstellen? Niemand würde mich bemerken? Niemand würde sich an mich erinnern? Das ist doch lächerlich. Wenn ich ein Spion gewesen wäre, dann hätten sie mich doch innerhalb von fünf Minuten gefangen.“ Die Größe war lange Zeit ein Problem für den Engländer. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte er bei Rank Film in London eine Schauspielausbildung genossen, aber viele Jahre lang musste er sich mit kleinen Jobs in Nebenrollen begnügen, weil er die damaligen britischen Stars alle überragte. Frustriert fragte er eines

Tages seinen Freund Boris Karloff, mit dem er drei Filme drehte, was er denn tun solle. „Such dir eine Rolle, die kein Anderer spielen kann und haben will“, riet ihm der Kollege, und genau das tat er. Nach einem kurzen Auftritt als „Kreatur“ in „Frankensteins Fluch“ (1957), wo er als entstelltes Monster zu sehen war, kam ein Angebot, dass sein Leben veränderte. Lee wurde ein Jahr später zu „Dracula“ und zum Weltstar. „Ich habe ihn so gespielt, dass die Zuschauer Mitleid mit ihm haben“, sagt er rückblickend. „Es ging mir um die Einsamkeit des Bösen“, so Lee. „Vieles drückte er mit seinen Augen und seinem durchbohrenden Blick aus. Er war sehr still und traurig, aber sein Blick wurde zu dem eines Dämonen und strenger, wenn er böse wird.“ FLUCH DRACULA  Doch der Segen des Erfolges wurde gleichzeitig zum Fluch. Dem Dracula-Image kann er bis zum heutigen Tag nicht entgehen, und das obwohl er doch so viele Talente besitzt. Lee spricht italienisch, spanisch, portugiesisch, chinesisch, russisch und deutsch. Alle seine Rollen in den Edgar Wallace-Filmen drehte er auf Deutsch. Das tat er auch bei Steven Spielbergs Kriegspersiflage „1941“, und später synchronisierten Filmen wie etwa „Das letzte Einhorn“. Er sang Opern und nahm mit der Heavy MetalBand „Rhapsody“ ein Album auf. Lee selbst ist froh, wenn sich die Menschen an andere Parts erinnern, als an den prägenden transsylvanischen Grafen, an Scaramanga aus dem 007-Film „Der Mann mit dem goldenen Colt“: „Manche erinnern sich an mich aus dem James Bond-Film. Andere erinnern sich an mich, weil sie mich in den ‚Drei Musketieren‘ gesehen haben oder in einem anderen Film namens ‚The


Wicker Man‘ – sicherlich der Beste, den ich je gedreht habe. Manche erinnern sich natürlich auch an meine frühen Horrorfilme, aber wenn ich die Briefe von Fans lese, oder Leute auf der Straße treffe, dann bin ich für sie nicht Dracula.“ In der Hoffnung, neue Aufgaben zu erhalten, ging er in den 70er Jahren in die USA. Ein Auftritt in der populären Comedy Show „Saturday Night Live“, in dem er sich über die Dracula-Filme lustig machte, half dabei. Jobanfragen gab es genügend, doch zumeist musste sich Lee mit kurzen Auftritten in Nebenrollen begnügen. „Ich habe in einer Reihe schlechter Filme mitgespielt, aber ich habe von Anfang nie gedacht, dass sie schlecht sein werden“, so Lee selbstkritisch. „Ich habe bei Filmen mit gutem Regisseur, gutem Drehbuch und guten Kollegen mitgewirkt, und nach einem Tag wusste ich, dass es eine Katastrophe werden würde. Man kann dann nichts tun, außer selber so gut wie möglich zu sein. Man hat leider überhaupt keine Kontrolle. Das einzige, was du tun kannst, ist das Beste zu geben.“

Fotos: Tuma

COMEBACK  Nochmals „entdeckt“ wurde er erst in den 90er Jahren wieder. Joe Dante brachte ihn in den „Gremlins“ unter, Tim Burton in „Sleepy Hollow“, und engagierte ihn für bislang fünf weitere Filme. „Lee hatte bei mir in dem ‚Dracula‘-Film einen bleibenden Eindruck hinterlassen.“, so der nach England übersiedelte Amerikaner. Die kurzen, aber prägnanten Einsätze führten ihn dann zu „Star Wars“ und eben zu Peter Jackson. Und in Zukunft? 1947 stand er das erste Mal vor einer Kamera. Seit einem Schwertkampf mit Errol Flynn, bei dem ihn der Action-Star an der Hand verletzte, steht der kleine Finger seiner linken Hand ab, aber eingeschränkt hat ihn die Verletzung nie. Nur das Gehen macht Lee momentan etwas zu schaffen. „Man hat zwar viel gelernt, gesehen und gemacht, aber die Kondition lässt nach“, sagt er dazu leicht ironisch. „Manche Dinge kann ich nicht mehr. Ich kann nicht mehr rennen. Wenn mich jemand fragt, ob ich für einen guten Film noch rennen könnte, dann könnte ich diesen Film nicht machen. Dabei war ich früher immer so schnell!“ Vielleicht wird es ja doch noch was mit seinen beiden Wunschrollen: „Die eine ist ‚Ivan, der Schreckliche‘, auch wenn es vor vielen Jahren schon eine Verfilmung gab. Es ist einfach ein faszinierender Charakter – bemerkenswert und nicht nur ein Ungeheuer. Die Andere ist Don Quichotte.“ Und der Spanier hat ja überwiegend auf einem Pferd gesessen. Selbst im Sitzen wäre Christopher Lee da wohl immer noch besser als viele Schauspieler, die gut stehen und rennen können.  Siegfried Tesche

Christopher Lee feierte in Wien nicht nur seinen Filmaward, sondern auch den 50. Hochzeitstag mit seiner Frau Birgit Kroencke

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GEmälde in Bewegung GUSTAV DEUTSCH. Der Avantgarde-Künstler füllt in seinem Spiel-

filmdebüt „Visions of Reality“ 13 Gemälde von Edward Hopper mit Leben. celluloid hat Deutsch bei den Dreharbeiten in Wien besucht

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s ist ein visuell schwer einordenbares Bild, das sich dem Besucher des Backsteinbaus im 14. Wiener Gemeindebezirk an diesem regnerischen Apriltag bietet: Inmitten der lang gezogenen, finsteren Halle befindet sich, eingerahmt von drei Holzwänden, der Nachbau einer Hotellobby, deren Einrichtung ob der intensiven, satten Farben und der klaren Ästhetik beinahe schon surreal anmutet. Eine junge, schlanke Frau sitzt in diesem künstlichen Setting, stumm, mit einem Textbuch in der Hand, während ein älterer Herr und eine elegant gekleidete Dame in der Lobby warten. Als die beiden aufstehen, um den Raum zu verlassen, sind plötzlich – scheinbar aus dem Nichts – die ohrenbetäubenden Rufe von Dinosauriern und Vögeln zu vernehmen. Gedreht wird ein Spielfilm der interdisziplinären Art: In „Visions of Reality“, dem Spielfilmdebüt des österreichischen Architek-

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ten und (Avantgardefilm-)Künstlers Gustav Deutsch, verschwimmen die Grenzen von Film, Malerei und Fotografie. Nach international erfolgreichen Found Footage-Projekten wie der „FILM IST.“-Trilogie und „WELT SPIEGEL KINO“, in denen sich Deutsch mit der Phänomenologie und der Entwicklungsgeschichte der laufenden Bilder befasst hat, wagt der 1952 in Wien geborene Regisseur in seinem ersten Langspielfilm eine cineastische Auseinandersetzung mit den Arbeiten des großen amerikanischen Malers Edward Hopper ebenso, wie die Inszenierung lebender Bilder (Tableaux vivants). Ein Wunsch, der den Künstler schon lange hegt, wie er beim celluloid-Setbesuch erzählt: „Ich habe vor einigen Jahren eine Edward-Hopper-Ausstellung besucht und war gleich von seinen Arbeiten fasziniert: Hoppers Werke wirken in ihrem Bildausschnitt und ihrer Dramaturgie oftmals wie Filmstills. Hinzu kommt, dass Bil-

der wie Night Windows, Office at Night oder New York Movie vom Film Noir maßgeblich beeinflusst wurden. Im Gegenzug inspirierte Hopper mit seinen Werken so bekannte Regisseure wie Alfred Hitchcock, Jim Jarmusch, Martin Scorsese und Wim Wenders.“ HOPPERS BILDER ALS FILMGESCHICHTEN  Das Konzept von „Visions of Reality“: 13 Bilder von Hopper wurden auf Zelluloid gebannt und durch eine Dramaturgie miteinander verknüpft. Deutsch hat für seinen Film jedes einzelne Bild detailgetreu im Studio nachbauen lassen, verwendete die gleichen Ausschnitte und Perspektiven wie Hopper sie für die gemalte Vorlage wählte, und verfilmte darin dann jeweils sechs Minuten lang jene Geschichte, die das entsprechende Bild seiner Meinung nach erzählen könnte. In Closeups werden Details der Sets, aber auch der Protagonisten gezeigt, wobei jedoch immer

Fotos: KGP

am set


Gustav Deutschs Vision: 13 Bilder des Malers Edward Hopper zu „verfilmen“. In der Hauptrolle: Die kanadische Tänzerin Stephanie Cumming, die als verbindendes Glied zwischen den einzelnen Gemälde-Episoden fungiert. Deutsch (kl. Bild oben links) drehte den Film in einer Halle im 14. Wiener Gemeindebezirk (Foto links)

die Perspektiven beibehalten werden. Die Handlung wird ausschließlich von Umgebungsgeräuschen, sowie inneren Monologen der Hauptfigur untermalt, die bereits vor Monaten in einem Tonstudio aufgenommen wurden, um dann schlussendlich direkt beim Dreh in den einzelnen Szenen eingespielt zu werden. Schauplatz der Handlung: Die Vereinigten Staaten von Amerika in den Jahren 1931 bis 1955 – von der Zeit der großen Wirtschaftsdepression über den Zweiten Weltkrieg, bis hin zur erzkonservativen McCarthy-Ära und den Rassenkonflikten. Klammer zwischen all diesen unterschiedlichen Epochen, und zugleich Hauptfigur des Films, ist die Tänzerin Shirley (Stephanie Cumming), durch deren Augen private Schicksale zum einen, und wichtige Ereignisse der Geschichte zum anderen visualisiert werden. Der Film erzählt dabei, über einen Zeitraum von 24 Jahren, jeweils einen Tag und eine Nacht aus dem Leben Shirleys – vom 28. bis zum 29. August. Ihre Jahre als junge Tänzerin im dadaistischen Paris Antonin Artauds, André Bretons und Salvador Dalís werden ebenso beleuchtet, wie das Kennenlernen ihres Lebensgefährten, des Malers Stephen (Christoph Bach), ihre

Arbeit in einem New Yorker Theaterkollektiv oder Stephens schwere Augenerkrankung, die sowohl Beziehung, als auch Beruf der beiden Künstler nachhaltig prägt. „Edward Hopper“, sagt Gustav Deutsch, „hat in seinen Bildern immer seine Ehefrau Josephine verewigt. Sie sieht in der Darstellung zwar oftmals anders aus, aber es ist immer sie – und ihre Abbildung zieht sich wie ein roter Faden durch seine Werke. In meinem Film ist eben die Tänzerin Shirley jener roten Faden.“ Ebenso wie das Künstlerpärchen im Film führt auch Gerhard Deutsch eine Beziehung mit einer Künstlerin, die seine Arbeit prägt: mit der renommierten Malerin und Fotografin Hanna Schimek. Sie zeichnet für Malerei und farbliches Gesamtkonzept des mit 1,2 Millionen Euro budgetierten Films (Produktion KGP – Kranzelbinder Gabriele Production) verantwortlich, hat zahlreiche Elemente aus Hoppers Gemälden als detailgetreu gemalte Kulissen und Wandmalerein für das Szenenbild des Films übernommen. Und auch jeder einzelne Einrichtungsgegenstand wurde extra für den Film angefertigt – exakt nach den Vorlagen der Gemälde Edward Hoppers. Ebenso für Gerhard Deutsch maßgeblich:

Die Lichtsetzung, die auch bei den 13 Vorlagen eine große Rolle spielt. „Wir haben jedes einzelne Set zwei Tage lang eingeleuchtet. Das hat damit zu tun, dass Hopper in seinen Gemälden dem Licht eine große Bedeutung beimisst, dabei jedoch gleichzeitig häufig unrealistische Lichtsetzungen vornimmt. So haben seine Figuren oftmals keine Schatten, oder die Sonne wirft das Licht aus zwei völlig unterschiedlichen Winkeln auf das Setting. Da mussten wir dann bei der Umsetzung des Films natürlich ausprobieren, was möglich, und was nicht machbar ist.“ BEWEGUNG UND PRÄZISION  Warum hat sich der Regisseur entschieden die Hauptrolle der Shirley mit der kanadischen Tänzerin und Choreografin Stephanie Cumming zu besetzen? „Sowohl in Hoppers Gemälden, als auch in meinem Film sind Bewegung und Präzision sehr wichtig. Und eine Tänzerin kann das von Berufs wegen perfekt umsetzen. Wenn etwa eine Szene über zwei Tage gedreht wurde, hat Stephanie am nächsten Tag die exakt gleiche Körperhaltung eingenommen, wie am Tag davor. Mit Theaterschauspielern wie Florentin Groll, Elfriede Irrall und dem Filmschauspieler Christoph Bach ergibt das eine äußerst interessante Mischung, die auch den Filmstil prägt.“ Bei der Entwicklung seines Drehbuchs hat der Regisseur auf Hilfe eines amerikanischen Scriptentwicklungs-Unternehmens zurückgegriffen. Denn zum einen wurde „Visions of Reality“ ausschließlich in englischer Sprache gedreht, und zum anderen war es dem Regisseur wichtig, dass sowohl die filmische Umsetzung der US-Kultur der jeweiligen Ära entspricht, als auch die historischen Details stimmten.  Sandra Wobrazek

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filmkultur

Wie das kino von anfang an

gedacht war Wanderkinos erfreuen sich wieder

zunehmender Beliebtheit

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chen.“ Andreas Kuba ergänzt: „Mit unseres filmische Roadtour haben wir die Menschen des Weinviertels letztes Jahr daheim abgeholt, sind zu ihnen in den Ort gekommen. Das hat es vielen erleichtert, in die Vorstellung zu gehen, die Schwellenangst ist dadurch weg gefallen. Oftmals sind mehrere Generationen einer Familie – vom Enkelkind bis zur Urgroßmutter – zu uns gekommen, haben sich den Film angesehen, und im Anschluss lange darüber gesprochen und diskutiert, was sie gesehen haben oder was ihnen selber noch passiert ist.“ NEUE KONZEPTE  Tatsächlich scheinen in Zeiten des Kinosterbens und des Rückgangs der Besucherzahlen ungewöhnliche Konzepte gefragt, die dem Kinogänger Kost fernab von Multiplex-Sälen, Dolby Surround-Systemen und hoch technisierten 3D-Spezialeffekten liefern; die bewegten Bilder wieder zurück zu ihrem Ursprung führen, den Film auf seine eigentliche Substanz reduzieren, ist das Motto. Denn die Anfänge der bewegten Bilder auf Zelluloid lagen bei eben jenen Wanderkinos, die quer durch die Lande tourten, und Film als mobiles Kulturgut Großstädtern ebenso zugänglich machten, wie Menschen in abgelegenen Bergdörfern. So fanden Ende des 19. Jahrhunderts auf Volksfesten und Jahrmärkten die ersten cinematografischen Vorführungen statt – lange Zeit, bevor Lichtspielhäuser errichtet wurden und die oftmals in Zirkussen eingegliederten Wanderkinos aufgelöst wurden. Dabei wurde das Konzept, Filme in mobilen Zelten (oder vor Ort bestehenden Räumen) zu zeigen, noch bis in die 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts praktiziert – damals, um ländliche Gebiete mit den neuesten Filmproduktionen zu bespielen und einen kulturellen Auftrag zu erfüllen. Dass fahrende Kinos heute ebenso wieder erfolgreich sein können, zeigt sich nicht nur am Fall von „Heil Hitler – die Russen kommen“. In Wien etwa beweist das VOLXkino seit 23 Jahren, dass man mit mobilen Leinwänden großen Erfolg haben kann. Begonnen hat alles im Jahr 1990 im Rahmen eines

Fotos: Volxkino

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s war ein Erfolg, mit dem in dieser Dimension wohl niemand gerechnet hatte: Vergangenen Sommer tourte die österreichische Dokumentation „Heil Hitler – die Russen kommen“ für einige Wochen quer durchs niederösterreichische Weinviertel. In Schulen, Sport- und Mehrzweckhallen, Gemeindesälen screenten Regisseur Simon Wieland und seine Co-Regisseure Andreas Kuba und Robert Weichinger ihren Film. Die cineastische Roadtour wurde dank einer sich schnell verbreitenden Mundpropaganda in der Region zum wahren Arthaus-Erfolg. So war auch im kleinsten Dorf nahezu jede Vorstellung ausverkauft, oft mussten ZusatzVorführungen eingeschoben werden, weil nicht mehr genügend Sitzplätze für alle Besucher zur Verfügung standen. Schlussendlich sahen mehr als 12.000 Menschen den Low-Budget-Film (Verleih: Thim-Film), der Ende Jänner dieses Jahres in den Kinos in Ostösterreich anlief. Ein Erfolg, der umso beachtlicher scheint, zumal die Dokumentation ein zeitgeschichtliches Thema behandelt – und das kann selbst bei Großproduktionen an den Kinokassen oftmals nur mäßige Erfolge verbuchen. So erzählt „Heil Hitler – die Russen kommen“ die Geschichte von gut einem dutzend Frauen und Männern aus dem Weinviertel, jener Region Österreichs, in der die lokale Zivilbevölkerung den „Endkampf“ so intensiv und folgenschwer miterleben musste wie nur wenige andere. Die Zeit der Betroffenen in der Hitlerjugend wird in 13 Kapiteln von Zeitzeugen ebenso bewegend und authentisch erzählt, wie auch die NaziDiktatur und die Befreiung durch die Russen mit all ihren Schattenseiten – von Plünderungen bis hin zu Massenvergewaltigungen von Mädchen und Frauen. „Das Geheimnis unseres Films ist es wohl“, so Regisseur Simon Wieland, „dass er etwas erzählt, was die Menschen vor Ort direkt betroffen hat – und es immer noch tut, weil die Generation der Zeitzeugen ja noch da ist. Viele Themen, die wir im Film anschneiden, wurden aber lange Zeit verschwiegen, und jetzt wurde erstmals wieder darüber gespro-

Open Air-Kino an ungewöhnlichen Plätzen des öffentlichen Raumes: Das Wiener „Volxkino“ tourt seit 1990 mit mobilen Leinwänden durch die Wiener Bezirke und spielt Filme bei freiem Eintritt

Stadterneuerungsprojekts. Damals zeigten die Veranstalter, die St. Balbach Art Produktion, noch unter dem Namen Wander-Frei-Luft-Kino, am Dornerplatz im 17. Bezirk ihren ersten Film unter freiem Himmel: „Aguirre, der Zorn Gottes“, Werner Herzogs spröden Abenteuerfilm aus dem Jahr 1972. Seither tourt das VOLXKino jeden Sommer quer durch Wien, bringt Jahr für Jahr an mehr als 70 Abenden Kino direkt in die Grätzl zu den Bewohnern. Mit bislang 600 Screenings und mehr als 150.000 Zusehern ist das VOLXKino damit das erfolgreichste Open Air-Wanderkino des Landes. Meist tourt das Kino auf Rädern von


Ende Mai bis September durch nahezu alle Wiener Bezirke, zeigt preisgekrönte europäische Filmproduktionen und IndependentStreifen ebenso, wie zeitlose Klassiker. Die Orte sind ebenso ungewöhnlich, wie die Mischung der Filme. Denn das Konzept der Veranstalter lautet: Gespielt wird überall dort, wo auch Raum ist, und an für Kino untypischen Orten – von Marktplätzen, über Parkanlagen bis hin zu Garagen, Flachdächern, U-Bahn-Stationen und Bahnhöfen; in der belebten City ebenso, wie am stark befahrenen Wiener Gürtel oder an der Idylle des Stadtrands. Bei freiem Eintritt kann so, im-

mer erst nach Einbruch der Dunkelheit, Kino im ungewöhnlichen, ungewohnten Kontext konsumiert werden. Ein Konzept, das ein breitgefächertes Publikum quer durch alle sozialen Schichten und sämtliche Altersgruppen anzieht – vom Bankbeamten über die Familie mit Kindern bis zum Obdachlosen, vom Schüler bis zum Pensionisten. „Wir haben einen niederschwelligen Zugang, bringen Kino an Orte, die von der bestehenden kulturellen Infrastruktur wenig profitieren. Daraus ergibt sich eine spannende Mischung an Zusehern, die man in dieser Form wohl in keinem fix installierten Lichtspielhaus finden würde“, so

Andreas Kous von der St. Balbach Art Produktion. Mittlerweile hat sich das Konzept so etabliert, dass sich eine wahre Fangemeinde rund um das wandernde VOLXkino gebildet hat. So reisen zahlreiche Wiener der fahrenden Leinwand quer durch ihre Stadt nach, sitzen oft mehrmals pro Woche in einer der Vorführungen, um Film so zu erleben und erfahren, wie er von Anbeginn gedacht war: Als lebendiges Medium, das zu seinem Publikum kommt und das eigene Lebensumfeld durch neue, spannende Welten bereichert.  Sandra Wobrazek

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interview fritz ofner hat für seinen

Dokumentarfilm „Evolution der Gewalt“ als One-ManShow in Guatemala gedreht

Fotos: Poool Film

Filmstart: 04.05.12

die dynamik der

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n einem Wochenende 50 Morde, das ist keine Seltenheit in Guatemala: In einem Land, das seinen Bürgerkrieg nie aufgearbeitet hat, dreht sich die Gewaltspirale immer weiter und immer tiefer in die Menschen selbst. Der österreichische Filmemacher Fritz Ofner versucht in seiner Dokumentation „Evolution der Gewalt“ eine Annäherung an die Kausalität der brutalen Dynamik. celluloid: Das Wort „Evolution“ ist positiv konnotiert, als „Weiterentwicklung“. Die Gewalt in Guatemala entwickelt sich aber nach innen, und kontraproduktiv ... FRITZ OFNER: Ich glaube, „Evolution“ ist

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weder positiv noch negativ gemeint, es bezeichnet einfach eine Veränderung und ihre Dynamik. Ich wollte keinen Film über Guatemala per se machen, sondern über die Mechanismen von Gewalt, unter welchen Bedingungen Gewalt zustande kommt. In Guatemala sind seit der Conquista Gesellschaftsformen geschaffen worden, die bis heute auf der Ausbeutung von Ressourcen und Arbeitskräften aufgebaut sind. Das ganze System wird durch Repression und Gewalt zusammengehalten, und die Strukturen haben sich nicht verändert. Das ging von Silber über Gold, über Kautschuk und Bananen, jetzt ist es Soja in Brasilien. Die Güter,

die gehandelt werden, haben sich geändert, aber die Mechanismen sind gleich geblieben. Um für diesen Film dem Mechanismus auch ein Gesicht zu geben, hat sich der Bananenhandel angeboten, weil die Geschichte des Bürgerkriegs mit der Geschichte des Bananenhandels zusammenhängt. Guatemala ist die archetypische Bananenrepublik. Dieses Wort kommt davon, weil die exportierenden Firmen, in diesem Fall die United Fruit Company, so mächtig waren, dass sie effektiv über die Politik des Landes bestimmt haben. Als es Anfang der 50er einen demokratischen Wandel gab und der damalige demokratische Präsident eine Landreform durchführen


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wollte, die vorgesehen hätte, Land von den Bananenfirmen zu nehmen und es an landlose Bauern zu geben, hat die amerikanische Regierung gemeinsam mit der United Fruit Company eine militärische Intervention gestartet, die den demokratischen Frühling beendet und in weiterer Folge zum Bürgerkrieg geführt hat, der dann 36 Jahre lang dauerte und in einem Genozid endete. Die Geschichte des Genozids beinhaltet auch die Tatsache, dass Hunderttausenden jungen Männern beigebracht wurde, wie man tötet, vergewaltigt, wie man erpresst. Nach dem Krieg sind diese Männer mit genau diesen „Kenntnissen“ in den Alltag zurück. Daher also auch der Begriff „Evolution“: Etwas hat einen Mechanismus ausgelöst, der immer neue Formen und Konsequenzen hatte. Der Ausgangspunkt für diese Gewaltspirale sind ökonomische und politische Zusammenhänge. Der in Guatemala kulturell sehr tiefgehende Konflikt mit den Indiginas wird im Film thematisiert, aber nicht näher auf seine Ursprünge und Auswirkungen untersucht. Richtig. Ich habe die These der Bananenrepublik für den Film gewählt; ein Soziologe würde die Gewaltspirale vielleicht in anderen Mechanismen verorten. Mir war der Ausdruck der emotionalen Kraft dieser Gewalt wichtiger, als die Analyse, die im Film einfach nicht derart viel Raum haben konnte. Sie lassen auch einen Militär-Kämpfer zu Wort kommen, der über seine Gräueltaten berichtet – warum war es Ihnen wichtig, alle Seiten zu zeigen? Ich wollte die verschiedenen Aggregatszustände der Gewalt aufzeigen. Die erste Episode im Film zeigt den voyeristischen Blick der Journalisten, die zweite darüber, wie jemand innerhalb des Systems dagegen kämpft, also die Sozialarbeiterin. Genauso wollte ich Opfern, aber auch Tätern eine Stimme geben, um diese „Evolution“ der Gewalt darstellen zu können. Der Soldat ist ein integraler Bestandteil des Films, weil Täter generell selten zu Wort kommen. In der Dynamik des Konflikts in Guatemala sind die Täter oft zugleich Opfer. Dieser Soldat zum Beispiel hatte sich nicht freiwillig gemeldet, sondern das waren Zwangsrekrutierungen. Man konnte damals entweder zur Armee gehen oder fliehen und sich im Wald der Guerrilla anschließen. So oder so war man gezwungen zu kämpfen. Für ihn war die Teilnahme am Film sehr wichtig, um eine Form von Katharsis zu finden, indem er das, was er erlebt hat, auch einmal erzählen kann. Die Suche nach einem Soldaten war aber sehr schwierig, weil niemand vor die Kamera wollte, denn die meisten haben

Angst, deswegen umgebracht zu werden. Sie zeigen auch Gespräche in Therapiegruppen, die aber wie immer eigentich von den „Falschen“ besucht werden, nämlich den Frauen. Es sollten dort nämlich vor allem Männer sitzen... Die Gewalt gegen Frauen hat in Guatemala schon ein derartiges Ausmaß angenommen, dass man – in Anlehnung an Genozid – bereits von Femizid spricht. Die Selbsthilfegruppe im Film ist für minderjährige, vergewaltigte Mädchen. Sie arbeiten in den Gesprächen die Geschichte des Landes auf. Aber es gibt keinerlei Therapieform für Täter, das ist richtig. So wird sich die Gewalt weiter reproduzieren, weil sie keine Möglichkeit haben, selbst mit ihren Traumata sich an jemanden zu wenden. Erschreckend ist es, zu sehen, wie die Menschen in dieser alltäglichen Trauer schon wie gelähmt reagieren... Ich habe im Laufe der Recherchen mit einem Schamanen gesprochen, der mir von einer Krankheit erzählt hat, die „Susto“ heißt. Das ist ein ethnologisch definiertes Krankheitsbild; eine Art von „Seelenverlust“ aufgrund eines Traumas. Diese Angstkrankheit kann die Formen von Schlafstörungen über Essensstörungen bis hin zu Tod oder Selbstmord annehmen. Ich glaube, dass die gesamte Gesellschaft in Guatemala unter „Susto“ leidet, und auch, dass ich im Zuge der Dreharbeiten meine Portion davon abbekommen habe. Aber für mich war der Filmschnitt eine Form von Therapie, diese Bilder in meinem Kopf wieder raus und in eine andere Form zu bekommen. Was hatten Sie sich als formales Konzept überlegt? Weil ich als so genannte One-Man-Show drehe, müssen meine Filme mit den Mitteln funktionieren, die ich zur Verfügung habe. Diese Arbeitsweise definiert also bereits sehr viel. Das hat den Vorteil, dass ich mehr Zeit mit dem Dreh verbringen kann, aber den Nachteil, dass ich stilistisch eingeschränkt bin, weil ich eben kein Team habe, in dem sich einer um das Bild, ein anderer um den Ton kümmert. In diesem Fall wollte ich den Film mit dem Moment der Gegenwart beginnen und davon in die Vergangenheit gehen. Geschehnisse in der Gegenwart kann ich beobachten, Vergangenes muss ich mir aber erzählen lassen. Für mich war hier das Zen-Prinzip von „form follows function“ sehr nützlich; so hat der Film keine einheitliche stilistische Form, sondern mäandert zwischen verschiedenen hin und her. Ich hoffe aber, dass das wiederum eine eigene Form ergibt.  Interview: Alexandra Zawia

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interview

das ganze land ein gefängnis Susanne Brandstätter über ihren Dokumentarfilm „The Futures Past“

W

celluloid: Frau Brandstätter, Krisenherde oder politische Themen sind oft Gegenstand Ihrer Arbeiten. Was fasziniert Sie daran? SUSANNE BRANDSTÄTTER: Bei jedem Thema ist das anders. Für mich ist dabei oft der Auslöser, wenn sich tiefgreifende Fragen stellen, die trotzdem universelle Aussagen treffen. Ich will immer Aufmerksamkeit für die Themen erregen mit solchen Filmen, um etwas zu bewirken. Selbst, wenn ein Film ein spezifisch regionales Thema angeht, ist es trotzdem wichtig für mich, dass es Fragen gibt, die nicht nur für diese Region gelten. „The Future‘s Past“ legt den Vergleich mit Österreich nahe, wo es auch Jahrzehnte gedauert hat, bis die NSVergangenheit aufgearbeitet war. Im Grunde dauert dieser Prozess noch immer an. In Kambodscha hat er gerade erst begonnen. Wenn man solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrachtet, gibt es viele Parallelen, aber auch Divergenzen zu anderen Staaten auf der ganzen Welt. Ich will nicht sagen, dass es in Kambodscha direkte Ver-

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bereits im Kino

unser video-interview auf youtube

http://www.youtube.com/celluloidVideo

Fotos: Poool

ie überlebt man ein Terrorregime? Welche Nachwirkungen haben totalitäre Systeme auf die Menschen, die in ihnen leben? Und welche Nachwirkungen hat es auf die folgenden Generationen? Vor allem letztere Frage interessierte die in Los Angeles geborene und in Österreich lebende Filmemacherin Susanne Brandstätter in ihrer neuen Arbeit „The Future‘s Past“. Darin unternimmt sie eine Spurensuche in Kambodscha, das nach wie vor unter den Nachwirkungen der Herrschaft Pol Pots und der Roten Khmer leidet. Innerhalb von nur vier Jahren an der Macht hat das Terror-Regime zwei Millionen Menschen ermordet oder zugrunde gehen lassen. Bislang wurde diese Vergangenheit in Kambodscha nur wenig aufgearbeitet, ja geradezu totgeschwiegen. Doch als das Rote Khmer-Tribunal 2006 seine Arbeit aufnahm, drangen die Gräueltaten von einst wieder vermehrt ins Bewusstsein der heute dort lebenden Bevölkerung. Brandstätter hat für „The Future‘s Past“ drei kambodschanische Jugendliche begleitet, die sich erstmals mit den Geschehnissen von damals auseinandersetzen und auch ihre Eltern damit konfrontieren. Vergangenheitsbewältigung, wie wir sie in Österreich durch die NS-Zeit selbst kennen. celluloid sprach mit Susanne Brandstätter.

Susanne Brandstätter und ihr Film „The Future‘s Past“

gleichsmöglichkeiten zum Nazi-Regime bei uns gegeben hat; die Parallelen betreffen eher den Umgang der Menschen mit diesen Regimen. Man hört von den Menschen oft die gleichen Aussagen wie „Ich konnte nicht anders“, „Ich habe nur Befehle befolgt“, „Ich hatte keine andere Wahl“. Vom gesunden Menschenverstand ausgehend, ist ein solches Mitläufertum doch überhaupt nicht nachvollziehbar. Ich glaube, das kann niemand nachvollziehen, und es gibt auch keine klaren Antworten. Gäbe es die, könnte man vielleicht verhindern, dass es wieder Genozide geben würde. Es ist sehr schwer, dahinterzukommen, welche Mechanismen diese Regime ermöglicht haben. Dennoch habe ich mich in der Arbeit zu dem Film gefragt, ob es gewisse Muster gibt, die überall gleich sind. Wie ist es möglich, wenn eine so große Masse an Menschen mitmacht? Welche Druckmechanismen gibt es? Im Film gibt es eine Frau, die sagt, dass alle im Dorf dafür waren, und sie sich nicht als einzige hätte dagegenstellen können. Solche Argumente hört man immer wieder. Könnte ein solches Muster vielleicht sein, dass sich spätere Regime anfangs oft als Retter in schwierigen Zeiten präsentieren, um an die Macht zu gelangen? Tatsächlich gibt es in der Zeit vor der Machtergreifung totalitärer Regime immer Ereignisse, die es den radikalen Kräften erst ermöglichen, hochzukommen. Was dann die späteren Verbrechen angeht: Es muss immer eine politische Instanz oder einen Führer geben, der das, was passiert, legitimiert. Der es zum Gesetz macht. Dann wird es für die Geg-

ner der Regime ungleich schwerer, dagegen zu sein. Mir ging es um die Auswirkungen in der Bevölkerung. Es gab eine Art von Großgruppendynamik. Ich fragte mich, wie es zu solchen Dynamiken kommt, und warum Menschen blinden Gehorsam zeigen, ihre normalen Prinzipien und Moralvorstellungen über Bord werfen, und Dinge zu tun, die sie sonst niemals tun würden. Was haben Sie also herausgefunden? Sobald die Roten Khmer in Kambodscha die Macht übernahmen, wurden alle Schulen, Banken, Bibliotheken, öffentlichen Einrichtungen geschlossen, die Medien kontrolliert. Es war daher gar nicht möglich, dass die Menschen erfahren konnten, was im Gange war. Es war ein Teil des Terrorregimes, den Menschen zu verstehen zu geben, dass man Befehle befolgen muss. Wer den Befehlen nicht folgte, wurde ermordet, und alle Menschen, die eine Brille trugen, oder eine Uhr, wurden wegen dieser Zeichen der Bildung exekutiert oder zumindest in Zwangslager gesteckt, wo sie aus Hungersnot oder Krankheit ebenfalls starben. Den ungebildeten Bauern dagegen gestand man etliche Privilegien zu. Man wollte eine Agrar-Utopie schaffen. Pol Pot hat sich das bei den Chinesen und deren Kulturrevolution abgeschaut und wollte es aus seiner Sicht besser machen. Die Bauern bekamen mehr Privilegien und erhielten Positionen. Sie haben die Menschen beaufsichtigt in den Zwangsarbeitslagern, die aus den Städten evakuiert worden sind. Wie man auch im Film einmal hört, gab es den Satz: Das ganze Land war ein Gefängnis. Und das  Doris Niesser war wirklich so.


profile

Foto: Tuma

michaelHANEKE im Cannes-Wettbewerb Die Interviewanfragen, die Michael Haneke aus Anlass zu seinem 70. Geburtstag am 23. März 2012 erhalten hatte, quittierte er mit lockerer Ablehnung: „Ich finde, ein Geburtstag ist kein Interviewgrund“, sagt er. „Warten wir doch lieber auf den neuen Film.“ Haneke will niemals wirklich über sich selbst sprechen, höchstens über seine Filme. Durch sie drückt sich der Regisseur am besten aus, wie er immer versichert. „Das weiße Band“, „Die Klavierspielerin“ oder „Caché“ haben dazu beigetragen, dass Haneke zu einem der bedeutendsten europäischen Regisseure der Gegenwart wurde, der nicht nur die Goldene Palme, sondern auch einen Golden Globe gewann und eine Oscarnominierung erhielt. Dabei war das Filmemachen gar nicht Hanekes primärer Berufswunsch: „Es war mein Traum, Dirigent zu werden, aber leider hatte ich dazu zu wenig Talent. Mein Stiefvater war Komponist und Dirigent und sagte mir früh genug, dass das Talent dazu nicht reicht“. Zurückgenommen ist der Einsatz von Musik in seinen Filmen, denn: „In keinem meiner Filme gibt es Filmmusik, weil mir die Musik zu wichtig ist, um sie dazu zu verwenden, meine Fehler zu kaschieren. Dennoch haben Film und Musik viel gemein: Bei beiden Künsten geht es stark um Rhythmus“, so Haneke, der 1942 in München zur Welt kam. Durch Zufall, sagt er, weil seine Eltern (die Schauspieler Fritz Haneke und Beatrix Degenschild) gerade beruflich in der Stadt waren. Seit 1974 macht Haneke mit großer Beharrlichkeit und unbeirrbarem, künstlerischem Ausdruck Filme, zunächst für das Fernsehen, wo er etwa mit dem Zweiteiler „Lemminge“ (1979) seine eigene Jugendzeit im düsteren Wiener Neustadt der Nachkriegsjahre aufarbeitete. 1989 drehte er mit „Der siebente Kontinent“ seinen ersten Kinofilm. Die nüchtern-kalte

Schilderung eines geplanten Familienselbstmordes ist Auftakt zu seiner Trilogie über die „Vergletscherung der Gefühle“, die durch „Benny's Video“ und „71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls“ vervollständigt wurde. Alle seine Kinoarbeiten wurden beim Festival in Cannes gezeigt, Hanekes Stil entwickelte sich zu einem Kompendium des Unbequemen, das den Zuschauer und seine Phantasie in die Rolle eines Mitgestalters (Kritiker sagen „Mittäters“) der Macht der Bilder zwängt. Mit der außerordentlichen Brutalität von „Funny Games“ provozierte Haneke 1997 einen Skandal, 2008 drehte er ein 1:1-Remake des Films in den USA. Sein neues Werk trägt den simplen Titel „Liebe“, und wird seine Weltpremiere im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes feiern (Dort tritt er gegen Ulrich Seidls „Liebe“ an). Unter Filmleuten gilt Haneke als absoluter Perfektionist, der jede Einstellung seiner Filme detailliert voraus plant. Wer sich seiner Vision nicht unterordnet, muss mit Gegenwehr rechnen. Auf Youtube gab es einen Clip zu sehen, in dem der Regisseur beim Dreh zu „Caché“ ausrastet, weil unerwartete Kameraprobleme aufgetaucht waren. Doch diese pedantische Umsetzung seiner Vorstellungen ist für Haneke essentiell: Nicht umsonst gilt sein Werk heute als eines der kinematisch spannendsten und wegweisenden der jüngeren Filmgeschichte - wenngleich es von der Kritik auch kontroversiell aufgenommen wird. Seine Filme zu interpretieren, haben viele versucht, die meisten sind gescheitert. Ein geschätzter Kollege hat zu einem Haneke-Film 2001 ein Buch veröffentlicht, das sich mit der komplexen künstlerischen Kraft seines Werks auseinandersetzte. „Ich mache einfach nur Filme“, meinte Haneke damals anlässlich der Buchpräsentation. „Aber Sie sind ein Journalist, sie müssen ja was schreiben“. 

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profile

catalinaMOLINA

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Foto: Greuling

„Unser Lied“ von Catalina Molina ist demnächst bei den Cinema Next-Filmnächten, z.B. am 10.5. im Topkino, Wien, 22.30 Uhr, zu sehen. Siehe auch Seite 60

Daheim spricht Catalina Molina mit ihren Eltern und ihrem Bruder noch immer Spanisch. Und das, obwohl die Familie der 28-jährigen Nachwuchs-Regisseurin von Buenos Aires nach Gröbming zog, als Catalina fünf Jahre alt war. „Ich fühle mich als Argentinierin genauso wie als Steirerin“, sagt Molina, in bestem Steirisch selbstverständlich. Schon als Kind hat Molina eine Begeisterung für das Medium Film entwickelt, vor allem, weil ihr Vater als Filmfreak ständig die Werke von Fritz Lang, Bergman oder Peter Greenaway zeigte. Und Catalina dabei aufmerksam zusah. Gerade erst hat Molinas Film „Unser Lied“ bei der Diagonale in Graz den Preis für den besten Kurzfilm gewonnen, nachdem sie das Drehbuch dazu mit der Wiener Stoffentwicklungsfirma Witcraft Scenario entwickelte. Die Regisseurin erzählt in „Unser Lied“ von einem jungen, alleinerziehenden Vater, gespielt von ihrem Bruder Conrado, der seine Arbeit, seine Erziehungspflichten und seine Karriere als Musiker unter einen Hut zu bringen sucht. Als eines Tages die Mutter (Emily Cox) der gemeinsamen Tochter plötzlich wieder vor der Tür steht, bringt das den jungen Mann vollends durcheinander. Molinas einfühlsame Beobachtung einer Vater-Tochter-Beziehung und ihr direktes, unmittelbares Filmerzählen machen sie zu einer der großen Nachwuchshoffnungen des österreichischen Films. Nach ihrer Matura hat Molina die Aufnahmsprüfung an die Wiener Filmakademie bestanden, und studiert seither Filmregie bei Michael Haneke und Drehbuch bei Walter Wippersberg. Molina ist aber nicht erst seit „Unser Lied“ ein Begriff in der Filmszene: Bereits ihre Filme „Talleres Clandestinos“ (2009), „Zeitfeld“ (2007) und ihr Matura-Film an der Ortweinschule Graz, „Waisenhaus“ (2004), sorgten für Aufsehen und wurden mehrfach ausgezeichnet. „Mit meinen Filmen will ich vor allem berühren“, sagt Molina, die sich gerne kleine Geschichten aussucht, um sie in ihren Filmen in größere Kontexte zu setzen. Ihr Herkunftsland Argentinien spielt dabei immer wieder eine zentrale Rolle. „Talleres Clandestinos“ handelte von heimlichen Nähwerkstätten in Argentinien, in denen Mitarbeiter ausgebeutet werden. Dafür gab es sogar eine Nominierung zum Europäischen Filmpreis. Auch ihr nächstes Projekt „Cordoba 1978“ wird wieder mit Südamerika zu tun haben. Darin will sie eine Brücke zwischen Österreich und Argentinien schlagen - der Konnex dürfte schon anhand des Titels unschwer zu erkennen sein - Fußball-Film wird „Córdoba 1978“ aber nicht. Catalina Molina: „Mich interessiert anhand einer Begegnung zweier Menschen während des legendären Matches, was hinter der kollektiven Erinnerung des ‚Wunders von Córdoba‘ noch verborgen steckt“. 


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filmkritik

STILLLEBEN / OUTING

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E

STILLLEBEN

OUTING

Ö 2011, Regie: Sebastian Meise. Mit Fritz Hörtenhuber, Christoph Luser, Daniela Golpashin FILMSTART: 18. 05. 2012

Ö 2012, Regie: Sebastian Meise, Thomas Reider. Dokumentarfilm FILMSTART: 18. 05. 2012

in Projekt der Berliner Charite, das eine Therapie für Menschen mit pädophilen Neigungen anbietet, die nicht zu Tätern werden wollen, war die erste Inspiration für seinen Spielfilm „Stillleben“, erzählt Regisseur Sebastian Meise. Wo beginnt Schuld, und ist Pädosexualität synonym für strafbares Gedankengut?, waren die ersten, offensichtlichen Fragen, die sich daraus ergaben und die auch die – eigentlich als Nebenprodukt der Recherche parallel entstandene – Dokumentation „Outing“ prägen. Mit wenigen Strichen und Hinweisen entwirft Meise im Spielfilm „Stillleben“ ein Familienuniversum und zeichnet die Geschichte von vier Menschen – Vater, Mutter, Tochter und Sohn - die während langer Jahre mit sich und umeinander gerungen haben. Diese fragile Gemeinschaft implodiert beinah lautlos durch die Ahnung eines Inzests, eines pädophilen Übergriffs, als der Sohn den sexuellen Phantasien seines Vaters auf die Spur kommt, der seine Tochter zwar noch nie angerührt hat, aber Prostituierte dafür bezahlt, nach genauen Anweisungen in ihre Rolle zu schlüpfen. „Stillleben“ beschreibt das zerbrochene Familiengefüge, das sich nun auf-

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tut, ganz ruhig und intensiv. Dabei vergisst er nicht auf die Umgebung der Figuren: der kleine Vorort, die täglich gelebte Stagnation. Meise nähert sich seinem Thema unaufgeregt und aufmerksam und nimmt sich vom ersten Augenblick an Zeit, den Zuschauer mitatmen zu lassen. Mit geradezu schmerzlicher Wärme und auf schmalem Grat präzis inszeniert, beschreibt er den Verlust der Familiengemeinschaft, das Unwiederbringliche. Während sich der Bruder vorwirft, nicht rechtzeitig erkannt zu haben, was vor Jahren passiert ist, steht die Mutter fassungslos vor der Misere einer sexuellen Obsession, für die sich der Vater selber hasst und für die er geradezu nach einer Bestrafung für sich selbst sucht. Fritz Hörtenhuber verleiht diesem Vater den richtigen Ausdruck, beinahe unbeweglich nach außen, aber im Inneren ein grelles Durcheinander. „Soap and Skin“Sängerin Anja Plaschg ist hier in ihrer ersten kleinen Rolle zu sehen und lieferte für den Film unter anderem eine grandiose Neuinterpretation von „Voyage Voyage“. OUTING  Das Thema Pädophilie beleuchten Meise und Ko-Autor Thomas Reider auch in ihrer Dokumentation „Outing“ genauer: An-

hand der Geschichte von Sven, einem pädophilen jungen Mann, der alles dafür tut, seine Neigung nie in die Tat umzusetzten, wirft der Film wichtige Fragen auf. Seit seiner Pubertät ist dem jungen Archäologen Sven klar, dass er sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlt. Als einer der ersten Pädophilen erzählt er hier ausführlich von seinen Träumen, seinen Ängsten und Hoffnungen. Er artikuliert sich extrem reflektiert, ist in DauerTherapie und weiß, er muss sich von kleinen Buben fernhalten. Und doch verschieben sich im Laufe der Zeit (die Dokumentation fängt dies gut ein) langsam die Grenzen, die er sich selbst setzt. Sven spricht offen über seine pädophile Neigung und sein Ziel, diese niemals in die Tat umzusetzen. Er verschleiert auch seine Identität nicht - man sieht sein Gesicht. Der Film begleitet ihn vier Jahre lang, zeigt seinen inneren Kampf und wirft Fragen auf nach moralischen Grenzen, und danach, welchen Platz Menschen wie Sven in der Gesellschaft haben können. Getragen vom echten menschlichen Interesse an ihrem Protagonisten, gelingt den Filmemachern hier eine Nähe und Atmosphäre der Offenheit, die schockiert und berührt.  Klara Verthoer

Fotos: Stadtkino (3); Diagonale

Ein Spielfilm und eine Doku von Sebastian Meise über unausgelebte Pädophilie


interview ::: sebastian meise

wie schuldig dürfen wir jemanden sprechen?

unser video-interview auf youtube

http://tinyurl.com/cxodjpt celluloid: Herr Meise, wie sind Sie auf das Thema Pädophilie gestoßen? Sebastian Meise: Das Thema war in den letzten zehn Jahren omnipräsent, wir alle sind dafür sehr sensibilisiert. Ausgangspunkt für meine Geschichte war ein Projekt an der Berliner Charité, auf das Drehbuchautor Thomas Reider stieß: Dort wird pädophil geneigten Menschen eine Therapie angeboten, bevor sie überhaupt zu Tätern werden. Das sind Menschen, die in der Regel unter ihren pädophilen Fantasien leiden, meist aus moralischen Gründen; sie wollen dieser Neigung nicht nachgehen, wollen sie nicht ausleben und zu Tätern werden. An der Charité begegnet man ihnen auf Augenhöhe, man vorverurteilt sie nicht. Das ist ein therapeutischer Ansatz. Soweit ich weiß, sind die Therapieaussichten sehr gut, das hat mir ein forensischer Psychiater bestätigt. Wie gehen die Betroffenen mit ihren Schuldgefühlen um? Im Grunde ist die Schuld ein Schutzmechanismus, denn sich schuldig zu fühlen, ist ja auch das Bekenntnis, es nicht tun zu wollen. Im Unterschied zu den Missbrauch-

stätern, die diese Fantasien rationalisieren und sagen, den Kindern macht das eh Spaß und das sollte gar nicht verboten sein, denken diese Menschen, dass ihr Bedürfnis den Kindern schadet. Für uns war die Frage entscheidend, ab welchem Zeitpunkt man von der Gesellschaft schuldig gesprochen wird, wenn man solche Fantasien hat, und mit welcher Art von Sanktionen das verbunden ist. Kann ein Mensch mit solchen Fantasien mit Kindern arbeiten, etwa als Kindergärtner? Wie schuldig dürfen wir jemanden sprechen? Welche Einstellung hatten Sie vor dem Projekt zu Pädophilen? Ich habe meine Einstellung im Rahmen der Arbeit geändert, denn ich hatte zuvor stark stigmatisiert. Letztlich ist die Pädophilie nur eines der Motive, warum man zu einem Täter, also dissozial wird. Das hat mit mehreren Dingen zu tun und ist eine moralische, ethische Frage. Das Geständnis des Vaters in „Stillleben“ stellt die Familie vor große Herausforderungen ... Scham- und Schuldgefühle, wie sie der

Protagonist im Film hat, setzen sein familiäres Gefüge aufs Spiel. Zunächst will er sich seine Gefühle selbst nicht eingestehen, merkt aber bald, dass er für diesen Trieb eine Kompensationslösung braucht. Für die Tochter ist das Outing des Vaters im Film auch sehr aufschlussreich: Sie begreift plötzlich, dass die jahrelange Nicht-Liebe, die sie ihr Vater spüren ließ, gar nicht mit Abneigung zu tun hat, sondern mit seinen sexuellen Obsessionen, die dazwischenstanden. Mit „Outing“ haben Sie begleitend zu „Stillleben“ eine Doku über einen Pädophilen gedreht, der sich selbst als „tickende Zeitbombe“ bezeichnet. Das ergab sich relativ spät, der Spielfilm war zuerst da. Die Geschichte drehte sich mehr um Familiendynamiken, die Dokumentation „Outing“ hat sich aus weiterführenden Recherchen entwickelt und sich völlig verselbständigt. Der Hintergrund dafür war: Mir war es gar nicht bewusst, dass es Menschen gibt, die von sich aus sagen, sie wollen ihre sexuellen Fantasien nicht ausleben. Das war mir neu. 

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filmkritik

KUMA

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Filmladen

Jungregisseur Umut Dag blickt in das Leben einer türkischen Familie mit ungewöhnlichen Konstellationen

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uf den ersten Blick sieht es nach einer ausgelassenen Hochzeitsfeier in einem kleinen anatolischen Dorf aus. Es wird gesungen, getanzt und gelacht – wenn da nicht der unübersehbare Zweifel in den braunen Samtaugen der Braut, Ayse, wäre, den sie hinter der Fensterscheibe vergeblich zu verheimlichen sucht. Und wenn da nicht die unfreundlichen Kommentare ihr gegenüber seitens der aus Österreich angereisten türkischen Familie des zukünftigen Bräutigams wären. Man hegt ganz naheliegend den Verdacht, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Als Ayse nach dem großen Fest mit ihrem geehelichten Mann Hasan und dessen Familie nach Österreich abreist und sie dort überraschenderweise dem Bräutigam-Vater überlassen wird, ist klar, was hier passiert ist: die Ehe war bloßer Schein. Den Unmut, den der österreichisch-kurdische Regisseur Umut Dag, 30, gleich in den ersten Szenen seines Langfilmdebüts „Kuma“ hinterlässt, wird im Lauf der Geschichte gelindert, da der Filmemacher die Hintergründe für diese unfreiwillige Hochzeit aufrollt. Eigentlich war es Fatma, Hasans Mutter, die diese Ehe mit ihrem eigenen Ehemann initi-

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iert hat, weil sie sterbenskrank ist und glaubt, einen Ersatz für ihre eigene Person heranziehen zu müssen. Somit wird Ayse die „Kuma“, also die „Zweitfrau“, von Fatmas Ehemann. FREUNDE UND FEINDE Dass sich aus dieser – gerade für Europäer – kuriosen Situation Probleme ergeben, liegt auf der Hand. Ayse hat es anfangs schwer, sich in das vorgefundene Familiengefüge zu integrieren: Fatmas Töchter akzeptieren das für sie bäuerliche Mädchen, welches sich hier ihrer Meinung nach als zweite Mutter aufspielt, nur schwer und geben ihr das Gefühl, aufgrund ihrer ländlichen Herkunft weniger intelligent sondern vielmehr naiv zu sein. Auch Hasan, der Ehemann auf dem Papier, schenkt der jungen Frau nur wenig Beachtung. Ayse selbst tankt die notwendige Kraft aus der – vor allem nach einem unerwarteten Schicksalsschlag – schier ausweglosen Situation in der sich entwickelnden Freundschaft zu Fatma, die – so könnte man meinen – ein junges Spiegelbild in dem hübschen Fräulein sieht. Umut Dag, der mit „Kuma“ die PanoramaSchiene der diesjährigen Berlinale eröffnete, thematisiert Bereiche, die in der türkischen

Gesellschaft einen ganz anderen Stellenwert haben, als bei uns. Es geht um die Rolle der Frauen und der Mütter im Speziellen, aber auch um Familie und Freundschaft im Allgemeinen. Als wäre das nicht genug, verwebt der Regisseur auch noch die Themen Homosexualität und Ehebruch und eröffnet somit Probleme, die einige Zuschauer überfordern könnten. Auf der anderen Seite bleibt in „Kuma“ etliches unbeantwortet: Man erfährt zum Beispiel nicht, wie sich die türkische Familie in Österreich integriert hat, wie die Kinder in der Schule akzeptiert werden, welche Freunde sie haben – und was aus einem heimlichen Verehrer der jungen Ayse wurde. Diese Perspektiven hätten dem Film mehr Weitsicht und Tiefe verliehen. So aber wurde der Fokus stark eingegrenzt, was offene Fragen hinterlässt und Spielraum für Interpretationen – vor allem, wenn man an das Filmende denkt – bietet.  Carolin Rosmann KUMA Ö 2012, Regie: Umut Dag Mit Nihal Koldas, Begüm Akkaya, Vedat Erincin, Murathan Muslu FILMSTART: 27. 04. 2012


NATHALIE KÜSST

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Filmladen

Dass ein einziger Kuss das gesamte Leben verändern kann, machen die Gebrüder Foenkinos auf romantische Weise deutlich

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ur wenige Schauspielerinnen schaffen es, Kinopublikum und Filmkritiker gleichermaßen zu begeistern. Audrey Tautou gelingt dieses Kunststück seit ihrem internationalen Durchbruch in „Die fabelhafte Welt der Amélie“ immer wieder – auch in ihrem aktuellen Film. Als Titelheldin in „Nathalie küsst“ schlüpft das Ausnahmetalent in die Rolle einer feinfühligen aber willensstarken jungen Frau, die mit ihren Rehaugen und dem mädchenhaften Charme sogar Eisberge zum Schmelzen bringt. Ein solcher ist Markus: Der hünenhafte Büro-Angestellte ist zwar eine imposante Erscheinung, optisch aber das Gegenteil eines Märchenprinzen. Unscheinbar und unauffällig schleicht er als graue Maus durchs Leben, ist jeden Tag als erster im Büro, um pünktlich nach Dienstschluss zu Hause bei seinen Eltern zum Abendessen zu sein. Völlig anders sieht der Alltag seiner attraktiven Chefin aus, die sich nach dem Unfalltod ihres Mannes ganz auf ihre Karriere konzentriert, um ihren inneren Schmerz in Arbeit zu ersticken. Kurz: Nathalie und Markus haben nichts gemeinsam – bis auf einen unbedachten Kuss, der das Leben der beiden für immer verändert.

Eindrucksvoll führen die Gebrüder Foenkinos vor, wie fruchtbar die (filmische) Zusammenarbeit von Blutsverwandten sein kann: Während David das auf seinem gleichnamigen Roman basierende Drehbuch schrieb, sorgte Stéphane für die leinwandgerechte Umsetzung. INTELLIGENTE TWISTS  Das Resultat ist eine bezaubernde Tragikomödie, die mit Wortwitz und intelligent platzierten Plottwists gekonnt zwischen Drama und (Romantik-)Komödie balanciert. Mit großer Sorgfalt stellt das französische Filmemacher-Duo die Liaison des ungleichen Protagonisten-Paars auf jenen dramaturgischen Boden – der Tod von Nathalies Ehemann –, auf dem später eine neue Liebe sprießt. Aber was wäre eine Leinwand-Romanze ohne Intermezzo? An dieser Stelle kommt Bruno Todeschini ins Spiel: Als intriganter Nebenbuhler, der schon seit Langem ein Auge auf Nathalie geworfen hat, verzweifelt der virile Feschak auf sympathisch-bemitleidenswerte Weise an Markus’ menschlichen Qualitäten. „Er hat etwas von dem Gogol-Charakter an sich. Er vereint in sich diese groteske Zartheit

von Figuren aus osteuropäischen Romanen, die mich stark beeinflussen. Physisch war er perfekt für die Rolle. Ich hatte aber Befürchtungen, Damiens sei vielleicht zu extrovertiert, denn Markus ist schüchtern und diskret“, erzählt David Foenkinos über das Casting für die männliche Hauptrolle. Eine unbegründete Sorge, denn François Damiens, der zuletzt in „Nichts zu verzollen“ zu sehen war, erweist sich dank markanter Physiognomie und seinen Ecken und Kanten als Idealbesetzung, um seiner Rollenfigur Tiefgang und Wärme zu verleihen. Gemeinsam mit der feenhaft wirkenden Audrey Tautou ist es die schauspielerische Leistung des belgischen Humoristen, die die märchenhafte Botschaft des Films mit jener Authentizität auflädt, die man im Blockbuster-Mainstream zumeist vermisst: wahre Schönheit kommt von innen – in „Nathalie küsst“ von François Damiens.  Jürgen Belko NATHALIE KÜSST F 2011. Regie: David & Stéphane Foenkinos. Mit: Audrey Tautou, François Damiens, Bruno Todeschini. FILMSTART: 11. 05. 2012

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filmkritik

LACHSFISCHEN IM JEMEN

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Filmladen

Ewan McGregor und Emily Blunt in Lasse Hallströms Dramödie

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achsfischen im Jemen ist nicht gerade eine Sportart, die man mit dieser Gegend verbindet. Aber was kümmert das einen Scheich, der mit seinem Vorhaben, in der jemenitischen Wüste einen Lachsfischteich anzusiedeln, im Grunde auch die örtliche Wirtschaft stärken will? Außerdem soll die kontemplative Wirkung, die stundenlanges Fischen eben mit sich bringt, auch Orient und Okzident vereinen, so der hehrste Plan seit Nathan dem Weisen. Rund 10.000 schottische Flusslachse sollen bald also ihre Völker versöhnenden Dienste tun. Und obwohl die Presseagentin des britischen Premier-Ministers (Kristin Scott-Thomas) den Image-Wert positiver Nachrichtenmeldungen aus dem Nahen Osten während der Amtszeit ihres Bosses erkannt hat, legt sich nur noch der Fischereiexperte aus dem Westen quer: Dr. Alfred Jones (Ewan McGregor), als ebenso konservativer wie britischer Ministerialbeamter bereits an der Grenze zum Wahnsinn angelangt, findet die Idee eines Staudammbaus nebst Flussanlage einfach nur irrwitzig. Doch bald schon streckt auch er seine wohl sortierten Waffen der fischwissenschaftlichen, klimatologischen sowie ökologischen

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Vernunft: Denn gerade er, gefangen in seiner verstaubten Ehe (der aalglatte Mittelscheitel verrät sexuelle Frustration) muss irgendwann den charmanten Überredungskünsten der PR-Agentin (Emily Blunt) des Scheichs erliegen, die selbst auf den nicht ganz staubfreien Namen Harriet Chetwode-Talbot hört. GEFÜHLSCHAOS  Man arbeitet sodann im Dreier-Team zusammen und kommt einander näher. Vor allem Alfred und Harriet entdecken ihre Zuneigung, die (sein bald viel lockereres Haar verrät sexuelles Neuerwachen) allerdings lange einseitig bleibt. Immerhin hat Harriet vor kurzem einen tollen Typen kennengelernt, der leider noch schnell in den Irak-Einsatz berufen wurde, bevor ihre Liebe richtig knospen konnte und bevor das TeichProjekt so richtig in Gang kam. Bald erreicht die aus der Ferne treue Harriet aber die – vorläufige - Nachricht vom Tod ihres Prinzen, der dann doch noch lebt und – ach, was soll’s, alle ins Gefühlschaos stürzt. Zugegeben, es ist nicht gerade plump, wie der schwedische Regisseur Lasse Hallström die Buchvorlage nach Paul Torday hier inszeniert: Als Dramedy angelegt, lässt die absurde Aus-

gangssituation ernsthafte Zwischentöne zu, werden dramatische Augenblicke stets mit einem Augenzwinkern aufgelöst, geschehen selbst Wunder mit einer angenehm trockenen Beiläufigkeit. Die Chemie zwischen McGregor und Blunt ist spürbar, und Dr. Jones ist einer der typischen melancholischen HallströmHelden, wie man sie auch in „Gilbert Grape“, „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ oder „Schiffsmeldungen“ trifft. Was aber wirklich stört, ist die zwar rührende, aber letztendlich einfach lächerliche Naivität, die Hallström vom süffisant-bitteren Ton der Vorlage abweichen und in kitschige Klischee-Bilder verfallen lässt. Seine Verlagerung des Fokus auf die humanistische und weniger die politische Seite der Geschichte sei ihm unbenommen, aber die Bilder, die er zum Beispiel für die Szenen in der Wüste findet, sind derart banales westliches Klischee, dass die gegen Ende hin zunehmend kitschigen Wendungen in der Geschichte nur noch zusätzlich schmerzen.  Alexandra Zawia LACHSFISCHEN IM JEMEN GB 2011. Regie: Lasse Hallström. Mit Ewan McGregor, Emily Blunt, Kristin Scott Thomas, Tom Mison. FILMSTART: 17. 05. 2012


LIFE SIZE MEMORIES

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Filmladen

Die Naturfilmer Klaus Reisinger & Frédérique Lengaigne porträtieren Lebensgeschichten von Elefanten

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as haben Saw Way Lin und Myo Win May gemeinsam? Sie sind Protagonisten einer Tier-Doku, die das Leben „zahmer“ Elefanten in Burma, Thailand, Indien und Sri Lanka beleuchtet und ihr Schicksal mit den kulturellen, religiösen und gesellschaftlichen Traditionen des jeweiligen Landes verknüpft. Wer ein Leinwand„Universum“ erwartet, wird enttäuscht sein. „Life Size Memories“ ist vielmehr der filmische Versuch, das individuelle Leid von in Gefangenschaft lebenden Elefanten in den Mittelpunkt zu rücken. Vier Jahre ist das Filmemacher-Duo Klaus Reisinger und Frédérique Lengaigne durch Südost-Asien gereist, hat Elefanten-Camps, -Kliniken und -Züchter besucht, und dieses Bildmaterial mit bereits vor zehn Jahren entstandenen Aufnahmen gemixt. Das Resultat ist eine Doku-Melange, die anhand berührender Elefanten-Porträts Einblicke in die fernöstliche Kultur und Gesellschaft bietet – „vermenschlichte“ Tier-Biografien inklusive: „Mongkon Aiyarat arbeitete im Süden Thailands. Er hat ein bemerkenswert rosa farbiges Gesicht mit schwarz umrandeten Augen. Seine Geliebte, Nong Ae, wurde in Freiheit geboren und hat dunkle Haut und

seltene blaue Augen. Im Oktober 2007 gebar sie deren erste Tochter, Chabageaow.“ Das offensichtliche Kalkül hinter solchen Beschreibungen: Das Schicksal personalisierter Tiere geht tiefer unter die Haut der Zuschauer als jenes anonymer Lebewesen. OBJEKTIV  Trotz ihres persönlichen Engagements kann man den beiden Naturfilmern, die als ehemalige Kriegsfotografen gelernt haben, (menschliches) Elend kameragerecht in Szene zu setzen, ihr Bemühen um Objektivität nicht absprechen. Deutlich wird dies am fast völligen Verzicht von Off-Kommentaren: Klaus Reisinger und seine französische Partnerin lassen lieber ihre Bilder sprechen. Sprachlos ist man als Zuseher angesichts der Leidensgeschichte „domestizierter“ Elefanten, die im Dschungel von Burma brutal gefangen und einem speziellen „Training“ unterworfen werden. Auch der Umgang mit den „heiligen“ grauen Riesen beim „Thrissur Pooram“-Festival im indischen Kerala ist alles andere als artgerecht. Stundenlang stehen Elefantenbullen im Fokus eines TempelWettstreits, bei dem schreiende Menschenmassen um die Gunst des Publikums eifern.

Eine Form von Gewalt, die aus der Erwartung potenzieller Gefahr erwächst: Je aggressiver die Tiere, desto größer das gesellschaftliche Ansehen seiner Besitzer. Neben diesen negativen Beispielen beleuchtet „Life Size Memories“ aber auch neue Wege im Zusammenleben von Mensch und Elefant: Frei nach dem Motto „Zurück in die Wildnis“ hat sich bei der Bevölkerung rund um den Kaudulla-Nationalpark in Sri Lanka mittlerweile die Ansicht durchgesetzt, dass Elefanten nicht in Ketten, sondern in Freiheit leben sollten. „Wie Menschen Tiere behandeln, sagt gleichviel über ihre kulturellen Werte aus, wie über die Tiere selbst“, sind sich die Doku-Macher sicher. Angesichts der gezeigten Elefanten-Schicksale würde man sich wünschen, dass der erste Teil dieser Aussage nicht zutrifft.  Jürgen Belko

LIFE SIZE MEMORIES Ö 2012. Regie: Klaus Reisinger, Frédérique Lengaigne. Dokumentarfilm FILMSTART: 25. 05. 2012

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filmkritik

WIE ZWISCHEN HIMMEL UND ERDE

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Polyfilm

Hannah Herzsprung will in Tibet auf einen Achttausender, macht unterwegs aber eine furchtbare Entdeckung

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ibet – In den luftigen Höhen dieses Landes sehen sich Mönche einer buddhistischen Tempelanlage mit einer historischen Bedrohung konfrontiert: Der exponierte Schauplatz wird zum Ausgangspunkt einer großen Geschichte über den Golden Boy und dessen Flucht. Denn zuvor verübte die chinesische Besatzung einen Anschlag auf den legitimen Nachfolger des Dalai Lama, verwechselte ihn jedoch mit dem im Tempel hausenden Halbwaisen Tempa (Sangay Jäger). Inmitten dieses Handlungsraumes am Dach der Welt verankert Regisseurin Maria Blumencron eine pathetische Exposition, welche nicht zuletzt aufgrund ihrer gefühlsbetonten Musik epische Ansprüche an die Maßstäbe der Handlung stellt. Zeitgleich bereist die Berliner Medizinstudentin Johanna (Hannah Herzsprung) ebendieses Land in der Absicht, einen Berg zu erklimmen und entdeckt hierbei zwei erfrorene Kinderleichen. Die Bergsteigerin findet sich schließlich in einer Gruppe Tibetaner rund um Tempa wieder, die so wie der Golden Boy fliehen muss. Speziell die Einführung in „Wie zwischen Himmel und Erde“ gestaltet sich durch unterschiedliche Zeitebenen unruhig und un-

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geduldig, offenbart unzureichenden Raum für die Entwicklung einzelner Figuren. Zwar vermag es Blumencron die Erzählgeschwindigkeit gegen Mitte des Dramas etwas zu drosseln, doch erst mit der Einführung des Majors Wang Bao (Lucas K. Peterson) als allegorische Figur der chinesischen Bedrohung präsentieren sich auch die Dialoge ausgereifter. ROADMOVIE  Aufgrund der uneinheitlichen Verwendung von Off-Kommentaren und des übermäßigen Einsatzes von Überblendungen weißt die narrative Technik oftmals verkomplizierte Strategien auf; Rückblenden sind so beispielsweise nur schwer als solche zu identifizieren. Die pittoreske Atmosphäre zwischen den schneebedeckten Gipfeln des Himalayas untermauert Maria Blumencron mit einer Komposition an kontrastreichen, ockerfarbenen Bildern. Diese oftmals im Morgengrauen eingefangenen, beinahe erdtonhaften Einstellungen umreißen einerseits anschaulich, mit welchen wetterbedingten Widrigkeiten die Flüchtlinge auf ihrer felsig-kargen Route zu kämpfen haben. Andererseits fungieren imposante Landschafts- und Panoramaeinstellungen als

visuelles Bindeglied zwischen den einzelnen Handlungseinheiten, welche in ihrer Episodenhaftigkeit und Motivik teilweise an die Genrekonventionen des Roadmovie erinnern: Die Thematisierung einer Flucht in ein fernes Land und die inkonsistente Gesamthandlung rund um einen Entdeckercharakter gipfeln in der etwas überzeichneten Romantisierung einzelner Figuren. Schlussendlich erbringen die Charaketere von „Wie zwischen Himmel und Erde“ dem Golden Boy ein Opfer und stehen als Wegbereiter seiner Flucht. Das Potenzial dieser Erzählung wird nur all zu selten abgerufen: Die hervorragende visuelle, kinematographische Aufmachung und die penible atmosphärische Gestaltung bilden eine filmische Außenkonstruktion, welche vor allem unter der Last des überstrapazierten Einsatzes von Musik zusammenzubrechen droht.  Matthias Heschl WIE ZW. HIMMEL UND ERDE D/CH 2012. Regie: Maria Blumencron. Mit Hannah Herzsprung, Sangay Jäger, David Lee McInnis FILMSTART: 01.06.


TABU

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Filmladen

Wenn der Bruder mit der Schwester … Christoph Stark widmet sich einfühlsam einem großen Tabuthema unserer Gesellschaft.

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iebe hat bekanntlich viele Gesichter. Wenn sich aber Geschwister ineinander verlieben, Seelenverwandte sind, sich körperlich voneinander angezogen fühlen und diese Emotion dann auch noch ausleben, wird sich dieses metaphorisch gemeinte Antlitz – fast weniger aus gesellschaftlichen Zwängen, als vielmehr aus moralischen Gründen – verstecken müssen. Ein Liebespaar, das aus Bruder und Schwester besteht, will nicht in unsere Köpfe passen. Es wäre verboten, ja schier unmöglich, aus Geschwisterliebe mehr, also viel mehr, zu machen. Oder? Dem deutschen Filmemacher Christoph Stark gelingt es nun aber, sich in „Tabu – Es ist die Seele … ein Fremdes auf Erden“ dem inzestuösen Thema feinfühlend und mit achtsamer Charakterzeichnung zu widmen, so dass die „Blutschande“ nicht mehr mit erhobenem Zeigefinger verurteilt wird, sondern man sich dabei ertappt, Anteilnahme an der Herzenstragik zu verspüren. Doch um wen geht es? Erzählt wird die zum Scheitern verurteilte Liebesgeschichte zwischen dem österreichischen Lyriker Georg Trakl und seiner Schwester Grete, einer hochbegabten Komponistin und Klavierspielerin,

im Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts, inmitten von damaligen Zeitgenossen wie dem Maler Oskar Kokoschka und seiner Muse Alma Mahler. SEHNSUCHT ALS ANTRIEB Auf der einen Seite steht hier Georg, der von Selbstzweifel geplagte Dichter (grandios verkörpert von Lars Eidinger), der zwar offiziell seiner Ausbildung zum Apotheker nachgeht, insgeheim aber leidenschaftlich im Versmaß schwelgt, das ihm – weil innerlich zerrissen und von Drogenexzessen getrieben – auch Leiden schafft. Und auf der anderen Seite Grete, die selbstbewusste und ehrgeizige Pianistin (authentisch dargestellt von der Münchner Kinodebütantin Peri Baumeister), die aufgrund ihrer künstlerischen Begabung auf die Musikakademie nach Wien darf, und das als Frau zu dieser Zeit. Vor Rebellion sozialen Normen gegenüber schreckt Grete aber nicht zurück. Es sind zwei labile Seelen, die hier aufeinander treffen, zusammen aber entwickeln sie eine unglaubliche Stärke und geben sich paradoxerweise gegenseitig Stabilität. Wenn die beiden nicht miteinander verwandt wären, würde man sie um ihre innige Beziehung

sowie ihre „brennenden“ Herzen füreinander und für das Leben beneiden. Aber leider scheint es keinen Platz für ihre Liebe zu geben, und so müssen sie sich einem Wechselspiel aus Nähe, Sehnsucht und Distanz aussetzen … Tatsächlich reüssiert Christoph Stark bei dem Versuch, Empathie für diese schicksalshafte Fügung zu erzeugen – obwohl es sich bei Inzest um eines der größten Tabuthemen handelt. Dazu tragen auch die großartigen schauspielerischen Leistungen der beiden Hauptdarsteller bei, die mit dem richtigen Maß an Pathos in ihre Rollen schlüpfen. Der Film, der in intensiven, oft beklemmenden Bildern erzählt und dank der Off-Einspielung von Georg Trakls symbolischen Gedichten begleitet wird, verleiht festgefahrenen Strukturen neue Perspektiven – wenngleich wohl auch „nur“ im Kopf.  Carolin Rosmann TABU D/Ö/LUX 2011. Regie: Christoph Stark. Mit Lars Eidinger, Peri Baumeister, Petra Morzé, Rainer Bock. FILMSTART: 15. 06. 2012

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filmkritik

MONEYBALL

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Sony Pictures

Nach langen Jahren in der Produktionshölle haben schließlich Regisseur Benett Miller und Drehbuchautor Aaron Sorkin das Buch „Moneyball: The Art Of Winning An Unfair Game“ fürs Kino adaptiert.

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efragt nach Beweggründen für seine langjährige Anhängerschaft gegenüber dem Projekt, weist Brad Pitt hauptsächlich auf die eine, wirklich interessante Eigenschaft dieses Films hin: In „Moneyball” verändert sich die Welt rund um unbeugsame Figuren, die vielleicht dazulernen, aber nicht notwendigerweise ihr Leben neu ordnen. Solch lebensecht unbeirrbare Hauptfiguren sind aus der Mode gekommen und oft belehrbaren Fantasiegestalten mit wandelbaren Attitüden und lehmweichen Weltanschauungen gewichen – allzu sture Figuren wie der Baseball-Manager Billy Beane sind da zweifelsfrei eine verlockende Abwechslung für Mainstream-definierende Größen wie Brad Pitt. Dessen ungeachtet dürfte „Moneyball“ hierzulande dennoch wie ein Film aus einer fremden Kultur ohne notwendige Untertitelung wirken: Kaum jemand kennt überhaupt die Regeln für Baseball und die gängige Folklore scheint den meisten unvertraut. Auch wenn Brad Pitt und Jonah Hill zweifelsfrei exzellente Darbietungen in dieser hermetischen Illustration eines Stücks Sportgeschichte liefern, muss für Baseball-Unerfahrene der Film wohl ein merkwürdiges, ja fast

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kafkaeskes Erlebnis bleiben – bezeugt man die meiste Zeit doch Abläufe eines außerirdisch anmutenden Spiels, das mit gängigen europäischen Sportarten kaum Gemeinsamkeiten hat und somit wenig Identifikationspotential bietet. Eingebettet in einen theoretisch nachvollziehbaren Plot wechseln die Hauptfiguren unvermittelt zwischen Ekstase und Trauer, doch das Zentrum, um das sich hier alles dreht, ist für Baseball-Fremde nicht einsehbar, die Hermetik überwiegt. UNGEWOLLT MYSTERIÖS    Vielleicht ist diese unfreiwillige Mystifizierung aber auch jener Mehrwert, der den Neulingen zu einer lohnenden Filmerfahrung verhilft, denn nüchtern betrachtet ist der strukturelle Aufbau über weite Strecken äußerst konventionell, die Wendungen ziemlich vorhersehbar und bis auf den etwas gebrochenen Schluss ist „Moneyball“ wirklich nicht viel mehr als solide Durchschnittsware, in der Größen wie Philip Seymour Hoffman neben Brad Pitt gar nicht richtig zum Zug kommen. Dem kulturellen Kontext entrissen, unterhält der Film zumindest mit einer ungewollt mysteriösen Aura, die immerhin den Reiz des

Unerforschten bietet und die zweieinhalbstündige Laufzeit kurzweilig erscheinen lässt. Andernorts wahrnehmbare Kritiker-Kniefälle vor diesem Film sind indessen maßlos übertrieben und einfältig. Bei aller Dröge muss man „Moneyball“ jedoch eines lassen: Inmitten eines nordamerikanischen Urszenarios von Sport und Karriere unterminiert der Film das Primat des Geldes, und finanzieller Reichtum wird eher als Fluch denn als Segen verhandelt – ein doch mutiger Vorstoß für einen typischen Hollywoodfilm und wahrscheinlich mit ein Grund, wieso der Film einen solch langen Weg ins Kino zu bewältigen hatte. Dieser kleine Finger auf der Wunde ist jedoch zu wenig. „Moneyball” ist viel zu starr und behäbig, zu sehr eingezwängt im Korsett der historischen Gegebenheiten und der Konventionen des Kommerz, um einen bemerkenswerten Film abzugeben.  Alexander Lohninger MONEYBALL USA 2011. Regie: Bennett Miller Mit Brad Pitt, Jonah Hill, Ken Medlock, Philip Seymour Hoffman FILMSTART: 04. 05. 2012


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Fotos: Österreichisches Filmmuseum

News &Events

„Les destinées sentimentales“ (2000), Regie: Olivier Assayas

DIE KUNST DES AUFBRUCHS OLIVIER ASSAYAS im Filmmuseum

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ein Weg führte auf ungewöhnliche Weise zum Film: über die Malerei. 1955 in Paris geboren und aus einer ungarischitalienischen Familie stammend, begann Olivier Assayas als Maler, fand zwischen 1980 und 1985 als Kritiker bei den „Cahiers du cinéma“ zum Schreiben von Büchern (unter anderem über das Hong-Kong-Kino und Ingmar Bergman), Drehbüchern und zum Regie-Führen. Mit einer Gesamtschau von Assayas‘ bisherigem Schaffen widmet das Österreichische Filmmuseum dem Filmemacher nun seine aktuelle Retrospektive, die von 11. Mai bis 17. Juni in Kooperation mit dem Institut français in Paris und dem Institut français Autriche stattfindet.

Olivier Assayas kommt nach Wien

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Für den Regisseur ist Kino, wie er selbst sagt, die Kunst des beständigen Aufbruchs, der Gestaltung und Unruhe. Wohl mit ein Grund, warum der Regisseur nur schwer in eine cineastische Schublade zu stecken ist. Dennoch soll die aktuelle FilmmuseumWerkschau zeigen, dass es auch bei ihm eine Klammer gibt: Die Verbindung des typischen französischen mit einem präzisen und geschönten Blick auf die gesellschaftlichen, ökologischen und politischen Themen der Gegenwart, und der ihr immanenten Globalisierung in all ihren unterschiedlichen positiven und negativen Ausprägungen. WERKSCHAU  Dies wird schon 1993 in „Une nouvelle vie“ deutlich, um dann in seinem Familienepos „Les Destinées sentimentales“ (2000), dem New-Hollywood-Film „Clean“ (2004) und dem fünfstündigen Politthriller „Carlos“ (2010) über den gleichnamigen Terroristen konsequent weitergeführt zu werden. Doch auch Olivier Assayas‘ „französischere“ Werk sind im Rahmen der Werkschau zu sehen. Darunter „L´Enfant de l´hiver“ (1989), „Fin aout, début septembre“ (1998) und „L´Heure d´été“ (1989). Alles Filme, in denen Themen wie Umbruch, Wandlung, das Changieren zwischen Hoffnung und Angst

zu finden sind. Assayas wohl typischste, seine persönlichsten Filme – und zugleich jene Werke, die seine Handschrift am klarsten zeigen – sind „L´Eau froide“ (1994) und „Irma Vep“ (1996). Die Nacht als Ort der Freiheit, die Bedeutung von Musik, Tanzen, dem sich Treibenlassen auf der einen, und das Kino als Illusionsmaschine auf der anderen Seite, sind jene Themen, die in den beiden Filmen behandelt werden. Zum Auftakt der Retrospektive wird Assayas selbst im Österreichischen Filmmuseum für ausführliche Publikumsgespräche über die gezeigten Filme zur Verfügung stehen. Hinzu kommen zwei neue Publikationen der Synema-Reihe (Nummer 16 und 17), durch die die Werkschau ergänzt wird. „Olivier Assayas“ von Kent Jones widmet sich Leben und Werk des Filmers, während „A Post-May Adolescence“ sein Schaffen aus autobiografischer Sicht beleuchtet. Den von Assayas 2002 selbst verfassten Band legt das Filmmuseum nun erstmals in englischer Sprache auf, und liefert somit gleichzeitig einen Begleittext zu seinem nächsten Film „Aprés-Mai“, der von einem 18-Jährigen und seiner Reaktion auf die sozialen Veränderungen im Europa der späten 60er Jahre erzählt.  Sandra Wobrazek

Mehr Infos: www.filmmuseum.at


Crossing-Euope-Hightlights 2012: „Ave“ (l.), Regie: Konstantin Bojanov, Bulgarien 2011, „Apflickorna“ (r.), Regie: Lisa Aschan, Schweden 2011

CROSSING EUROPE

von stille und beobachtung

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um bereits neunten Mal hat sich Linz von 24. bis 29. April dem europäischen Film verschrieben: Dann findet in der oberösterreichischen Hauptstadt wieder das Crossing Europe Filmfestival Linz statt. Ziel des Festivals an der Donau ist es, hochkarätiges Filmschaffen aus Europa zu präsentieren, und zugleich dem jungen Arthaus-Film eine Plattform zu bieten – und das mit einem dicht geschnürten cineastischen Paket. So sind im offiziellen Programm heuer 146 Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme aus 43 Ländern zu sehen, davon 96 Österreich-Premieren und 22 Ur-Aufführungen. Festival-Leiterin Christine Dollhofer: „Es ist uns wichtig, dass Crossing Europe auf ,Cross Over' und Querverweise setzet. Dabei sind die Synergien besonders wichtig.“ AUTORENKINO  Trotz der globalen Betrachtungsweise von Crossing Europe – im Mittelpunkt des zweitgrößten österreichischen Filmfestivals stand von Anbeginn an der europäische AutorInnen-Film. Die Wettbewerbssektion „Europäisches Kino" bietet neun Langfilmdebüts beziehungsweise zweite Langfilme, die bereits in den letzten Monaten auf anderen Festivals Erfolge feiern konnten. Dabei spielt 2012 neben der Darstellung bemerkenswerter Frauenfiguren die

Stille eine entscheidende Rolle. So kommt „Z daleka widok jest piekny"/„It looks pretty from a distance“ (Regie: Anna und Wilhelm Sasnal) mit der Geschichte eines abgelegenen Dorfes, für das es keine Hoffnung zu geben scheint, nahezu ohne Dialoge aus. Ebenso eine reduzierte Sprache verwendet Lisa Aschan in „Apflickorna“/„She monkeys“, wenn sie von den Schwestern Erna und Sara erzählt, die zwischen Sexualität und Scheinmoral gefangen sind. Welche enorme Bedeutung der beobachtende Film im internationalen Festivalgeschehen hat, wird in der Crossing Europe-Schiene „Panorama Europa Documentary“ deutlich, die die unkonventionelle Position des europäischen Dokumentarfilms in all seinen unterschiedlichen, bunten und kreativen Facetten beleuchtet. So werden unter anderem Arbeiten über das Leben mit Behinderungen („Louisa“), urbane Skater in der DDR („This ain‘t California“), junge, kämpferische Lybier („Libya Hurra"/„Free Lybia“) und die Vision eines modernen Stadtstaats in Estland („Uus Maailm“/„The new world“) gezeigt. Das diesjährige Tribut schließlich ist der rumänischen Filmemacherin Anca Damian gewidmet, die mit drei Lang-, sowie einem Kurzfilm in Linz vertreten sein wird.  Sandra Wobrazek

„It Looks Pretty from a Distance“, Regie: Wilhelm & Anna Sasnal, Polen 2011

Mehr Infos: www.crossingeurope.at

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LET'S CEE Festival Filmfestival mit Fokus Ost

Unter dem Titel "LET’S CEE Film Festival" wird von 28. Mai bis 3. Juni 2012 ein umfangreiches Programm mit Filmen aus Zentral- und Osteuropa in Wien präsentiert. Gemeinsam mit der Cineplexx International GmbH und einer Reihe weiterer Kooperationspartner werden dabei in zwei der traditionsreichsten Kinos der Stadt, in der Urania und im Apollo, über 30 herausragende aktuelle Spielfilme und Dokumentationen aus den CEE-Ländern gezeigt, erstmals in Österreich sowie in Originalsprache und mit englischen bzw. deutschen Untertiteln. Im Wettbewerb des Festivals werden jeweils sechs Spielfilme und sechs Dokumentarfilme laufen und von international renommierten Juroren beurteilt. Dazu gibt es Fachsymposien, Vorträge und Diskussionsveranstaltungen. Ein Novum im heimischen FestivalZirkus, das Wien als Drehscheibe zum Osten stärken soll. Im Kuratorium des Festivals sitzen unter anderem Nikolaj Nikitin (Kurator), Mercedes Echerer und Filmer Arash T. Riahi. Infos: www.letsceefilmfestival.com

Kino von morgen

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Foto: Cinema Next

News &Events

„Unser Lied“ von Catalina Molina, zu sehen bei den Cinema Next-Filmnächten, z.B. am 10.5. im Topkino, Wien, 22.30 Uhr

kurzgemeldet Cinema Next-Filmnächten im Votivkino in Wien, im Moviemento in Linz, im Leokino in Innsbruck, im Das Kino in Salzburg und im Cinema Paradiso in St. Pölten zu sehen. Mit den neu gewonnenen Partnerkinos Schubertkino in Graz und Volkskino in Klagenfurt ist bei den Cinema Next-Filmnächten der österreichische Nachwuchsfilm landesweit präsent wie nie zuvor. Das detaillierte Programm für Mai und Juni 2012 gibt es unter www.cinemanext.at

Slashing Europe Genre-Perlen in Wien

Das Filmfestival Crossing Europe in Linz ist zum zweiten Mal Partner des Slash Film Festivals in Wien und gemeinsam bringen die beiden Filmschauen unter dem Namen "Slashing Europe" Europas Genre-Kino-Highlights der Crossing Europe-Selektion "Nachtsicht" von Linz exklusiv nach Wien. Zusätzlich dazu wird die Österreich-Premiere von "The Cabin in the Woods" ausgerichtet. Filme wie "Hell", "Livide", "Black's Game" oder "Sleep Tight" werden im Rahmen des Specials am 3. und 4. Mai im Wiener Filmcasino gezeigt. Infos und Details unter www.slashfilmfestival.com

Cinema Next Filmnächte im Mai/Juni 2012

Viennale wird 50

Cinema Next zeigt junges Kino aus Österreich. Mit Vorfilmen, Filmpremieren und Filmnächten wird die Qualität und Vielfalt des heimischen Nachwuchsfilms und damit Filmformate abseits des üblichen Kinospielprogramms präsentiert: Kurz- und Experimentalfilme, Animationen und Musikvideos. Einen abwechslungsreichen Querschnitt durch das Junge Kino Österreichs gibt es bei den zum zweiten Mal stattfindenden

Die Viennale nimmt ihr großes Jubiläum zum 50-jährigen Bestehen des Festivals im Jahr 2012 zum Anlass für eine Vielzahl an Sonderprojekten und Aktivitäten, die im Frühjahr beginnend sich über das Festival hinweg bis zum Jahresende fortsetzen. Darüber hinaus sind es aber auch eine Reihe von internationalen Festivals und Institutionen, die das Jubiläum der Viennale mit

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Hommagen an das Wiener Filmfestival

eigenen Sonderprogrammen begehen und der Viennale ihre Reverenz erweisen. Bereits im April und Mai widmen bedeutende internationale Filmfestivals der Viennale jeweils eine Hommage, etwa das Koreanische Festival von Jeonju von 26. April bis 4. Mai und Ende April/Anfang Mai das renommierte portugiesische IndieLisboa. Weitere Hommagen sind bei Festivals und Institutionen in Marseille, München und New York geplant. Das Gesamtprogramm zum 50-Jahr-Jubiläum der Viennale, das neben den erwähnten internationalen eine Vielzahl über das Jahr hindurch in Wien stattfindende Vorhaben umfasst, wird in einem Pressegespräch in der ersten Maiwoche vorgestellt.

Russkaja und Panzerkreuzer Potemkin Beim Viertelfestival in Waidhofen

Dem russischen Regisseur Sergej Eisenstein (1898 1948) war bewusst, dass sich Welt und Werte laufend verändern. Er wünschte sich daher, dass jede Generation ihre eigene Musik zu einem seiner bekanntesten Werke, dem Stummfilm und Revolutionsdrama „Panzerkreuzer Potemkin“, komponiert. Der Film über die Meuterei der Besatzung eines russischen Kriegsschiffes gegen die zaristische Obrigkeit im Revolutionsjahr 1905 wurde 1925 im Moskauer Bolschoj-Theater erstmals vorgeführt. Mit ihrer ungewöhnlichen musikalischen Neuinterpretation erfüllen die Kasatchock-Stars von Russkaja nun, nahezu 90 Jahre später, Eisensteins Wunsch. Termin: 1. Juni 2012, 20 Uhr, Waidhofen an der Ybbs, Plenkersaal, Plenkerstr. 8. Karten & Info: www.viertelfestival-noe.at


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Fernsehen &Heimkino

WER SIEHT ZU?

Das Ende von „Harald Schmidt Show“ und Gottschalks Live-Talk lassen die gestandenen Herren des Show-Geschäfts alt aussehen

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Tuma

ie langgedienten Herren der TV-Unterhaltung stecken in einer tiefen Krise. Wochenlang wurde darüber spekuliert, wie man Thomas Gottschalks VorabendShow noch retten könnte, weil die Quoten chronisch im Keller sind, also hat man beschlossen, es nochmal mit der Anwesenheit von Publikum im Studio zu versuchen. Doch keine Chance: Die Quoten erholten sich nicht, und die Einstellung der Show ist mit 7. Juni fixiert. Auch bei Harald Schmidt hat das Hoffen nichts mehr gebracht, der Sender Sat.1 kippte seine „Harald Schmidt Show“ endgültig aus dem Programm. Am 3. Mai wird Schmidt – nur sechs Monate nach seiner Rückkehr zu Sat.1 - das letzte Mal Spaß im Nachtprogramm machen, und die Gründe für die Einstellung sind vielfältig: Was für die Privaten zählt, sind allein die Marktanteile. Die dümpelten bei Schmidt aber stets um fünf Prozent. Die Erhöhung der wöchentlichen Frequenz auf drei Sendungen habe die Fangemeinde „leider nicht ausreichend erweitern können“, meinte der neue Sat.1-Geschäftsführer Joachim Kosack (Vorgänger Andreas Bartl verteidigte Schmidt stets als Aushängeschild für den Sender). Und Schmidt selbst kommentierte seinen Abgang so: „Mit der Champions League ist hier auf Sat.1 im Mai Schluss. Was man hört: Die Spiele sollen gut gewesen sein, aber die Quoten waren nicht so doll.“ Hinzu kommt bei Schmidt noch die späte Sendezeit (23.15), die zeitgleiche Programmierung von Stefan Raabs „TV total“

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Harald Schmidt auf dem roten Teppich in der Wiener Hofburg, vor der Verleihung der Romy, April 2011

am Sat.1-Schwestersender ProSieben, sowie die Möglichkeit, via Mediathek die „Harald Schmidt Show“ auch am nächsten Tag online „nachzusehen“, was wertvolle Zuschauer bei der Quotenmessung kostet. Schneiden sich die Fernsehmacher mit all diesen selbstverursachten Gründen nicht ins eigene Fleisch? Bei „Gottschalk live“ war die Problematik eine ähnliche: Die Zeit vor der „Tagesschau“ am Vorabend gilt ARD-intern als „Todeszone“, und Gottschalk trat erfolglos an, diese Zone neu zu beleben. Das Ende kam wenig überraschend. PENTHOUSE IN BERLIN  Dabei war Gottschalk noch dermaßen zuversichtlich, seine Show retten zu können, dass er kurz vor dem Ende eine Penthouse-Wohnung oberhalb des Studios in der Berliner Behrenstraße bezog. Tatsächlich hatte die Show nach anfänglichen Schwierigkeiten an Fahrt gewonnen. „Es machte ihm Spaß, es passierten keine Fehler mehr, die Sendung war in einem guten Fluss“, sagte der Medienberater der Show, der Österreicher Markus Peichl (Sohn von Architekt Gustav Peichl). Allein: die Zuschauer blieben aus. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gibt es keine längeren Schonfristen mehr als bei den Privaten. Das war einmal, zu groß ist der Werbe- und Quotendruck. Schmidt und Gottschalk, sind sie also ein Auslaufmodell der alten TV-Schule, die in Zeiten von Dschungelcamps und Superstars nur mehr ihre bröckelnde Fangemeinde hinter sich herschleifen? Zumindest ihre Auftraggeber stellen das so dar. Und bringen sich durch die Absetzung der Shows mitunter um wertvolle TV-Unterhaltung. Dieses Prädikat kann bei Dschungelcamps wohl kaum Anwendung finden.  Paul Heger


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DVD &Blu ray Abel Ferraras „Bad Lieutenant“ (1992) erscheint nun erstmals auf Blu-ray

BAD LIEUTENANT

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chon in der ersten Szene macht Harvey Keitel klar, wo bei ihm der Hammer hängt: Als er seine beiden Söhne widerwillig zur Schule kutschiert und ihnen in einfachen, aber umso prägnanteren Worten verklickert, dass sie sich gefälligst wie Männer und nicht wie Mäuse zu benehmen haben. Von den Frauen dürft ihr euch nichts gefallen lassen, selbst wenn es nur die Tante ist, die das Badezimmer blockiert: „Tell her to get the fuck out of the bathroom!“ Mit derlei preziösen Lebenstipps geht die Odyssee in das Herz der Finsternis der namenlosen Titelfigur weiter. Der Cop in den besten Jahren hat sich und seine Familie schon längst nicht mehr im Griff, immer tiefer versinkt er im Sumpf von Alkohol, Drogen und Spielschulden und nimmt immer höhere Risiken auf sich. Um beim Drogenkauf Ruhe zu haben, schüchtert er seine Umgebung mit einem lauten „Police Business!“ ein, zwei Mädchen, die er unerlaubterweise im Auto ihres Vaters erwischt, dienen buchstäblich als Wichsvorlage und pulvrig-weißes Beweismaterial steckt er grundsätzlich selbst ein. Wenn er nachts durch die Straßen New Yorks fährt, hört er im Radio den Sportkommentatoren zu, die mit beinahe religiösem Eifer durch die Footballsaison führen. Für ihn bringen sie keine Heilsbotschaften, sondern nur eine schlechte Nachricht nach der anderen.

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Religion ist bereits das zweite Stichwort, denn in wohl keinem anderen Film zeigt sich das Leitmotiv der Werke von Regisseur Abel Ferrara mehr als hier: Welche Buße muss man für all seine Sünden tun? Ferrara ist eigentlich ein Bibelverkäufer des Kinos – das fällt aber deswegen so selten auf, weil er seine Botschaft immer hinter der harten Schale seiner Figuren zu verbergen weiß. Schon in den vorhergehenden Filmen „Fear City“, „Cat Chaser“ oder „King of New York“ arbeitete er diese Frage kontinuierlich heraus. In „Bad Lieutenant“ wird er aber deutlich: Eine Nonne wird in einer Kirche vergewaltigt und er soll den Fall aufklären, doch das Verhalten der Nonne, die sich dazu entscheidet, ihren Peinigern zu vergeben, stößt ihn, den „unbesiegbaren Katholiken“, in eine tiefe Sinnkrise, die in der wohl bekanntesten Szene des Films mündet, in der er am Schauplatz des Verbrechens eine JesusErscheinung hat. Ein kleiner Funken Hoffnung, der eine ganz andere Seite des Cops offenbart. Immerhin: Mit der Belohnung, die auf die Lösung des Falles ausgesetzt ist, wäre er seine Spielschulden ein für alle mal los… „REMAKE“  2009 hat ein anderer RegieMaverick, Werner Herzog, seine Version des „Bad Lieutenants“ mit Nicolas Cage in der Hauptrolle inszeniert, die mit dem „Original“ nur mehr insofern zu tun hat, dass im Zentrum ein Cop steht, der durch exzessiven Drogenkonsum auffällt. Bei einigen uneinsichtigen Fans, die trotzdem beinhart von „Remake“ sprachen, setzte er sich damit in

die Nesseln. Herzog hat das Drehbuch von sämtlichen religiösen Motiven entrümpelt, selbst die Abhängigkeit hat bei ihm einen recht banalen, weltlichen Grund. Und wo Nicolas Cage sich wundersame Reptilien oder tanzende Seelen einbildet und die Karriereleiter hinauf steigt, offenbaren sich für Keitel nach jedem Trip nur einmal mehr die eigenen inneren Abgründe. Lange hat es gedauert, bis Ferraras „Bad Lieutenant“ auf dem deutschsprachigen Markt in einer ordentlichen Edition erscheint. Die vor zig Jahren herausgegebene DVD erschien nicht nur im falschen Bildformat sondern auch bar jeder Originaltonspur und Extras. Jetzt reicht StudioCanal nach und offeriert auf Blu-Ray und DVD, was das Herz des Fans begehrt: Neben einem unterhaltsamen wie informativen Audiokommentar mit Abel Ferrara und Kameramann Ken Kelsch, der insbesondere auf die Produktion und Rezeption des Films eingeht, gibt es zudem ein halbstündiges, dreiteiliges rückblickendes Making-Of, bei dem zahlreiche Beteiligte ebenfalls zu Wort kommen. Und der bei diesem Film wirklich essenzielle Originalton ist ebenfalls mit an Bord. Wer dieses dreckige Glanzlicht der 90er Jahre noch nicht gesehen hat, sollte jetzt die Gelegenheit dazu nutzen.  Florian Widegger BAD LIEUTENANT

Label: STUDIO CANAL / ARTHAUS 96 min. Bild: 1,78:1 1080/24p Full HD Sprachen/Ton: Deutsch, Englisch (Stereo DTS-HD MA), Untertitel: Deutsch. Extras: Audiokommentar von Abel Ferrera und Ken Kelsch; Making of: Pre-Production; Making of: Kinotrailer Bereits erhältlich

Fotos: StudioCanal; Fox; Camera Obscura; EuroVideo

Die nonne macht den unterschied


LA ORCA

GENRE-Kino von viscontis neffe

Robert Altmans „Quintett“

us der Abteilung „Filmtitel, wie sie das Leben schreibt“: Eriprando Visconti, Neffe des berühmten Regiemeisters Luchino Visconti, eiferte seinem Onkel nach und legte im Zeitraum von etwa zehn Jahren ein überschaubares, nichts desto trotz faszinierendes Oeuvre vor, aus dem insbesondere das barock ausgestattete Drama mit Hang zu Exploitation „Die Nonne von Monza“ sowie der Gerichtsthriller „Allein gegen das Gesetz“ mit Terence Hill in der Hauptrolle herausstechen. Bei „La Orca“ befand sich Visconti am Höhepunkt seines Schaffens: Eine junge Schülerin wird von drei Männern entführt, die so ihre Geldprobleme lösen wollen. Kein sonderlich innovativer Plot fürwahr, doch die Aufbereitung ist alles andere als konventionell. Statt jetzt einen knallharten Cop einzuführen, der Jagd auf die Kriminellen macht, konzentriert sich die Geschichte beinahe ausschließlich auf die Situation des entführten Mädchens, das in einer abgelegenen Scheune am Bett gefesselt liegt, während ihre Kidnapper draußen immer nervöser werden. Wer jetzt denkt, hier käme der wahrlich subtile deutsche Verleihtitel wieder ins Spiel, wird erneut eines Besseren belehrt. Zwar kommt es zu (dezent in Szene gesetzten) sexuellen Handlungen zwischen Alice und ihrem Aufpasser Michele (Michele Placido, noch

Keine Regiekarriere war wohl von derart vielen Höhen und Tiefen geprägt wie die Robert Altmans. In den 70er Jahren zementierte er seinen Ruf als Meister der bissigen Satire und des ausladenden Ensemblefilms. Dann wurden seine Streifen aber immer seltsamer: Über seine Musical-Verfilmung „Popeye“ wird heute noch gelacht und an „Der Gesundheitskongress“ oder „Streamers“ erinnert sich keiner mehr. Erst in den 90ern feierte Altman mit Filmen wie „The Player“ oder „Short Cuts“ ein Comeback. „Quintett“ (1979) markiert die Wende hin zum „Abstieg“. Besetzungsmäßig muss sich der Film absolut nichts vorwerfen: Mit Paul Newman, Bibi Andersson, Vittorio Gassman und Fernando Rey ist gewissermaßen die Crème de la Crème des New Hollywood und europäischer Autorenfilme dabei. Inhaltlich und formal ist der Film jedoch schwer zugänglich. Es geht um eine Gruppe von Menschen, die sich in ferner Zukunft, als unser Planet von einer neuen Eiszeit heimgesucht wird, in einer Stadt treffen und ein Brettspiel namens Quintett spielen – das jedoch tödliche Auswirkungen auf die Spieler im richtigen Leben hat. Die Geschichte ist ziemlich verworren, außerdem stört das extrem weichgezeichnete Bild, bei dem man nur in der Bildmitte etwas erkennt. Kritiker sind versucht, den „verkannten“ Filmen von einst durch Revision Qualitäten zu attestieren. Leider wird daraus – bei aller Sympathie für Robert Altman – auch 30 Jahre später nichts. Bereits erhältlich

A

auf der anderen Seite des Gesetzes) allerdings geht dieses Machtspiel in eine komplett andere Richtung… Visconti vermag es, gekonnt mit Erwartungshaltungen zu spielen, begibt sich dabei aber auf wackliges Terrain: Für einen Exploitationreißer ist der Film nicht nur zu zahm, sondern auch viel zu sehr mit Politik und Symbolik aufgeladen, die sich bereits im Originaltitel wiederfinden: „La Orca“ ist nicht nur – wie man durch das lesenswerte Booklet erfährt – eine italienische Nobelmodemarke, sondern auch ein wesentliches Motiv des Romans „Horcynus Orca“ (1975), in dem der Killerwal als Todesmetapher steht. Für den Freund vieldeutiger Filmwerke ist „La Orca“ aber ebenfalls nur bedingt geeignet, da man sich auf die eine oder andere wenig plausible Wendung einstellen muss. Somit bleiben als „Zielpublikum“ nur die Fans des italienischen Genrefilms und die experimentierfreudigen Entdeckungsreisenden durch die Filmgeschichte. Die dürfen sich an einer tadellos aufgemachten DVD mit einem höchst informativen Audiointerview mit Hauptdarstellerin Rena Niehaus und zwei nicht minder spannenden Featurettes (u.a. zum Regisseur) erfreuen.  Florian Widegger LA ORCA 99 Min, Camera Obscura, 16:9 (1,85:1) Deutsch, Italienisch. Bereits erhältlich

Woody-Allen-Collection

Promotion © 2012 TCFHE

Woody Allen ist einer der bedeutendsten Regisseure unserer Zeit und hat mit seinen über 50 Filmen Kinogeschichte geschrieben. Diese Kollektion vereint zum ersten Mal 20 seiner bekanntesten Werke aus fünf Jahrzehnten – von „Bananas” über „Purple Rose of Cairo” bis hin zu „Melinda und Melinda”. Allens Geschichten spiegeln das ganze Spektrum menschlicher Gefühle wider und beleuchten auf einmalige Art die Tiefen und Untiefen der Seele. Der typische und oft bissige Humor von Woddy Allen ist dabei selbst in jenen Filmen präsent, die etwas ernstere Töne anschlagen. Ob Komödie oder Tragikomödie, mit seinem ungewöhnlichen Stil ist Allen bis heute ein viel verehrter Star der internationalen Filmsze-

ne, der Generationen von Filmemachern und Schauspielern inspiriert hat. Folgende Filme sind in der 20-teiligen DVD-Box enthalten, können aber auch einzeln erworben werden: „Stardust Memories“ (DVD-Premiere!), „Der Stadtneurotiker“, „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten…“, „Hannah und ihre Schwestern“, „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“, „Eine Sommernachts-Sexkomödie“, „Bananas“, „Radio Days“, „The Purple Rose of Cairo“, „Manhattan“, „Alice“, „Eine andere Frau“, „Zelig“, „Broadway Danny Rose“, „Die letzte Nacht des Boris Gruschenko“, „Schatten und Nebel“, „Der Schläfer“, „September“, „Melinda & Melinda“, „Innenleben“. Erhältlich ab 25.05. 2012

cineproject anotherearth Die angehende Astrophysikerin Rhoda (Brit Marling) verursacht einen Unfall, bei dem die Familie des Komponisten John Burroughs (William Mapother) getötet wird. Getrieben von Schuldgefühlen sucht sie nach Verbüßung ihrer Haftstrafe Kontakt zu dem Mann, dessen Leben sie für immer zerstört hat. Verbunden durch die tragische Vergangenheit nähern sich beide einander an. Parallel dazu taucht am Himmel ein gespenstischer blauer Planet auf... Eine vielschichtige Story, brillante Darsteller und faszinierende Bilder: Mit einem kleinem Budget schuf Regie-Debütant Mike Cahill ein Sci-Fi-Drama voller Spannung und philosophischer Tiefe, das auf dem Sundance Film-Festival mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde. Erhältlich als DVD & Blu-ray ab 04. 05. 2012

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der kleine

stAmpf IMPRESSUM

...spielt mit der gedankenarmut celluloid

FILMMAGAZIN Nummer 3/2012 Mai / Juni 2012 erscheint zweimonatlich Herausgeber, Eigentümer und Verleger: Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films Chefredakteur: Matthias Greuling Freie AutorInnen: Urs Arnold, Jürgen Belko, Matthias Heschl, Paul Heger, Alexander Lohninger, Doris Niesser, Sandra Nigischer, Carolin Rosmann, Clemens Stampf, Siegfried Tesche, Florian Widegger, Klara Verthoer, Sandra Wobrazek, Alexandra Zawia Coverfoto: Robert Lebeck, Berlin (Bundeskunsthalle Bonn) Anzeigen: Dieter Greuling Layout/Repro: Werbeagentur Matthias Greuling Druck: Kny und Partner, 2340 Mödling Die Beiträge geben in jedem Fall die Meinung der AutorInnen und nicht unbedingt jene der Redaktion wieder. Grundsätzliche Richtung der Zeitschrift: celluloid begreift Film als Kunstform und will dem österreichischen und dem europäischen Film ein publizistisches Forum bieten. celluloid ist unabhängig und überparteilich. Anschrift: celluloid Filmmagazin Anningerstrasse 2/1, A-2340 Mödling Tel: +43/664/462 54 44 Fax: +43/2236/23 240 e-mail: celluloid@gmx.at Internet: www.celluloid-filmmagazin.com Vertrieb: MORAWA; erhältlich in 600 ausgewählten Trafiken in ganz Österreich und in allen 60 Morawa-Verkaufsstellen, sowie bei Thalia, in ausgewählten Kinos, Fachgeschäften (z.B. SatyrFilmwelt, Wien) oder direkt bei der Redaktion. Preise: Einzelheft: EUR 4,- (zuzüglich Porto und Verpackung: EUR 1,50); Abonnement für 6 Ausgaben: EUR 18,90 (inkl. Porto und Verpackung); Ermäßigte Abos für Studierende gegen Nachweis: EUR 12,90. Abonnements können bis zwei Wochen nach Erhalt der 6. Ausgabe (nach einem Jahr) schriftlich gekündigt werden. Andernfalls verlängern sie sich um ein weiteres Jahr zum jeweils gültigen Vorzugspreis für Abonnenten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion und Quellenangabe. © 2012 by Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films.

Diese Publikation wird unterstützt von

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em guten, alten Hollywood wird ja immer wieder Ideenlosigkeit vorgeworfen. Für das Kino getunte Fernsehserien, risikofreie Bestsellerverfilmungen (Brian de Palmas „Fegefeuer der Eitelkeiten“ mal ausgenommen) Remakes von Remakes,…. und natürlich hat auch der kleine Stampf sich diesem Recyclingmechanismus ein wenig ergeben. Doch die Unoriginalität des amerikanischen Kinos wird ständig schamlos überschätzt, wie der neue Sci-Fi-Film „Battleship“ beweist. Besetzt mit Taylor Kitsch, dem Mann, der sich schnellstens einen Künstlernamen zulegen sollte, und Liam Neeson in seiner besten Rolle seit „Darkman“ (falls Sie diese Trashperle von Sam Raimi nicht kennen, Ihre Schuld. Enthält einen der besten Dialoge aller Zeiten: „Meine Hände! Sie haben mir meine Hände genommen!“ Und nein, Raimi setzt sich nicht mit den Gefahren der Onanie auseinander.) basiert die Story von „Battleship“ auf dem guten, alten Spielchen Schifferl versenken. Wie g e n i a l ist das? Ungefähr so, als würde jemand zur Selbstkreuzigung schreiten und den letzten Nagel ohne fremde Hilfe einschlagen. DKT ALS WIRTSCHAFTSKRIMI  Sitzt also der Drehbuchautor verzweifelt vor der leeren Seite, einfach ein verstaubtes Gesellschaftsspiel aus dem Regal holend. DKT vielleicht. Die perfekte Blaupause für einen Wirtschaftskrimi, gegen den sich „Wall Street“ ausnimmt wie eine fade Partie Mau Mau. Amtsmissbrauch, Geldwäsche, Freunderlwirtschaft, Luxusweibchen mit aufgespritzten Gfrieserln, schmierige Anwälte, Steuerhinterziehung, Unterschlagung, zwielichtige Immobiliendeals und unzählige Unschuldsvermutungen. Alles drin im DKT-Movie, sogar der schönste Besitzer der Kärtner Strasse ever. Wenn da nicht mal einer wegen Leistungsamnesie in den Arrest muss. Ach ja, der erzieherische Wert für arme Menschen in Form von Tipps für den Gemüseanbau auf der Terrasse des eigenen Penthouses wird ebenfalls nicht außen vor gelassen. Wem das alles irgendwie zu zahm erscheint, auch das beliebte Jenga hat sich irgendwo in der hintersten Ecke versteckt. Unter der Regie von Oliver Stone könnte das Spielprinzip vom Aufbau des höchsten Turmes mittels Bauklötzchen ein

Verschwörungsthriller ersten Ranges werden: Zwei riesige Konzerne konkurrieren um die Errichtung des höchsten Gebäudes der Welt. Doch wahnsinnige Terroristen planen bereits ein zweites 9/11. Stones neuerliche Aufarbeitung der Anschläge von 2001 gilt bereits jetzt als bester Film 2021. Das zukünftige Filmereignis, welches alle eingangs erwähnten Merkmale vereint, ist die Neuinterpretation von „Der alte Mann und das Meer“. Diese basiert weniger auf Hemingways zeitloser Novelle, als auf dem ulkigen Kinderspiel Kroko Doc. Kein Meer, kein Boot, kein Marlin in Sicht, dafür aber ein alter Zahnarzt namens Santiago, der mit einem Riesenkrokodil ringt, um ihm einen entzündeten Zahn zu ziehen. Ein existenzialistisches Dentistendrama ohne Gleichen. Natürlich in echtem Kentucky Fried Movie 4D. ALAN SMITHEE  Sie sehen, liebe geneigte LeserInnen, die Möglichkeiten sind endlos. Nicht nur für die Inspirationsquelle Spiel als Film, sondern auch für cleveres Spiel im Film-Merchandising. Oder gab es jemals eine bessere Werbung für eine Partie Schach als Max von Sydows Duell gegen den Tod? Ah, da kommt gerade noch eine Meldung herein. Oliver Stone hat sich durch den Regisseur Alan Smithee ersetzen lassen, für den ja selbst Roger Ebert einst lobende Worte fand. Was soll‘s, ist ja auch schon David Lynch passiert. Beim nächsten Mal gibt es dann mehr über Smithee und wilde Erdbeeren. Ciao!

P.S.: Nicht nur Partyspiele sind eine gute Inspiration, auch die Tagebücher ihrer Angehörigen, Abhörprotokolle, Klassenbucheintragungen, Krankenakten, u.s.w. eignen sich super. Lassen Sie Ihre Phantasie spielen.

derkleinestampf@stampf.at

die nächste ausgabe von celluloid erscheint am 26. JUNI 2012! 66

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EWAN MCGREGOR EMILY BLUNT KRISTIN SCOTT THOMAS

LACHS FISCHEN JEMEN IM

AB 17. MAI IM KINO



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