celluloid Ausgabe 4a/2013 - 27. April 2013
filmmagazin
gegr체ndet 2000
Beilage
zur
ARTIG. NICHT BRAV. Olga kurlenko & ben affleck
Mit beitr채gen aus dem filmmagazin celluloid www.celluloid-filmmagazin.com
Constantin Film
to the wonder
entree EDITORIAL Liebe Leser,
Audienz bei Diagonale/Alexi Pelekanos
johanna orsinirosenberg
J
ohanna Orsini-Rosenberg, Jahrgang 1968, hat einen klingenden Namen. Alter Adel. Die Eltern, Brigitte und Felix Orsini-Rosenberg sind Architekten. Aber keine Sorge: Man braucht für Frau Orsini-Rosenberg keine Audienz. Im echten Leben lebt sie nämlich einen ziemlich bodenständigen Umgang. Ist gesellig, fröhlich, hellwach. Trinkt auch mal eine Runde „Kalaschnikov“ mit, wenn bei der Diagonale in Graz die Nightline im Kunsthaus brodelt. Und steht dort am Ende als Siegerin auf der Bühne: Ausgezeichnet für ihre furiose Performance als beste Hauptdarstellerin in Daniel Hoesls viel beachtetem „Soldate Jeannette“, der nach seiner Weltpremiere in Sundance auch in Rotterdam zu sehen war und dort den Hivos Tiger Award bekam. Ein Film wie eine Revolution gegen ausgelutschte Konventionen. Gedreht mit 65.000 Euro und ohne Drehbuch, zirkelnd um eine Frau (Orsini-Rosenberg), die sich von materiellem Wohlstand verabschieden muss - und will.
Für Orsini-Rosenberg ist „Soldate Jeannette“ erst der zweite Film, nach einem Auftritt in „Mahler auf der Couch“ (2009) von Percy Adlon. Sonst ist Orsini-Rosenberg auf den Theaterbühnen von Burg, Volkstheater und in Göttingen zu sehen. Gern hat man sie auch für Kurzfilme gebucht, darunter für Arbeiten von Hüseyin Tabak, Josef Dabernig und Jessica Hausner. Eine brotlose Kunst eigentlich. Auch für „Soldate Jeanette“ wurde sie - wie auch der Rest des Teams - nicht bezahlt. „Aber gut bekocht hat man uns“, lacht OrsiniRosenberg. Die 3000 Euro Preisgeld von der Diagonale sind da eine späte und bescheidene Entschädigung. Aber die braucht jemand vom Format einer Johanna Orsini-Rosenberg gar nicht. Denn sie wusste schon mit vier, dass sie eines Tages Schauspielerin werden würde. Und „Soldate Jeannette“ sollte dafür sorgen, dass man sie nun noch viel öfter zu Gesicht bekommt. Man geht dann zur Audienz einfach ins Kino. :-)
Was kommt eigentlich nach Haneke? Ist der Hype um den österreichischen Film vielleicht nur eine Blase, wie man sie von der Börse kennt? Will heißen: Hat der Erfolg eine Basis, eine Substanz? Eine Frage, die die Branche zurecht beschäftigt. Und wie ist das mit den stetig darbenden Zuschauerzahlen für den heimischen Film im Inland? Ideas, anyone? Wir haben in unserer Kiosk-Ausgabe celluloid Nr. 3/2013 (kl. Foto), die ab sofort in über 600 gut sortierten Trafiken Österreichs erhältlich ist, in einer ausgedehnten Fotostrecke elf derzeitige StudentInnen der Wiener Filmakademie vor den Vorhang gebeten, um nachzufragen, wie es um den Nachwuchs bestellt ist. Die Auswahl der StudentInnen haben sie untereinander selbst getroffen, sie geht quer durch alle Studienrichtungen. In einem Fragebogen teilen sie mit uns ihre Gedanken zum österreichischen Film, zu ihrer persönlichen Motivation, Filmschaffende zu werden, und zur Lage der Arbeitssituation. Überraschend viele von ihnen sind bei etlichen Themen einer Meinung. Zugleich kristallisieren sich auch durchwegs eigenständige Künstlerpersönlichkeiten heraus. Holen Sie sich unser aktuelles Heft am Kiosk! In diesem Sinne viel Vergnügen beim Lesen wünscht Ihnen
NEUES VOM ÖSTERREICHISCHEN FILMWUNDER IN WIEN HATTE TOM CRUISE EINE TOLLE ZEIT MIT WELTRAUMSPRINGER FELIX BAUMGARTNER, DER TAGE SPÄTER - IM SELBEN ANZUG - SOGAR OZZY OSBOURNE TRAF
Matthias greuling
Chefredakteur & Herausgeber celluloid@gmx.at
IMPRESSUM:
Tuma
So Mr. Cruise, I heard you do your own stunts. That‘s cute.
celluloid Filmmagazin Beilage zur Wiener Zeitung Nummer 4a/2013, Mai/Juni 2013 Beilage zur „Wiener Zeitung“ am 27. April 2013. Medieninhaber und Herausgeber: Werbeagentur Matthias Greuling. Printed in Austria. Die Beiträge in dieser Beilage wurden uns mit freundlicher Genehmigung vom Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films zur Verfügung gestellt. Die Interviews wurden von Mitgliedern der celluloid-Redaktion geführt. Die Beiträge geben in jedem Fall die Meinung der AutorInnen und nicht unbedingt jene der Redaktion wieder. Fotos: Filmverleiher. celluloid versteht sich als publizistische Plattform für den österreichischen und den europäischen Film und bringt Berichte über aktuelle Filme. Anschrift: Anningerstrasse 2/1, A-2340 Mödling, Tel: +43/664/462 54 44, Fax: +43/2236/23 240, e-mail: celluloid@gmx.at, Internet: http://www.celluloid-filmmagazin.com Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion und Quellenangabe. © 2013 by Werbeagentur Matthias Greuling
c e ll u l o i d ON L I NE : w w w . c e ll u l o i d - f il m m aga z i n . c o m celluloid 4a/2013
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interview OLGA KURYLENKO. In „Oblivion“
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celluloid 4a/2013
Universal
kämpft sie derzeit an der Seite von Tom Cruise, in „To the Wonder“ (ab 31.5.) wechselt sie ins ernste Fach - vor die Kamera von Terrence Malick. Wir trafen sie zum Gespräch.
Ist die Liebe Vergnügen oder pflicht?
Z
ugegeben, die vorläufige Filmografie von Olga Kurylenko lässt nicht unbedingt auf eine Karriere voller Qualitätsarbeiten schließen. Die bisherigen Auftritte der 1979 in der Ukraine geborenen Schauspielerin beschränkten sich großteils auf Aufputz-Rollen in mehr oder weniger sinnfreien Blockbustern wie „Hitman“ (2007) oder „Max Payne“ (2008). Doch Kurylenko mausert sich zur ernstzunehmenden Aktrice - spätestens mit Terrence Malicks „To the Wonder“ beweist sie ihren Mut zu unkonventionelleren Projekten. Mit 13 wurde Kurylenko in Moskau von der Straße weg als Model gecastet, mit 16 zog sie nach Paris, mit 18 zierte sie die Covers von Elle, Marie Claire und Vogue. Seit 2005 dreht sie auch Filme - und James Bond brachte ihr den Durchbruch. Normalerweise sind die Rollen als Bond-Girls wahre Karriere-Endstationen, doch für Kurylenko dürfte der Auftritt in „Ein Quantum Trost“ (2008) eine Initialzündung gewesen sein. Wir trafen Olga Kurylenko in Wien zum Interview. celluloid: Frau Kurylenko, Sie sind derzeit mit dem Sci-Fi-Film „Oblivion“ in den Kinos. Warum glauben Sie, sind Science-Fiction-Filme für uns so interessant? OLGA KURYLENKO: Ich glaube, dass wir uns alle fragen, wie denn die Zukunft sein wird. Das ist die Frage, die sich jeder fortwährend stellt. Denn worüber denken wir Menschen denn nach? Manchmal über die Vergangenheit, wenn wir darüber reflektieren. Über die Gegenwart denken wir hingegen kaum nach, denn dazu sind wir alle viel zu beschäftigt. Aber jeder fragt sich doch, was morgen sein wird, das beschäftigt uns. Die Zukunft ist ja das einzige Unbekannte dieser drei Zeiten: Vergangenheit und Gegenwart kennen wir. Die Zukunft kann nervenaufreibend sein, aufregend oder unheimlich. Wir wissen es nicht. Die Science Fiction-Filme füttern diese Sehnsucht nach der unbekannten Zukunft. Denn dort gibt es seltsame Wesen, Kreaturen, verrückte Maschinen, die denken oder sprechen können. Das beflügelt unsere Phantasie.
Der zweite Film, der nun in die Kinos kommt, ist „To the Wonder“ von Terrence Malick. Konträrer geht’s wohl kaum. Dass „Oblivion“ und „To the Wonder“ fast zur selben Zeit in die Kinos kommen, ist natürlich toll, denn sie sind sehr unterschiedlich. Es wäre ja schade, wenn ich gleich zwei Sci-Fi-Filme hintereinander gemacht hätte. Ich mag die Abwechslung an meinem Beruf. Man kann keinerlei Parallelen zwischen diesen beiden Filmen finden. Für „To the Wonder“ gab es keinerlei Drehbuch. Für „Oblivion“ dafür ein umso präziseres. Und das musste auch so sein, denn ein Sci-FiFilm wie dieser, der so aufwändig ist und so viele Maschinen, Installationen und technische Dinge enthält, braucht eine genaue Anleitung. Wenn man da nicht präzise ist, wenn man da nicht probt und monatelang an den Sets baut, geht das Vorhaben schlicht daneben. Mit Terrence Malick war es genau andersrum. Es gab keine Sets. Nur eine Kamera, die auf der Schulter getragen wurde und die mir folgte, von einem Feld ins nächste. Alles ist sehr natürlich. Man hat das Gefühl, man dreht einen Dokumentarfilm, dabei ist es Fiktion. Die Story wird dir nicht auf einem Blatt Papier aufgeschrieben, sondern Malick erzählt sie dir mit seinen eigenen Worten. Malick dreht von morgens bis abends, er macht keine Pausen. Beim Dreh zu „Oblivion“ hingegen gab es viele Pausen. Denn wenn man das Studio in die Luft jagt, muss man es nachher wieder sauber kriegen. Aber in Terrence Malicks Filmen explodiert nichts! Und er improvisiert auch gerne. Was wiederum dazu führt, dass er niemals probt. Das bedeutet, Malick stößt seine Schauspieler in gewisser Weise ins kalte Wasser? Malick hat mir nur erzählt, worum es geht. Ich sog wie ein Schwamm alles in mich auf, was er sagte und wurde so zu der Figur, die ich spiele. Das heißt, ich hatte irgendwann das Gefühl, gar nicht mehr spielen zu müssen, sondern nur noch zu sein. Das führte auch dazu, dass ich in der Rolle blieb, wenn wir nicht drehten. Und dass Malick mich manchmal filmte, ohne, dass ich es wusste. Hinzu kommt, dass Malick gerne spontan etwas an seinem Konzept ändert. Das heißt,
Einen Ausschnitt aus unserem Video-Interview finden Sie unter http://bit.ly/119Vkq5
man ist als Schauspieler niemals wirklich vorbereitet darauf, was als nächstes kommt. Das half mir zum Beispiel, mich noch besser auf die Figur zu konzentrieren. Würden Sie ihn als sehr spontanen Filmemacher bezeichnen? Ja und nein. Denn zugleich überlässt Malick auch nichts dem Zufall. Er will immer verschiedene Versionen von dem drehen, was er sich vorstellt. Das bringt mit sich, dass am Ende viel mehr Material entsteht, als dann im Film landet. Man hätte daraus sicher fünf Filme machen können. Malick ist sehr wichtig, dass er sich die Entwicklung der Geschichte während des Drehens offen hält. Es kann sich also jederzeit Entscheidendes verändern. Man bekommt bei „To the Wonder“ auch den Eindruck, es wäre ein immerwährender, einziger Tanz. Malicks Anweisungen gingen immer in die Richtung, niemals mit der Bewegung vor der Kamera aufzuhören. Er sagte: Tanze, laufe, egal, aber bitte bleib niemals stehen. Meine Figur hat das aber perfekt beschrieben, vor allem ihre Verrücktheit, denn sie ist in einem emotional sehr schwierigen Stadium, bei dem sich Hochs und Tiefs ständig abwechseln. Was ist Ihrer Meinung nach die These, die dieser Film verfolgt? „To the Wonder“ dreht sich um die Liebe. Es geht um die Frage, ob die Liebe ein Vergnügen oder eine Pflicht ist. Javier Bardems Figur, ein Priester, meint, sie sei eine Pflicht. Aber kann sie das sein? Im Film heiratet mich Ben Afflecks Figur aus Pflichtbewusstsein. Während sich meine Figur immerzu selbst zerstört, durch diese Liebe. Der Film wirft aber die Frage auf, ob es nicht um mehr geht als um eine persönliche Liebe zwischen zwei Menschen, nämlich um eine sehr umspannende Liebe zur Natur und zu Gott. Und wenn man das weiterdenkt, dann geht es eigentlich um die Frage, ob man die persönliche Liebe braucht, um die allgemeine überhaupt zu verstehen. Interview: Matthias Greuling Das komplette Interview lesen Sie in unserer aktuellen Printausgabe celluloid 3/2013 (siehe Seite 9!) celluloid 4a/2013
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interview
Tuma; Constantin
Filmstart: 26.04.13
Steven Soderbergh will eine Filmpause einlegen, aber in „Side Effects“ (mit Jude Law), zeigt er nochmal, was er erzählerisch drauf hat
Doppelt so gut wie
Kubrick Steven Soderbergh im celluloid-Gespräch über „Side Effects“,
und warum er jetzt eine längere Pause vom Filmemachen braucht.
L
ange Zeit galt Steven Soderbergh als das Wunderkind des amerikanischen Independentkinos. Mit „Sex, Lügen und Video“ erhielt er 1989 als jüngster Regisseur überhaupt die Goldene Palme in Cannes. Seinen frühen Erfolg quotierte er mit den Worten „Von nun an kann es nur noch bergab gehen“. Er sollte sich irren, denn es ging stetig bergauf. Spätestens seit seiner Doppelnominierung als bester Regisseur bei den Oscars 2001 für „Erin Brokovich“ und „Traffic“ und seinem Gaunerkomödien-Triple mit der „Oceans“-Reihe war Soderbergh im künstlerisch anspruchsvollen Hollywoodolymp angekommen. Sein neuester und neben dem Fernsehfilm „Behind the Candelabra“ (mit dem er heuer im Wettbewerb von Cannes steht) vermutlich für eine längere Zeit letzter Kinofilm ist „Side Effects“ mit Jude Law und Roony Mara. Ein Film über die vermeintlichen Nebenwirkungen von Antidepressiva. Zumindest in der ersten halben Stunde.
celluloid: Mister Soderbergh, eigentlich sollten wir über ihren neuesten Film „Side Effects“ sprechen. Aber das müssen wir erstmal hinten anstellen. Es gibt immer wieder Gerüchte, dass sie aufhören wollen mit dem Filmemachen. Was ist da dran? Steven Soderbergh: Ja, es stimmt. Ich will eine Pause machen. Keiner weiß, wie lange sie sein wird. Sind Sie müde? Nicht müde, eher ausgelaugt. Ich brau-
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che einen Neustart. Es ist, als würde ich immer und immer wieder gegen eine Wand rennen. Ich muss die Dinge einfach mal aus einem anderen Winkel betrachten können. Liegt es an Ihnen und Ihrer Kreativität oder am System? Es gibt viele verschiedene Faktoren. Ich muss sie auch gar nicht alle kennen. Alles, was ich wissen muss, ist, dass es für mich Zeit wird, mich von meiner Filmemacherhaut zu lösen und eine neue wachsen zu lassen. Der Gedanke reift in mir schon seit über fünf Jahren. Die Dinge verändern sich. „Side Effects“ und „Magic Mike“ waren zwei Filme, die eigentlich nicht geplant waren. Ich bin bei „Moneyball“ rausgeflogen und habe stattdessen „Haywire“ gemacht. Da habe ich Channing Tatum kennengelernt, und ehe ich es mich versah, steckte ich mitten in den Vorbreitungen zu „Magic Mike“. Das sind alles Filme, die ich auf keinen Fall bereue, aber ich merke, dass es Zeit für einen Tapetenwechsel wird. Ist ein Leben ohne Film für Sie überhaupt möglich? Natürlich. Seit ich 12 war, bin ich ein Filmnerd. Das ist eine lange Zeit, um von etwas besessen zu sein. Ich habe viel Zeit ins Filmgeschäft investiert. Wenn man Quanität vor Qualität setzt, bin ich doppelt so gut wie Stanley Kubrick. Wird es so einfach sein, eine Obsession abzustreifen und mit anderen Dingen weiterzumachen? Ja, vor allem wenn es sich so anfühlt, als
ob man mit der Obsession nicht weiterleben kann – zumindest nicht so, dass es sich gut anfühlt. Spätestens beim nächsten Film würde sich das richtige Gefühl nicht mehr einstellen. Ich kann nicht mehr einfach so auf ein Set gehen und denken, ich hätte hier alles im Griff. Ich liebe diesen Job zu sehr, um ihn nur noch halbherzig zu machen. Es wird Zeit, Platz zu machen für eine neue, frische Generation von Filmemachern. Leute, die noch brennen. Die Frage der nächsten Jahre wird sein, ob ich dieses Gefühl irgendwann wieder haben werden kann. Kann ich wieder ein Amateur werden? Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, ob ich das alles einfach wegspülen kann. Aber ich werde es versuchen. Wie haben Sie sich auf diesen Abschied vorbereitet? Ich wusste, dass 2012 mein letztes Arbeitsjahr wird und habe jeden Tag mit einem roten Stift in einem Kalender durchgestrichen. Das Hintergrundbild auf meinem Telefon ist ein Bild von mir, wie ich den 31. Dezember durchstreiche. Ich wusste einfach, dass ich an diesem Tag mit allen Filmen fertig bin. Der 31. Dezember 2012 war das Ende eines Kapitels. Das war mehr als befriedigend. Das letzte „X“ zu machen. Und danach kam ein tiefes Loch? Nein, gar nicht. Vor ein paar Wochen habe ich meinen Bruder getroffen – das erste Mal seit langem. Er hat sofort zu mir gesagt, ich sähe anders aus. Einfach viel präsenter. Das muss ein Zeichen sein. Einfach, weil ich nichts im Nacken sitzen habe, keinen Film,
kein Drehbuch, das meine Aufmerksamkeit fordert. Ich stecke das erste Mal seit 15 Jahren nicht bis zum Hals in den Vorbereitungen für irgendeinen Film. Im Notfall können Sie ja auch zu Tabletten greifen. Wie Roony Mara in „Side Effects“. Sie werden lachen. Ich habe erst heute morgen eine Tablette genommen. Einen Betablocker. Um mich für die Interviews auf ein gewisses Level zu puschen. Die Dinger helfen da wahre Wunder. Das sagen Sie einfach so, obwohl Ihr Film eine Art Abrechnung mit der amerikanischen Pharmaindustrie ist. Zumindest im ersten Drittel. Kann man „Side Effects“ als eine Art Kommentar über den Medikamentenmissbrauch in den USA verstehen? Wenn Sie so wollen, ja. Wobei mich in erster Linie die Interaktion zwischen der Pharmakologie, den Ärzten und der Gesetzgebung gereizt hat. Das kollidiert doch in jeder Hinsicht. Um ehrlich zu sein: Ich selbst hatte noch nie eine Depression, ich kenne zwar viele Leute, die darunter gelitten haben, weiß aber nicht, wie sich das genau anfühlt. Ich kann mir nur vage vorstellen, dass man zu allem bereit wäre, um da rauszukommen. In diesem Fall dann eben mit Antidepressiva – Nebenwirkungen hin oder her? Es geht doch gar nicht so sehr um den Me-
dikamentenmissbrauch, sondern einfach nur darum, dass die depressiven Phasen nicht zu tief und die manischen nicht zu hoch sein sollten. Es geht darum, eine Balance zu finden. Ich glaube, letztendlich ist dieser Ausgleich auf einem einigermaßen normalen Level am Ende des Tages effektiver, als von einem Haus springen zu wollen. Zur gleichen Zeit fühlt es sich aber auch nicht wie das echte Leben an. Ein Dilemma, aus dem auch ein Film nicht raus helfen kann. Ein Grund dafür, dass Ihr Film nach knapp 35 Minuten in eine vollkommen andere Richtung driftet und zu einem Psychothriller wird? In gewisser Weise ja. Diese falsche Fährte war schon im Skript einfach nur ein genialer Schachzug. Nach den ersten Seiten dachte ich, ok, es geht um eine junge Frau mit einem Problem. Und dann kommt alles ganz anders. Der Drehbuchautor Scott Z. Burns hat mich damit schon in „Contagion“ überrascht: Eben nicht das Offensichtliche zu tun, sondern den Zuschauer hinten rum zu überraschen. Damit kann man den Zuschauer aber auch schnell verärgern. Na und? In Amerika gab es allen Ernstes Leute, die sagten, sie hätten gerne einen Film nur über Depressionen gesehen. Aber genau das will ich doch nicht. Das ist doch dumm und langweilig. Das will ich im Kino
nicht sehen. Keiner will das. Das sehen wir doch schon im echten Leben jeden Tag auf der Straße. Es ist doch geradezu genial, dass Scott Z. Burns hier den sozialen Kontext als trojanisches Pferd nutzt und diesen Thriller darin versteckt, um ihn dann langsam mitten im Film frei zu lassen. Filme wie „Side Effects“ haben im amerikanischen Kino eine lange Tradition und sind vor knapp zwanzig Jahren aus der Mode gekommen. Sie scheinen solche Experimente zu lieben. Das Publikum mit etwas zu konfrontieren, das ihren Sehgewohnheiten widerspricht. Einer muss das Publikum ja fordern. Aber man muss auch immer vorsichtig sein mit Experimenten. Vor allem damit, nicht zu viel Geld auszugeben und im Notfall in den Sand zu setzen. Ein guter Freund hat mir mal verraten, dass er nach „Voll Frontal“ so sauer auf mich war, dass er mich am liebsten umgebracht hätte. Er konnte einfach nicht glauben, dass ich einen Film so enden lasse. Wie haben Sie reagiert? Ich hatte in dem Fall keine andere Wahl. Der Film musste so enden. Am Ende des Tages geht es doch um den stummen Vertrag zwischen Publikum und Filmemacher. Das auszuloten war spannend. Es ist ein schmaler Grat, aber genau darum geht es beim Filmemachen. Kino ist immer eine Grenzerfahrung. Interview: Anna Wollner
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interview Filmstart: 17.05.13
ISABELLE HUPPERT im celluloid-Interview
über Brillante Mendoza, Michael Haneke und den Zustand des französischen Kinos.
Mein Beruf ist nicht
gefährlich I
m Jahr 2001 entführen einige Mitglieder der islamischen Abu-Sayyaf-Separatistengruppe Touristen und Entwicklungshelfer aus einer Ferienanlage auf einer südphilippinischen Insel. Dieses wahre Ereignis hat Brillante Mendoza nun in seinem Film „Captive“ nachgestellt, Isabelle Huppert spielt eine der Geiseln. Wir trafen Huppert in Paris zum Gespräch. celluloid: Mme Huppert, man sagt, Brillante Mendoza hätte sie alle, die die Geiseln spielen, nicht vom Set weggehen lassen, damit sie die Atmosphäre einer Geiselnahme besser spüren. Stimmt das? ISABELLE HUPPERT: Teilweise ja, aber ich denke nicht, dass sich eine solche Atmosphäre tatsächlich herstellen lässt. Ein Schauspieler zu sein in einem solchen Film, das ist schon etwas anderes als eine echte Geisel. Der Film dreht sich um ein schreckliches und leider sehr aktuelles Thema. Mendoza schafft es sehr gut, diese Stimmung von Angst und Erschöpfung zu transportieren. Dieser Film war anders als alle Filme, die ich jemals gedreht habe. Mendoza versuchte, die Szenerie wie in einer Doku einzufangen. Am ersten Drehtag kannten sich die Darsteller alle nicht. Wir wurden in das Boot gesteckt und mitten in die Filmhandlung geworfen, um möglichst die realen Bedingungen der Entführung zu durchleben. Sie spielen eine Entwicklungshelferin, sagten aber, dass Sie hier nicht einmal eine Figur darstellten, denn es gab gar keine Figur. Das stimmt. Unsere Figuren war mehr auf die physischen Handlungen der Entführung ausgelegt. Da gab es für uns Schauspieler nichts zu psychologisieren. Aber gab Ihnen der Dreh Einblick in die Psychologie einer solchen Wahnsinnstat? Ja, ich konnte verstehen, weshalb manche Geiseln ein „Stockholm-Syndrom“ entwi-
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ckeln. Denn der Mensch will ja in erster Linie überleben und versucht, der Ausweglosigkeit etwas entgegenzusetzen. Und wenn das eben nur über eine Zuneigung zum Geiselnehmer geht, dann macht er das. Ich lebte fünf Wochen in dieser „Geiselnahme“, das ist natürlich nicht mit echten Geiselnahmen vergleichbar. Das klingt fast wie ein Experiment. Ja, und auch der Umstand, dass wir ständig herumgeschupst wurden, von einem Ort zum anderen, ohne zu wissen, wie es weitergeht, war anstrengend. Das muss man erst lernen. Mein Interesse an dem Film ist aber trotzdem nur schauspielerischer Natur. Ich wollte mit Mendoza arbeiten, mir wäre egal gewesen, zu welchem Thema. Der Film war trotz des Themas recht komfortabel zu drehen, wenn auch nicht so komfortabel, als würde man in Paris unterm Eifelturm filmen. Wenn man einen Film dreht, ist das immer weniger schlimm, als es auf der Leinwand aussieht. Wie komfortabel ist es denn, zum Beispiel mit jemandem wie Michael Haneke zu drehen? Ich habe mich sehr über den Oscar für Haneke gefreut, er hat ihn wirklich verdient. Mit ihm zu arbeiten, ist sehr einfach. Er hat eine klare Vision, das hilft mir sehr. Dann kann ich als Schauspielerin sehr unbefangen in eine Rolle hineingehen und mich überraschen lassen. Wenn Haneke einen mag - und ich glaube, dass er mich mag - dann macht das Spielen in seinen Filmen mir und ihm große Freude. Ist diese Freude auch ein Faktor bei Ihrer Entscheidung, welche Rolle Sie annehmen? Ich bin sehr wählerisch. Ich habe aber kein Rezept. Manchmal ist die Entscheidung für oder gegen eine Rolle der schwierigste Teil meiner Arbeit. Habe ich mich erst einmal entschieden, fällt es mir relativ leicht, einen Part zu spielen. Ich wähle heute am
liebsten nach den Regisseuren aus, die die Projekte realisieren. Viele Regisseure nennen Sie angstfrei. Was meinen sie damit und stimmt das auch? Ich weiß nicht, wieso ich Angst haben sollte, denn der Beruf ist ja nicht gefährlich. Man könnte es tapfer nennen, sich fünf Wochen in den philippinischen Dschungel zu begeben. Ich sage dazu hingegen nur: Ich drehe einen weiteren Film. Warum interessieren Sie sich so sehr für eher dunkle Charaktere? Weil sie meistens die interessanteren sind. Das sind Rollen, die sich für Schauspieler auszahlen. Es gab eine Zeit im Kino, da gab es in großen, leichtfüßigen Filmen auch großartige Rollen. Das ist weniger geworden. Ja, es gibt sie noch, bei Woody Allen zum Beispiel. Aber heute sind die spannenderen Filme die, die Abgründe untersuchen. Sie sind eine der Ikonen des französischen Films. Wie ist es denn um den bestellt? Wir produzieren immer noch sehr viele Filme, die Branche ist sehr lebendig. Aber wie überall auf der Welt scheint es auch hier das Problem zu geben, dass man immer weniger Qualität produziert. Es gibt eine große Schere zwischen den großen, kommerziellen Filmen und den so genannten kleinen künstlerischen. In der Mitte bleibt wenig übrig. Dabei ist dieser Bereich der „mittelgroßen“ Filme genau jener, der immer wieder großartige französische Filme hervorgebracht hat. Nur werden solche Filme immer schwerer finanzierbar. Ob das nun an der Krise liegt oder nicht, weiß ich nicht. Es wird jedenfalls schwerer, ein gewisses Niveau zu halten. Es ist nicht unmöglich, aber ich sehe rund um mich, dass viele Regisseure, die ich kenne, mehr und mehr darum kämpfen müssen, ihre Projekte durchzubringen. Am Ende schaffen sie es, aber zu welchem Preis? Interview: Matthias Greuling
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celluloid 4a/2013
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filmkritik
NO
Filmladen
Regisseur Pablo Larraín komplettiert mit „No“ seine Trilogie über das Chile unter Pinochet. Diesmal erzählt er, wie man mit einer Werbekampagne einen Diktator stürzt.
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ie wird ein Diktator gestürzt? Durch Gewalt, Verrat oder Blutvergießen? „¡No!“ - Chile hat es der Welt gezeigt; eine Werbekampagne brachte Augusto Pinochet zu Fall. Chile, 1988. Augusto Pinochet ist seit 1973 an der Macht, doch der internationale Druck zwingt ihn, ein Referendum durchzuführen, um über die Fortsetzung seiner Präsidentschaft zu entscheiden. Die Opposition erhält 15 Minuten Fernsehzeit täglich zu später Stunde, um sich Gehör zu verschaffen und die ängstliche Bevölkerung zur Wahl zu motivieren. Die unterdrückten Bürger denken Anfangs an einen reinen Pro Forma-Akt des Regimes und glauben nicht an eine reelle Chance einer fairen Abstimmung. René Saavedra (Gael García Bernal), der Sohn eines Exilanten, hat einen gut bezahlten Job als Werbemacher, lebt getrennt von seiner Frau und interessiert sich keineswegs für Politik. Dem jungen Kreativen sind nur sein Sohn Simón (Pascal Montero) und sein Eigentum wichtig. Mehr aus Stolz denn aus Integrität nimmt er den Auftrag an, die ¡No! - Kampagne umzusetzen. Worauf er sich einlässt, wird ihm erst bewusst, als seine Familie in Gefahr ist.
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Die ¡No! – Kampagne ist schrill, bunt, laut und optimistisch und eckt sogar bei einigen der Oppositionellen an. Junge Menschen tanzen und feiern in Zeiten von Angst und Verfolgung. Nach anfänglicher Skepsis erlangen die Spots dennoch große Medienwirksamkeit. Als die Mitarbeiter von ¡No! merken, dass sie bespitzelt und verfolgt werden, wird René klar, dass auch sein Sohn Ziel von Attacken sein kann. Mit der deutlicher werdenden Bedrohung wächst allerdings auch Renés politisches Bewusstsein und sein Wille, die Kampagne zum Sieg zu führen. TRILOGIE Der chilenische Regisseur Pablo Larraín schließt mit „¡No!“ nach „Post Mortem – Santiago 73“ und „Tony Manero“ eine Trilogie über das Chile unter Pinochet ab. „¡No!“ ist im Vergleich zu seinen beiden Vorgängern weniger düster; er zeichnet sich durch eine gewisse Leichtigkeit und Freude aus. Larraíns Hybrid aus Spiel- und Dokumentarfilm überzeugt durch eine Besonderheit. Da 30 Prozent des Films aus Archivmaterial besteht, wurde beschlossen, ebenfalls im 4:3-Format zu drehen, um die Optik der 80er Jahre zu erhalten. Dabei entscheidend
war, dass mehrere Umatic-Kameras gebaut wurden, mit denen der charakteristische Look produziert werden konnte. Durch diese ungewohnte Drehweise wirken zwar die Bilder etwas unscharf, aber das Archivmaterial konnte unauffällig eingeflochten werden. „Unsere Idee war, dass alles, was wir drehen, nahtlos mit dem originalen Material kombiniert werden kann. Das stellte eine immense Herausforderung für alle Gewerke dar, Szenenbild, Kostüm, Maske, bis hin zum Casting“, sagt Larraín. Der Film wurde in Cannes uraufgeführt und erhielt eine Nominierung für den Auslands-Oscar. Mit ein Grund dafür ist auch das Schauspiel von Gael García Bernal, der es schafft, der Figur des Saavedra Platz und Spielraum zu geben und den Zuseher mit dem nötigen Humor, mit Ernsthaftigkeit und Durchsetzungskraft ins Chile der 80er Jahre zurück zu versetzen. Teresa Losonc
NO CHILE/USA/MEX 2012. Regie: Pablo Larraín. Mit Gael García Bernal, Alfredo Castro, Antonia Zegers, Luis Gnecco FILMSTART: 09.05.2013
MUTTER UND SOHN
Filmladen
Korruption im Kleinen: Der Rumäne Calin Peter Netzer zeigt in seinem Berlinale-Gewinner „Mutter und Sohn“, wie man mit Schmiergeld (nicht nur) in seiner Heimat dem Knast entkommt.
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rgendwann, da passiert die Katastrophe: Ein Mann rast zu schnell mit dem Auto, fährt ein Kind an und das Kind ist tot. In „Mutter und Sohn“ des in Rumänien geborenen Regisseurs Calin Peter Netzer geht es aber nicht um die gebrochene Familie, die den Tod ihres vierzehnjährigen Sohnes zu verkraften hat. Es geht nicht darum, wie Unfallfahrer Barbu mit seiner Schuld umgeht. Alles dreht sich um Barbus Mutter Cornelia (Luminita Gheorghiu). Und die ist nahezu besessen von ihrem längst erwachsenen Sohn. Ihr „Baby“ nennt sie ihn, ihr einziges „Kind“. Und das große Kind ist um jeden Preis vor einer Gefängnisstrafe zu beschützen. Als wohlhabende Architektin mit einflussreichem Bekanntenkreis lässt sie ihre Kontakte zugunsten des Sohnes spielen. Fragen nach Verantwortung sind Fragen der Schmiergeldhöhe. In der menschlichen Tragödie sieht Cornelia nur Probleme, die mit kühlem Kopf analytisch zu lösen sind: also unter einem Lügenkonstrukt verschwinden sollen. „Bitte lass mich raus!“, sagt einmal der Sohn zur Mutter. Er sitzt im Auto und seine Worte sprechen soviel mehr an als die verriegelte Wagentür. Es ist der erste, aber sehr späte Moment, in dem er die Mutter-Fesseln
aufbricht und endlich selbst handelt. Denn in 107 Minuten Filmlänge rückt die Kamera kaum von der Mutterfigur ab, ihre Dauerpräsenz durchdringt die Narration. Die Geschichte ihres Sohnes Barbu wird schlichtweg ihre Geschichte, die dem Sohn lange nur Nebenauftritte zwischen Lähmung und passiv-agressiver Rebellion zugesteht. Überhaupt vergeht Zeit, bis Barbu nicht nur in Gesprächen über ihn, sondern erstmals persönlich im Film auftritt. NÜCHTERN & KÜHL Zwar spielt das Drama in Rumänien, die Themen Korruption oder Kluft zwischen Reich und Arm sind aber keine zwingend rumänischen. Es ist eine rein private Geschichte, die Ko-Autor Razvan Radulescu und Regisseur Calin Peter Netzer erzählen. Ihr Stil: nüchtern, kühl, kein Wort zuviel. Während der Film anfangs ein wenig dahindümpelt, scheint es die Narration ganz mit dem Sohn zu halten: ab seinem ersten Auftreten wächst ihre Kraft und liefert dann doch recht starke Momente. Weit und breit herrscht zwischen den Figuren Distanz, die einzige Nähe schaffen beunruhigende halbnahe und nahe Kameraeinstellungen. In potentiell menschlich „nahen“ Situationen erweist sich die Mutter
als Zumutung. „Immerhin ist es ein besser aussehendes Haus“ fällt ihr ein, als sie die einkommensschwache Familie des getöteten Jungens besucht und vor deren Grundstück parkt. Sie fleht die Familie aufgelöst an, von einer Klage gegen den Sohn abzusehen und zeigt in ihren ehrlichsten Momenten nur, dass sie eine Egoistin ist, die nichts verstanden hat. „Bitte richten Sie mein Kind nicht zugrunde“, sagt sie zu den Trauernden. „Sie haben noch ein anderes Kind, aber ich habe nur ihn.“ Luminita Gheorghiu (bekannt aus dem rumänischen Palme d’or-Gewinner „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“) meistert die komplexe Mutterrolle herausragend. Auf der Berlinale hat „Mutter und Sohn“ den Goldenen Bären für den besten Langfilm gewonnen. Sandra Nigischer
MUTTER UND SOHN RO 2012, Regie: Calin Peter Netzer. Mit: Luminita Gheorghiu, Bogdan Dumitrache, Ilinca Goia FILMSTART: 23.05.2013 celluloid 4a/2013
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blu-ray und dvd
SCHIFFBRUCH MIT TIGER
Bond (Daniel Craig) muss sich von Silva (Javier Bardem) betatschen lassen
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ie verfilmt man ein Buch, dessen Titel schon seinen Inhalt umreißt und auch als obskur-knappe Kurzgeschichte gelingen hätte können? „Schiffbruch mit Tiger“ erzählt von einem jungen Inder und einem bengalischen Tiger, die in einem nussschalengroßen Boot über den Ozean schippern. Kriegt der Tiger Hunger, wäre der junge Mann ziemlich schnell gefressen, und die Geschichte aus. Aber Yann Martels Buchvorlage von 2001 bescheidet sich nicht auf dieser Miniatur; sie ist ein engmaschiger Reigen von Fantasien und Allegorien und galt als unverfilmbar. Doch sind die dramatisch aufgeladenen Bilder, die Martel entwirft, geradezu prädestiniert für die Leinwand, einen passende Regisseur vorausgesetzt: Der US-Taiwanese Ang Lee hat versucht, diesen Gordischen Knoten zu entwirren und ihm mit neuester 3D-Technik eine zusätzliche Tiefe zu verleihen. Er erhielt dafür den Regie-Oscar 2012. Der junge Piscine Molitor Patel, dessen Eltern ihn nach einem Pariser Schwimmbad benannt haben, legt seinen Vornamen ab, denn „Piscine“ klingt zu sehr nach „Pis-
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sing“, vor allem, wenn Inder das aussprechen. Er benennt sich in Pi um, nach der mathematischen Zahl, und genau diesen Mut zur unkonventionellen Notlösung wird er später noch einmal brauchen: Als Pi mit seinen Eltern und dem familieneigenen Zoo auf einem Schiff nach Kanada auswandern will, bringt ein Sturm das Schiff zum Kentern. Nur Pi, ein Orang-Utan, eine Hyäne, ein Zebra und besagter Tiger überleben auf einem Rettungsboot. Während die übrigen Passagiere schnell dem Hunger des Tigers zum Opfer fallen, muss sich Pi in ständiger Lebensgefahr 227 Tage im Pazifik am Leben halten. Und den/der Tiger auch. Pi lernt, seine Ressourcen kraftsparend einzusetzen und mit Gottglaube zwischen Hinduismus, Islam und Christentum auf seine Rettung zu hoffen. Die Geschichte hat, wie alles hier, einen doppelten Boden, der erst nach einiger Zeit sichtbar wird, wie einer dieser monotonen Musterdrucke aus den 90ern, auf die man minutenlang starren musste, ehe einem ein 3D-Objekt entgegen sprang. „Schiffbruch mit Tiger“ ist Metapher und spiritu-
elle Glaubenserforschung zugleich, zeigt einen konkreten Überlebenskampf und eine mehrdeutige Sinnsuche nach dem Glauben an Gott und an seine Vielgestalt. Ang Lee findet hier, als beinahe schon fanatischer Erforscher der conditio humana, eine reiche Quelle an Spielformen für sein Lieblingsthema: Seine Figuren verlieren oftmals den Boden unter den Füßen, weil ihnen jegliche Sicherheit genommen wird; aber sie hören niemals auf, an ihre Rettung zu glauben, oder gar an das Verändern der Welt. Dieser Glaube ist die erzählerische Triebkraft von „Schiffbruch mit Tiger“; die visuelle hingegen staffiert die vermeintlich dünne Handlung aber noch mit fantastischen 3DBildern aus und definiert den abwertenden Begriff vom Spektakelkino neu: Ganz ohne Brimborium aus sinnfreier Action und ebensolchen Dialogen streift „Schiffbruch mit Tiger“ bildgewaltig die großen Fragen des Daseins. Von Gottesfurcht und Todesangst, vom Fressen und gefressen werden: Am Ende siegt das Leben, weil es um seine Vergänglichkeit weiß. Matthias Greuling Bereits erhältlich
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ANG LEES OSCAR-HIT neu in 3D, auf Blu-ray und auf DVD
MIT „LINCOLN“ POLITIK VERSTEHEN STEVEN SPIELBERG inszeniert Daniel Day-Lewis er einen Fürsprecher seiner Idee, der für harsche Debatten im Repräsentantenhaus sorgt. Den Rest der nötigen Stimmen muss der Präsident mit Zugeständnissen erkaufen. Korruption für die gute Sache, ja, aber doch Korruption, auf höchster Ebene, sozusagen. Andererseits ist Lincoln auch als Privatmann nicht sorgenfrei: Seine Frau Mary (Sally Field) spürt, wie sich die politischen Spannung bis ins Schlafzimmer Lincolns fortsetzen, und der älteste Sohn Robert (Joseph Gordon-Lewitt) will gegen den Willen seiner Eltern unbedingt in den Krieg ziehen. All das subsumiert Spielberg in einer für ihn bislang unbekannten filmischen Form: In 155 Minuten zeigt er dialoglastiges Kino, zeigt Nachdenkpausen im Weißen Haus bei fahlem Kerzenschein, zeigt hitzige Politdebatten im Repräsentantenhaus, bespricht komplizierte Gebaren im US-Politbetrieb, für die man Geschichtsexperte sein muss, um sie wirklich nachvollziehen zu können. Daniel Day-Lewis legt Lincoln als melancholischen Helden an, der mehr mit Ironie als mit Klischees spielt. Erhältlich ab 24.05.13
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braham Lincoln gilt als jene Leitfigur, die einst den Bürgerkrieg beendete und aus zerstrittenen Landsleuten die Vereinigten Staaten von Amerika formte. Und er gilt als jener Präsident, der die Sklaverei abschaffte – was er zur Restauration der Union als notwendig erachtete, auch wenn ihm in Wahrheit das rassistische Gedankengut der damaligen Zeit nicht fremd war. Spielberg zeichnet in „Lincoln“ die letzten Monate vor Lincolns Ermordung nach, in die seine Wiederwahl fiel, aber auch das Händeringen um den 13. Verfassungszusatz, der die Abschaffung der Sklaverei regelte. Der Film taucht in einen überaus komplexen Sachverhalt ein: Einerseits versucht der Republikaner Lincoln (Daniel Day-Lewis), diesen Verfassungszusatz mit Hilfe seines Secretary of State William Seward (David Strathairn) durchzubringen, nachdem er im Kongress bereits gescheitert war; dazu braucht er Stimmen von den Demokraten, die massiv gegen die Befreiung der Schwarzen ist. In dem leidenschaftlichen Thaddeus Stevens (Tommy Lee Jones) findet
NEU AUF DVD & BLU-RAY SAG NIEMALS NIE
Fight club
Der einzige inoffizielle BondFilm brachte 1983 eine Rückkehr von Sean Connery in seine Paraderolle. Ebenfalls dabei: Klaus Maria Brandauer als Bösewicht.
Brad Pitt und Edward Norton entfesseln in diesem dunklen, faszinierenden Psychospiel von Kult-Regisseur David Fincher eine hypnotische Gewaltorgie.
Bereits erhältlich als DVD und Blu-ray in der Hollywood Collection.
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JFK
CLEOPATRA
Erhältlich als DVD ab 10.05.
Erhältlich als DVD ab 10.05., die Blu-ray-Verison ist bereits erhältlich.
Neu aufgelegt auf DVD: Oliver Stones Meisterwerk über die Ermordung John F. Kennedys 1963, mit einem grandiosen Kevin Costner als Staatsanwalt Jim Garrison. Zweifach oscarprämierter Polit-Thriller.
Sandalenfilmklassiker mit Elizabeth Taylor als Cleopatra, Rex Harrison als Julius Cäsar und Taylor-Ehemann Richard Burton als Antonius. Vier Oscars!
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Terrence Malicks Bilderrausch über die Liebe und ihre Vergänglichkeit (im Bild: Ben Affleck und Olga Kurylenko) behandelt den Ernst des Themas mit schwebend-leichfüßigen Momenten voller kinematografischer Kraft.
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TO THE WONDER von Terrence Malick - ab 31.05. im Kino
Redaktion im Mai & Juni 2013
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Julie Delpy und Ethan Hawke plappern zum
BEFORE MIDNIGHT
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Nr. 3/2013 ist ab sofort im gut sortierten Zeitschriftenhandel erhältlich!
dritten Mal über die Liebe.
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IHR WERDET EUCH NOCH WUNDERN Ab 07.06. im Kino
artiges Ensemble vor der Linse.
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DIE WILDE ZEIT Ab 31.05. im Kino
SCHLAGERSTAR von Marco Antoniazzi und Gregor Stadlober - ab 31.05. im Kino
Altmeister Alain Resnais versammelt ein großder 70er Revue passieren.
Olivier Assayas lässt Jugenderinnerungen
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Fotos: Filmladen; Polyfilm; Thim; Constantin; Mobilefilm
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Die Top der
Pircher und zeigt, wie Volksmusik von Innen funktioniert.
Die österreichische Doku begleitet den volkstümlichen Musiker und Schlagersänger Marc