celluloid Ausgabe 1a/2012 - 28. J채nner 2012
gegr체ndet 2000
filmmagazin
ARTIG. NICHT BRAV.
e zur
Beilag
THE DESCENDANTS
georgeclooney Mit ausgew채hlten beitr채gen aus dem filmmagazin celluloid www.celluloid-filmmagazin.com
willkommen in der welt von
celluloid Besuchen Sie unsere WEBSITE www.celluloid-filmmagazin.com
Infos, kritiken, Interviews & Videos LIVE von den wichtigsten festivals: Tägliche Updates, videos & Fotos aus cannes, venedig & Berlin, auch zum nachlesen
Sehen sie exklusive videos auf unserem Youtube-Profil www.youtube.com/celluloidvideo exklusive Interview-Mitschnitte, Video-Beiträge von festivals und dreharbeiten
werden sie mitglied in unserer facebook-community www.facebook.com Freunde werden, Beiträge Posten, termine erfahren, von celluloids filmnetzwerk profitieren
werden sie follower unseres twitter-accounts „mycelluloid“ unter http://twitter.com/MyCelluloid aktuelle postings und links zu neuen filmstarts und interessanten news aus der welt des films
a r t i g , n i c h t b r av
celluloid
filmmagazin - BEILAGE ZUR WIENER ZEITUNG Ausgabe 1a / 2012 Februar 2012
LES
COVER
EDITORIAL
Liebe Leser,
6
George Clooney Mit seinem neuen Film „The Descendants“ ist Clooney auf Oscar-Kurs
FEATURES 8
12 14 16 18
The Artist Ein französischer Stummfilm in Schwarzweiß, gedreht in Hollywood, reflektiert den Glanz der 20er Jahre, ist aber auch die Geschichte eines Niedergangs. Colin Firth im celluloid-Interview zu seinem neuen Film „Dame, König, As, Spion“ Filmstadt Wien Ein neues Buch stellt die Wiener Drehorte bekannter Filme vor Am Set „The Boundary Man“ mit Klaus Maria Brandauer Filmkritik „Drive“ und „Hugo Cabret“
8
WEITERE THEMEN
6
DES CELLULOID FILMMAGAZINS (AM KIOSK ERHÄLTLICH)
16 24 26 32 34 36 38
Vom Ende des Lichtspiels Das Kino steht vor einem massiven Wandel, weil sich die Rezeption von Filmen gerade verändert. Plus: Filmmuseum-Leiter Alexander Horwath im Gespräch Marjane Satrapi Mit „Persepolis“ wurde sie bekannt, jetzt hat sie einen Realfilm namens „Huhn mit Pflaumen“ gedreht. Ein Interview Ulrich Seidl Im Interview spricht Seidl über seine insgesamt vier aktuellen Filmprojekte Gerlinde Seitner Die neue Leiterin des Wiener Filmfonds über ihre Pläne für die Förderstelle Lomokino Eine neue Kamera aus dem Hause Lomo lässt Super-35mm-Aufnahmen auf Fotofilmen zu - ein analoger Retro-Spaß Festivals Eindrücke aus London und von „Cinéma tous écrans“ in Genf Hans Zimmer Der deutsche Hollywood- Komponist im großen Interview
FILMKRITIK
The Ides of March / Drive / Gianni und die Frauen / Faust / Der grosse Crash Underwater Love / Jonas / Cheyenne / Nachtschichten / El Bulli
Filmladen; Fox; Tuma
48
E
OB R EP
Seit dem Jahr 2000 berichtet celluloid sechs Mal pro Jahr über spannendes Kino. Wir haben in dieser Teaser-Ausgabe, eine Sonderbeilage zur Wiener Zeitung, einige Geschichten unserer aktuellen Printausgabe 1/2012 (siehe Coverbild rechts) für Sie als Leseprobe zusammengestellt und hoffen, dass Sie Gefallen an unserem Magazin finden. Unser Magazin ist österreichweit im gut sortierten Zeitschriftenhandel, im Abo, sowie direkt bei der Redaktion unter www.celluloid-filmmagazin.com erhältlich. Das Inhaltsverzeichnis unserer vollwertigen Ausgabe finden Sie links - die grau gehaltenen Beiträge finden Sie nur in unserem Hauptheft. Es lohnt sich also, unser Heft auch in der „Vollversion“ kennen zu lernen. Unser Abo-Angebot finden Sie auf Seite 11! Viel informatives Vergnügen beim Lesen wünschen Ihnen Matthias greuling
Chefredakteur & Herausgeber celluloid@gmx.at und die Wiener Zeitung
12
16 celluloid Filmmagazin Beilage. Nummer 1a/2012, Februar 2012 Beilage zur „Wiener Zeitung“ am 28. Jänner 2012. Medieninhaber und Herausgeber: Werbeagentur Matthias Greuling. Printed in Austria. Die Beiträge in dieser Beilage wurden uns mit freundlicher Genehmigung vom Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films zur Verfügung gestellt. Die Interviews wurden von Mitgliedern der celluloid-Redaktion geführt. Die Beiträge geben in jedem Fall die Meinung der AutorInnen und nicht unbedingt jene der Redaktion wieder. Fotos: Filmverleiher. Offenlegung gemäß § 25 MedienG: celluloid versteht sich als publizistische Plattform für den österreichischen und den europäischen Film und bringt Berichte über aktuelle Filme. Anschrift: Anningerstrasse 2/1, A-2340 Mödling, Tel: +43/664/462 54 44, Fax: +43/2236/23 240, e-mail: celluloid@gmx.at, Internet: http://www.celluloid-filmmagazin.com Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion und Quellenangabe. © 2012 by Werbeagentur Matthias Greuling
c e l l u l o i d O N L I N E : www . c e l l u l o i d - f i l m m aga z in . c o m celluloid 1a/2012
3
TRI VIA SCO PE
Interessantes, neues und amüsantes aus der welt des films
james bond muss sparen Sony Pictures
Javier Bardem mit 007 Daniel Craig bei der Präsentation des Filmteams in London: Bardem wird im neuen Bond-Film „Skyfall“ den Bösewicht spielen
J
ames Bond und die Wirtschaftskrise: Vorbei sind die Zeiten, in denen unerschöpfliche Geldquellen für die Filmreihe zur Verfügung standen. Bei 007 wurde nun der Rotstift angesetzt: Ursprünglich war die neue, 23. Bond-Produktion „Skyfall“, die seit Ende November 2011 gedreht wird, mit satten 200 Millionen Dollar budgetiert, doch jetzt haben die Produzenten das Budget erheblich gekürzt. Barbara Broccoli und Michael G. Wilson hätten „Skyfall“ gerne in sechs verschiedenen Ländern gedreht - darunter in China, Bali und in der Türkei. Jetzt soll als Auslands-Schauplatz nur mehr Istanbul übrig bleiben, der Rest der Geschichte wird in den Londoner
4
celluloid 1a/2012
Pinewood Studios und im Stadtteil Whitehall gedreht. Bond bleibt also in seiner Heimat, doch auch in Großbritannien soll es ja ein paar schöne Strände geben. Die Ausgaben für Spezial-Effekte sind ebenfalls gekürzt worden - sehr zum Leidwesen von Bond-Regisseur Sam Mendes und seiner hochkarätigen Besetzung um Daniel Craig, der zum dritten Mal den Geheimagenten spielt. Neben Craig sind auch noch Ben Whishaw, Albert Finney, Ralph Fiennes, Bérénice Marlohe, Naomi Harris, Javier Bardem und Judi Dench zu sehen. Mendes wird trotz der Kürzungen nicht müde zu betonen, der neue Bond-Film werde „voller Überraschungen“ stecken.
Der Technik-Tüftler „Q“ dürfte in Gestalt von Ben Whishaw ein Comeback in der Reihe feiern - zuletzt wurde Q von John Cleese gespielt. Der Film wird hingegen vermutlich ohne Moneypenny auskommen, denn die zuvor für den Part der Sekretärin hoch gehandelte Naomie Harris ist als Agentin „Eve“ zu sehen. Marlohe wird eine glamouröse, rätselhafte Frau namens „Severin“ spielen. Mendes gab zudem bekannt, dass es keine Beziehung zu den letzten beiden Bond-Filmen „Casino Royale“ und „Ein Quantum Trost“ geben wird: „Dies ist eine eigene Geschichte, die auch nichts mit einem der Romane von Ian Fleming zu tun hat.“
I
ch weiß nicht, wie sie es geschafft hat, immer so unbeschwert und selbstbewusst zu wirken“, sagt Michelle Williams über Marilyn Monroe. In „My Week with Marilyn“ spielt Williams die blonde Film-Ikone – der Film, der 2010 gedreht wurde, kam im November in den USA in die Kinos, und Williams kassierte für ihre Darstellung überwiegend Lob. Gerade erst erhielt sie einen Golden Globe für ihre Darstellung. Im Film erzählt Regisseur Simon Curtis („Cranford“) die wahre Geschichte des jungen Colin Clark (Eddie Redmayne) nach, der 1957 als Assistent für Laurence Olivier am Set von dessen Film „Der Prinz und die Tänzerin“ arbeitete. Eine ganze Woche lang verbrachte er damals mit der Monroe und wurde auch Zeuge davon, wie schwer sie sich tat, dem Blitzlichtgewitter zu entkommen. Kenneth Branagh spielt Laurence Olivier, Dougray Scott ist als Monroes dritter Ehemann Arthur Miller zu sehen und Julia Ormond spielt Vivien Leigh. Über allem erstrahlt aber Williams als Monroe-Kopie. „Ich habe mich wochenlang zuhause vorbereitet, habe ihren Gang geübt, ihre Gesten, ihr Kichern. Immer wenn der Postbote vorbeikam, testete ich an ihm, ob das alles schon überzeugend war“, sagt Williams. Wie überzeugend sie im Film war, teilte ihr nach der Premiere die Presse mit: Dort war zu lesen, Michelle Williams habe die Tonalität von Monroes Stimme perfekt getroffen und auch den unglaublichen Schimmer und Glanz ihrer Persönlichkeit wiedergegeben. Mit „My Week with Marilyn“ ist Michelle Williams nun in einem Mainstream-Hollywoodfilm zu sehen, nachdem sie viele Jahre eher Independent-Produktionen favorisierte, zuletzt etwa das spröde, aber faszinierende „Meek’s Cutoff“. Doch die Monroe zu spielen, hat Williams offenbar gereizt: Immerhin setzte sie sich beim Casting gegen starke Konkurrenz durch: Kate Hudson, Amy Adams und allen voran Scarlett Johansson wurden ebenfalls in Betracht gezogen. Kinostart: 2012
Tuma
michelle als marilyn
celluloid 1a/2012
5
cover
ALOHA from hawaii
Fox
George Clooney mit Filmtochter Shailene Woodley: Gemeinsam durch famili채r schwere Zeiten
6
celluloid 1a/2012
George Clooney und ein Scherbenhaufen: Die Ehefrau im Koma, die Töchter pubertierend und schlieSSlich die entdeckung, dass seine frau eine affäre hatte – alexander paynes drama „The descendants“ zählt zu den oscar-favoriten 2012, clooney erhielt für seine rolle soeben einen golden globe
Filmstart: 27.01.12
G
eorge Clooney im HawaiiHemd? Und dann noch mit dem Rollennamen Matt King belegt? Das klingt zunächst nach einer Variation von Danny Ocean unter Palmen: Clooney, der CasinoGambler mit Dreitagebart und nicht ganz lupenreinen Absichten. Doch weit gefehlt. In „The Descendants“ geht es ziemlich ernst zu. Alexander Payne („Sideways“) hat ein Drama gedreht, vor der Kulisse von Hawaii, was den Film zwar bunt und einigermaßen sonnig macht, jedoch nichts daran ändert, dass hier ein Familienvater sein bisheriges Leben neu überdenken muss. Wer Paynes Filme kennt, weiß, dass der Regisseur dann und wann auch komische Elemente liebt, das hat er in „Sideways“ und „About Schmidt“ gezeigt, aber so wirklich lustig ist Paynes Humor nie. Vielmehr ist er ein trockener Beobachter, einer, der eher nüchtern vorträgt und eine ausführliche Szenenauflösung schätzt, was ihm schon mal den Ruf einbringt, allzu träge und dahinplätschernd zu erzählen. TRAGIK AM STRAND Clooney jedenfalls lässt in „The Descendants“ trotz des langwierigen Inszenierungsstils keine Durchhänger zu. Seine starke Leinwandpräsenz wurde soeben mit einem Golden Globe belohnt, der Film immerhin als bestes Drama prämiert. Womit bestätigt wäre: Eine Komödie ist „The Descendants“ nicht – auch wenn die Filmfotos scheinbar anderes versprechen. Im Gegenteil: Die Geschichte ist sogar überaus tragisch: Matt King (Clooney), der Vater zweier Töchter, steht plötzlich vor einer neuen Lebenssituation, als seine Frau nach einem Unfall mit dem Speed-Boat (Freizeitbeschäftigung für Hawaiianer) am Strand von Waikiki ins Koma fällt. King ist verzweifelt, muss aber zugleich feststellen, dass er nun Gelegenheit hat, sich seinen beiden Töchtern, der 10-jährigen Scottie (Amara Miller) und der 17-jährigen rebellischen Alexandra (Shailene Woodley) anzunähern; das Verhältnis zu Daddy war zuletzt
ein wenig unterkühlt. Zugleich soll King alten Familienbesitz in Form unberührter Hawaiianischer Natur zu Geld machen, damit findige Investoren dort ein paar TouristenBurgen aufstellen können (man ahnt den Ausgang dieses Vorhabens). Und dann lässt Alexander Payne die Bombe platzen: Töchterchen Alexandra erzählt ihrem Vater, dass ihre Mutter zum Zeitpunkt des Unfalls eine Affäre mit einem anderen Mann unterhielt; Matt King muss die Einstellung zu seiner Frau grundlegend überdenken. Vor allem, als ihm die Ärzte mitteilen, dass die Patientin nie mehr aus dem Koma erwachen wird. Mit seinen Töchtern macht er sich daher auf, den Liebhaber seiner Frau zu finden – und zur Rede zu stellen. So weit, so Drama. Clooney gibt den betrogenen, leidvollen Ehemann mit Bravour und scheinbar mühelos, und auch die beiden Kinder sind gut besetzt. „The Descendants“ geht darob als einer der Favoriten in das Rennen um die Oscars, die am 26. Februar vergeben werden. Vielleicht ist die allgemeine Begeisterung für den Film auch deshalb entstanden, weil Regisseur Payne ein mehrschichtiges Drama an einem Platz verortet, dem man Tragik nicht zutraut. Denn in der öffentlichen Wahrnehmung gibt es kaum andere Konnotationen zu Hawaii als „Aloha“-Gesänge, Hula-Mädchen, Surfer-Boys und den hüftschwingenden Elvis Presley, der 1973 von hier via Satellit weltweit zeigte, wie man Blumenkränze richtig trägt. „The Descendants“ bricht mit diesen Klischees. Wie bemerkt es Matt King so schön, im (viel zu ausführlichen) VoiceOver zu Beginn des Films: „Meine Freunde auf dem Festland glauben, nur weil ich auf Hawaii wohne, würde ich im Paradies leben. Quasi im Dauerurlaub. Wir schlürfen hier alle nur Mai Thais, wackeln mit den Hüften und gehen surfen. Spinnen die?“ Ja, die spinnen, die Festländer. Denn Drama ist überall. Auch im Paradies von Hawaii sterben die Menschen. Das ist die vielleicht die unspektakulärste, wenn auch interessanteste Erkenntnis dieses Films. Paul Heger celluloid 1a/2012
7
stummfilm
„I will remain silent“
der oscar-favorit THE ARTIST erzählt vom ende des stummfilms und der ankunft des tons. die vielleicht schönste liebeserklärung an das kino überhaupt
Filmladen
Von Matthias Greuling
8
celluloid 1a/2012
Filmstart: 27.01.12
B
illy Wilder hatte es gut. Zu seiner Zeit konnte er noch aus dem Vollen Schöpfen. Denn 1950, als er seinen „Sunset Boulevard“ drehte, da erlaubte es ihm die erst zwanzig Jahre zurückliegende Stummfilmzeit, noch einige der Protagonisten von damals zu besetzen. Und so steckt dieser bissige Film über Hollywood voller raffinierter Details: Die Geschichte um die Liebe zwischen einer vergessenen Stummfilm-Diva und einem Drehbuchautor wurde schon damals zu einer Hommage an die Ära der wortlosen Kinokunst. Gloria Swanson, selbst ein Star der 20er Jahre, spielte sich quasi selbst - und als ihr Butler trat Erich von Stroheim auf, der mit Swanson einst einen Stummfilm drehte, der allerdings nie veröffentlicht wurde. Ausschnitte daraus sind in „Sunset Boulevard“ zu sehen, wenn die gefallene Schauspielerin, moralisch gestützt von Stroheim, ihrem Regisseur, voller Wehmut an die einstige Glanzzeit zurückdenkt. „Sunset Boulevard“ wurde zum bissigen Drama, übte gar harsche Systemkritik an Hollywood: Der Film erzählte Erschütterndes über die brutale Realität der Traumfabrik; er schilderte, wie enorm der Erfolgsdruck auf jene war, die in diesem Spiel dabei sein wollten. Der Ton war das Ende von Norma Desmond, jener Kunstfigur, die Gloria Swanson darstellte. Der Ton war das Übel, das sich schon lange angekündigt hatte, von vielen Protagonisten der Stummfilmära aber vorerst als neumodische Erfindung ohne Zukunft abgetan wurde. Der Ton bringt den Tod, darin war sich Norma Desmond aber sicher. Und sie sollte recht behalten. DAS KINO IM WANDEL Es ist kein Zufall, dass Wilder „Sunset Boulevard“ zu einer Zeit drehte, in der man sich in Hollywood langsam vor der Ankunft des Fernsehens zu fürchten begann - und Wilder nutzte diesen bevorstehenden, drohenden Wandel, indem er ein Gleichnis aus der Stummfilmzeit erzählte. Die meisten der damaligen Filmstars mussten mit der Ankunft der „Talkies“ Ende der 20er Jahre das Feld räumen; sie waren plötzlich nicht mehr die Kassenmagneten, mit ihren überbordeten Gesten und all dem heillosen Overacting. Die Zukunft gehörte
dem Tonfilm, das war schnell klar, auch, wenn die ersten Versuche eher mau ausfielen: Bei „The Jazz Singer“ (1927), der den offiziellen Beginn der Tonfilm-Ära markiert, machen die gesprochenen Teile nur knapp ein Viertel der Filmlänge aus. Heute steht das Kino vor einem ähnlich einschneidenden Wechsel wie einst bei der Einführung des Tons oder beim Aufkommen des Fernsehens: Die Umstellung auf digitale Projektion, das Ende des Films als Trägermaterial, die Verlagerung der Sehgewohnheiten ins Heimkino, wo man sich die aktuellen Filme via Stream in HD-Qualität aus dem Netz holt - all das bringt große Umwälzungen in der Rezeption von Filmen, die mancher Jugendliche heute lieber auf dem Handy sieht als auf der großen Leinwand. Das Kino reagiert verzweifelt mit 3D, nur um zwei Jahre später schon wieder unter Innovationszwang zu stehen, weil 3Dfähige Fernseher schon zum Spottpreis zu haben sind. Auch die Übergangsmechanismen sind die gleichen wie einst: Genau wie heute viele 3D-Filme auch als 2D-Version in noch nicht nachgerüsteten Kinos gezeigt werden, liefen um 1930 viele Tonfilme in einer stummen Fassung in Kinos, die noch kein Tonequipment besaßen. EIN STUMMFILM ANNO 2011 Der französische Regisseur Michel Hazanavicius geht in seinem Film „The Artist“ Billy Wilders Weg noch konsequenter weiter: Er hat, als Abgesang auf das Kino, im Jahr 2011 tatsächlich einen Stummfilm gedreht, mit allem was (nicht) dazugehört: Schwarzweiße Bilder im klassischen „Academy“-Format 1,33:1; ein orchestraler Score, der die fehlende Sprache ersetzt und dramatische Elemente unterstreicht. Zwischentitel in bester Stummfilmmanier. Ja, sogar die Credits im Vorspann erscheinen, wie damals üblich, als durchgehende Texttafel mit der Nennung aller Beteiligten. Und: Er hat den Untergang des Stummfilms höchstselbst zum Thema auserkoren - in Gestalt des fiktiven Schauspielers George Valentin (Jean Dujardin), der mit ansehen muss, wie sein einst schillernder Stern in Hollywood mit der Einführung des Tons rapide verblasst. 1927, als die Handlung von „The Artist“ beginnt, ist der Tod des Stummfilms in Wahrheit bereits beschlossene Sache: Die großen Studios Warner, Fox oder MGM for-
schen längst an der Integrierung des Lichttonverfahrens auf dem Filmstreifen. Das geschieht aus nur einer Überlegung heraus: Mehr Profit. Denn dem stummen Kino von damals erwächst mit dem redseligen Radio eine enorme Konkurrenz. 1927 gingen wöchentlich 55 Millionen Amerikaner in die Kinos, nach Einführung des Tonfilms waren es 1930 bereits 155 Millionen. Die Studiobosse verwandelten ihre Angst vor dem Radio in pures Gold. Für die Künstler der Stummfilmzeit bedeutete das einen massiven Wandel, den viele künstlerisch nicht überlebten. Einer der Gründe dafür war, dass einstige Stummfilmstars der englischen Sprache gar nicht oder nur wenig mächtig waren und sie daher für einen Einsatz im Sprechkino nicht in Frage kamen. Die Polin Pola Negri, die Ungarin Vilma Bánky oder der Deutsche Emil Jannings, der den ersten Oscar als bester Schauspieler gewonnen hatte, standen plötzlich vor dem Nichts. Michel Hazanavicius illustriert nun ein solches Künstlerschicksal. Sein George Valentin wurde zu einer Zeit groß, als der berühmte Schriftzug auf den Hügeln noch „Hollywoodland“ hieß. Gleich zu Beginn von „The Artist“ feiert Valentins neuer Film Premiere - mit einer Szene, in der Valentin von Wissenschaftlern mit Elektroschocks zum Reden gebracht werden soll. Aber er weigert sich standhaft. „I won‘t talk“ steht da zu lesen, eingeblendet als Zwischentitel, und quasi symptomatisch für den Verlauf des weiteren Films. WHO‘S THAT GIRL? Doch noch ist der smarte Superstar, dem die Frauen zu Füßen liegen, ganz oben. Seine Filmpremiere wird umjubelt, und draußen, vor dem Kino küsst ihn durch Zufall eine junge Dame. Die Fotografen sind rasch zur Stelle und „Variety“ fragt tags darauf: „Who's that girl“? Hollywood hat schon immer so funktioniert. Die junge Frau beschließt, angespornt durch das Coverfoto auf „Variety“, es gleich selbst beim Film zu versuchen. Als Statistin wird sie schließlich in George Valentins nächstem Film mitwirken. Die gemeinsame Tanzszene wird zum imaginierten Liebesakt: Peppy Miller (Bérénice Bejo), so nennt sich die junge Frau, verliebt sich Hals über Kopf in den verheirateten Filmstar. Später schleicht sie in seine Garderobe und fantasiert dort celluloid 1a/2012
9
Fotos: Filmladen
stummfilm
George Valentin (Jean Dujardin) hat nach der Ankunft des Tonfilms keine Chance mehr: Der einstige Stummfilmstar gerät in Vergessenheit
von einer innig-zärtlichen Umarmung mit Valentin, indem sie dessen Anzug am Kleiderständer umarmt. Auch das ein Bild, das vorwegnimmt, wie dramatisch sich die Lage für Valentin entwickeln wird: Peppy umarmt hier einen Mann, der gar nicht mehr existiert. Nur mehr sein Kostüm ist da, und das wird George Valentin schon bald zu spüren bekommen. DIE ANKUNFT DER TÖNE „The Artist“ ist die Geschichte eines Niedergangs. Als George Valentins Produzent Al Zimmer (wunderbar griesgrämig: John Goodman) die ersten Tonfilm-Tests vorführt, tut sie Valentin noch als Technik-Spielerei ab, die sich nie durchsetzen wird. Natürlich erfordert es die Dramaturgie, dass George Valentin bald vom Studio entlassen wird, weil er sich konsequent dem Ton verweigert. In einer Szene hat Regisseur Hazanavicius Valentins Verzweiflung darüber mit besonderer Raffinesse illustriert. Plötzlich gibt es in diesem Stummfilm Töne zu hören: In Valentins Garderobe hört man das Sesselrücken, das Gläserklirren, das Schließen der Tür, das Bellen seines kleinen Cockerspaniels Uggy - nur Valentin bleibt stumm, auch wenn er sich noch so sehr bemüht, zu schreien. An seiner Statt wird nun Peppy Miller der große Star der neuen Tonfilm-Ära - ein frisches Gesicht, dass bald die Kinokassen regiert, während Valentin mehr und mehr in Vergessenheit gerät. Wie zum Trotz plündert er sein Bankkonto, um selbst einen neuen Film zu produzieren. Stumm, versteht sich. Am Premierentag von „Tears of Love“ ist Valentin Pleite, nur ein großer Erfolg an der Kinokasse kann ihn retten. Doch der zeitgleich anlaufende Film von Peppy Miller wird zum Triumph, während sich in Valentins Stummfilm nur wenige Zuschauer verirren. In aller Heimlichkeit auch Peppy Miller, die ihn immer noch liebt und unter Tränen auf der Leinwand verfolgen muss,
10
celluloid 1a/2012
Der Name Peppy Miller (Bérénice Bejo) wird dafür bald zum Symbol für den durchschlagenden Erfolg der „Talkies“ in Hollywood
wie George in einer Szene im Treibsand landet und unrettbar von ihm verschluckt wird. Auf der Leinwand, wie auch im Leben. Später wird George Valentin, der längst delogiert wurde und all sein Hab und Gut versteigern musste, die 35mm-Filmrollen seiner alten Erfolge ins Feuer werfen und dabei beinahe umkommen. Denn das einstige Nitrofilmmaterial brannte überaus explosiv. Natürlich hat „The Artist“, ganz wie es sich für einen Stummfilm aus Hollywood gehört, ein Happy End. Jedoch gelingt Hazanavicius mit seiner teilweise elliptischen Schilderung von Aufstieg und Fall ein noch drastischeres Bild vom brutalen HollywoodSystem als es Wilder in „Sunst Boulevard“ unternimmt. Vielleicht auch, weil Hazanavicius den Niedergang einer Kunstform mit ihren eigenen Mitteln inszeniert hat; und zugleich die bis heute funktionierenden Elemente des Geschichtenerzählens feiert, die nur der Stummfilm besaß. Seine universelle Verständlichkeit durch übertriebene Gestik, durch den Einsatz von Musik und die Erzählung allein über das Bild, all das ist in keiner anderen Kunstform in dieser Reinheit fortgeführt worden. DUJARDIN SUPERSTAR Einen großen Anteil an der charmanten Imitation eines Stummfilms haben Hazanavicius‘ Darsteller. Jean Dujardin kann das Schicksal von Pola Negri oder Emil Jannings zweifellos nachfühlen, denn er hätte als Franzose mit starkem Akzent wohl keine Chance beim Wechsel vom Stumm- zum Tonfilm gehabt. Dafür tritt er als George Valentin umso eleganter und selbstsicherer auf, solange seine Filme schweigen. Dujardin legt seinen Stummfilmstar irgendwo zwischen Douglas Fairbanks sen. und - des ähnlich klingenden Namens wegen - Rudolph Valentino an, ein bisschen Clark Gable ist aber auch dabei. Überhaupt fixiert sich Dujardin nicht allein auf die Gestik von Stummfilmstarts, sondern will einen weiter gefassten Begriff des Hollywood-Stars
prototypisieren. Mit großer Leichtigkeit tanzt er etwa wie Fred Astaire durch das Bild, zugleich will er auch der klassische Entertainer sein, der Stand-up-Comedian. George Valentin lässt sich im Anschluss an eine seiner Filmpremieren vom Publikum feiern und seinen kleinen Hund Uggy ein paar Kunststücke vorführen, anstatt seinen weiblichen Co-Star auf die Bühne zu bitten. Das Duo überzeugte: Uggy erhielt den Palm Dog Award in Cannes, während sein Herrchen dort als bester Darsteller ausgezeichnet wurde. RÜCKBESINNUNG Dujardin verwandelt „The Artist“ in ein Attraktionen-Kino, und sein Co-Star Bérénice Bejo spiegelt zugleich die große emotionale Wärme wider, die von großer dramatischer Mimik getragen - so typisch für viele Frauenrollen in der Stummfilmzeit gewesen ist. Bejo wirkt zudem wie geschaffen für die Kostüme der 20er Jahre, mit adretten Kleidchen und den obligatorischen Hüten dazu. Regisseur Hazanavicius hat sich bei der Wahl seiner Darsteller nicht vergriffen. Das gesamte Ensemble - von Goodman über Penelope Ann Miller bis hin zum Kurzauftritt von Malcolm McDowell - ist in sich stimmig. Vielleicht liegt ein großer Teil der überragenden Qualität dieses Films gerade darin, dass sich Hazanavicius und seine Darsteller rückbesinnen mussten, auf eine Zeit, in der man die Sprache nicht zur Erklärung einsetzen konnte. Hazanavicius muss kreativere Lösungen als den Dialog finden, um seine Geschichte voranzutreiben. Das gelingt ihm mit einer virtuosen Leichtigkeit und macht „The Artist“ zu einem poetischen, herausragenden Kunstwerk. Am Ende aber spielt Hazanavicius dann doch noch mit dem Ton. Seine kreative Schlusspointe verkehrt die bis dahin entworfene Ausweglosigkeit ins Gegenteil: Es wird ausgerechnet der Ton sein, der in George Valentins Dasein für ein Happy End sorgt.
Bestellen Sie jetzt:
DAS Jahresabo zum Vorzugspreis! Bestellen Sie celluloid jetzt für ein Jahr (6 Ausgaben)
zum Preis von nur EUR 18,90
(EUR 12,90 für Studenten gegen Nachweis) So bestellen Sie celluloid im Abo:
+ auf www.celluloid-filmmagazin.com + via E-Mail: celluloid@gmx.at + telefonisch unter +43-664-462-54-44 Preise inkl. Porto & Verpackung. Das Abonnement kann bis zwei Wochen nach Erhalt der 6. Ausgabe schriftlich gekündigt werden. Andernfalls verlängert es sich automatisch um ein weiteres Jahr zum jeweils gültigen Vorzugspreis. Zahlungsart: Sie erhalten einen Zahlschein. Angebot gültig innerhalb Österreichs.
Besuchen Sie unsere Website Updates, videos & Fotos von den wichtigsten FilmFestivals der welt unter www.celluloid-filmmagazin.com
celluloid 1a/2012
11
interview
Fotos: Tuma; Elmo (3)
Filmstart: 02.02.12
12
celluloid 1a/2012
Colin firth ist der star der John-Le-Carré-Verfilmung „Dame, König, As, Spion“. Im Interview spricht er über die risikofreudigkeit mancher regisseure und wie der oscar für „The King‘s Speech“ sein Leben verändert hat
mut zum risiko N
ach seiner Oscar-Auszeichnung für seine Rolle in Tom Fords „The King’s Speech“, in dem er den stotternden King George VI. spielte, steht für Colin Firth nun ein Kontrastprogramm an: In seinem neuen Film spielt er einen Agenten des britischen Geheimdienstes während des Kalten Krieges. Als bekannt wird, dass es in den Reihen der Elite-Agenten einen Maulwurf gibt, der Russland mit brisantem Material aus der britischen Führungsebene versorgt,
Was hat der Oscar für „The King’s Speech“ in Ihrem Leben verändert? Es ist komisch, wenn auf Plakaten bei meinem Namen der Zusatz „Oscar-Gewinner“ steht. Aber was das nach sich zieht, weiß ich noch nicht. Haben Sie jetzt mehr Auswahl? Es gibt einige interessante Angebote, aber was hauptsächlich passiert ist, ist dass ich nun nicht mehr fünf schreckliche Drehbücher zugeschickt bekomme, sondern
Konflikt in der politischen und sozialen Welt, zwischen Konservativismus und Progressivität, diese Spannung existiert immerzu. Es gibt das berühmte Buch mit dem Titel „Damit die Dinge gleich bleiben können, müssen sie sich verändern“. Eines der besten Bücher, die je geschrieben wurden; es beweint das Verschwinden der Welt und die Unausweichlichkeit von Veränderung. Ich habe viele Dinge lieben gelernt, die sich verändert haben. Vor kurzem habe ich ei-
beginnt ein verhängnisvolles Spiel um Verrat, Macht und Intrigen. Mit „Dame, König, As, Spion“ adaptierte Tomas Alfredson („So finster die Nacht“) eines von John le Carrés bekanntesten Werken, das 1979 bereits in einer BBC-Miniserie mit Alec Guinness als George Smiley verfilmt wurde. Dass die Kinoversion nun nicht ganz halten kann, was die spannende, packende Vorlage verspricht, liegt nicht an der hervorragenden Besetzung, sondern an der umständlichen und holprigen Inszenierung. Wir trafen Colin Firth zum Gespräch.
500. Mein Glücksmoment hat also nicht plötzlich 500 gute Drehbuchschreiber hervorgerufen. Dazu kommt, dass ich ja etwas verdreht bin, ich gehe gerne entgegen aller Empfehlungen. Meine erfolgreichsten Rollen waren die, von denen man mir abgeraten hatte, wie bei „A Single Man“, als man mir sagte, mach das nicht, das ist Tom Fords erster Film, da gibt es wenig Dialog. Sie suchen also das Abenteuer bei der Arbeit? Schon, aber es ist immer nur begrenzt möglich, weil man alles auf vertrautem Boden halten will. Die meisten Menschen mögen kein Risiko, vor allem Menschen, die Filme finanzieren: die wollen Sicherheiten. Umso mehr ziehe ich den Hut vor Regisseuren, die den Mut haben, etwas anderes zu machen und Risiken einzugehen. So wie Tom Ford riskiert hatte, den Film auf meine Rolle aufzubauen. In diesem Film geht es um den Kalten Krieg der Vergangenheit. Wie gefällt Ihnen die heutige westliche Welt? Nun, das ist eine große Frage. Es ändert sich immer etwas, und manche Dinge ändern sich nie. Es herrscht ein permanenter
nen Artikel gelesen, in dem es um den bekannten Vorwurf ging, dass Kinder heutzutage nur noch SMS schreiben würden, dass sie ihre Vorstellungskraft verlieren würden, ihre Gehirne absterben würden. Der Artikel vertrat den interessanten Standpunkt, dass SMS eine Form von Poesie seien, einfach eine andere Art, zu kommunizieren, ein Spiel mit der Sprache, in dem Wörter rearrangiert und verändert werden. Das kann also etwas Positives sein, etwas, das man auch im Unterricht einsetzen kann, und so weiter. Mann muss nicht derart puristisch sein. Oder auch, auf dem Kindle zu lesen, das kann sehr hilfreich sein. Ich finde, man sollte es sich abgewöhnen, jede Veränderung zu lamentieren, speziell technologische. Unsere Wirtschaft und unser Planet ist bankrott genug, um uns wachzurütteln. Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Kinos? Kinobesucher werden unterschätzt – und die Filmindustrie hat einen entscheidenden Anteil daran. Es ist an der Zeit, mehr intelligente Film produzieren. Filme, die das Publikum auch intellektuell fordern. Alexandra Zawia
celluloid: Mr. Firth, was hat sie an John Le Carrés „Dame, König, As, Spion“ gereizt? COLIN FIRTH: Im Film, ebenso wie im Roman, geht es nicht um das WhodunitKonzept eines Krimis. Viel eher stehen Werte wie Loyalität, Liebe und Vertrauen im Mittelpunkt. Das ist es auch, was mich an dem Stoff interessiert hat. Außerdem habe ich es genossen, wieder in einem Ensemblefilm mitzuspielen und nicht alleine alle Aufmerksamkeit zu erhalten. Davon hatte ich nach dem Oscar 2011 wahrlich genug.
celluloid 1a/2012
13
„Von mir aus
wien als filmstadt
sprengt die U-Bahn
Fotos: TCFHE; Studiocanal; Universal
wien als drehort bekannter (hollywood-)filme: vom „dritten mann“ über james bond bis zu „scorpio“ reichen die beispiele, die nun in einem buch zusammengefasst wurden
W
enn James Bond in die Stadt kommt, steht das Riesenrad Kopf. Nun ja, zumindest waren die Stadtpolitiker 1985 ganz aus dem Häuschen, als sich die Bond-Produktion „Der Hauch des Todes“ ankündigte. Helmut Zilk, damals Bürgermeister, setzte alles daran, um die Großproduktion nach Wien zu holen. Zilk war zum Äußersten entschlossen: „Von mir aus können sie gern die U-Bahn in die Luft sprengen“. Filmdreharbeiten üben eine beinahe magische Faszination aus; sie gewähren einerseits einen Blick hinter die Kulissen der Traumwelt des Kinos, andererseits sind sie auch ein gutes Werbe-Werkzeug für die Drehorte – gerade bei James-Bond-Abenteuern steigen die Besucherzahlen von Touristen hernach um 10 bis 25 Prozent an, wissen Studien. Klar, dass Helmut Zilk da partizipieren wollte – und schließlich erreichte, dass „Der Hauch des Todes“ nicht nur das Wiener Riesenrad zeigte, sondern auch in Walzer- und Fiaker-Klischees abtauchte. Wenig Tourismus-Werbung brachte hin-
14
celluloid 1a/2012
gegen die US-Produktion „Die drei Musketiere“, die 1993 in der Wiener Hofburg, in Perchtoldsdorf und in der Seegrotte in Hinterbrühl entstand. Hier war Wien bloß ein Double für Paris. Dass diese beiden Städte kaum gleichartige Charakteristika aufweisen, war Hollywood egal. Mit dem Resultat, dass das Wiener Rathaus als Pariser Louvre doch eine eher peinliche Figur machte. Zumindest für die, die es wussten. Wien als Moskau Der Action-Thriller „Firefox“ (1982) spielte in Moskau, wurde aber in Wien gedreht. Regisseur und Hauptdarsteller Clint Eastwood filmte etliche Szenen des Agenten-Spektakels in der damals neuen Wiener U-Bahn, die so gar nicht an die traditionelle Moskauer Untergrundbahn erinnerte. Die Wiener lachten über die mit Transparenten in kyrillischer Sprache umdekorierte „Moskauer U-Bahn“. Manchmal ist der Drehort Wien aber auch dramaturgisch nötig. Zuletzt drehte David Cronenberg für „Eine dunkle Begierde“ einige Außenaufnahmen in Wien, weil er darin von den Anfängen der Psychoanalyse und
Sigmund Freud erzählt. Also spaziert Freud (Viggo Mortensen) dekorativ durch den Garten des Belvedere, und darf auch die Stiegen zu seiner Wohnung in der Berggasse hinaufsteigen. Freilich: Die Innenaufnahmen in Freuds Wohnung entstanden in einem Studio in Köln. Aber das Kino ist eben meistens bloß schöner Schein. Ähnlich war das 1976 in „Kein Koks für Sherlock Holmes“, in dem der kokainsüchtige Holmes zu Freud in Behandlung nach Wien kommt. Auch damals filmte man nur die Treppen – wegen des neu errichteten Freud-Museums. Ein neues Buch widmet sich nun den Wien-Dreharbeiten heimischer und internationaler Filmproduktionen. „Drehort Wien“ (erschienen bei be.bra) versammelt Anekdoten zu 26 Filmen, und versteht sich auch als Reiseführer für Filmliebhaber. Zum Beispiel zur „Filmstadt“, die sich einst am Wiener Laaer Berg befand, und an die heute nur mehr ein paar Hinweisschilder erinnern. Damals entstanden dort die größten Produktionen ihrer Zeit, etwa die StummfilmGroßproduktion „Sodom und Gomorrha“, die Michael Kertesz von 1920 bis 1922 am
Laaer Berg drehte und für die bis zu 12.000 Statisten vor der Kamera standen. Später emigrierte der Regisseur nach Hollywood und drehte dort unter dem Namen Michael Curtiz „Casablanca“. Viele Regisseure, die einst in Wien drehten, emigrierten nach Hollywood, einige kehrten später für Dreharbeiten in die einstige Heimat zurück: Otto Preminger, vor dem „Anschluss“ ein beliebter Theaterregisseur, filmte 1963 einige Teile von „Der Kardinal“ in Wien. Zu sehen sind der Rathausplatz, das Schloss Schönbrunn und das Café Landtmann, in dem sich Romy Schneider und Josef Meinrad trafen. Der Film wurde einst zum Skandal, weil Preminger die Geschichte des von den Nazis benutzten Kardinal Innitzer in die Handlung einbaute und Preminger öffentlich sagte: „Bei mir kommt Innitzer besser weg, als er es verdient hat“. Auch, dass der Kardinal ursprünglich von Curd Jürgens gespielt werden sollte, einem viermal verheirateten Protestanten, erregte Unmut in der konservativen Presse. Schließlich spielte Josef Meinrad diese Rolle. GANGSTER & THRILLER Wien diente auch als Drehort für Klassiker des Gangsterund Thriller-Genres. Carol Reeds „Der dritte Mann“ (1949) ist der wohl berühmteste Wien-Film, zu dem es heute mit „Der dritte Mann-Tour“ Führungen durch die Drehorte in der Kanalisation gibt. US-Regisseur Michael Winner hatte „Der dritte Mann“ einst gleich 16 Mal gesehen und war davon so beeindruckt, dass er große Teile seines Thrillers „Scorpio“ 1973 in Wien drehte. Alain Delon jagte damals Burt Lancaster am Karlsplatz durch eine der größten Baustellen Europas, Bild links: 1986 drehte die 007-Crew etliche Szenen von „Der Hauch des Todes“ in Wien. wo gerade das U-Bahn-Kreuz entstand. Oben: „Der Dritte Mann“ (1949) ist der wohl bekannteste „Wien-Film“ (beide auf DVD erhältlich) Dass auch zahlreiche heimische Filme in Wien entstanden, schildert das Buch „Drehort Wien“ auch ausführlich – von Franz Novotnys „Exit“ (1980) über Glawoggers „Ameisenstraße“ (1995) bis zu Hanekes „Klavierspielerin“ (2001) – überall findet sich ein stets differierendes Wien-Bild wieder: Vom Strizzitum bis zur vornehmen, musikalisch gebildeten Bürgerlichkeit. Das Wien-Bild ist zumindest in den jüngeren österreichischen Filmen ein lokal verortetes, den althergebrachten Klischees zuwiderlaufendes Realitätenkino. Und manchmal ist sogar Wien an anderer Stelle nachgestellt worden: In Milos Formans „Amadeus“ (1984), der zum Großteil in Wien spielt, wandelt Mozart in keiner einzigen Szene über österreichischen Boden: Alle Außenaufnahmen entstanden im damals noch urtümlicheren, weil unter kommunistischer Regierung stehenden Prag. Doris Niesser
David Cronenberg drehte einige Schlüsselszenen zu seinem Film „A Dangerous Method“ in Wien: Viggo Mortensen war darin als Sigmund Freud zu sehen, hier in einer Szene vor dem Wiener Belvedere celluloid 1a/2012
15
am set
Fotos: Filmladen, Eva Kees, Katharina Roßboth (2)
Psychologie mit KMB
celluloid am set der neuen produktion von antonin svoboda: „The boundary man“ zeigt klaus maria brandauer in der rolle des psychoanalytikers wilhelm reich Von sandra wobrazek
G
enau genommen tut er wenig bis gar nichts. Sitzt, gekleidet in einen leicht schäbigen schwarzen Anzug und mit einer ledernen Aktentasche unter dem Arm, schweigend und mit steifer Körperhaltung auf der spartanischen Holzbank. Selbst, als der groß gewachsene Mann mit dem gestrengen Blick und dem sterilen weißen Kittel vor ihn tritt, um ihm mit knappen, emotionslosen Worten mitzuteilen, dass sein Traum auf eine Audienz mit dem großen Wissenschafter Albert Einstein geplatzt ist, verzieht er keine Miene. Doch alleine die Art, wie Klaus Maria Brandauer da am Gang des Wiener Instituts für Physik mit einem einzigen Gesichtsausdruck den Zustand seelischer Gebrochenheit, die Tragik eines ganzen, bewegten Lebens vermittelt, führt dazu, dass sämtliche Beobachter der kurzen, fast wortlosen Szene fast schon ehrfurchtsvoll den Atem anhalten.
16
celluloid 1a/2012
Der große Schauspieler dreht an diesem nebelig-trüben Novembertag die letzte Szene des Bio-Pics „The Boundary Man“. Und das ist in mehrerlei Hinsicht herausragend: Denn „The Boundary Man“ ist nicht nur Brandauers erstes heimisches Filmprojekt nach zehn Jahren, sondern auch einer der aufwändigsten österreichischen Kinofilme des Jahres. Regisseur und Drehbuchautor Antonin Svoboda hat sich in seinem erst dritten Langspielfilm (nach „Spiele Leben“ und „Immer nie am Meer“) einer bislang kaum beleuchteten österreichischen Biografie angenommen: Des Lebens des 1897 geborenen Psychiaters und Psychoanalytikers Wilhelm Reich. 1938 vor den Nationalsozialisten in die Vereinigten Staaten geflohen, begründete der Schüler Sigmund Freuds im amerikanischen Bundesstaat Maine seine „Orgon“-Theorie. Die Idee hinter der komplexen Lehre, deren Schriften zu einigen der wichtigsten Leitlinien der 68er-Bewegung werden sollten:
Orgon, eine Urkraft, fließt durch jedes Individuum, und führt, erst einmal belebt, zu Selbstverwirklichung und persönlicher Freiheit. VERBOTENE LEHRE Reichs Traum, das Individuelle im Menschen zu entfesseln, sowie seine offen zur Schau getragene Ablehnung der amerikanischen Atompolitik des Kalten Krieges, machten den Grenzforscher jedoch zum Feind der erzkonservativen McCarthy-Ära. Mit tragischen Folgen: Seine Lehren wurden verboten, viele seiner Schriften verbrannt, er verhaftet und in einem Schauprozess als medizinischer Scharlatan und als Sympathisant Russlands und des kommunistischen Systems zu zwei Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Das Gefängnis sollte der große Denker, Philosoph und Humanist nicht mehr lebend verlassen: 1957, nur kurz nach Haftantritt, verstarb Wilhelm Reich unter mysteriösen Umständen in seiner Zelle.
„Über Reichs Zeit in Österreich und Europa ist verhältnismäßig viel bekannt. Jedoch nicht über sein Leben in den USA. Das, was dort passiert ist, ist eigentlich Vielen ein Rätsel. In der Geschichte meines Films geht es deshalb auch um Grenzüberschreitungen“, erläutert Antonin Svoboda, der sich bereits 2009 in seiner Dokumentation „Wer hat Angst vor Wilhelm Reich“ mit dem Forscher befasst hat. WALDVIERTEL & MAINE Gedreht wurde der 3,4 Millionen teure „The Boundary Man“ (Produktion: coop99, Novotny & Novotny) in Südspanien, dem Waldviertel und Wien. Zwar spielen weite Teile des Films in der amerikanischen Wüste und dem Bundesstaat Maine, Reichs zweiter Heimat, doch aufgrund finanzieller Überlegungen entschlossen sich die Produzenten, das Waldviertel zu Maine und Spanien zur mittelamerikanischen Wüste zu machen. Svoboda: „Kompromisse muss man beim Drehen immer eingehen, ohne geht es leider nicht mehr. Aber man kann sehr wohl Prioritäten setzen – und irgendwann gibt es eine Liste, und die muss man für sich abklopfen, und sehen, was möglich und was unmöglich ist.“ Hinter der Kamera der auf Englisch gedrehten Großproduktion: coop99-Produzent und Bildkünstler Martin Gschlacht („Revanche“, „Atmen“). Svobodas Hauptdarsteller Brandauer kann die Faszination seines Regisseurs nachvollziehen: „Ich will etwas tun für die Menschen, die die Minorität haben. Und da habe ich mich bei Reichs Leben wirklich sehr gut aufgehoben gefühlt. Dabei hat mich nicht in erster Linie der Wissenschafter interessiert, da ich davon zu wenig verstehe. Es war der Künstler Reich, der mein Interesse geweckt hat. Und ein Künstler, das war dieser Mann ganz sicher. Er war von seiner Sache immer mehr überzeugt, je mehr Erfahrung er hatte. Obwohl er prägende und schon damals weltbekannte Lehrer wie Sigmund Freud hatte, ist er schlussendlich doch seinen eigenen Weg gegangen. Ich bin deshalb sehr froh, dass Antonin mich vor ein paar Jahren gefragt hat, ob ich bei seinem Film mitmachen will. Ich habe gleich zugesagt – und ich kann Ihnen versichern, dass das nicht so oft passiert,“ erklärt ein als schwierig verschrieener, am Tag des celluloid-Setvisit jedoch glänzend aufgelegter Brandauer. Wieso hat der Oscar-Nominierte („Jenseits von Afrika“) nach „Jedermanns Fest“ knapp ein Jahrzehnt verstreichen lassen,
Klaus Maria Brandauer mit Julia Jentsch (Bild links) und Birgit Minichmayr (oben), Regisseur Antonin Svoboda (rechts): „Ich will etwas tun für die Menschen, die die Minorität haben. Und da habe ich mich bei Wilhelm Reichs Leben wirklich sehr gut aufgehoben gefühlt“, sagt Brandauer über seine Rolle.
ehe er sich entschloss, wieder für ein heimisches Filmprojekt vor der Kamera zu stehen? „Ich habe zehn Jahre lang keinen Film mehr gemacht, weil Österreich mich nicht gerade mit guten und spannenden Angeboten überschwemmt hat. Das hängt zum einen wohl auch damit zusammen, dass ich als junger Kerl in die Ferne, also nach Amerika, gegangen bin, um Filme zu machen. Zum anderen, und das meine ich jetzt gar nicht eitel, mache ich nur noch Sachen, bei denen ich glaube, dass ich etwas dazu zu sagen habe und auch etwas lernen kann. Das ist nämlich für mich das Entscheidende.“ JENTSCH & MINICHMAYR Neben Brandauer unter anderem Teil des „The Boundary Man“-Casts: Julia Jentsch („Sophie Scholl – Die letzten Tage“) als Reichs Tochter Eva, Jeanette Hain („Der Vorleser“) als Reichs Ehefrau Ilse und Birgit Minichmayr („Alle anderen“) als Reichs Mitarbeiterin Aurora. „Aurora verrät Reich aus einer Ohnmacht heraus. Aber es spielen viele Faktoren mit, warum man jemanden
verrät, der einem sehr nahe steht. Es hat wohl aber auch damit zu tun, dass man oft aus solchen Situationen nicht mehr raus kommt – obwohl man es eigentlich gerne wollen würde“, so die viel beschäftigte Schauspielerin. Ein weiterer Grund für Minichmayrs Zusage, bei „The Boundary Man“ dabei zu sein: Die besondere Freundschaft zu Klaus Maria Brandauer. War er doch der Lehrer der 34-Jährigen am Max Reinhardt Seminar, gilt als ihr wichtigster Mentor und Berater. „Ich finde es sehr aufregend, mit Klaus zu drehen. Wir haben ja schon sehr viel am Theater miteinander gearbeitet – aber das war dann immer so, dass er als Regisseur unten gesessen ist und ich oben auf der Bühne gestanden bin. Und jetzt ist es endlich so weit, dass wir eine Ebene haben, auf der wir gemeinsam miteinander spielen – das finde ich fantastisch,“ so Minichmayr zu celluloid. Verschmitzter Nachsatz Brandauers: „Und wir haben sogar eine kleine Liebesgeschichte im Film. Ist das für so einen alten Sack wie mich, für solch einen alten Lehrer, nicht etwas Herrliches?“ celluloid 1a/2012
17
filmkritik
DRIVE
Constantin Film
Ein Motor-Western: „Drive“ von Nicolas Winding Refn ist eine Liebeserklärung an L.A. und die Dämonen, die dort wohnen
A
ll you need to make a film is a girl and a gun“, behauptete Jean-Luc Godard einst, und so falsch ist das nicht. Obwohl: Der dänische Regisseur Nicolas Winding Refn braucht für seinen neuen Film „Drive“ nicht mehr – und nicht weniger – als einen Mann und ein Auto. Das Auto ist nicht irgendeines, ein Spätmodell Chevy Impala, genauer: ein stylisher Fluchtwagen, der den Mann (Ryan Gosling), im Film ohne Namen, immer nur „der Fahrer“, „Kid“ oder einfach nur „er“ genannt, von einem irrelevanten Raubüberfall durch das nächtliche Los Angeles bringt. Es ist dies eine virtuose Eröffnungsszene, wie „der Fahrer“ an Hindernissen vorbeigleitet, die Verfolger wie nebenbei abschüttelnd, genauso oft das Tempo drosselnd wie den Wagen auf Touren bringend; das formt sich zu einem rhythmischen Pulsschlag, den der famose Soundtrack an seine Grenzen peitschen will. Zweifellos wird man hier Zeuge von „cooler als cool“. HIGHWAY-MELANCHOLIE Refn, der unter anderem auch mit „Bronson“, „Valhalla Rising“ und seiner „Pusher“-Trilogie eigenwillige Genre-Interpretation betrieb, zeigt hier seine Liebe zu den geradlinigen Highway-Filmen der 1960er und 70er-Jahre – die
18
celluloid 1a/2012
Art, die Quentin Tarantino in „Death Proof“ zelebrierte, und die Michael Mann mit atmosphärischer, männlicher Melancholie aufgeladen hat. „Drive“ als eine Art Motor-Western, folgt diesem Mann, einer einzelgängerischen Figur ohne Hintergrund oder Beziehungen, aber mit gewissen Fertigkeiten, die ebenfalls unerklärt bleiben, auf seiner ziellosen Tour durch sein Leben. Geld verdient er übrigens auch damit, bei Filmdrehs Stuntautos zu fahren, und sein Freund und gelegentlicher Boss Shannon (Bryan Cranston) erkennt in ihm sogar das Potenzial eines Rennfahrers. Er will ihn und eine Handvoll ansässiger Gangster (Ron Perlman und Albert Brooks) dazu bringen, in ein Auto zu investieren, das sowohl Shannon als auch das „Kid“ aus ihrer zweifelhaften Noir-Randexistenz katapultieren soll. Natürlich geht dieser Plan schief und natürlich kommen bald ein Mädchen und (mehr als eine) Waffe ins Spiel. Das Mädchen heißt Irene (Carey Mulligan) und wohnt mit ihrem kleinen Sohn am selben Stockwerk wie der Fahrer. Ihre zaghaften Annäherungsversuche werden von der Rückkehr ihres Ehemans Standard (Oscar Isaac) aus dem Gefängnis jäh unterbrochen. Der neue Standard ist freilich der alte; dazu
verwickelt er auch den Fahrer in seine gewaltsamen Rache-Akte. Gosling spielt den „Mann“ stoisch und scheinbar nobel – ein effektiver Kontrast zu den Taten, zu denen er fähig ist. Eine Tasche voller Geld, eine Fehde zwischen Lug, Betrug und zermatschten Köpfen, alles im Ambiente gewaltschwangerer südkalifornischer Anomie: „Drive“ ist eine Liebeserklärung an Los Angeles, an die Dämonen, die hier wohnen, und - hat man den Glanz ein wenig abgeschabt - an die Genre-prägenden Arbeiten, die dieser albtraumhaften Traumfabrik entsprungen sind. Es ist eine Liebeserklärung an das Pulp-Genre, den Groschenroman und alle schlechten Drehbücher dieser Welt, die gnadenlos cinematisch inszeniert wurden, ist aber niemals hitzig. Extrem nüchtern, clever und kalkuliert glatt ist dieser Film natürlich auch in der eigenen Leere gefangen, ersetzt echte Emotion durch Stimmung und Gewagtheit durch geborgten Stil. Doch Täuschung ist hier eine Kunstform, innerlich wie äußerlich. Alexandra Zawia DRIVE USA 2011. Regie: Nicolas Winding Refn. Mit Ryan Gosling, Carey Mulligan, Bryan Cranston FILMSTART: 27. 01. 2012
HUGO CABRET
Universal Pictures
Martin scorsese hat in seiner kitsch-triefenden Hommage an die pioniere des Kinos auf einen spannungsbogen vergessen
M
artin Scorsese ist ein Getriebener. Von seiner Liebe zum Kino. Man kann sich vorstellen, wie er da sitzt, dieser kleinere, bebrillte, ältere Herr, hinterm digitalen Schneidetisch und sich freut wie ein kleiner Bub, wenn vor ihm auf dem Monitor all die in warmem Licht fotografierten Bilder eines Postkarten-Paris auftauchen, dazu ein schmalziger Score, und im Vordergrund tanzen die Schneeflocken in 3D. Man kann sehen, wie Scorsese sich bemüht hat, seinen neuen Film „Hugo Cabret“ vollzustopfen mit Referenzen an das Kino an sich, denn die Geschichte ist nicht bloß die Erzählung vom Schicksal eines Waisenkinds, sondern vor allem vom Schicksal eines der größten Filmpioniere aller Zeiten: Georges Méliès, der Mann, der über 500 Stummfilme drehte, der um 1900 als einer der ersten mit den technischen Möglichkeiten des neuen Mediums Film experimentierte, der im Film einen Zug in einen Bahnhof einfahren ließ, sodass die Menschen vor Schreck zurückwichen, weil sie glaubten, der Zug rase auf sie zu. Bevor Scorsese in „Hugo Cabret” aber auf sein eigentliches Thema kommt – die Huldigung des Kinos als Ort der visuellen Magie – langweilt er die erste Hälfte seines Films mit der Geschichte des kleinen Waisenjungen
Hugo (Asa Butterfield), der in den 1930er Jahren am Pariser Bahnhof Montparnasse lebt und für den längst verstorbenen Onkel die Bahnhofsuhren stellt. Er wird gejagt, vom Bahnhofsvorsteher (ein reichlich sonderbarer Sacha Baron Cohen), weil er beim Spielwarenhändler (Ben Kingsley) geklaut haben soll. Dieser Spielwarenhändler entpuppt sich bald als der in Vergessenheit geratene Georges Méliès, ein verbitterter alter Mann, dessen Pionierleistungen für das Kino schon vergessen scheinen. ZUG FÄHRT EIN Dass Scorsese seinen „Hugo Cabret“ als Feierstunde für das alte, analoge Kino anlegt, für die Technik vom Projektorlicht bis zum Malteserkreuz, ist ehrbar. Allein: All das macht er mit Hilfe digitaler Technik, die so gar nichts mehr vom Zauber des Urkinos versprüht. Scorsese schreckt selbst davor nicht zurück, Méliès‘ „Einfahrt eines Zuges“ in die dritte Dimension zu rechnen, als ob der Zug nun wirklich aus dem Bild fahren würde. Man kann sehen, wie Scorsese sich über dieserart Einfälle gefreut haben muss, so überbordet referenzhaft wirkt sein Film. Wodurch Scorsese völlig darauf vergisst, einen Spannungsbogen aufzubauen und eine interessante Figurenzeichnung zu unternehmen, für die
man nicht bloß Gleichgültigkeit empfindet. In „The Artist“, der sich ebenfalls mit der Frühzeit des Kinos befasst, ist alles auf die Figurenzeichnung ausgerichtet, in „Hugo Cabret“ hingegen alles der Lobpreisung der Filmtechnik untergeordnet. Dass Scorsese für seinen zweifellos opulenten, aber eben auch verkitschten und emotional wenig bewegenden Film nun den Golden Globe als bester Regisseur erhielt, ist entäuschend und bestenfalls als Auszeichnung für seinen Eifer, die großen Filmpioniere von einst zu ehren, nachvollziehbar. Überhaupt: Dass man diesen Regisseur im Alter, wo er nur mehr noch mittelmäßige Filme dreht, mit Preisen und Ehrungen überhäuft, ist fragwürdig. Zu der Zeit, als Scorsese wirkliche Meisterwerke drehte, beachtete man ihn bei Preisverleihungen kaum. Sein verspielter „Hugo Cabret“ wird ihm wohl auch den Regie-Oscar einbringen, und das eigentliche referenzielle Meisterwerk „The Artist“ damit außen vor lassen. Matthias Greuling HUGO CABRET (3D) USA 2011. Regie: Martin Scorsese. Mit Asa Butterfield, Ben Kingsley, Sacha Baron Cohen. FILMSTART: 10. 02. 2012 celluloid 1a/2012
19
blu-ray & dvd
Neue Filme in der Reihe CineProject
D
ie CineProject-Reihe aus dem Hause Fox wartet ab 3. Februar mit einigen Neuerscheinungen auf: Die mitreißende TragikKomödie „Win Win“, sowie die gefühlvolle Coming-of-Age-Romanze „Von der Kunst, sich durchzumogeln“ erscheinen auf Bluray und DVD. Zusätzlich findet der Outdoor-Thriller „127 Hours“ seinen Platz im „CineProject“. Als besonderen Leckerbissen können Filmfans Terry Gilliams Oscar-nominierte Dystopie „Brazil“ erstmalig in High Definition auf Blu-ray genießen. Auf DVD ergänzt außerdem der spannende Politthriller „Red Corner - Labyrinth ohne Ausweg“ mit Richard Gere die Reihe der Entertainment-Highlights für Filmliebhaber. In „Win Win“ steckt Regisseur Tom McCarthy („Station Agent“) Paul Giamatti in die Rolle des liebenswerten Losers Mike Flaherty. Mike steht als erfolgloser Anwalt und Trainer einer ebenso schlechten Ringermannschaft nicht gerade auf der Gewinnerseite des Lebens. Als er gegen Bezahlung die häusliche Pflege eines dementen Mandanten übernimmt, ihn dann aber aus Überforderung ins Heim abschiebt, läuft sein Leben völlig aus dem Ruder. Unerwartet taucht jedoch dessen 16-jähriger Enkel Kyle auf, der von zu Hause ausgerissen ist. Mike nimmt ihn kurzerhand in seiner Familie auf und entdeckt, dass der
Junge ein begnadetes Ringertalent ist. Endlich scheint Mike einmal Glück zu haben, wäre da nicht noch sein kleiner Nebenjob, der plötzlich unerwartete Konsequenzen nach sich zieht. Gavin Wiesens Regiedebüt zählt zu den Entdeckungen des Sundance Film Festivals 2011. Einfühlsam und doch komisch erzählt „Von der Kunst, sich durchzumogeln“ eine Geschichte über das Erwachsenwerden eines einsamen und eigenbrötlerischen Schülers. Immerhin hat es George Zinavoy (Freddie Highmore, „Ein gutes Jahr“) bis zur Abschlussklasse geschafft, ohne auch nur einen Tag lang einen Finger dafür krumm gemacht zu haben: Wozu Hausaufgaben machen, wenn man sowieso irgendwann stirbt? Diese interessante Theorie veranlasst den 17-Jährigen dazu, die Schule möglichst ohne Aufwand hinter sich zu bringen. Diese Kunst hat er nahezu perfektioniert. Als jedoch die ebenso bezaubernde wie komplizierte Sally (Emma Roberts) in sein Leben tritt, wird nicht nur seine Lebensphilosophie, sondern auch seine Gefühlswelt radikal auf den Kopf gestellt. Filmfans schätzen die Edition „CineProject“ als Garant für außergewöhnliche Filme, die im Zuge der Blu-ray Einführung nun sogar noch besser wirken. Erhältlich ab 3.2.2012
Action Cult Uncut
80er-Jahre-Action erstmals ungeschnitten
L
schnittenen Fassung auf dem Index standen und inzwischen neu bewertet wurden. In der neuen Reihe erschienen sind unter ancerem „Delta Force“ mit cuck Norris, „Over the Top“ mit Sylvester Stallone oder „Road House“ mit Patrick Swayze. Weitere Titel sind „McQuade – Der Wolf“, „Phantom Kommando“, „Murphys Gesetz“, „Mit stählerner Faust“ oder „Die rote Flut“. Vollgepackt mit knallharten Kampfszenen, gnadenlosen Verfolgungsjagden und markigen Sprüchen sorgen die Action-Originale aus den 80ern bis heute für nerven-
zerreißende Spannung. Markenzeichen der Actionklassiker sind neben den Kult-Helden die krachenden Soundtracks mit ihren harten Gitarrenriffs. Sammler dürfen sich freuen: Alle Filme der Reihe „Action Cult Uncut“ haben erstens das Original-Motiv aus den 80er Jahren auf dem Cover und zweitens ein Wendecover ohne FSK-Logo und Branding der Reihe. Der perfekt Stoff für DVD-Nächte mit Adrenalinpower. Nur echt und ungeschnitten mit dem „Action Cult Uncut“-Stempel. Bereits erhältlich
Promotion (C) 2012 TCFHE
egenden leben ewig. Chuck Norris lebt länger: Bei Fox startet die härteste Reihe seit Erfindung der DVD. "Action Cult Uncut" bringt einige der kultigsten Action-Filme der 80er zum ersten Mal ungeschnitten in den freien Handel. 19 Titel umfasst die neue Reihe der Kult-Originale und versammelt damit ein echt explosives Aufgebot an knallharten Typen - angefangen von Ein-Mann-Armee Chuck Norris über Arnold Schwarzenegger und Sylvester Stallone bis zu Jean-Claude Van Damme und Charles Bronson. Dabei sind viele Titel, die bislang in der unge-
20
celluloid 1a/2012
celluloid 1a/2012
21
abspann
Michel Hazanavicius‘ wunderbare Hommage an den Stummfilm, mit einem grandiosen Jean Dujardin in der Rolle eines gefallenen Stummfilmstars - zählt zu den Oscar-Favoriten 2012.
1
THE ARTIST - derzeit im Kino (Seite 8)
Redaktion im februar 2012
22
Jean-Pierre und Luc Dardenne mit einem
4
DER JUNGE MIT DEM FAHRRAD Ab 10.02. im Kino
Tragikomik um eine Mittdreißigerin (Charlize
Theron) in der Krise
celluloid
HALT AUF FREIER STRECKE von Andreas Dresen. Ab 17.02. im Kino modernen Kinomärchen
3
GEFÄHRTEN Ab 16.02. im Kino
Jungen und sein Pferd
Spielbergs gefeiertes Abenteuer um einen
2
YOUNG ADULT
5 Ab 24.02. im Kino
Nr. 2/2012 erscheint am 28. Februar 2012 im gut sortierten Zeitschriftenhandel.
celluloid 1a/2012
Fotos: Filmladen; Polyfilm; Thim; Disney; Universal
5
Die Top der
Hirntumor des Vaters konfrontiert ist.
Die nahegehende Geschichte einer glücklichen Familie, die plötzlich mit dem inoperablen