celluloid Cannes 2015 Special

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Nr. 4a/2015 / Beilage zu celluloid 4/2015

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willkommen an der croisette Sie ist für zehn Tage im Mai das Herz der Filmwelt und verbindet auf seltsame Weise all die Kontraste und Ansätze des Filmemachens: Hier gibt es hohe Filmkunst und banale B-Movies, nackte Haut und biedere Kritiker, ausschweifende Partys und Pressescreeings um 8.30 Uhr morgens. Kurz: Cannes versammelt während des Festivals alle Extreme einer Welt, die es eigentlich gar nicht gibt: Im schönen Schein aber nimmt sie für kurze Zeit Gestalt an. Wir waren auch in diesem Jahr für Sie vor Ort und haben dieses Sonderheft gestaltet, auf dass Sie einen kleinen Eindruck bekommen, was in Cannes bei den 68. Filmfestspielen so alles los war. Herzlichst, Matthias Greuling & Katharina Sartena Chefredakteur Fotografin

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FILMMAGAZIN Nummer 4a/2015 Juni 2015. Sonderausgabe zu Cannes 2015. Herausgeber, Eigentümer und Verleger: Werbeagentur Matthias Greuling für den Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films. Chefredakteur: Matthias Greuling. Layout / Repro: Werbeagentur Matthias Greuling. Printed in Austria. Die Interviews & Texte in dieser Ausgabe stammen von der celluloidRedaktion. Fotos, sofern nicht anders angegeben: Katharina Sartena, Festival de Cannes. Die Beiträge geben in jedem Fall die Meinung der AutorInnen und nicht unbedingt jene der Redaktion wieder. Anschrift: celluloid Filmmagazin, Spechtgasse 57/5, A-2340 Mödling, Tel: +43/664/462 54 44, Fax: +43/2236/23 240, e-mail: celluloid@gmx.at, Internet: www.celluloid-filmmagazin.com Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion und Quellenangabe. © 2015 by Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films.

Das Traumpaar von Cannes: Sean Penn mit seiner Frau Charlize Theron: Sie brachten den roten Teppich zum Strahlen


Fotos: Katharina Sartena


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red ca Sophie Marceau war heuer Teil der Wettbewerbsjury

Salma Hayek ist einer der beliebtesten Stars in Cannes, auch, weil sie immer besonders ausgiebig f端r die Fotografen posiert.


Mélanie Laurent ist die Nummer eins unter Frankreichs jungen Stars - immerhin hat sie schon mit Tarantino gedreht („Inglourious Basterds“) und verfolgt auch eine Karriere als Sängerin und Regisseurin.

Eva Longoria hat einen langjährigen Vertrag mit L'Oréal, der sie Jahr für Jahr auf den roten Teppich nach Cannes führt, wo sie jedes Jahr jünger aussieht.

Fotos: Katharina Sartena

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Cate Blanchett und Rooney Mara: In Cannes stellten sie „Carol“ von Todd Haynes vor. Die lesbische Liebesgeschichte um zwei Frauen in den USA der 50er Jahre könnte Blanchett ihren dritten Oscar bringen, meinen Kritiker. In Cannes triumphierte am Ende aber Mara, die zur besten Schauspielerin gekürt wurde.


Fotos: Katharina Sartena

Emma Stone entz체ckte wie immer die Fotografen mit Pr채sentierlaune


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Natalie Portman hat sich erstmals als Filmregisseurin versucht: "A Tale of Love and Darkness" behandelt die Jugend des Autors Amos Oz, der die Vorlage zu diesem Film schrieb. Er spielt zu Ende des britischen Mandats f체r Pal채stina und in den ersten Jahren des neu gegr체ndeten Staates Israel.


Fotos: Katharina Sartena

Gehobenes Hollywood an der Croisette: Naomi Watts und Julianne Moore am Roten Teppich


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große preise kommen immer zu spät In Cannes siegte das französische Kino - und die Bescheidenheit, man glaubt es kaum.

Foto: Katharina Sartena

I Das Trio aus Ungarn erhielt den Großen Preis des Festivals, obwohl das Holocaust-Drama „Saul Fia“ nichts anderes als die Goldene Palme verdient hätte: Regisseur Laszló Némes, sein Kameramann Mátyás Erdély und sein Hauptdarsteller Géza Röhrig (v.l.)

n Cannes, das ist längst kein Geheimnis mehr, bekommen große Regisseure große Preise - aber nicht unbedingt für ihre größten Filme. Eine Jury kann den Wink der Zeit verschlafen, aber wenn man das wichtigste Filmfestival der Welt ausrichtet, dann, bitte schön, muss es auch dann und wann zur Mythenbildung beitragen. Bestes Beispiel: Michael Haneke. Der hätte bereits für „Funny Games“ (1997) die Palme bekommen können, sie aber spätestens für „Caché“ (2005) bekommen müssen, und bekam sie schließlich zweifach für seine exzellenten Arbeiten „Das weiße Band“ und „Amour“ - doch beide waren bei weitem nicht seine besten Filme. Genau wie im Fall des diesjährigen Gewinnerfilms „Dheepan“ von Jacques Audiard. Der hätte hier 2009 für „Un prophete“ gewinnen müssen, damals war aber Haneke an der Reihe. Sein Film „Der Geschmack von Rost und Knochen“, zwei Jahre später, war einfach zu schwach. Kein Wunder also, dass Audiard sich diesmal mit den Worten bedankte: „Merci Michael Haneke, dass er dieses Jahr keinen Film gemacht hat“. Jacques Audiard war für die Goldene Palme „überfällig“, wie das Experten nennen. Der Film passte den Brüdern Joel und Ethan Coen, die heuer als Jurypräsidenten fungierten, zudem durchwegs ins Konzept:


Foto: Alexander Tuma

Jacques Audiard (oben) gehört auch zu den „überfälligen“ Palmen-Gewinnern. Jetzt, mit „Dheepan“ (oben rechts), ist es ihm endlich gelungen. „Saul Fia“ (rechts) hätte die Palme allerdings mehr als verdient gehabt.

Die Preisträger von Cannes 2015

Goldene Palme: Jacques Audiard (Frankreich), „Dheepan“. Großer Preis: Laszlo Nemes (Ungarn), „Saul Fia“ Preis der Jury: Yorgos Lanthimos (Griechenland), „Lobster“. Beste Regie: Hou Hsiao-Hsien (China), „The Assassin“ Beste Darstellerinnen: Rooney Mara (USA), „Carol“ und Emmanuelle Bercot (Frankreich), „Mon Roi“. Bester Darsteller: Vincent Lindon (Frankreich), „La Loi du Marché“. Bestes Drehbuch: Michel Franco (Mexico), „Chronic“. Goldene Kamera für den besten Erstlingsfilm: Cesar Acevedo (Kolumbien), „La Tierra y la Sombra“. Goldene Ehren-Palme für das Lebenswerk: Agnès Varda (Frankreich)


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Als „Flüchtlingsdrama“ wurde„Dheepan“ schnell bezeichnet. Tatsächlich geht es in „Dheepan“ um einen Mann (Jesuthasan Antonythasan), der unter falschem Namen, mit einer „falschen“ Frau und „falschen“ Tochter aus Sri Lanka nach Frankreich flüchtet, weil „Familien leichter Asyl gewährt wird“. Auf der Einwanderungsbehörde hilft der Übersetzer Dheepan ebenfalls beim Lügen: Ein Leben ohne Krieg wolle er, sagt Dheepan, vor kurzem selbst noch TamilKämpfer, Folterer, Mörder. Tatsächlich sind es provokante Verschiebungen der Blickwinkel, die diesen Film vor allem in seiner ersten Hälfte sehr bereichern. Dheepan will aus der Scheinfamilie eine echte machen, weil er an sein Recht auf ein gutes Leben glaubt - und gerade in Zeiten der Quota-Diskussion (vor allem auch in Frankreich), wirkt dieser Film wie weiterer Zündstoff. Audiard zeichnet Dheepans Weg in Frankreich zuerst sozialrealistisch, teils semi-dokumentarisch und mit Raum sogar für Humor. Dheepan und seine kleine „Familie“ kommen in einem BetonblockGhetto in einem Pariser Vorort unter, wo Dheepan als Hausmeister arbeiten kann. Erst am Ende stellt Audiard seinen Protagonisten doch noch eine gute Zukunft und eine echte Liebe in Aussicht: Ein grüner Garten in England ist eben für viele schon das Paradies.

Noch mehr Fotos und Texte finden Sie in unserer Online-Coverage unter festivalier.blogspot.com

Die Hölle hingegen porträtiert Laszló Nemes in seinem Regiedebüt „Saul Fia“, das mit dem zweiten Preis des Festivals nach Hause geschickt wurde: Dem Grand Prix. Die Coens haben hier schlichtweg den eigentlichen Sieger dieser Filmschau übersehen, denn niemand vor Nemes hat den Holocaust dermaßen brutal und schockierend dargestellt, ohne dabei auf künstliche Effekte zurückgreifen zu müssen. Wir erleben den KZ-Alltag in Auschwitz durch die Augen eines jüdischen Mitarbeiters eines Sonderkommandos, der damit befasst ist, die Gaskammern von den Toten und ihren Exkrementen zu säu-

bern. Weil Nemes’ Kamera aber stets ganz nah auf dem Kopf seines Protagonisten verweilt, ist die Umwelt nur in Schemen wahrnehmbar - und Nemes delegiert das Grauen (oder die Vorstellung davon) an die Zuschauer. Jeder Zuschauer durchlebt hier seinen ganz eigenen Holocaust. „Saul Fia“ ist eine der innovativsten Arbeiten der jüngeren Filmgeschichte - und gerade deshalb ist der zweite Preis in Cannes so enttäuschend. Ist dem erst 38-jährigen Ungarn Nemes ein Zufallstreffer geglückt, oder läutet er ganz offiziell einen Paradigmen- und Generationenwechsel ein, wenn es um die Darstellung des Holocaust geht? „Saul Fia“ ist jedenfalls einer der wichtigsten Filme der letzten 20 Jahre. Weniger wichtig sind da die weiteren Preisträger eines durchwegs bemühten Wettbewerbs mit vielen Qualitäts- aber wenigen herausragenden Arbeiten: Ein Jury-Preis für den Griechen Yorgos Lanthimos für Konzept-Kino à la Wes Anderson mit dem Titel „The Lobster“, zwei Schauspielerinnen-Preise für Rooney Mara (in dem faden „Carol“ von Todd Haynes) und Emmanuelle Bercot (für den noch faderen „Mon Roi“ von Maiwenn), sowie einen unverständlichen Regiepreis für Hou Hsiao-Hsien, dessen „Assassin“ bildgewaltig durchs 9. Jahrhundert in China schwebt. Nur für einen darf man sich aus ganzem Herzen freuen: Als bester Darsteller wurde Vincent Lindon prämiert, für das Sozialdrama „La loi du marché“ von Stéphane Brizé. Lindon ist der Inbegriff des „Hacklers“, wenn es im französischen Kino um die Arbeiterklasse geht. Niemand spielt soziale Schicksale so gut wie er, obwohl Lindon aus wohlhabenden Verhältnisse stammt. Doch das ehrt ihn umso mehr: Bei der Preisverleihung rang Lindon mit den Tränen der Demut. „Mein erster Preis überhaupt“, stammelte Lindon. Bescheidenheit, weiß er, hat ihn letztlich zum Ziel geführt. Matthias Greuling


Foto: Katharina Sartena

Xavier Dolan und Sienna Miller: Der kanadische Shootingstar (war mit seiner Regiearbeit „Mommy“ im letzten Jahr in Cannes) und die USSchauspielerin sind heuer beide in der Jury unter dem Vorsitz der Brüder Joel und Ethan Coen.


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die welt ist voller hunde Yorgos Lanthimos‘ „The Lobster“ (bestes Drehbuch) geht auf die Suche nach dem idealen Beziehungspartner.

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ls völlig absurd könnte man Yorgos Lanthimos‘ neue Arbeit „The Lobster“ (dt. „Der Hummer“) bezeichnen, der in Cannes im Wettbewerb um die Goldene Palme antritt. Dabei ist das englischsprachige Filmdebüt des Griechen auch tief- und feinsinnig im Umgang mit seinem Thema: in einer nicht allzu weit entfernten Zukunft ist das Single-Dasein verboten, und alle Menschen, deren Beziehung gerade gescheitert ist, werden angehalten, in ein speziell dafür vorgesehenes Hotel einzuchecken, wo sie innerhalb von 45 Tagen einen neuen, passenden Partner finden müssen. Gelingt das nicht, so werden sie unumkehrbar in Tiere verwandelt und in die Wildnis entlassen. Immerhin: Welches Tier sie werden, dürfen sie sich selbst aussuchen. „Die meisten nehmen Hunde“, sagt die Hotelchefin einmal. „Deshalb ist die ganze Welt voller Hunde“. Inmitten dieser skurrilen Geschichte findet sich unvermutet David (Colin Farrell) wieder, der als Mittvierziger nach einer Trennung nun kurz vor der Umwandlung zum Hummer steht. „Ein Hummer deshalb, weil die 100 Jahre alt werden“, rechtfertigt er seine Wahl. Ins Hotel kommt er mit seinem Hund, der einmal sein Bruder war. Der wird später eines brutalen Todes sterben. Bei gemeinsamen Ausflügen mit den anderen Singles werden geflüchtete Singles gejagt: Mit Betäubungsgewehren. Jeder erlegte Single bringt einen zusätzlichen Tag im Hotel, also eine zusätzliche Chance, einen Partner zu finden. Irgendwann wird auch David die Zeit zu knapp, und er reißt aus. Jetzt ist er ein Flüchtling und

trifft unterwegs auf andere Singles (darunter Léa Seydoux und Rachel Weisz). Doch auch in Freiheit, so lernt David schnell, gibt es mehr Regeln als ihm lieb sind. Yorgos Lanthimos skurrile PartnerschaftsSuche ist spitzfindig ausgedachtes MetaphernKino zwischen Jux und Ernsthaftigkeit; „Wir haben diesen Film einfach beim Reden entwickelt“, sagt der Regisseur. „Wir sprachen über Beziehungen, Paare und Singles, fanden kleine Szenen, und so entstand Stück für Stück der Film“, so Lanthimos. „Wir zeigen in dem Film das menschliche Bedürfnis, in Beziehungen leben zu wollen, und welchen sozialen Stress es mitbringen kann, dieses Bedürfnis zu stillen. Es ist ein Film über die Liebe und ob sie wirklich echt sein kann“. Dass Lanthimos in der Ausgestaltung seiner Szenen „maßlos übertrieben“ hat, weiß er selbst. „Das ist Absicht, obwohl ich eigentlich kein großer Anhänger von absurden Situationen im Kino bin. Ich wollte aber zeigen, wieviel Absurdität in der von uns gelebten Form der Liebe steckt.“ „The Lobster“ trägt eine gewisse Form von Understatement vor sich her, weshalb skurrile Situationen noch zusätzlich überhöht wirken. Ein bisschen rätselhaft will Lanthimos auch sein, und ein bisschen larmoyant. Denn so richtig glücklich ist in „The Lobster“ niemand – auch die nicht, die sich in Partnerschaften befinden. Manchmal, da ist sich David sicher, ist der Hund doch der beste Freund des Menschen. Auch wenn er mal der eigene Bruder war.


Foto: Katharina Sartena

Rachel Weisz und Colin Farrell stellten den herrlich schrägen Beitrag „The Lobster“ im Wettbewerb vor. Mr. Farrell trägt übrigens einen Maßanzug.


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viel sex um nichts Gaspar Noé trägt den Zusatz „Skandalfilmer“. Warum, sollte sein neuer Halb-Porno „Love“ zeigen.

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Eines von mehreren freizügigen Plakatsujets zum Film „Love“

leich zu Beginn von Gaspar Noés neuem Film „Love“ - ein schlichter Titel für eine noch schlichtere Liebesgeschichte mit viel Sex - gibt es auf der Leinwand echten Sex zu sehen. Mit Penis, Vulva und Ejakulation. Bilder, die selbst im Arthaus-Kino nicht alltäglich sind, weil sie als pornografisch gelten. Doch dem französischen Regisseur Gaspar Noé sind solche Genregrenzen fremd, im Gegenteil: Er hat sichtlich Spaß an der Provokation, wenngleich sie diesmal eher lauwarm ausfällt. Eine Gesellschaft, die lange schon überreizt ist von Sex in der Werbung und massenhaft Pornografie im Internet, kann Noés Geschichte kaum auf- oder erregen. Noé erzählt von einem Amerikaner in Paris, der hier Film studiert und sich in eine junge Frau verliebt, doch die Liaison weitet sich - typisch französisch eben - auch noch auf die ebenfalls junge Nachbarin des Pärchens aus, und die wird dann schwanger. Großes Drama, denn die „Neue“ im Bett ist nicht die große Liebe. Karl Glusman und Aomi Muyock spielen das nach Liebe dürstende Pärchen einigermaßen lustvoll (bei den Sexszenen) beziehungsweise lasch (bei den restlichen Szenen). Noé setzt bei dieser Ménageà-trois voll auf den Schauwert. Dass junge Körper schön sein können, wissen die Cannes-Besucher ja schon aus Paolo Sorrentinos „Youth“, und könnten Michael Caine und Harvey Keitel aus ihrem Swimmingpool im Schweizer PensionistenChalet hinüber spechteln in die Pariser Studenten-

wohnung, sie würden es vermutlich tun. Dennoch: Der Skandal blieb aus, und Gaspar Noé, der hier in Cannes wie ein Superstar von seinen Fans empfangen wurde, musste sich am Ende mit freundlichem Applaus zufrieden geben. „Love“ ist - anders als seine bisherigen Arbeiten - kaum geeignet für einen Skandal. „Irreversible“ hatte 2002 wegen einer unglaublich brutalen Vergewaltigungsszene in Cannes für einen Skandal gesorgt, zuletzt war Noé 2009 mit dem Drogenfilm „Enter the Void“ hier. „Love“ ist zu weiten Teilen adrett gefilmtes Sexkino, bei dem es keine großen Eklats gibt. Dass der Film in 3D gedreht wurde, fügt dem Thema kaum Tiefe hinzu, es sei denn, man findet eine Ejakulation spannend, die mitten ins Publikum geht. Anlass für die ganze Story ist jedenfalls ein geplatztes Kondom - und das ist wohl auch die Message des Films: Man muss sich einfach schützen beim Sex. Diese Haltung ehrt Noé, aber sie passt so gar nicht zu seinem Image als Provokateur. Was am Ende bleibt, ist jedenfalls die Einsicht, dass Cannes ohne Sex nicht funktionieren würde. Pornografische Szenen sind längst im filmischen Mainstream und im Kunstfilm angekommen, sie erregen nur mehr selten wirklich Unmut. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb die „Hot D‘Or“-Awards, das Äquivalent der Pornobranche zur Goldenen Palme, nur bis 2001 hier in Cannes verliehen wurden: Weil Sex irgendwann alle Genregrenzen überwunden hatte, noch lange vor Gaspar Noé.


Expliziter Sex sorgt f端r keinen Skandal mehr. Auch nicht mit erigierten Penissen und Ejakulation


Foto: Katharina Sartena

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Wenn alte Herren der Jugend nachtrauern, dann darf eine junge nackte Frau offenbar nicht fehlen. So sieht es zumindest Paolo Sorrentino. Sein grandios besetztes Sinnsuche-Stück „Youth“ zeigt aber auch eine Grande Dame des US-Kinos: Jane Fonda hatte auch in Cannes einen umjubelten Auftritt, an der Seite von Michael Caine und Harvey Keitel (oben)


über das altern Paolo Sorrentinos „Youth“ ging in Cannes leer aus. Beachtlich ist dieses Traktat über die Vergänglichkeit aber allemal

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ls Paolo Sorrentino vor zwei Jahren den Oscar für seinen Film „La grande bellezza“ erhielt, da hat man dem Italiener gerne nachgesehen, dass er damit die Welt von Fellini und dem hysterischen italienischen Kino für immer zu Grabe getragen hatte, indem er hier ein vergangenes, glamouröses Zeitalter sich selbst feiern ließ, längst eingedenk des eigenen Scheiterns, das aber zumindest grandios. Hier stand Rom, die ewige Stadt, genauso im Mittelpunkt wie seine Bewohner; doch die, die bei Fellini noch tanzten und lachten, sie waren hier schon mehr verrottet als lebendig, oder in Schönheit gestorben. La grande bellezza eben. Spätestens mit seinem neuen Film ist klar, dass Sorrentino der Thematik noch viel mehr hinzuzufügen hat, und zwar einiges, was über die engen Grenzen seiner Heimat weit hinaus strahlt, tief hinein ins Herz Europas, und auch tief hinein in eine lang vergangene Blütezeit, als gelungene James-Bond-Filme grundsätzlich in der Schweiz spielten, die filmischen Kunstwerke aber aus Frankreich, Schweden, vielleicht noch aus dem britischen Raum stammten. Sorrentino nennt sein Traktat über die Vergänglichkeit schlicht „Youth“, weil es von ebendieser handelt; oder zumindest vom Verlust derselben. Es gibt in diesem Film sehr viele schöne Bilder, auch schöne Körper und noch viel schönere Kontraste, und es gibt hier Einstellungen, die mit nur einer Sekunde klar machen, wie die Dinge wirklich liegen: Der dazugehörige Satz lautet „Youth is wasted on the young, before they know it's come and gone“. Der Zuschauer kann das hier in jeder Szene entdecken. Manchmal braucht er dafür seinen Intellekt, den Sorrentino dann aber auf das Berauschendste stimuliert. Eingebettet in die harmonisch wirkenden Schweizer Alpen, weit oberhalb von Davos liegt das Berghotel Schatzalp. Das Luxusanwesen dient als Ressort für betuchte Gequälte: Man kuriert hier die Depressionen der Reichen ebenso aus, wie ihre Lungenkrankheiten. Die Beschaulichkeit spielt Sorrentinos Suche nach vollkommener Ästhetik in die Hände. Das reduzierte Tempo

des Films dient ihm als Rahmen für Bilder von Alter und Jugend, von Kontrasten und Überschneidungen, von bitteren Alpträumen und noch bittereren Realitäten. Im Zentrum steht der Komponist und Dirigent Fred (Michael Caine), lange pensioniert, der selbst hartnäckig bleibt, als ihn die Queen persönlich für ein Konzert heimholen will. Doch sein Nein soll ein Nein bleiben. An seiner Seite lebt der Hollywood-Regisseur Mick (Harvey Keitel) in dem Hotel, dessen Schaffenskraft noch ungebrochen scheint. Er eilt noch immer dem Traum vom perfekten Hollywoodfilm, von einem alles subsumierenden Vermächtnis seiner Kunst nach. Anzumerken ist: Dieser Schlag von Regisseuren ist in Hollywood so gut wie ausgestorben. Er verschwand mit Leuten wie Lumet, Pollack, aber auch Wilder. Auch Mick scheint kein Glück zu haben: Jane Fonda (die echte!) gibt ihm für seinen neuen Film einen Korb. Mick und Fred unterhalten sich gerne über die Anzahl ihrer Urintropfen, die sie pro Tag noch ausscheiden können - und auch über so manch andere Alterserscheinung. Als Kontrast steckt Sorrentino ungeniert krassen Pop in Form von Paloma Faith oder der Miss Universe in dieses aphorismenhaltige Puppenhaus voller Sehnsüchtiger, die ihre Vergangenheit immer weiter entfernt sehen, weil die Zukunft schon so knapp ist. Kontraste sind das, was diesen Film ausmachen, einen Film über das Altern, der „Youth“ heißt. Sorrentino (er)findet faszinierende Bilderwelten für seine Gegensätze und kleidet die Banalität des Alterns und des Lebenskreislaufs in opulente Hochglanzbilder voller Anmut. Ein Blickfang, ein Sammelsurium aus Gewesenem und Vergangenem, aus mehr Wehmut als Hoffnung; „Youth“ ist Sorrentinos grandios geglückter Versuch, der Psychologie der Endlichkeit in die Karten zu blicken; der Regisseur unternimmt den bewusst gescheiterten Anlauf, eine Bilanz des Lebens zu ziehen, in dem seine Protagonisten so lange ruhelos bleiben, solange sie selbst keine Spuren hinterlassen haben. Spuren zu hinterlassen ist eine Illusion, das wissen auch Sorrentinos Helden. Aber sie geben sich ihr nur allzu gern hin.


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Einstudierte Pose nach Hitchcocks Idee: Natürlich musste das entsprechende Foto zum Interviewbuch „Truffaut: Hitchcock“ gemacht werden - und sollte die Überlegenheit von „Hitch“ ausdrücken. Also begab sich der Meister in diese belehrende Pose. Dies und mehr erzählt Kent Jones‘ Doku „Hitchcock - Truffaut“


wie macht das mister hitchcock?

Über das berühmteste Filmbuch der Welt gibt es jetzt einen Film: Kent Jones hat ihn in Cannes vorgestellt.

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m Jahr 1962 haben sich François Truffaut und Alfred Hitchcock, kurz, nachdem „Hitch“ seinen Film „Die Vögel“ abgedreht hatte, zu einem mehrtätigen Marathon-Interview in Hollywood getroffen. Der französische Regisseur und Mitbegründer der Nouvelle Vague war, wie viele seiner Kollegen, ein großer Verehrer von Hitchcocks „Suspense“-Kino, das zu entschlüsseln er mit diesem Interview hoffte. Herausgekommen ist eine der fundamentalsten und zugleich detailreichsten Lehrstunden über das Filmemachen: Das Buch „Truffaut: Hitchcock“, das vor 50 Jahren zeitgleich in den USA und in Frankreich erschienen war, gehört heute zur Standardlektüre jedes Filmstudenten und bildete wegen seiner Interviewform die Grundlage für weitere ähnliche Werke. „Für Truffaut selbst hatte dieses Buch denselben Stellenwert wie einer seiner Filme“, sagt Kent Jones. Der US-amerikanische Filmemacher hat nun unter dem Titel „Hitchcock - Truffaut“ eine Doku über die Entstehung des InterviewRegisseur Kent Jones buches gemacht. Als Basis standen ihm dabei die Original-Tondokumente des Interviews zur Verfügung. Weshalb man in Jones‘ Film nun auch Ausschnitte aus dem Gespräch zwischen Truffaut und Hitchcock - stets gedolmetscht via Simultanübersetzung - zu hören bekommt. Sie geben dem geschriebenen Buch noch eine weitere Dimension von Lebendigkeit. „Diese Doku sollte nicht bloß für Cinephile gemacht werden“, sagt Regisseur Jones, der den Film gemeinsam mit Serge Tou-

biana, dem einstigen Chefredakteur der „Cahiers du cinéma“ (Truffaut begann dort als Filmkritiker) und der Cinématheque française, realisiert hat. „Ich will dem Zuschauer vorführen, welche Kraft Kino in all seinen Spielformen haben kann“. Dabei sei Jones auch wichtig, herauszuarbeiten, dass „Hitchcock stets eine sehr klare und simple Sprache sprach, die man verstand. Er erklärt einem Kino so, als wäre es das Einfachste von der Welt“. In zahlreichen Filmausschnitten - von „Die Vögel“ über „Psycho“ bis hin zu „Rear Window“ oder „Vertigo“ - illustriert Jones die Karriere Hitchcocks und lässt Truffaut und den Meister selbst zahlreiche Einstellungen analysieren. Hinzu kommen etliche zeitgenössische Regisseure, die Jones zu Hitchcock befragt hat: David Fincher, Martin Scorsese, Richard Linklater oder auch Wes Anderson versuchen eine Neu-Einordnung von Hitchcocks Werk vor dem Hintergrund moderner narrativer Strukturen. In Cannes erhielt „Hitchcock - Truffaut“ viel Applaus. „Es war uns ein ganz besonderes Anliegen, diesen Film in der Reihe ‚Classics‘ zu zeigen“, sagt Thierry Frémaux, der künstlerische Leiter des Festivals. „Zumal Truffaut und Hitchcock zwei wesentliche Figuren für diese Filmschau waren“. Für Kent Jones ist das Buch „eines der wichtigsten Einflüsse, die es auf mich als Filmemacher gab. Inhaltlich ist es von solcher Klarheit, dass ich es Hitchcock verdanke, mir einen Weg gezeigt zu haben, Filme zu machen.“


Foto: Katharina Sartena

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Woodey Allen mit Emma Stone (oben) und Stone und Parker Posey (unten) bei der Premiere zu „The Irrational Man“. Außer ein bisschen Lächeln für die Kameras gibt es aber keine gemeinsamen Unternehmungen von Allen und seinen Schauspielerinnen: „Wozu sollte das gut sein?“, fragt er.


woody will ruhe

Privat interessiert sich Woody Allen überhaupt nicht für seine Schauspieler, erzählte er uns im Gespräch in Cannes.

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ch weiß eigentlich nicht, worüber ich mit Schauspielern sprechen sollte“, sagt Woody Allen. Der 79-jährige New Yorker Regisseur hat seinen neuen Film „The Irrational Man“ nach Cannes mitgebracht, der hier außer Konkurrenz gezeigt wurde. Wie immer, denn Allen mag sich und seine Arbeit keinem Wettbewerb ausgesetzt sehen. Weshalb er sich auch seine mittlerweile drei Oscars nie persönlich abgeholt hat, sondern bei der Gala stets durch Abwesenheit glänzte. Nach Cannes ist er aber persönlich mit Ehefrau Soon-Yi angereist. Er gibt Interviews im noblen Hotel Martinez an der Croisette, das Interviewzimmer ist beinahe auf arktische Temperaturen herabgekühlt. Gerade noch saß Parker Posey im Interviewraum vor den Journalisten und lässt sich bei der letzten Frage zu ihrer Mitwirkung in „The Irrational Man“ viel Zeit. Woody Allen steht schon in der Tür und deutet ihr „Raus hier“. Allen ist eloquent in Interviews, aber auch er will diesen Cannes-Marathon möglichst schnell hinter sich bringen, wie alle hier. Parker Posey nimmt den harschen Auftritt ihres Regisseurs gelassen, denn sie weiß: Allen hat eigentlich kein allzu großes Interesse an Schauspielern. Was er auch im Interview mit celluloid deutlich macht. „Schauspieler brauchen immer eine Ansprache, wollen einen kennen lernen, mit einem reden, aber ich denke mir: Wozu?,“ fragt Allen. „Ich habe meine Schauspieler bereits genau studiert, kenne vorab all ihre Fähigkeiten und weiß, was sie können. Sie müssen bei mir nicht zum Casting kommen und Texte vortragen. Das ist doch albern. Der Schauspieler wird nervös, weil er Angst hat, zu versagen, und ich werde nervös, weil der Schauspieler nervös wird“. Also belässt es Woody Allen bei der Besetzung seiner Filme meist bei einem kurzen Treffen, das selten länger als eine Stunde dauert, erzählt er. „Ich habe keine Freunde, die Schauspieler sind. Was sollte ich mit ihnen denn reden?“ Selbst seine „Musen“ Scarlett Johansson oder Emma Stone, die auch im neuen Film dabei ist, zählen nicht zu Allens Freundeskreis. „Ich weiß, dass Emma Stone eine fantastische

Schauspielerin ist. Sie macht vor der Kamera immer alles richtig, wieso sollte ich ihr dann Anweisungen geben? Ich verzichte meistens komplett darauf“, sagt Allen. „Und privat sehe ich wirklich keinen Grund, Emma zum Essen auszuführen“. In „The Irrational Man“ erzählt Allen von einem Literaturprofessor, gespielt von Joaquin Phoenix, der zwischen Alkohol und Depression am Leben zu zerbrechen droht, bis er die Idee hat, all dem Gerede seiner Lieblingsphilosophen endlich Sinn zu verleihen: Er will den tyrannischen Ehemann einer Frau ermorden, deren Wehklagen er nur zufällig mitgehört hat. Würde dieser Mensch nicht mehr leben, wäre die Welt ein Stückchen besser, ist der Professor überzeugt. Eine gewagte These, der Allen aber einiges abgewinnen kann. Ist ein Mord in manchen Fällen gar zu rechtfertigen, fragen wir ihn. „Natürlich“, sagt Allen entschlossen. „Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Wenn Sie wüssten, dass ein Mann in einer Schule eine Bombe legt, die 500 Kinder töten könnte, und Sie ihn aber im Vorfeld erwischten und ermordeten, würden Sie das dann nicht tun? Man könnte so 500 Leben retten“, sagt Allen. Gedankenexperimente wie dieses hat Allen in seinem Film durchdekliniert. In Joaquin Phoenix hat er jedenfalls den idealen abgewrackten, versoffenen Uniprof gefunden, der sich gegen Affären mit Studentinnen wehrt, dann aber doch mit seiner Lieblingsstudentin (Emma Stone) im Bett landet. Und auch mit Parker Posey. Die neuen Lebensgeister, die der Mord in ihm weckt, ändern sein Leben von Grund auf. „Joaquin war perfekt, weil er auch auf mich selbst so kompliziert und umständlich und völlig fertig wirkte, wie seine Figur zu sein hatte“, sagt Allen. „Er musste gar nicht wirklich spielen, finde ich“. Womit wir wieder bei den lästigen Schauspielern wären. „Ich gebe ihnen kaum Anweisungen. Ich vertraue darauf, dass sie mir geben, was sie können. Und meistens ist für mich was dabei“, lacht er, der im kommenden Dezember 80 Jahre alt wird. „Ich werde Filme machen, solange ich gesund bin. Mein Körper verfällt zusehends, ich habe ein Hörgerät und sehe schlecht“, sagt Allen. „Aber Ideen habe ich noch mehr als genug“.


Foto: Katharina Sartena

Isabelle Huppert und Gerard Depardieu beim Photocall zu „Valley of Love“ von Guillaume Nicloux


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